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Sie lauscht dem Ton nach. Es ist genau das, was sie am Tod am meisten fürchtet – dieses dumpfe Prasseln der Erde auf den Sarg. Sie bückt sich und nimmt noch eine Handvoll.
Dann tritt Ursula zurück. Da liegt er also. Das ist alles, was von ihrem Mann übriggeblieben ist. Ein schwarzer Sargdeckel, darunter eine leblose Hülle. Wo ist seine starke Persönlichkeit hin, sein Wille, seine Durchsetzungskraft?
Ludwig ist der nächste vor dem gähnenden Loch. Er beugt den Kopf, bleibt minutenlang regungslos stehen. Ursula beobachtet ihn durch das schwarze Augennetz ihres kleinen Hütchens und denkt dabei wieder an die Empfindung, die sie gehabt hat, als sie in der Leichenhalle vor dem offenen Sarg stand. Das da drin hat mit ihrem Walter nichts mehr zu tun. Das, was ihn ausgemacht hatte, war weg. Darüber konnte man den Sargdeckel getrost schließen.
Ludwig hat sich zu ihr umgedreht, kommt langsam auf sie zu, reicht ihr die Hand: »Es tut mir so leid, Ursula. Er war ein so außergewöhnlich starker Mensch. Daß er so früh gehen mußte …«, zum Zeichen seiner Freundschaft legt er seine linke Hand auf ihre behandschuhte Rechte, »wenn ich dir irgendwie helfen kann – du weißt, ich bin immer für dich da!«
»Danke, Ludwig«, Ursula nickt ihm zu. Ludwig Fehr war Walters bester Freund und gleichzeitig sein Hausarzt. Die beiden Männer waren gleichaltrig, beide 55 Jahre, und sogar im selben Monat geboren. November. Skorpione durch und durch. Im November war Walter gekommen, und im November mußte er wieder gehen.
Eine schier endlose Menschenschlange zieht an ihr vorbei. Sie drückt eine Hand nach der anderen. Die meisten Gesichter kennt sie. Viele sind aus der Firma, manche aus der Nachbarschaft, einige aus dem kleinen Freundeskreis. Walter hatte nicht viele Freunde. Er war sich selbst stets genug. Ein Einzelkämpfer, der immer voller Mißtrauen auf andere blickte.
Als alle gegangen sind und auch der Pfarrer sich mit ein paar tröstenden Worten verabschiedet hat, steht Ursula noch eine Weile alleine da. Im Hintergrund wartet ein Friedhofsgärtner mit seinem kleinen Bagger darauf, das Werk zu vollenden.
Ursula schaut auf die Kränze, die Grußschleifen und die unzähligen Blumen. Sie alle mußten jetzt sterben, nur weil Walter gestorben war. Wie ungerecht die Welt war. Was konnten sie dafür. Und dann fiel ihr eine Fabel ein. Ein Skorpion möchte einen Fluß überqueren, weiß aber nicht wie. Da kommt ein Frosch. Er fragt den Frosch, ob er ihn nicht auf seinem Rücken hinüberbringen könnte. Der Frosch lehnt ab, das sei ihm zu gefährlich. Der Skorpion habe schließlich einen Stachel und könnte ihn damit umbringen. Warum sollte ich das tun, fragt der Skorpion, das wäre ja unsinnig. Wenn du untergehst, gehe ich schließlich auch unter. Das leuchtet dem Frosch ein, und er schwimmt mit dem Skorpion auf dem Rücken los. In der Mitte des Flusses sticht der Skorpion zu. Bevor der Frosch untergeht, sagt er zu dem Skorpion, daß dies doch völlig gegen die Vernunft sei. Jetzt müßten sie beide sterben. Der Skorpion antwortet, dies sei keine Frage der Vernunft. Dies sei eben sein Charakter.
Die Schwelle hält sie irgendwie zurück. Ursula steht vor ihrer geöffneten Wohnzimmertür und bringt es nicht fertig, auch nur einen Fuß in den Raum zu setzen. Es kommt ihr vor, als schaue sie in einen geöffneten Sarg. Keine zehn Pferde bringen sie da hinein. Sie weicht einen Schritt zurück. Diese schweren, dunklen Holzmöbel. Diese erdrückende Balkendecke. Die beiden klobigen Couchgarnituren und die Sessel. Für mindestens zwanzig Personen gedacht. Dabei hatten sie nie Besuch. Und die stoffbespannten Stehlampen. Gedrechselt, teuer – und scheußlich. Daß ihr das nie aufgefallen ist?
Ursula dreht sich abrupt um, geht zum Garderobeschränkchen im Flur und nimmt das Telefonbuch heraus. Dabei fällt ihr Blick in den Spiegel. Sie fährt sich mit der Hand ordnend durch das graumelierte, auf Kinnhöhe geschnittene Haar. Für ihre 53 Jahre hat sie sich gut gehalten, auch wenn Walter immer meinte, sie habe sich in den letzten dreißig Jahren gehenlassen. Aber er hatte eben alles an sich selbst gemessen, und er schien unverwundbar. Nicht einmal das Leben konnte Spuren an ihm hinterlassen. Er war immer voller Energie, kannte keine Schwäche, war hart gegen sich selbst. Nur der Tod war stärker.
Wer hätte das gedacht.
Mit dem Telefonbuch läuft sie die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer, schließt die Türe, schaltet alle Lichter an und beginnt sich im angrenzenden Badezimmer auszuziehen. Sie schlüpft in ein bodenlanges Baumwollnachthemd. Das schwarze Kostüm hängt sie sorgfältig an einen Bügel, Unterwäsche und Strümpfe verstaut sie im Wäschekorb. Da liegen noch die weißgerippten Unterhosen von Walter drin. Sie hat sich noch nicht entschließen können, sie herauszunehmen. Was soll sie auch damit anfangen? Waschen? Bügeln? Wozu? Sie schließt den Korbdeckel wieder. Dann nimmt sie einen Haarreif und beginnt sich das Gesicht sorgfältig abzuschminken. Sie entschließt sich für eine vitaminreiche, sahnige Nachtcreme. Walter hat das gehaßt, deshalb hat sie die nur genommen, wenn er verreist war. Also praktisch nie.
Sie trägt sie dick auf, betrachtet ihr glänzendes Gesicht im Spiegel. Die schlaffe Haut unter den Augen könnte sie ja etwas straffen lassen, dadurch kämen ihre stahlblauen Augen wieder besser zur Geltung. Und die Muskelschwäche an der rechten Unterlippe ließe sich sicherlich auch wegoperieren. Sie putzt und duscht die Zähne sorgfältig. Zum Abschluß cremt sie sich ein weiteres Mal reichlich ein.
Auf dem Weg in ihr Schlafzimmer öffnet sie den Wäschekorb, nimmt Walters Unterwäsche heraus und stopft sie in den Abfalleimer. Dann faltet sie die batistene Tagesdecke über ihrem Bett zusammen, holt sich Telefonbuch, Stift und Notizblock und schlüpft unter die Daunendecke. Sie schlägt unter »Einrichtungshaus« nach, anschließend unter »Innenarchitekt« und schließlich unter »Maler«. Gleich morgen wird sie die Dinge in die Hand nehmen. Als sie die vollgeschriebenen Zettel auf ihren Nachttisch legen will, fällt ihr Blick auf Walter in seinem Silberrähmchen. Ursula nickt ihm freundlich zu und schläft dann bei Licht ein.
Zwei Wochen später ist aus dem düsteren Wohnzimmer ein lichtdurchfluteter Raum geworden. Die teppichbespannten Wände sind einem hellen Anstrich gewichen, die braune Holzdecke hat Ursula kurzerhand weiß übermalen lassen, ein zart rosafarbener Teppichboden liegt über dem dunklen Parkett. Die Innenarchitektin hat ihr eine leinenfarbene Dreiersitzgruppe empfohlen, Couchtisch, Sideboard und Eckregale aus Acryl. Moderne Bodenvasen und Designerlampen bezeichnete sie als Hommage an die Wohnlichkeit. Für Ursula ist es ein ungeheuerliches Gefühl, als sie zum ersten Mal mit einer Tasse Tee auf ihrer neuen Couch im fertig umgestalteten Wohnzimmer sitzt. Fast fühlt sie sich, als sei sie in eine neue Haut geschlüpft – wenn da nicht noch der schwarze Flügel stehen würde. Es ist der Flügel ihres Schwiegervaters. Walter konnte zwar nicht Klavier spielen, aber es wäre für ihn nie in Frage gekommen, sich von diesem Instrument zu trennen. Ursula hätte ihn liebend gern hergegeben, aber selbst die Innenarchitektin war dagegen gewesen: »Sie sollten sich zunächst einmal erkundigen, was der Flügel wert ist. Sonst lacht sich nachher jemand ins Fäustchen!«
»Ist mir egal«, hatte Ursula unwillig geantwortet, »von mir aus können Sie ihn verschenken, Hauptsache, er ist weg!«
Dabei sah sie aus, als wollte sie Mephisto persönlich aus dem Haus jagen. Die Innenarchitektin betrachtete ihre Auftraggeberin kurz: den etwas langweiligen Haarschnitt, das unauffällig geschminkte Gesicht mit dem etwas schiefen Mund.
»Ich werde Ihnen jemanden schicken, der sich damit auskennt«, sagte sie dann in einem geduldigen, fast mütterlichen Tonfall, obwohl sie die Tochter hätte sein können.
Ursula bemüht sich, einfach nicht zu dem schwarzen Monstrum hinzuschauen.
Es gibt ja auch so genug zu sehen.
Sie trinkt genießerisch ihren Tee, streift die Schuhe ab, setzt sich etwas seitlich auf die Couch und legt die Beine hoch. Unbeschreiblich!
Nächsten Montag wird sie wieder in die Firma gehen. Nach drei Wochen ist es allerhöchste Zeit. So lange hat sie sich in ihrem ganzen Leben noch keinen Urlaub gegönnt. Ursula schließt die Augen und denkt 30 Jahre zurück, sieht sich und Walter wieder in den grauen Fabrikhallen, die sie eben gekauft haben, sieht die herausgebrochenen Fenster, die kaputten Leitungen, den beschädigten Betonboden. Sie hatten auf ihre Hochzeitsreise verzichtet, hatten sich die Geschenke bar ausbezahlen lassen, und auf die Fürsprache von Walters Vater hin hatte ihnen eine Bank einen Kredit gewährt. Sie wollten eine Verpackungsfirma aufmachen, das erschien ihnen in den sechziger Jahren als zukunftsträchtig. Der Krieg war lange vorbei, es gab wieder Waren, immer mehr Artikel, die sich gegenseitig Konkurrenz machten, und verkauft wurde offensichtlich das, was im Regal herausstach, schöner, bunter, edler verpackt war. Plastik stand hoch im Kurs. Walter und Ursula kauften sich entsprechende Maschinen, sie schacherten wie die Bürstenbinder um jeden Pfennig, sie schufteten Tag und Nacht, akquirierten, holten Aufträge, kamen kaum noch mit der Produktion nach, brauchten Mitarbeiter, kauften neue Maschinen, bezahlten ihren ersten Bankkredit zurück und nahmen einen neuen, größeren auf. Irgendwann war die Zeit reif für einen Neubau, und dann eröffnete Walter ihr, sie könne jetzt zu Hause bleiben und Kinder bekommen. Aber es kamen keine Kinder, und sie ging wieder in die Firma. Ursula wollte genau wissen, wofür ihr Geld ausgegeben wurde. Sie war bei allen Einstellungen mit dabei. Ohne ihr Okay durfte noch nicht einmal eine Putzfrau ihren Putzlumpen auswringen. Und selbst als Walter sich mehr und mehr aus der Firma zurückzog, um sich seinen Hobbys zu widmen, hat sie die Zügel nie aus der Hand gegeben. Ihr Geschäftsführer, Manfred Kühnen, sollte immer wissen, daß ihm jemand auf die Finger sah. Manchmal tat sie es ganz offen, manchmal mehr im Verborgenen, aber sie war immer präsent.
Einem plötzlichen Impuls folgend steht Ursula auf und geht in das Arbeitszimmer. Ganz oben im Regal stehen in drei Reihen Fotoalben. Sie steigt auf die Trittleiter, zieht wahllos einige heraus und geht zurück zu ihrer Couch. Die Alben hat sie angelegt, weil Walter herumliegende Fotos nicht leiden konnte. Aber sie hatte sie danach nie mehr in die Hand genommen, und Walter auch nicht. Sie nimmt ihre Teetasse und schlägt die Seiten des in Leder gebundenen dunkelgrünen Albums auf.
Walter, typisch, beim Bergsteigen. Schon recht weit entfernt, von hinten und mit einem mächtigen Rucksack. Sie erinnert sich jetzt wieder. Das war vor etwa 15 Jahren in den Tiroler Alpen an einem Klettersteig. Sie wollte fotografieren, aber Walter wollte nicht warten. Er war nur sauer, weil sie nicht schnell genug nachkam. Diese Touren waren immer der Alptraum für sie. Er war, wie bei allem, was er tat, extrem. Sie dagegen hatte Höhenangst. Auf Klettersteigen bekam sie Schwindelanfälle, war stets in der Angst, abzustürzen. Er ignorierte es mit einem leichten Augenbrauenzucken und war davon überzeugt, alles sei lediglich eine Frage der Gewöhnung und des Willens. Sie war mit Walter dreißig Jahre lang quer durch Österreich geklettert und hatte sich dreißig Jahre lang nicht daran gewöhnt.
Ursula nimmt einen Schluck aus der feinen Porzellantasse. Der Tee ist kalt, sie trinkt ihn trotzdem aus. Dann schaut sie sich den Teesatz an. Er sagt ihr nichts.
Sie blättert weiter. Bergbilder, Bergbilder und nochmals Bergbilder. Gipfel, Blumen, Kühe – und Walter. Mal von nah, mal von fern. Auf keinem einzigen Foto findet sie sich selbst. Das gibt's doch nicht. Sie blättert das Album bis zur letzten Seite durch. Nein, nichts. Es ist, als hätte sie überhaupt nicht existiert.
Sie klappt das Buch zu, greift zum nächsten.
Das hätte sie sich denken können. Dieses verdammte Schiff. Da hat sich Walter doch tatsächlich ein eigenes Album angelegt, von dem sie überhaupt nichts wußte! Sie blättert es durch. Keine Menschen. Nur das Schiff. Von vorn, von hinten, in der Kajüte, vom Ufer aus, der Blick hoch in die Segel und Detailaufnahmen vom Steuerrad, vom Anker, vom Mast, von den Instrumenten, von den Positionslampen. Und dann Konstruktionspläne, sein Schifferpatent als beglaubigte Kopie, ein Prospekt über das Schiff, Seite für Seite säuberlich eingeheftet.
Nicht zu fassen. Sie klappt das Album zu. Dieses Schiff hat sie fünf Jahre lang im Schlaf verfolgt, und nun liegt es mehr oderweniger leibhaftig auch noch auf ihrem Schoß.
Walter war nicht nur ein extremer Bergsteiger, er war dazu auch noch ein extremer Segler. Dreißig Jahre lang nützte er jede freie Minute, wenn er nicht gerade einen Berg bezwang, um an der Ostsee irgendwelche neuen Rekorde aufzustellen. Er zischte mit seinem Soling zwischen Frachtern und Fährschiffen über die Lübecker Bucht hinaus in Richtung Dänemark und wieder zurück, nichts anderes im Sinn als seine Stoppuhr. Und sie fuhr mit. Nicht immer auf dem Schiff, weil sie dort seiner Ansicht nach ja doch alles falsch machte, aber von Frankfurt bis zum Neustädter Hafen. Und es war nie Urlaub, denn für Urlaub hatten sie nie die Zeit. Schon die Autofahrt war ein Wettkampf, ein Rennen von der Haustüre im betulichen Frankfurter Stadtteil Niederrad bis zur Hafeneinfahrt in Neustadt. Im Morgengrauen wollte er immer schon lossegeln, allerdings nur, wenn die Brise steif genug war. Wenn nicht, drehte er auf dem Absatz um, setzte sich ohne weiteren Kommentar wieder in den Wagen und trat mit ihr, möglichst ohne weitere Unterbrechungen, auf schnellstem Weg die Heimreise an. Sie hatte es mitgemacht, wie sie vieles andere auch mitgemacht hatte. Warum auch nicht, sie hatte ihn schließlich geheiratet.
Aber dann hat er vor fünf Jahren dieses verfluchte Schiff gekauft. Von ihrem gemeinsam verdienten Geld. Ohne sie zu fragen. Sie hatte für ihre alten Tage von einem Haus an der Algarve geträumt. Mit einer 15-Meter-Slup an der Ostsee war dies hinfällig. Sie haßt dieses Schiff.
Ursula schlägt das dritte Album eher widerwillig auf. Weihnachten 1983. Sie sieht das Wohnzimmer, wie es früher war, in der Ecke eine riesige, geschmückte Weißtanne. Der Kamerablitz hat nicht ganz ausgereicht, dafür reflektiert er im Fenster. Besonders schön sind die Fotos nicht. Aber wenigstens hat sie überhaupt fotografiert.
Sie blättert weiter. Ah, der festlich gedeckte Tisch für zwei Personen. Stimmt, Walters Mutter war in diesem Jahr gestorben. Davor war sie an Weihnachten immer zu Gast gewesen. Walters Vater war drei Jahre zuvor, 1980, gestorben, wie ihre eigenen Eltern, die bei einem Autounfall umgekommen waren. 1980 war ein richtiges Todesjahr gewesen.
Der Tannenbaum mit den Geschenken. Und Walter im dunklen Anzug. Er sah gut aus. Markante Gesichtszüge, klare Augen, hochgewachsene, drahtige Figur, braune, dichte Haare. Eigentlich hat er sich über die Jahre überhaupt nicht verändert. Noch nicht einmal graue Schläfen hat er bekommen. Wahrscheinlich ist er schon als Fünfzigjähriger geboren worden, es hat nur keiner bemerkt.
Ursula schaut sich die Bilder genau an. Das gediegene Wohnzimmer, das, seiner Ansicht nach, jederzeit bequeme Sitzgelegenheiten für mindestens zwanzig Besucher bieten mußte. Die dunklen Balken, die schweren Vorhänge, die Tapeten, die unsäglichen Stehlampen. Alles spiegelte seinen Geschmack wider. Ursula hat darüber eigentlich nie nachgedacht – nur von Zeit zu Zeit erschien ihr alles zu eng und zu dunkel.
Und jetzt ist er tot.
Ursula legt das Buch zu den anderen und schaut eine Weile durch das große Frontfenster in den Garten. In einem Monat ist Weihnachten, denkt sie. Und dann denkt sie nichts mehr. Es ist, als wäre die Schublade einer Kommode zugegangen und hielte ihre Gedanken gefangen. Sie schaut hinaus und ist völlig gedankenfrei, leer. Nach einer Weile steht sie auf und geht in die Küche, um sich einen frischen Tee aufzubrühen.
Die Innenarchitektin hält ihr Versprechen. Zwei Tage später klingelt Uwe Schwarzenberg an Ursulas Haustüre. Er hat früher das Stadtorchester einer benachbarten Kleinstadt geleitet, ist aber, nachdem das Kulturbudget der neuen Mehrzweckhalle geopfert worden war, ins Abseits gerutscht. Der Schmerz darüber sitzt tief bei ihm. Muß er sich, der er ein ausgemachter Schöngeist, ein Ästhet, ein begabter Komponist und Musiker ist, mit seinen 47 Jahren noch den Niederungen des Lebens aussetzen?
Er hatte bei einer Frankfurter Kleinkunstbühne vorgespielt, war zwar nicht genommen worden, wurde aber von einer der Laienschauspielerinnen auf seine Erfahrung mit Klavieren angesprochen. Das war nun wirklich sein Element, und die Innenarchitektin hatte ihm Ursulas Adresse gegeben. Er hatte nicht lange gezögert, seine schweren Musikerwellen gekämmt, war sich einige Male mit einer Fusselrolle über seinen schwarzen Pullover und die schwarze Hose gefahren und hatte sich auf den Weg gemacht.
Ursula ist glücklich. Oder zumindest empfindet sie eine Erleichterung. Endlich der erste Gast im Haus. Wenn auch nicht eigentlich ihr Gast, sondern mehr der des Flügels, so doch der erste Mensch in ihren neuen Räumen. Und er ist so kultiviert. Musisch durch und durch, ganz anders als ihr Walter, der sich mit »brotloser Kunst« nie aufhalten mochte.
Während Uwe andächtig vor dem Flügel steht, fährt sich Ursula leicht mit der Handfläche über ihr Haar. Es ist gewachsen, sicherlich sieht es ungepflegt aus. Das Gefühl behagt ihr nicht. Sie muß sich unbedingt einen Friseurtermin zum Nachschneiden geben lassen. Oder soll sie vielleicht eine ganz andere Frisur ausprobieren, wie es ihre Friseuse ihr schon seit langem erfolglos rät?
Mit einem Seufzer dreht sich Uwe zu ihr um. Er sieht interessant aus, findet sie. Groß, hager, ovale Gesichtsform, sinnlich weiche Lippen. Irgendwie wirkt er verwegen, wie ein Mann, der sich um nichts kümmert und sich gleichzeitig alles leisten kann.
»Sie haben hier ein sehr kostbares Stück«, sagt er und streichelt liebevoll mit den Fingern über das Holz. Ursula fährt ein Schauder über den Rücken. Es ist, als hätte er nicht den Flügel, sondern sie berührt.
»Darf ich?« fragt er und nickt in Richtung des Tastaturdeckels.
»Aber bitte«, sagt Ursula leise.
Als er jetzt sachte die Tastatur bloßlegt, fühlt sie fast etwas wie Scham, so als läge sie vor ihm.
»Darf ich?« fragt er wieder.
»Bitte«, flüstert sie.
Dann gleiten seine Finger über die Tasten, erst langsam und leise, dann schnell und laut, und schließlich hetzen sie, als seien sie dem Höhepunkt nahe. Dann der vieltönige Schlußakkord. Ursula erschaudert.
Es hört sich fürchterlich an. Geradezu grauenhaft.
Mit einem leisen Knall klappt der Deckel zu.
»Entsetzlich«, sagt er vorwurfsvoll, und Ursula fühlt ein nur allzu bekanntes Schuldgefühl aufsteigen.
»Wie kann man ein so wunderbares Stück nur so verkommen lassen! Der Flügel ist gut zehn Jahre nicht mehr gestimmt worden!«
»Zwanzig Jahre!« berichtigt Ursula, und der Zauber ist vorbei. Was fällt ihm nur ein, sich in ihrem Haus so aufzuführen. Schließlich ist es ihr Flügel! Selbst wenn er fünfzig Jahre nicht gestimmt worden wäre, wäre dies noch immer ihre Sache!
»Was ist er Ihrer Ansicht nach wert?« fragt sie knapp.
»Das ist ein Liebhaberstück, gut sechzig Jahre alt, vermutlich sogar älter! Das kann ich Ihnen so nicht beantworten!«
Klar, Walter hat recht gehabt. Musiker sind keine Geschäftsleute. Wie soll sich so einer mit Preisen auskennen.
»Ich bin davon ausgegangen, daß Sie das wissen. Wozu hätten Sie sonst den Weg machen sollen?«
Leicht verlegen streicht sich Uwe die weichen Haare zurück. »Ich kann Sie morgen anrufen und Ihnen einen ungefähren Preis nennen …«
Ungefährer Preis, wenn sie so etwas schon hört.
Unwillig kneift Ursula die Augen zusammen. Das hat Walter immer getan, wenn ihm etwas an ihr nicht paßte. Und jetzt zuckt auch noch die Augenbraue. Das war bei Walter die höchste Alarmstufe. Sei nicht so unhöflich, sagt sie sich im gleichen Moment. Schließlich hilft er dir ja nur. »Darf ich Ihnen etwas Heißes zum Trinken anbieten?«
»Ja, gern. Ich war recht lange unterwegs, und es ist wirklich kalt draußen!«
»Setzen Sie sich doch«, sie zeigt auf die Sitzgruppe. »Ist Ihnen ein Schwarztee mit einem Schuß Rum recht? Das ist das richtige Mittel gegen feuchtkalte Novembertage!
Uwe nickt und setzt sich auf die äußerste Kante des Sofas.
Bis Ursula mit ihrem Servierwagen aus der Küche zurückkommt, hat Uwe die halbe Couch eingenommen.
»Ich bewundere Ihre Einrichtung«, lächelt er ihr zu und entblößt regelmäßige, aber leicht nikotingefärbte Zähne.
Es freut Ursula trotzdem.
»Ja?« fragt sie aufmunternd, begierig darauf, ein paar Komplimente mehr zu erhaschen.
»Ja«, fährt er willig fort, »es steckt eine pure, ja, wenn ich so sagen darf, eine fast sinnliche Leichtigkeit darin, ein Ineinanderüberfließen von Farben und Formen, spielerisch abgestimmt mit einem Schuß Realismus«, er verharrt kurz und beobachtet Ursula, die, leise lächelnd, die feinen Porzellantassen mit der bräunlich dampfenden Flüssigkeit füllt. Dann setzt sie sich und sieht ihn abwartend an.
Mit einer theatralischen Handbewegung weist er in die eine Ecke: »Sehen Sie doch nur diese Regale, die die Ecke bedecken, ohne etwas zu verdecken, verstehen Sie? Diese Verbindung des schwerelosen Acryls mit der gestandenen, stabilen Mauer. Das ist Puritanismus, sehen Sie? Es hat fast etwas Religiöses, es muß erst auf einen wirken, ohne daß es einem in Wirklichkeit jedoch die Chance läßt, es tatsächlich zu begreifen. Und dies in der vollkommenen Harmonie mit den weiß getünchten, harten Wänden und dem hingebungsvolle Weichheit versprechenden rosafarbenen Boden.«
Ursula sitzt und staunt.
Dieser Mann ist begeistert von ihrer Einrichtung. Er findet es schlichtweg gut. Er macht Kunst daraus. Soviel Zustimmung, Übereinstimmung müßte sie freuen. Schließlich hat sie Beifall verdient.
Sie greift nach ihrer Tasse, und ihre Augenbraue zuckt wieder. Sie fühlt einen plötzlichen Ärger in sich aufwallen.
Walter hätte sich mit ihr angelegt. Er hätte ihr gesagt, daß dies die blödsinnigste Wohnung sei, die er je gesehen hat. 60 Quadratmeter Wohnfläche – und nichts drin außer zwei heiklen Couchelementen und einigen durchsichtigen Regalen. Aus Acryl! Zu nichts nütze. Und auch noch in der Ecke. Reine Augenwischerei. Kein Schrank, kein anständiger Tisch, keine stabile Lampe.
War dieser Mensch da drüben eigentlich blind? Konnte er diese Wohnung wirklich gutheißen?
Sie schaut zu ihm hin.
Er nickt ihr nochmals lächelnd zu: »Nein, wirklich sehr geschmackvoll, äußerst geschmackvoll. Ich muß Ihnen gratulieren! Tatsächlich!«
Ursulas schiefer Mund gerät noch eine Spur schiefer. Ein Waschlappen, sonst nichts. Er wagt keine Auseinandersetzung mit mir. Der Kerl hat kein Rückgrat. Sie steht auf.
Er stemmt sich mit beiden Armen aus dem Sitz. Wie ein Opa, denkt Ursula. Walter war sicherlich fast zehn Jahre älter als dieser Bursche hier, aber so wäre er nie aus dem Sessel gekrochen. Was war das nur für eine jämmerliche Kreatur.
Sie geht ihm voraus zur Türe, im offenen Türrahmen bleibt sie stehen.
»Also, ich rufe Sie dann morgen an und sage Ihnen, was Ihr Schimmel wert ist …«
Er streckt Ursula die Hand hin. Fast widerwillig ergreift sie sie. Sie hätte auf weich und schlabberig getippt, sie ist aber knochig und fest. Das behagt ihr schon wieder besser, und so aus der Nähe sieht er eigentlich ganz nett aus. Obwohl sie ja keinen Mann mehr will, aber mal als Begleitung? Schließlich ist sie von nun an ganz alleine …
»Mein Mann hatte eine Jagdhütte im Odenwald. Dort steht auch noch ein altes Klavier. Würden Sie sich das vielleicht auch noch anschauen, bevor Sie sich nach dem Preis des Flügels erkundigen?« hört sie sich zu ihrem eigenen Erstaunen sagen.
Er hält noch immer ihre Hand. Ihr Stimmungswechsel ist ihm nicht entgangen. Vielleicht hat sie der plötzliche Tod ihres Mannes doch mehr mitgenommen, als sie zugeben will. Er drückt ihre Hand in einem Anflug von Herzlichkeit: »Das ist eine gute Idee. Wann wollten Sie denn fahren?«
»Am kommenden Samstag, übermorgen, würde Ihnen das passen?« Sie entzieht ihm langsam ihre Hand, während sie einen Schritt ins Haus zurücktritt.
»Ich werde hier sein. Um dieselbe Zeit wie heute?«
Ursula nickt, dann schaut sie zu, wie er durch den Vorgarten zum Tor geht. Es sieht aus, als hüpfe ein Storch von Steinplatte zu Steinplatte. Walter hat sie an seinem festen Tritt bereits von weitem gehört. Dieser hier verursacht allenfalls ein leises Kratzen. Sie wartet nicht ab, bis er sich am Gartentor nochmals zum Abschied umdreht. Sie schließt die Türe und lehnt sich von innen dagegen.
Warum bloß hat sie ihn in die einsame Jagdhütte eingeladen?
Sie haßt diese Jagdhütte.
Und sie haßt auch dieses alte Klavier, das dort steht.
Überhaupt sind ihr alle Musikinstrumente unheimlich. Sie entwickeln ein Eigenleben, bringen Menschen zum Weinen, zum Lachen, treiben sie in Hysterie. Sie will sich nicht fremdbestimmen lassen. Durch keinen Mann und erst recht durch kein lumpiges Instrument. Sie geht ins Wohnzimmer zurück und wirft dem Flügel einen giftigen Blick zu: »Und du wirst auch bald nicht mehr da sein!« sagt sie laut.
Alle Blicke richten sich auf sie, als sie Samstagmorgen um neun Uhr den Friseursalon betritt. Herr Zieger, der Chef, eilt auf sie zu, fängt sie noch vor dem Empfangstisch ab. Mit theatralischer Gestik schüttelt er ihre Hand: »Wie bedauerlich, Frau Winkler, wie bedauerlich. Darf ich Ihnen mein tiefstes Beileid zum Tode ihres Mannes ausdrücken?« Etwas leiser fügt er hinzu: »Wir haben Ihnen natürlich ein etwas separates Plätzchen reserviert, damit Sie Ihre Ruhe haben. Meine Frau wird gleich bei Ihnen sein. Kommen Sie bitte«, er geht Ursula voraus in den hinteren Bereich des Salons. Ursula registriert die Reaktionen der Kunden im Vorbeigehen. Manche kennt sie persönlich, andere nur vom Sehen. Aber keiner weiß anscheinend so genau, wie er sich ihr gegenüber verhalten soll. Nur zwei nicken ihr offen zu. Die anderen tun angestrengt so, als hätten sie sie nicht bemerkt, oder sie beobachten sie heimlich durch den Spiegel. Wie muß es erst sein, wenn man plötzlich im Rollstuhl sitzt, denkt Ursula, muß sich dann aber eingestehen, daß sie mit der Krankheit oder der Trauer anderer Leute auch nicht umgehen kann. Trösten und Aufmuntern gehören nicht zu ihrer Stärke. Durchbeißen und kämpfen, das hat sie von Walter gelernt. Da waren mütterliche Eigenschaften nicht gefragt.
»Ist es recht so?« fragt Herr Zieger und weist auf einen Friseursessel, dessen Nachbarplätze rechts und links unbesetzt sind. Wie für eine Aussätzige, denkt Ursula unwillig. Na ja, aber vielleicht ist es ja wirklich besser so. Dann spricht sie wenigstens keiner an.
»Darf ich Ihnen einen Kaffee bringen lassen, Frau Winkler?«
»Ja, bitte!«
Ursula setzt sich, lehnt sich zurück und schließt die Augen.
Sie wird sich entspannen, einstellen auf den Nachmittag mit Uwe Schwarzenberg. Zunächst hat sie sich über ihre Entscheidung geärgert und wollte ihm eigentlich absagen. Doch ein Uwe Schwarzenberg stand nicht im Telefonbuch, und die Innenarchitektin kannte seine Adresse nicht. Also nahm sie sich vor, ihn am Samstagnachmittag wieder nach Hause zu schicken.
Gestern hat sie es sich plötzlich anders überlegt. Was ist schon dabei, wenn sie wieder am Leben teilnimmt. Uwe Schwarzenberg ist ein netter, gutaussehender Mann, mit ganz anderen Interessen und sicherlich auch Gesprächsthemen, als sie sie gewöhnt ist. Das könnte ihr doch eigentlich nur guttun, den Horizont erweitern. Bei Telefonaten mit ihrer Firma verhielten sich alle, als dürfe man ihr jetzt nicht mit Alltäglichem kommen, sie nicht mit Problemen belästigen. Möglicherweise hat aber auch Manfred Kühnen entsprechende Anweisungen gegeben, weil er jetzt seine Chance wittert, das Steuer ganz an sich zu reißen. Der wird sich wundern.
»Guten Tag, Frau Winkler!«
Im Spiegel sieht Ursula die junge, hübsche Frau von Herrn Zieger hinter sich stehen. Sie hat ihr langes, blondes Haar hochgesteckt, nimmt dadurch ihre herausfordernde Attraktivität etwas zurück, wirkt auch durch ihr natürliches Make-up entwaffnend bescheiden.
»Guten Tag, Frau Zieger, schön, daß Sie Zeit für mich haben!«
Ursula reicht ihr die Hand.
»Aber das ist doch keine Frage … es tut mir sehr leid um Ihren Mann, Frau Winkler. Mein herzliches Beileid. Es muß furchtbar sein!«
»Danke!«
Ursula dreht sich in ihrem Drehsessel wieder um, schaut in den Spiegel. Ist es furchtbar? Sie weiß es nicht. Sind dreißig Jahre nicht auch furchtbar?
»Was machen wir? Nachschneiden?«
Soll sie es wagen? Kann sie sich jetzt, da sie eben ihren Mann verloren hat, eine neue Frisur leisten?
»Ja, nachschneiden bitte!«
»Waschen auch? Und vielleicht eine Packung? Und …« Sie zögert. Anscheinend überlegt sie, ob sie so etwas einer frischen Witwe anbieten kann, »vielleicht eine leichte Tönung? Ihr Haar wird in der letzten Zeit sehr grau, wenn ich das mal so sagen darf.«
Diese Friseurfloskeln hat sie wohl von ihrem Mann. Es paßt gar nicht zu ihr. »An welche Art von Tönung dachten Sie?«
»Ich würde die sehr weißen Haare wieder etwas zurücknehmen, mehr ins Dunkelgraue. Schwarz wäre zu hart, aber ein schönes Anthrazit, das könnte ich mir gut vorstellen.«
Anthrazit kennt Ursula bislang nur an Autos. Walter hat seine Mercedes in den letzten Jahren immer in Anthrazitmetallic bestellt.
»ja, bitte, wenn Sie meinen …«
Daß ihre Haare angeblich so weiß sein sollen, ist ihr noch gar nicht aufgefallen. Aber es ist auch egal. Hauptsache, es geschieht etwas.
Frau Zieger ruft ein Lehrmädchen und beauftragt sie, ihr dies und jenes herzurichten. Herr Zieger persönlich serviert den Kaffee.
»Ich habe Sie bewundert, Frau Winkler«, sagt dann die junge Chefin unvermittelt. »Wie Sie so am Grab Ihres Mannes standen, so alleine und so gefaßt, ich hätte das nicht geschafft!«
War sie denn dabei? Hatte sie ihr auch die Hand gedrückt?
»Es hat mich sehr beeindruckt, wie Sie Ihre Gefühle in der Gewalt hatten!«
Gefühle in der Gewalt haben. Das hat sie auch von Walter gelernt. Walter hatte seine Gefühle stets in der Gewalt. Er konnte sie ganz einfach ausknipsen. Wenn er mit dem Berg oder dem Meer alleine war, wenn er gegen sich und die Natur kämpfte, dann kannte er keine Angst, keine Müdigkeit, keinen Schmerz. Sie weiß nicht einmal, ob er sich richtig gefreut hat, wenn er auf dem Gipfel stand oder wieder heil im Hafen angekommen war. Er hatte immer sofort wieder ein neues Ziel vor Augen.
Manchmal hat er auch vergessen, seine Gefühle wieder anzuknipsen.
Ihr gegenüber, beispielsweise.
Sie denkt an ihre gemeinsamen Nächte mit Walter.
Für ihn war das nur ein zusätzliches Betätigungsfeld zwischen Meer und Berg.
Und sie hat es nicht anders gekannt. Hat sie es sich überhaupt anders gewünscht? Oder hat sie ihre Wünsche nur im Laufe der Jahre vergessen? Oder war er früher anders? Hat er sich während der Ehe verändert?
Sie versucht, sich an die Anfangsjahre zu erinnern. Nein, überschwengliches Begehren, Liebe und Zärtlichkeit – so, wie man das aus Büchern oder Filmen kennt, so war das nie.
Es gehörte eben dazu, das war alles.
Und sie wußte immer, wann es wieder soweit sein würde.
Sie hörte es an seinen Bewegungen im Bad, daran, wie er den Zahnputzbecher hinstellte, daran, wie lange er duschte, roch es an dem Rasierwasser, das er sich nochmals an die Wange klatschte. Ob er jemals eine Geliebte hatte? Ob er da anders war? Heißblütiger, phantasievoller, einfühlsamer?
Sie kann es sich nicht vorstellen. Wann auch, sie waren ja fast immer gemeinsam unterwegs.
So eine Liebe wäre nur zwischen Chefsessel und dem Schreibtisch der Sekretärin möglich gewesen.
Ob er da?
Walter und Regina Lüdnitz?
Sie kann es sich nicht vorstellen. Der Drei-Minuten-Akt zwischen Zeitungslesen und der Morgenkonferenz.
Fast bringt sie der Gedanke zum Lachen.
Komisch, daß sie so vieles in all den Jahren einfach hingenommen hat, als gottgegebenen, nicht zu verändernden Zustand. Dabei stand sie doch beruflich voll ihren Mann, war respektiert, angesehen, verstand das Verpackungsgeschäft bis in die kleinste Kleinigkeit. Nur, ihren Mann hat sie nicht verstanden. Hat sie überhaupt jemals über ihn nachgedacht?
Hat er über sie nachgedacht? Sich bemüht, sie zu verstehen?
Was hätte er auch verstehen sollen. Hat sie sich jemals zu irgend etwas geäußert, was nicht Geschäft, Politik oder Wirtschaft betraf? Haben sie sich jemals gegenseitig ihre Träume erzählt?
Das hätten sie wohl beide lächerlich gefunden.
Nein, es gab Dinge, die waren zu unwichtig, als daß sie sich deswegen mit Walter angelegt hätte.
Und es gab Dinge, die waren in ihrer Bestimmung so klar, daß es keinen Sinn gehabt hätte, sich deswegen mit Walter anzulegen.
Kein Mensch hat sich jemals mit Walter angelegt.
Er war ein Skorpion, durch und durch.
Es war gefährlich, ihm zu nahe zu kommen, Frosch spielen zu wollen.
Ursula läßt ihren dunkelblauen Golf vor der Doppelgarage stehen. Gegen 15 Uhr würde Herr Schwarzenberg eintreffen, also noch Zeit genug, um sich an den Schreibtisch zu setzen und den Rest der Kondolenzbriefe zu beantworten, die sich noch immer im Eingangskästchen stapeln. Sie hat sich 200 Danksagungskarten drucken lassen, das erleichtert die Arbeit. Am liebsten hätte sie sowieso alles Frau Lüdnitz übertragen, aber das hätten die in der Firma vielleicht falsch verstanden. Ihr lag nichts an rührseligem Geschreibsel. Walter hätte ebenso gedacht. Er hätte im umgekehrten Fall sicherlich nicht gezögert, Frau Lüdnitz mit den Begleiterscheinungen ihres Ablebens zu belasten.
Ursula setzt Wasser auf und streicht sich dazu ein Butterbrot. Dann holt sie sich fünf der dickeren Briefe und legt sie neben den Teller auf den kleinen Küchentisch. Soll sie das überhaupt alles durchlesen, oder soll sie die Post einfach so beantworten? Unterschrift unter die Vordrucke und basta? Sie nimmt ein scharfes Küchenmesser und schlitzt den ersten Brief auf.
Ausgerechnet den von Manfred Kühnen hat sie erwischt.
Muß sie sich das jetzt antun?
Der Wasserkessel pfeift, sie gießt den Tee auf und beginnt zu lesen.
Ein genialer Lügner, dieser Herr Kühnen.
Was er alles an Walter geschätzt hat. Daß ich nicht lache. Güte und Gerechtigkeit? So ein Blödsinn. Charakterstärke und Durchsetzungsvermögen. Das ja. Rücksichtslosigkeit und Selbstherrlichkeit – das hat er vergessen, der liebe Herr Kühnen. Sie steckt den Brief wieder in den Umschlag zurück.
Sie reißt den nächsten auf.
Es ist der reinste Bettelbrief.
Eine Organisation – für was? Gegen Legebatterien und Tierquälereien bei Tiertransporten – bittet um eine Spende im Andenken an ihren Mann. Was haben Schlachttiere mit Walter zu tun? Eine Unverschämtheit. Was gehen sie die Probleme anderer Leute an? Und wie kommt diese Organisation überhaupt darauf, ihr zu schreiben? Sie schaut nach der Unterschrift. Verena Müller. Ist das nicht die Kleine aus der Buchhaltung? Oder hat da nur jemand zufällig denselben Namen? Sie wird sich gleich am Montag darum kümmern. Der wird sie was erzählen. Am besten sollte sie ihr gleich kündigen.
Die Lust zum dritten Brief ist ihr vergangen.
Sie setzt sich, trinkt ihren Tee, beißt in ihr Brot und öffnet ihn dann doch.
Ihre Nachbarin hat ihr geschrieben.
Nett und unverbindlich.
Na also, geht ja doch!
Sie wird nett zurückschreiben.
Die Nummer vier ist von Bankdirektor Julius Wiedenroth. Klar, daß der sich etwas zusammensülzt, er hat Angst, die Alte könnte die Bank wechseln.
Der letzte ist von Ludwig. Dazu legt sie ihr halb aufgegessenes Brot auf die Seite. Mal gespannt, was der sich hat einfallen lassen. Er schreibt von gemeinsamen Tagen, von gemeinsamen Unternehmungen, von gemeinsam verbrachten Abenden bei auserlesenen Weinen. Seinen. Ja, stimmt, die Stunden gemeinsam mit Ludwig waren immer erfreulich. Irgendwie anders, gelöster, lustiger. Vielleicht lag es aber wirklich an seinem Wein. Er hält viel darauf, gibt ein Vermögen dafür aus. Walter hat nur den Kopf darüber geschüttelt. Und trotzdem hat er sich zu Ludwigs fünfzigstem Geburtstag eigens von Hardy Rodenstock einen Château Cheval Blanc, Premier Grand Cru Classé »A«, Saint Emilion 1947, in der Impériale schicken lassen. Nicht gerade Ludwigs Geburtsdatum, aber dafür die größte Rarität, die bei dem Münchner Weinprofi gerade lagerte. Sechs Liter zu 40 000 DM. Und bis die Kostbarkeit fachgerecht an Ort und Stelle lag, war nochmals ein Tausender weg. Ursula wollte damals angesichts des Preises in Ohnmacht fallen, aber Walter freute sich diebisch über sein gelungenes Geburtstagsgeschenk. Womit würde Ludwig zu seinem eigenen Geburtstag, sechs Tage später, noch gleichziehen können? Mit einer goldenen Pinne?
Ursula stellt Tasse und Teller in die Spüle. Das kann morgen früh Frau Paul erledigen. Zweimal in der Woche kümmert sie sich um den Haushalt, die restlichen drei Tage arbeitet sie in der Firma. Ihr Lohn kann so über den Betrieb abgerechnet werden. Das ist billiger. Nur an die Wäsche durfte Frau Paul nie ran. Das wollte Walter nicht. Irgendwie konnte er es wohl nicht haben, wenn eine Fremde seine Unterwäsche, seine Socken und seine verschwitzten Sportsachen wusch. Ursula war das egal, Waschmaschine und Trockner erledigten das schnell, und sie bügelte, wenn sich Walter um den Garten kümmerte. Aber jetzt könnte sie das eigentlich ändern. Frau Paul könnte ihre Wäsche getrost übernehmen, und Herr Paul könnte sich sinnvollerweise um den Garten kümmern.
Ursula setzt sich bis zwei Uhr an den Schreibtisch. Sie liest keine weiteren Briefe, unterschreibt nur die Formkarten, schreibt die Adressen auf die schwarzumrandeten Kuverts, klebt eine Sonderbriefmarke darauf und legt sie ins Ausgangskörbchen. Ordnung muß sein. Sie arbeitet sauber und zügig und ist Punkt zwei Uhr fertig mit ihrer Arbeit. Die Kuverts reihen sich aus dem Körbchen hinaus bis weit über den Schreibtisch. Was das alleine an Briefmarken kostet!
Sie steht auf und geht hinauf in ihr Bad. Zum ersten Mal steht sie nach ihrem Friseurbesuch nun vor einem eigenen Spiegel. Doch, ja, sie sieht anders aus. Sie dreht sich. Die Haare schwingen und fallen dann wieder von selbst in ihre Lage zurück. Frau Zieger hat gut geschnitten. Und der Farbton ist wirklich nicht schlecht. Dezent anders, aber eben anders!
Ursula zieht die Lippen sorgfältig mit einem blaßrosafarbenen Stift nach, gibt dunkelgrauen Kajal auf das untere Augenlid und klopft sich etwas Caviarextrakt unter die Augen.
Kostüm oder Pullover mit Hose? Das dunkelgrüne Tweedkostüm hatte sie manchmal an, wenn sie mit Walter in die Hütte gefahren ist. Aber das kam nicht oft vor, Walter war überhaupt kein leidenschaftlicher Jäger – das heißt, vielleicht war er ja ein leidenschaftlicher Jäger, aber kein leidenschaftlicher Heger. Und da das eine ohne das andere nicht geht, hat er Ludwig das Revier überlassen. Ludwig schleppte im Winter Futter hin und schoß im Herbst wirklich nur das Wild, das zum Abschuß freigegeben war. Bei Walter wäre sie sich da nicht so sicher gewesen. Aber Ludwig war eben Arzt. Er konnte nicht anders.
Sie entscheidet sich für einen dicken, dunkelgrünen Wollpullover und für eine dunkelbraune Stoffhose. Um die Schultern legt sie sich ein gedecktes Seidentuch, steckt es mit einer schlichten Silberbrosche am Pullover fest. So, noch dicke Stiefel, Lederhandschuhe und die wetterfeste Microfaserjacke, dann kann Herr Schwarzenberg von ihr aus kommen. Im selben Moment klingelt es an der Haustüre.
Es ist schwierig, mit einem Fremden über eine Stunde lang in einem kleinen Wagen zu sitzen. Worüber soll sie mit ihm reden? Sie hat gehofft, daß er ihr ein bißchen aus seinem Leben erzählt, aus der Welt der Musik, dem völlig anderen Leben. Aber er ist recht wortkarg. Ist er etwa schüchtern? Damit überhaupt etwas gesprochen wird, erklärt sie ihm, daß er sich dicker hätte anziehen müssen. Die Hütte sei lange nicht geheizt gewesen, es dürfte kalt und klamm dort sein. Bis der Kachelofen endlich Wärme abgebe, hätten sie das Haus schon wieder verlassen. In Wahrheit traut sie Uwe Schwarzenberg nicht zu, den Ofen überhaupt in Gang zu bekommen. Dazu muß man mit Feuer umgehen können. Aber das sagt sie ihm nicht.
Sie erzählt ihm die Geschichte der Hütte. Wie ihr Mann sie vor 15 Jahren entdeckt hat, wie begeistert er war, wie er sie nach seinem Geschmack einrichten ließ, mit einem Schlafzimmer im alpenländischen Stil und sogar mit einem modernen WC. Fließendes Wasser aus dem öffentlichen Netz gäbe es allerdings nicht, dazu läge das Häuschen zu einsam. Und manchmal sei auch der Fahrweg schier unpassierbar, deshalb habe Walter immer darauf bestanden, daß sie einen Wagen mit Allradantrieb fuhr. Und nachdem Walter erst einmal den Golf Synchro entdeckt hatte, stellte sich bei keinem Neukauf mehr die Frage nach dem Fabrikat. Ursula lächelt: »Allerdings ist noch keiner dieser Wagen ernsthaft zum Einsatz gekommen. Dafür haben sie sich dann im Winter bewährt, wenn es in Frankfurt mal schneite.« Dann hat Ursula keine Lust mehr, ihren Beifahrer weiterhin zu unterhalten. Und ihm scheint der Sinn auch nicht danach zu stehen. So bleibt es still.
In Aschaffenburg verläßt Ursula die Autobahn nach Würzburg, fährt zügig über die gut ausgebaute Bundesstraße.
»Wir sind jetzt ein kurzes Stück auf der Nibelungenstraße«, unterbricht sie kurz vor Amorbach die Stille und nutzt die Gelegenheit, um ihn zu mustern. Ihm scheint es nichts auszumachen, fast hautnah und schweigsam neben ihr zu sitzen. Sie hat sich getäuscht. Er wirkt nicht still und verkrampft, sondern still und entspannt, fast genießerisch. Eine seiner schwarzen Locken ist ihm in die Stirn gefallen. Er streicht sie mit einer weichen Handbewegung zurück und schaut Ursula dann mit einem leisen Lächeln an: »Ich war noch nie im Odenwald. Ich war in England, in Frankreich, in Spanien und in Griechenland, aber noch nie im Odenwald.«
Ursula nickt: »Von Niederrad aus ist der Odenwald ja leider auch nicht gerade um die Ecke. Das ist auch der Grund, weshalb wir so selten da waren. Aber jetzt ist es nicht mehr weit. Von Amorbach aus sind es noch höchstens fünfzehn Minuten.«
»Es macht mir nichts aus, ich fahre gern mit Ihnen durch die Landschaft. Sie fahren sehr sicher.«
Ursula wirft ihm einen kurzen Blick zu. Sieh mal einer an. Walter hätte es neben ihr auf dem Beifahrersitz nie ausgehalten. Wenn sie sich recht erinnert, hat er es in all den Jahren nicht einmal versucht. Selbst als er sich bei seinem Felssturz vor sieben Jahren die beiden Rippen angebrochen hatte, fuhr er selbst wieder zurück. Sie hatte auf dem Beifahrersitz abgewartet, bis er aufgeben und sie bitten würde, das Steuer zu übernehmen. Aber er gab nicht auf. Er schaffte es bis zu Ludwig.
Warum beharrte er eigentlich so darauf, am Steuer zu sitzen?
Nein, es stimmt nicht, es war nicht einmal ein Beharren.
Sie haben nie darüber gesprochen.
Es war einfach eine Selbstverständlichkeit.
Er wollte es einfach nicht.
In der Zwischenzeit ist es dunkel geworden. Schade, denn die Landschaft ist wirklich reizvoll.
»Schade, daß man jetzt nichts mehr sieht!« Er schaut sie mit einem bedauernden Blick an.
»Das dachte ich auch gerade.«
»Vielleicht können wir ja einmal früher herfahren und ein bißchen wandern?«
Was bildet er sich ein? Sie hat doch mit keinem Wort gesagt, daß es ihr um etwas anderes geht als um das Klavier. Oder glaubt er das etwa?
»Ich hoffe nicht, daß ich so bald nochmals herfahren muß. Ich möchte die Hütte schnellstmöglich loswerden.«
»Wie schade. Ich beneide Sie um ein solches Kleinod in der Natur.«
»Sie haben sie ja noch gar nicht gesehen.«
Er sagt nichts mehr.
»Sie können sie ja kaufen«, fügt Ursula noch hinzu.
Uwe Schwarzenberg schweigt.
Schweigend erreichen sie zwanzig Minuten später den Weg, der durch den Wald zu der kleinen Lichtung führt, auf der die Jagdhütte steht. Der Weg ist frisch mit Kies aufgeschüttet. Jetzt wäre Walters Allrad-Argument überholt.
Warum kann sie nicht aufhören, ständig an Walter zu denken? Es ist ja fast so, als ob er noch da wäre, sie ständig begleiten würde.
»Das ist wirklich spannend«, Uwe Schwarzenberg schaut angestrengt nach vorn. Die Lichtkegel tasten sich um jede Kurve voran, zeigen Laubbäume, dazwischen hochgewachsene Tannen, einen immer dichter werdenden Mischwald.
»Vorsicht«, ruft er plötzlich.
Ein Hase sitzt mitten auf dem Weg, schaut ihnen entgegen.
»Er wird schon weggehen«, antwortet Ursula, ohne den Fuß vom Gas zu nehmen.
»Bremsen Sie doch, er ist vom Licht geblendet, er kann nicht weg!« Sie hält den Wagen an.
Der Hase sitzt unbeweglich.
Welch schönes Ziel.
Uwe öffnet die Wagentüre: »Husch, husch«, ruft er und klatscht dabei in die Hände.
So eine lächerliche Figur, denkt Ursula.
Der Hase springt auf und läuft davon. Aber mitten auf dem Weg. Ursula fährt wieder an. Im Lichtschein vor ihnen hoppelt das Langohr.
»Er ist einfach dumm«, sagt Ursula. »Er ist selber schuld, wenn er überfahren wird. Das nennt man Selektion.«
»Er kennt keine Autos, er erkennt die Gefahr nicht! Machen Sie einfach mal das Licht aus, dann wird er in den Wald flüchten.«
»Und wir fahren gegen einen Baum!«
Wie verwünscht sie ihren Ausflug mit diesem Vollidioten. Sie muß wirklich von allen guten Geistern verlassen sein. Aber sie bremst und schaltet auf Standlicht.
Tatsächlich, der Hase ändert den Kurs, flüchtet nach rechts ins Gebüsch.
»Woher kennen Sie sich in der Hasenpsyche aus?« fragt sie spöttisch und fährt mit Aufblendlicht wieder los.
»Ich bin selber einer«, antwortet er und lehnt sich wieder in den Sitz zurück.
»Ich bin lieber der Jäger.« Sie wirft ihm einen kurzen Blick zu, er zuckt mit keiner Wimper, schaut stur geradeaus durch die Windschutzscheibe.
Das Haus ist völlig in Ordnung, soweit sie es im Lichtkegel ihres Autos sehen kann. Prima. Keine Vandalen haben versucht, den Gartenzaun auseinanderzureißen, kein Obdachloser ist eingebrochen, kein Grüner hat seine Parolen an die Haustüre geschmiert. Das dunkelbraune Blockhaus steht völlig unbeschädigt da. Ursulas gute Laune kehrt zurück.
»Dann wollen wir mal schauen«, sagt sie, schaltet den Motor aus und greift nach dem Schlüsselbund.
»Ein sehr idyllisches Plätzchen«, Uwe Schwarzenberg streicht seine Locke nach hinten. »Wünschen Sie nicht auch manchmal, malen zu können? So etwas im Bild festzuhalten?«
»Malen?« Ursula ist irritiert. Dazu hat sie nun überhaupt keinen Bezug. »Wenn ich es schon besitze, wozu soll ich es dann malen wollen? Ich kann doch jederzeit herkommen und es mir anschauen!«
»Ja, ja, da haben Sie natürlich recht«, antwortet er eilfertig, »aber es ist ja doch vielleicht etwas anderes …«
Schau an, jetzt redet er mir wieder nach dem Mund. Seine renitente Hasenphase ist wohl vorbei, denkt Ursula und schließt auf. Sie stehen im Vorraum. Sie greift nach der Taschenlampe, die am Eingang an ihrem Platz hängt, und öffnet gleich rechts eine Türe, die durch einen Abstell- und Vorratsraum zur Toilette führt. Dort steht auch der Generator.
»Warten Sie einen Moment, ich schalte nur schnell den Generator ein, damit wir Strom bekommen.«
Ob er im Dunkeln wohl Angst hat?
Sie öffnet die mit einem Abluftrohr versehene schalldichte Kammer, die Walter extra hatte einbauen lassen, um das Brummen des Generators zu dämmen, und zieht mit einem schnellen, kräftigen Ruck am Seilzug. Ohne Zögern springt der Generator an. Toll. So lange unbenutzt, und trotzdem ist er auf den ersten Impuls da. Dinge und Menschen, die funktionieren und zuverlässig ihre Arbeit tun, gefallen ihr.
Ursula geht zu Uwe Schwarzenberg zurück, betätigt dann im Vorraum den Lichtschalter und öffnet die massive Holztüre in den Wohnraum.
»Kommen Sie, kommen Sie«, sagt sie über die Schulter und tritt dann auf die Seite, um ihn hereinzulassen.
Er sagt zunächst überhaupt nichts, bleibt mitten im Raum stehen.
Ursula kümmert sich nicht um ihn, sie geht zu den beiden Stehlampen, schaltet sie ein.
Dann dreht sie sich nach ihm um.
»Hier steht das Klavier«, sie weist auf das Klavier, das etwas abseits in einer Nische steht.
»Ja, danke«, Uwe Schwarzenberg bewegt sich noch immer nicht.
Ursula schaut ihn ungeduldig an.
»Es ist – es ist unsäglich«, haucht er endlich.
»Was?« fragt sie barsch.
»Das hier«, er macht eine weite Armbewegung, »alles hier.«
Stimmt, Ursula hat den mit ausgestopften Tieren vollgehängten Raum von jeher scheußlich gefunden. Aber das bedeutet noch lange nicht, daß ein Uwe Schwarzenberg das Recht hat, so etwas auch zu tun. Oder versucht er schon wieder, sich bei ihr einzuschmeicheln? So wie in ihrem Wohnzimmer zu Hause? Wie war das noch? Eine sinnliche Leichtigkeit mit einem Schuß Realismus?