JANUAR
Die Glocken verstummten, und in der großen Stille begab sich die fröhliche Gesellschaft ans Fenster; man blickte in die verschneite Nacht hinaus und sann der verrinnenden Zeit nach. Dachte an seine Toten und ans Leben.
Was erwarte ich mir denn noch vom Leben? – dachte ich, das Champagnerglas in der Hand. Leben, zeitlich unbegrenzt, wie die Zelle, deren Ehrgeiz und einzige Daseinsberechtigung das uneingeschränkte Sein ist? Nein, nach dem immerwährenden Leben sehne ich mich nicht mehr. Alles habe ich schon gekostet, den Tod und sämtliche Freuden probiert! Jetzt muss es schon der Sinn des Lebens sein. Und was wäre dieser Sinn? Die Jahre haben auch vor diesem Geheimnis den Schleier gelüftet: Eines Morgens bin ich aufgewacht, und mein Leben war erfüllt davon. Alles war nun einfacher, interessanter und hoffnungsloser. Der Sinn des Lebens ist die Wahrhaftigkeit. Jenseits allen Sinnens und Zweifelns, des Suchens und der Befriedigung, der Irrtümer und Trugbilder, der Erscheinungen und des Verfalls gibt es irgendeinen kollektiven Sinn, er strahlt und durchdringt alles. Diese Wahrhaftigkeit ist nicht kategorisch. Das Leben ist verstrichen, derweil ich mich nach etwas gesehnt und gehofft habe. Ich bin nur ein Mensch. Man hat Verschiedenes von mir erwartet: Liebe und Hass, Unmenschlichkeit und Menschlichkeit, und alle wollten sie alles. Doch das Leben wollte von mir nur das eine, Wahrhaftigkeit. Das ist meine Bestimmung. Schwer, dies zu erkennen, und schwerer noch, es zu ertragen. Aber vielleicht gibt es gar keine andere Möglichkeit, als im Zeichen der Wahrhaftigkeit zu leben. Fürwahr, diese Gewissheit lässt einen wie mit Dynamit beladen unter den Menschen wandeln. »Üben« kann man die Wahrhaftigkeit nicht, weil der Mensch das einfach nicht aushält. Aber fühlen kann man sie, schweigend, wie eine Ahnung von Gott: Das ist der Sinn des Lebens. Alles, was das Leben bietet, durch dieses eigentümliche, unbarmherzige Vergrößerungsglas betrachten, das Gott uns gab und für das die profane Bezeichnung Vernunft ist. Ich glaube an nichts anderes mehr, sehne mich auch nach sonst gar nichts als nach Wahrhaftigkeit der Vernunft. Alle wollten mich erniedrigen, mich vereinnahmen, die Menge und auch Einzelne, die Arbeit und die Frauen, der Tod und die Freuden. Aber es gibt über all diesem eine gewisse Freiheit, die man mir jetzt nicht mehr nehmen kann. Ich bin zu einer Art Reife gelangt. Reif fürs Leben? Oder für den Tod? Reif für die Wahrhaftigkeit bin ich, reif, gerüstet mit Vernunft, um den Angriff der Welt und des Todes durchzustehen. Wie interessant und einfach jetzt alles ist! Alles, was zuvor so wohlgefällig und verdächtig anziehend, auch ein wenig unheimlich und drohend war hinter dem Nebelschleier der Sehnsüchte, der Träume und albernen Hoffnungen. Die Zeit offenbarte mir, dass der Tod eines der imposanten Geschenke des Lebens ist, aber auch Antwort und Erklärung. Die Vernunft hat mich gelehrt, dass jede Befriedigung als Tribut an den Tod zu begreifen ist. Irgendeine sehr zarte Todesangst liegt jeder Freude zugrunde. Doch die Wahrhaftigkeit, die aus der Wahrnehmung und dem Traum, aus der Erfahrung und den Gedanken, aus Gedichten, Landschaften, aus der Musik und allen Gegenständen auf einmal zu mir zu sprechen begann, dieses wunderbare, kalt strahlende Licht, das feinste und grausamste Empfinden, hat das Leben zu einem kalten und heidnischen Fest verklärt. Schließ mich in deine Arme, Zeit, spül mich am Ufer der Unendlichkeit entlang. Ich fürchte mich vor deiner Umarmung nicht mehr; ich nehme sie offenen Auges, nicht beglückt, aber doch auch nicht unglücklich entgegen.
MIT DEM GEHEIMNIS LEBEN
Mit einem Geheimnis leben wie Menschen vergangener Zeiten, die alles erzählten, niederschrieben oder gestanden, nur das eine nicht, das in ihrem Herzen brannte; leben wie einst die Dichter oder die Gardeoffiziere, die sich wegen eines Missverständnisses duellierten, diesen einen Namen aber nicht einmal auf der Folterbank preisgaben – und Folterbänke gibt es viele! –, leben mit einem Siegel auf Herz und Mund, zum Himmel aufschauen, über alles reden, nur über das eine schweigen, bis in den Tod. Schweigen, wie Puschkin es tat. Ein Gedicht, einen Roman darüber schreiben? Ja. Sich der Psychoanalyse anvertrauen? Niemals.
DEM SCHICKSAL ENTGEGEN
Oh, die Schwachköpfe, die nicht ans Schicksal glauben! Sie wissen nicht, dass jeder Vorsatz, jegliche Kabale und Kniffe vergeblich sind, eines Abends im Dämmerlicht wird sich ein Schatten über die besonnte Szenerie des Lebens legen; was gestern unter deiner Hand noch tadellos und akkurat zusammenstand, kann heute schon zu Schutt zerfallen, was gestern tiefe Empfindung, eine innige Verbundenheit war, ist heute zähflüssiger Brei und Last, was gestern noch voll Schwung daherkam, rafft sich am Morgen danach gerade noch zu müdem Schlurfen auf! Dem Schicksal ins Auge sehen, das dem Rhythmus des Lebens ausgleichend entgegenwirkt. Der furchtbare, verwirrende Augenblick, wenn ganz ohne »Grund«, ohne einen »Fehler« die Balance des Lebens kippt, rund um deine Person nichts bleibt als ein rauchender Trümmerhaufen und über dir der graue Himmel und stumme Götter! Wohin strebst du so anmaßend und stolz, du Tor? Verneige dich und antworte ruhig: »Dem Schicksal entgegen, dem Schicksal entgegen.«
DOPING
Soll ich mit dir gehen, abends um sieben, die Drei-kleinenFerkel ansehen? Gut, ich komme mit. Und überhaupt, wie du siehst, bin ich schon ganz ergeben.
Doch glaube nur nicht, dass diese Ergebenheit dir gilt. Ich füge mich, weil du mir leid tust. Du tust mir leid, weil auch du – wie die ganze Welt, wie die Zypressen und der Vesuv, wie die Betäubung oder das Aspirin, wie die Sterbenden oder der Regen, wie all das – nur Doping bist für mich, künstliche Droge, mit der ich mich zu meinem ewigen Wettstreit rüste.
SOUVENIR
Durchgefroren kam ich heim in der Nacht und verlangte vor dem Schlafengehen ein heißes Bad. Während sich das dampfende Wasser in die Wanne ergoss, ging mir durch den Kopf, dass immer jenseits der gezähmten Natur auch eine andere noch ihre Zähne zeigt, die echte, die wir schon fast vergessen haben – in diesem frostigen nächtlichen Augenblick schwimmen Walrosse und Wale unter den Eisschollen des Nordmeers, auf den Schneefeldern gehen im Mondschein mächtige Eisbären auf Jagd. All das ist zeitlos, ohne Kalender, ohne Weihnachten, und es gibt keinen Grund und auch keine Anzeichen dafür, dass sich daran etwas ändern wird. Irgendwo ist noch die Unendlichkeit mit wirklicher Kälte, wirklicher Hitze und vielleicht sogar den passenden Menschen dazu. Plötzlich empfand ich Heimweh.
NIZZA
Nach Nizza sollte man im Winter reisen, erst nachdem man Großvater und beruflich etabliert ist. Man muss dann auf der Englischen Promenade sitzen, über den Liberalismus nachsinnen und redlichen Geschäftspartnern Ansichtskarten schreiben. Nizza ist die schönste Winterkulisse bürgerlicher Arriviertheit. Das Meer gibt sich hier sanft; ganz so, wie die Ansichtskarten von Nizza es zeigen. In den Kartenzimmern wird Whist gespielt. Ältere Damen mit Sonnenschirmen aus lilafarbener Seide, ein Aktienpäckchen irgendeiner Southamptoner Werft für Kriegsschiffe im Ridicule, watscheln gemessen unter den verschneiten Palmen.
Abenteurer kommen zwischen zwei Coups zum Verschnaufen aus Monte Carlo herüber. Nizza ist tugendsam und alt. Könige und Königinnen, denen der Sinn nicht mehr nach Eroberungsfeldzügen steht, kommen hierher, Basler Patrizier, die wie bei der Hauptversammlung bereits am Vormittag auf der Promenade in schwarzen Gehröcken paradieren, erschöpfte Croupiers und Damen zwischen vierzig und fünfzig in der Panik beginnenden Welkens. Nizza ist im Fin de Siècle verharrt. Es ist nicht en vogue, hat aber Geld, und selbst die Kutscher sind hier Dandys. Unbedingt muss man hin; ich werde dort sein, wenn ich Großvater und arriviert bin.
BILANZ
Ich schließe die Augen und blicke geschwind auf das verflossene Jahr zurück.
Die Ernte war mittelmäßig. Gemeint ist natürlich die von mir eingebrachte. Der Roman war verhagelt, doch die verfassten Artikel im Schnitt so lala. Mein Theaterstück kam wieder nicht an. Das Rauchen habe ich mir fast abgewöhnt, bis ich merkte, dass es sich nicht lohnt, denn nächstes Jahr kommt – vielleicht doch – der Weltkrieg, und jede Vorsichtsmaßnahme, jedes Opfer wäre umsonst gewesen. Meine körperliche Verfassung hat sich nicht wesentlich geändert; jeden Morgen stelle ich fest, dass ich lebe. Darüber bin ich – immer noch – erfreut. Über den Tod habe ich nichts Neues in Erfahrung bringen können. Nur dass es ihn gibt: Davon bin ich von Jahr zu Jahr mehr überzeugt. In der Liebe habe ich erfahren, dass sie für mich eine neue Nuance bereithält, etwas, was ich bislang nicht kannte, was interessanter als das Abenteuer, aufregender als die Entführung aus dem Serail ist. Und dieses Etwas ist die Zärtlichkeit. Sehr interessant. Ich will keine Liebe von siebzig Grad mehr schenken und auch nicht bekommen, begnüge mich mit der Zärtlichkeit.
Im letzten Jahr las ich ein Buch über das Leben in der Tiefsee und erfuhr Neues über die Welt. Auch einige Dutzend Romane habe ich gelesen, sie sagten mir nichts Neues. In Ausübung seines Metiers stumpft der Mensch etwas ab. Sieht manchmal nur noch Sätze und Attribute statt Gefühle und Wahrheiten. Man müsste das Stottern erlernen. Oft ist Stottern mehr als natürlicher Redefluss. Ein Schriftsteller, der nur noch gute Sätze zu Papier bringen kann, ist irgendwie unmoralisch.
Die Damen trugen hochgezogene Hüte. In Spanien tobte der Bürgerkrieg. Einer meiner Freunde, von dem es auf der Welt nur ein einziges Exemplar gab, ist gestorben. Ein Vermögen habe ich im letzten Jahr nicht gemacht, auch keine Schulden. Habe nur etwas weniger verdient, als ich benötigt hätte, um dem Leben auch ein wenig Farbe und Freundlichkeit zu geben.
Es war nicht historisch, dieses Jahr, eher bürgerlich, ohne besondere Freuden und Tragödien. Ich verabschiede mich von ihm ohne innere Ergriffenheit und habe das Gefühl, dass ich ihm noch nachweinen werde.
JOD
Jetzt wohne ich hoch oben am Berg, und überall ringsum feiert man, wie ein historisches Ereignis, den Winter. Bei Morgengrauen um fünf erwache ich und schaue in den schwarzen Nebel. Die Lichter unten in der Stadt flackern bei Tagesanbruch nur noch kraftlos, als wären sämtliche Absichten und Kräfte erloschen.
Ich merke, dass der Kratzer, diese harmlose Abschürfung, derentwegen ich heraufgekommen bin auf den Berg, ein klein wenig – einen Millimeter – tiefer ist, als ich geglaubt habe. Sie wird verschorfen. Mit dem Nebel, dieser weichweißen Gaze, will ich sie polstern. Und das Blattwerk hat die Farbe von Jod.
VERLUST
Gelegentlich bleibe ich auf der Straße stehen, greife in die Tasche, mir ist, als hätte ich etwas verloren. Daheim ziehe ich die Schubladen auf, lese Briefe, durchstöbere die Taschen alter Kleidungsstücke. Ein andermal ertappe ich mich dabei, dass ich Menschen anrufe, sie unter einem Vorwand ausfrage und über etwas anderes rede. Irgendetwas habe ich verloren.
Wache nachts gegen drei auf, und plötzlich begreife ich: Das Träumen habe ich verloren! Nicht das nächtliche Träumen, dieses Nebenprodukt des Schlafes, diese kunterbunten süßen Ungereimtheiten, die sich aus den Abfällen des Tages, aus dem Dunst meiner verschütteten Sehnsüchte zu konfusen Erscheinungen verdichten. Vielmehr die traumhafte Empfindung, dass jenseits der Wirklichkeit ein Sinn existiert, den man nicht in Worte kleiden kann. Was war das für ein Träumen? Warum tut es so weh, dass es entschwunden ist? Warum suche ich danach? War es die Jugend? Ich weiß es nicht.
Ich weiß nur, dass ich beraubt worden bin.
EGER
Nach Eger* kam ich gegen Abend und sah sofort, dass es eine Stadt war; keine wie Budapest oder Berlin, eine echtere; eine Stadt wie Chartres, Késmárk* oder Nürnberg. Als ich an der Basilika vorbeikam, waren bereits die Laternen angezündet; die Seitengässchen belebten sich mit blauen und braunen Schatten. Allerlei Priestervolk spazierte ziellos umher. In den Ladengewölben, ihre Mauern waren außen mit gelber Ölfarbe bepinselt, saßen Handschuhmacher und Apotheker in dieser eigenartigen Heimlichkeit, wie Kaufleute eben nur in echten Städten zu sitzen pflegen, sie, die vorsichtige Anhänger der Freiheit sind und in der Wintersaison im Kasino literarische Abende veranstalten. In der Stadt wurden ständig die Glocken geläutet. Beim Haus des Propstes stand eine junge Frau vor dem ewigen Licht mit gefalteten Händen und betete; in Eger beten die Menschen noch in natürlicher Haltung, auch auf öffentlichen Plätzen.
Am Abend ging ich ins Kino. Der Billeteur hatte türkisch geschnittene Augen.
DUZEN
Es sind jene enthusiastischen Augenblicke, wenn der Mensch plötzlich ohne Übergang die Welt in aller Zärtlichkeit zu duzen beginnt, um dann verwirrt festzustellen, wie die Welt, mit steifem Hut auf dem Haupt, blinzelnd über die Schulter nach hinten blickt und näselnd bemerkt: »Pardon? Ach, Sie sind es? Sehr erfreut.«
GEGENREFORMATION
Der bürgerliche Schriftsteller lebt heute im Zeitalter der Gegenreformation. Inquisitoren verhören ihn, verlangen aktenmäßig ein Geständnis von ihm, wollen etwas von ihm hören, was so zart und unartikulierbar ist, dass man es nicht einmal auf der Folterbank oder auf dem Schafott genau benennen könnte. Sie möchten seinem Glauben auf den Grund kommen. Wo man doch den Glauben nicht gestehen kann! Man kann ihn nur glauben! Und aus ebendiesem Grund: auf den Scheiterhaufen mit ihm!
BEGRÜSSUNG
»Wer sagt uns, was der Himmel für uns bereithält?«, fragte Vörösmarty* in einem Augenblick wie diesem. Keiner weiß es zu sagen. Stumm und in aller Stille gehen wir unserem Schicksal entgegen. Ich grüße dich, geheimnisvolle Zeit! Soll ich dir sagen, was ich erwarte? Ich hoffe, dies ist das Jahr, in dem der Heilige Geist die Menschen beseelt, jeder in sich geht und man sich versöhnen wird. Das Jahr des Friedens soll es sein. Und das Jahr des wirtschaftlichen Aufschwungs dazu. Die Waffen zerschlagen und vergraben wir. Vickers erzeugt in Zukunft ausschließlich Stielpfannen und unzerbrechliche Schaukelpferde aus Aluminium. Es kann gar nicht anders sein … Die Menschheit besinnt sich plötzlich eines Besseren, Kriegsschiffe werden zu Luxuslinern für noble Passagiere umgebaut, und dies ist auch das Jahr, in dem Stalin den Kapitalismus endgültig erfindet. Das Leben wird wieder so sein, wie es in vorgeschichtlicher Zeit, im Frieden war. Der schwarze Pascha lässt sich in einer von Rappen gezogenen Prachtkarosse auf dem Boulevard spazieren fahren, die Menschen werden zum Himmel aufschauen, pressen die Hand aufs Herz, bevor sie sich ihre Liebe gestehen, und jeder wird sich sein Einfamilienhaus bauen, auf Kredit. Dies wird das Jahr sein, in dem ich endlich, endlich nach China reisen kann.
So weit meine Erwartungen. Gewisse Zeichen lehren und mahnen uns, dass die Wirklichkeit ein wenig anders aussehen wird. Statt nach China werde ich wieder nur nach Eger fahren. Wieder am Morgen erwachen und auf das Wunder warten, auf die Glückseligkeit, auf einen Blick, und einen Moment lang vermeinen, die blendend leuchtende Buntheit meiner Jugend zu schauen. Und jeden Tag glaube ich, dies ist erst der Übergang und noch nicht das Richtige, noch nicht das Leben, nur die Vorübung, die Vorbereitung darauf. Aber insgeheim weiß ich es, wie ein Verschwender, der sein letztes Goldstück mit herrschaftlicher Nonchalance, eiserner Miene und mit beklemmend schlechtem Gewissen verschleudert: Viel hab ich nicht mehr. Aber das vergeude ich noch, dieses eine Jahr. Sei gegrüßt, in Zeit gefasstes Schicksal! Und schon seh ich dich davonkullern in der Ewigkeit.
STILLLEBEN
In meinem Zimmer registriere ich folgende Gegenstände auf einen Blick: ein Kupfertablett aus Java, einen Negerthron aus dem Kongogebiet, einen Bockstisch, den noch ein Schreiner aus der Zips getischlert hat und der im Ordenshaus von Szepesolaszi als Kantinentisch diente, ein altes deutsches Tintenfass aus Zinn, einen französischen Armstuhl aus dem XVII. Jahrhundert, venezianische Lederarbeiten, ein englisches Taschenmesser und süditalienische Vorhänge. All das kam auf geheimnisvollen Wegen, die zu verfolgen der Verstand nicht in der Lage ist, hierher, hier in meinem Zimmer zusammen, in rätselhafter Beziehung zueinander, kunterbunt und dennoch alles an seinem Platz, unbegreiflich und logisch. Die Welt ist wie ein Stillleben: klein und mit all ihren Einzelheiten vollgepfropft.
TSCHECHOW
Sämtliche Helden Tschechows kommen irgendwie im Gehrock, mit Kneifer, Bart daher und stehen so in einer Welt, die schon die Eisenbahn und die Diphterieschutzimpfung kennt, den Absolutismus verabscheut und sich heftig nach der Verfassungsmäßigkeit sehnt; sich aber doch am liebsten, wie die Gogolschen Helden, im Pferdeschlitten fortbewegt, die Damen ehrerbietig murmelnd grüßt und dabei unter dem Bart errötet. Diese Helden sind alle über fünfzig. Bürgerliche Helden. Ihre Empfindsamkeit ist lebensgefährlich, rein und unheilbar. Die Dame mit dem Hündchen und ihr Freund im Badeort auf der Krim, sie weinen zusammen nach dem Verführungsakt, dann essen sie gemeinsam Wassermelone. Auch beginnt es in diesen Novellen jeden Moment zu regnen, und die fleischigen Blätter der Platanen werden tropfnass. Die Helden im Kirschgarten entdecken im dramatischen Augenblick ihres Lebens, dass eine der Nebenfiguren einen Pferdekopf hat; und sie beginnen selbstvergessen, sich zu amüsieren.
All das ist durchaus familiär, im tragischen Sinn des Wortes. Tschechow erweist sich als ein beängstigend familiärer Autor. Wie ein Onkel, der nach dem Nachtmahl auftritt, im Gehrock, brummelnd, eine kurze Zigarre schmauchend, der tarockiert und Anekdoten zum Besten gibt; doch kann es nicht schaden, wenn man ihn zwischendurch im Auge behält, denn es ist keineswegs ausgeschlossen, dass er sich in einem unbewachten Augenblick an der Klinke der Tür zum Salon erhängt.
SEUFZEN – BEIM SCHREIBEN EINES ROMANS
Es reicht nicht, nur das »Wesentliche« zu berichten, und es genügt auch nicht, es kunstvoll, schön, mit Inbrunst zu tun. Wenn jemand baut, kann er nicht nur den Turm hochziehen und das farbig gekachelte Bad einrichten. Auch Zwischenwände, Keller, Abort und Korridore müssen sein. Der Roman ist voll von derlei notwendigen Banalitäten. Es genügt, eine einzige wegzulassen, und der Bau stürzt ein, oder das Gebäude wird nutzlos sein.
ÜBERGANG
Sie begegneten sich im Omnibus, sprachen über den Sommer, über das neue Theaterstück. Als sie am anderen Ende der Brücke waren, merkten sie, dass sie bereits in der Sprache der Liebe redeten.
Das verwirrte sie, und sie schwiegen. Sahen sich an und staunten. Der Übergang war unmerklich geschehen, so geräuschlos und glatt wie eine Naturerscheinung. Sie sprachen gar nicht das, was sie sagen wollten, hatten ganz anderes im Sinn. Jahrelang hatten sie gar nicht aneinander gedacht. Jetzt blickten sie sich an, sahen dann durchs Fenster hinaus und staunten.
DIE GESELLSCHAFT
Wie sie zusammenlaufen, im Gesellschaftsraum, Speisesaal und im Bridgesalon, wie sie sich auf der Stelle finden, wie sie Musik hören, streng, »für ihr Geld!« – wie sie hektisch Zeitung lesen, überheblich, weil ja »eh alles gelogen« ist, wie sie einander suchen und sich aus dem Weg gehen im Zauberbann ohnmächtiger Anziehung, wie sie mit den anderen schnaufen, auch wenn sie ganz allein in ihrem Zimmer sind – und wie sie in uns, misstrauisch, gleich den Fremden spüren.
Sie reden auch über »ganz wichtige« Dinge. Aber zwischen den »wichtigen« und den »nebensächlichen« Dingen passiert etwas, das sie sich nicht vorzustellen, ja nicht einmal zu denken wagen: das Leben. Es ereignet sich in solch gelassenem Gleichmut. Und was ist es? Irgendetwas Regelmäßiges und »Nebensächliches«.
PROTEST
Wer gegen den Tod nicht mit Erfolg protestieren kann, der ist auch nicht imstande, mich wirklich zu lieben.
HAMSUN
Ich habe Hamsuns neues Buch gelesen. Es ist wieder »das Gleiche«. Der Vagabund, der sich nach Hause sehnt, aber daheim nicht existieren kann. Der Titel des Buches: Der Ring schließt sich.
Er schreibt seit siebzig Jahren »das Gleiche«, so wie das Meer mit fürchterlicher Kraft und Inbrunst stets »das Gleiche« erzählt. Nein, über eine große Handlungsvielfalt verfügt dieser Autor nicht. Doch ich will seine Stimme hören, immer, solange ich lebe, wie die Stimme der Jugend.
Politisch ist er leider unzuverlässig. Mit Abscheu wende ich mich ab von ihm, vom politisch unzuverlässigen Hamsun. Und dann gehe ich in mein Zimmer, hole sein neues Buch hervor und beginne es heimlich, hastig und mit Heißhunger zu lesen.
ZÄRTLICHKEIT
Ich bat sie, mir den am Sakko abgerissenen Knopf anzunähen. Sogleich strahlte sie mich voller Zärtlichkeit an.
Sie gehört zu der Sorte Frauen, die viel eher und gewisser zu verführen sind, wenn sie gebeten werden, einen Knopf anzunähen, als wenn man sie an die Riviera einlädt, mit dem Auto, im Dezember.
JUGEND
Ich ging an dem Haus vorüber, wo ich damals im ersten Stock ein Untermietzimmer hatte; hier verbrachte ich einen Abschnitt meiner Jugend. Ich schloss die Augen und bemühte mich, meine Erinnerungen hervorzukramen. So viel habe ich zusammengebracht:
»Vor zwanzig Jahren wohnte ich da, war noch ein Fuchs an der Uni und ziemlich mager. Für ein und dasselbe Blatt habe ich Reportagen, aber auch erbauliche Gedichte geschrieben. Von daheim bekam ich reichlich Geld, trank jeden Abend französischen Cognac und habe auch oft gehungert. Die Bude war voller Wanzen. Ich verliebte mich in eine Ärztin, fühlte mich aber in ihrer Gesellschaft nicht wohl. Hochmütig war ich und schwärmerisch. Im Nachbarzimmer wohnte ein junger Mann mit seinem kleinen Sohn, ein Schauspieler, dem gerade die Frau davongelaufen war. Einmal kam er nachts zu mir herüber, hat viel geredet und am Ende geheult. Ich war nervös und hochfahrend, stellte irgendwie überzogene, unerfüllbare Ansprüche an Menschen und Erscheinungen. Nächtelang habe ich in einem Club mit Falschspielern Skat geklopft und dort gleich auf einer Chaiselongue übernachtet – zwischen stinkenden Aschenbechern, mit wirrem Haar und fahlem Gesicht, Rilke-Gedichte in der Tasche. Ich war achtzehn. So begann meine Jugend.«
HYMNE
Das Wasser, die Erde, die Sonne, die Wolken!
Der Wein, das Blut, der Kuss und die Träume!
Das Gras, der Stein, die Sonnenblumen!
Tagesanbruch! Sonnenuntergang!
Rohrpfeifenflöte im Schilf! Erwachen!
Bachmusik! Ein Leichnam auf der Popráder Straße!
Morgendämmerung, die Vögel, die Gedichte!
Tote! Nebel! Das Meer im Herbst!
Die Art, wie sie die Hand gehoben hat!
Der Geschmack ihrer Tränen! Die Wunde auf meinem Mund!
O, Amen, Amen, Amen, Amen!
DIE UNTERSCHIEDE
Hier, auf dieser Erde, lebe ich und bin gekränkt. Das Jahrhundert, in dem ich gelebt habe, ist eine Epoche des Fortschritts und der Vernunft; so hat man verkündet. Ich suche das Wort, das für den Grund meiner Kränkung steht. Sämtliche Wörter, die meinen Ekel, meine Verzweiflung begründen könnten, habe ich geprüft; sie alle erwiesen sich als zu schwach. Vielleicht lässt sich sagen: Ich bin gekränkt, weil das Jahrhundert, in dem ich lebte, ohne Anspruch und ohne Inbrunst war. Anspruchslos wie kaum eine Epoche zuvor; leidenschaftslos wie noch zu keiner Zeit in der Menschheitsgeschichte. Mir tut sie weh, diese Anspruchslosigkeit, die für das Jahrhundert so bezeichnend ist. Der Troglodyt in seiner Höhle wollte etwas, hatte Absichten; er besaß keinen Kühlschrank, verstand nichts von organischer Chemie, aber er hat den Gott erfunden und das erste Rechtssystem. Ich kann mir einen alten assyrischen oder babylonischen Richter oder Soldaten vorstellen, der ruchlos, grob und launisch ist; aber selbst seine Rechtsverstöße und Gräueltaten sind durchdrungen von der inbrünstigen Überzeugung, dass er Mensch ist. Die Inbrunst vermisse ich bei meinen Zeitgenossen. Zu keiner Zeit hat der Mensch sich so gering geschätzt. Meine Jugend fiel in die Zeit, da man die großartigen Erfindungen des Jahrhunderts, das Radio, das Flugzeug, vervollkommnet hat, da man anfing, Atome zu zertrümmern. Ein ganz neuer Sagenkreis begann; zumindest habe ich das als Kind so empfunden. Doch als ich ins Mannesalter kam, musste ich erfahren, dass lediglich ein neuer Vandalismus angebrochen war, der barbarischste unter allen; ein Vandalismus mit zischendem Donnerkeil, der auch häusliche Dienste versah, mit der Wasserspülung des Klosetts, dem Serum gegen Diphtherie; und alle diese Wunder hat irgendeine blinde Gleichgültigkeit zu nutzen gewusst. Ich bin keineswegs davon überzeugt, dass Leonardo da Vinci oder Pascal sich so und so verzweifelt von ihren Familien, ihrer Klasse und Umgebung unterschieden haben wie herausragende Geister unserer Zeit. Da Vinci war »nur« ein Genie, doch in seinem Geschmack und in der inbrünstigen Leidenschaft derselbe wie sein Vater und seine Enkel. Huxley, der Biologe, schreibt, dass der große Geist sich heute vom Durchschnittswesen unterscheidet wie einstmals der Mensch vom Tier.
FEGEFEUER
Die Zeit, dieses Purgatorium, das aus den Menschen all das heraussaugt, was allzu irdisch, rivalisierend und gefährlich in uns war.
Die »Literatur« und das »Leben« verschmelzen nach und nach in diesem Fegefeuer. Die Literatur steht nicht mehr so streng fachlich für sich, die Grenzen verschwimmen, fließen ineinander; nicht hie Buchstaben, da Leben, da Stil und dort Handlung. Irgendwie sind beide ein und dasselbe; jedes für sich hat nichts Spektakuläres mehr.
TÖMÖRKÉNY*
Hinter seinen dahintrottenden Sätzen steigt Staub der Puszta auf; er schreibt in einer Wolke von Staub, einsam, unter Russen und Deutschen, die Pfeife im Mund, einsilbig, aber so, als sähe er auch die Toten, wie die Hellseherin von Novaj, als wüsste er alles vom Menschen, selbst das Geheimnis der Grube und der Verwesung, als würde er aus den Eingeweiden wahrsagen über das Leben und den Tod, grausam und gleichgültig, wie Hirten und Schamanen es tun.
DIE SCHRIFTSTELLER
Früher lebten sie einsam und scheu, wie Alchimisten. Jetzt treten sie in Scharen auf, mit Abzeichen am Revers und mit allerlei Auszeichnungen um den Hals.
In ihren Werken tragen sie Storys vor, interessante Geschichten mit möglichst knappen beschreibenden Details, in Prosadialogen. Ihre Geschichten sind durchweg »menschlich«, ja. (Stendhals, Tolstois, Gides Geschichten sind nicht »menschlich«, aber literarisch. Das ist nicht dasselbe.)
Sie wissen schon vorzüglich zu formulieren. Der Leser ruft erstaunt aus: »So hab auch ich empfunden, genauso!« Doch ich höre lieber meiner Tante, der guten Tante Helga, zu, aus der die menschlichen Geschichten nur so hervorsprudeln.
Sie besitzen nur noch Titel, aber keinen Rang. Robert Musil sagte, es gibt Schriftsteller – wenige –, und dann gibt es diejenigen, die man »Großschriftsteller« nennt. So wie es Großgrundbesitzer, Großindustrielle und Großschlächter gibt.
Verstummen, beiseitetreten, nicht billigen. Vom Trivialen schreiben, vom Budaer Bühnenklatsch, von den Marktpreisen der Lebensmittel. Schweigen. Verrecken. Nur billigen nicht.
AUFGABE
Eine Welt erziehen, ja … Doch das Alphabet –, das sollen sie erst einmal andernorts lernen, bevor sie zu lesen beginnen, die Halunken!
DIE PLANSKIZZE
Ich beuge mich über die Planskizze meines Lebens und stelle verblüfft fest, wie einfach alles ist. Ich brauchte gar nichts weiter zu tun, als mir das Rauchen abzugewöhnen, mich jeglicher Ausschweifungen und Alkoholexzesse zu enthalten, die Frau zu lieben, die ich liebe und die mich liebt, regelmäßig zu lesen und unregelmäßig zu schreiben, tagsüber zu spazieren, abends früh zu Bett zu gehen und im Freundeskreis geduldig und bescheiden zu konversieren. So einfach ist alles. Wie schade, denke ich, ewig schade, dass es unmöglich ist.
VERTRAULICHE STUNDE
Dieser Mensch hat Leberkrebs, und er weiß es nicht. Ich weiß es und unterhalte mich mit ihm sehr vertraulich, höre mir seine Reisepläne an, nicke zustimmend, wenn er etwas beanstandet und die Welt kritisiert; wir reden über Schriftsteller und Politiker, und weil die Wörter in seiner Situation einen anderen Stellenwert haben, stimme ich allen seinen Äußerungen und Anregungen bereitwillig, ja vorauseilend zu, als hätte ich Angst, etwas für immer zu versäumen. So sprechen wir miteinander, artig und sehr persönlich. Später erinnere ich mich an dieses Zwiegespräch und stelle erstaunt fest, dass man sich eigentlich nur im Schatten des Todes richtig angenehm und einträchtig unterhalten kann.
WUNDERBARE MONDSCHEINNACHT
Und dennoch bin ich sterblich.
FEBRUAR
Diese langen Februarnächte, wenn wir im abgekühlten Zimmer vom Heulen des Windes aus dem Schlaf gerissen werden, uns fröstelnd im Bett aufsetzen und das Nachttischlämpchen anknipsen, eine Zigarette anzünden und auf die Uhr schauen – es beginnt jetzt schon früher zu dämmern, doch es macht nicht viel Spaß, kauern wir doch auch den Tag über in unserem Winterbau eingemummt in warme Klamotten oder Felle; Krankheiten, Rohrbrüche, stinkende Öfen, unerledigte literarische und trostlose Alltagsaufgaben vermiesen den Tag, wir hauchen auf unsere blau verfärbten Nägel, sinnen darüber nach, dass wieder ein Fasching vorüber ist, und der Aschermittwoch pocht bereits mit starren Fingern ans Fenster; der Spaß ist vorbei, wir sind älter geworden.
So sitzen wir da, bei Morgengrauen im Februar, lustlos und mit blauen Fingernägeln. Der im Herbst in weiser Vorausschau vollgepackte Holzschuppen hat sich schon geleert; Eingewecktes und Räucherspeck sind bereits aufgezehrt, auch das Sauerkraut geht zu Ende. Bekannte werden in diesen Wochen von harmlosen Schnupfen hinweggerafft. Die Damen waten in ihren Lackstiefelchen durch den schmelzenden Schnee, durch Matsch und Dreck, unbeholfen mit zinnoberroter Nase, immerfort – mit allerlei Gehänge und Augenaufschlag – ihre Weiblichkeit signalisierend. Auf die Bücher blicken wir in den Nächten mit Ekel; es scheint, wir haben sie alle gelesen, doch helfen konnte keines. Tagsüber legen wir uns stundenlang unter die Quarzlampe, saugen gierig das nach Ozon schmeckende Licht ein, nuckeln gleichsam an den künstlichen Strahlen – ein in Finsternis gehaltenes Sklavenvolk kann sich nicht inbrünstiger nach Sonne und Freiheit sehnen. Wir erinnern uns ans Licht, das jetzt hoffnungslos fehlt, das Licht, in dem, wie auch im Leben, etwas heidnisch Unbarmherziges, etwas Unsittliches und Grandioses ist. Dann denken wir daran, dass dieser Monat ausgefüllt ist mit philharmonischen Konzerten und Lungenentzündungen. Es ist der Monat, in dem wir mit sparsamen Bewegungen leben, behutsam, zurückhaltend, wie weise Kreaturen, die für diese Zeit ihre Lebensfunktionen drosseln, sich Bewegungslosigkeit auferlegen, mit verlangsamtem Puls schlummern und blinzelnd, in geheimnisvollem Halbschlaf auf die Sonne warten. In diesen Wochen, gegen Ende des Winters, ist es ratsam, ohne größeren Kraftaufwand zu leben: uns beim Schreiben kürzer zu fassen – höchstens vier, fünf Zeilen hintereinander –, wie die Bären.
Doch gegen Morgen, beim langsamen Wachwerden, fällt uns der Fasching ein, der wieder an uns vorübergezogen ist, maskiert, mit flatternden Bändern, der die Welt mit farbigem Konfettiplunder übersät hat, der kreischte, grölte, allerlei Zeichen gab und winkte, doch wir sind ihm ausgewichen. Nun ist der Morgen da, der Asche auf unsere Häupter streut. Und vor dem Fenster ächzen die Bäume unter dem Fastenwind. Könnte schon sein, sinnen wir fröstelnd, dass das Leben auch etwas Ungezügeltes, Überbordendes enthielt, irgendeine närrische Freude, ein wildes, kreischendes Glück, das auf die Würde der Vernunft gepfiffen hat – vielleicht war es das; nur haben wir es nicht gewusst.
SCHLECHTES ZEICHEN
In den verflossenen zwei Jahrzehnten hat kein einziger ungarischer Schriftsteller mehr wegen einer Frau Selbstmord verübt. Ein schlechtes Zeichen: schlecht für die Frauen und schlecht für die Literatur.
SICHERHEIT
Wie sicher die Armen in ihren Angelegenheiten sind! Nur die Reichen flattern nervös umher. Jeden Augenblick sind sie um etwas besorgt, wollen etwas, streben nach etwas ganz anderem. Die Reichen leben unter dem zwanghaften Gesetz der Veränderung. Das Gesetz der Armen ist einfacher, sicherer.
Auch sind sie allen Dingen näher. Die Reichen denken am Ende doch nur noch in Symbolen, Sinnbildern in Großbuchstaben: in Freude oder Gerechtigkeit, in Eigentum oder Außenpolitik oder Kellogg-Pakt. Von all dem wissen die Armen nichts Genaues. Ihre Kenntnisse sind in kleinen Lettern gesetzt. In ihren Köpfen schwirren Wörter wie »Schuh« oder »Bindfaden« oder »ein Pengő zwanzig«. All das ist greifbar, fassbar. Gibt es keinen Armen auf der Welt, den ernsthaft interessieren würde, wie André Gide sich seine letzte Meinung von den Sowjets gebildet hat, ob Picassos Reputation schwindet und wie Churchill über Mussolini denkt? Solche Fragen bewegen die Gemüter erst von vierhundert Pengő monatlich aufwärts. Der Arme wandelt auf festem Boden; der Reiche schwebt schon ein wenig, wie die Heiligen.
VENEDIG
In Venedig war ich nervös angekommen und musste pausenlos essen. Angefangen hat es mit Scampi im Cavaletto, dann verzehrte ich Süßes bei Floriani und etwas Sirupartiges in einer Pasticceria der Merceria; am Lido schließlich verspeiste ich in einem modischen Lokal ein blutiges Steak. Dazwischen besuchte ich Museen und lauschte Verdi-Klängen vor den Cafés auf dem Markusplatz. In all dem war etwas Süßliches, zugleich sattmachend Geiles, etwas, was ich nicht recht verdauen konnte, etwas leicht Abgestandenes, Magenverstimmendes – in Tintoretto und auch in den Scampi, im Prunksaal der Dogen, ja sogar in Goldoni. Man schaut sich begeistert um in Venedig, auf der Straße oder sonst wo, und man braucht danach sogleich eine Prise Natron.
VENEDIG ZUM ZWEITEN
Venedig ist für jedermann die ewig versäumte Hochzeitsreise; auch für all jene, die ihre Hochzeitsreise tatsächlich dorthin geführt hat. Ja, genauso hätte es sein sollen: in Venedig, im Danieli, mit den Tauben, den Gondolieri und der entsprechenden Frau. Jedermann empfindet das so; nach zehn Jahren selbst diejenigen, die mit der entsprechenden Frau dort gewesen sind.
VENEDIG ZUM DRITTEN
Es gibt Vokabeln, die man nach den Regeln einer höheren Anstandslehre auch in Venedig nicht aussprechen kann. Zum Beispiel:
»Ich liebe dich.«
DER MOND
Ich betrachte die neuen, naturalistischen Fotos vom Mond. Pockennarbig und zerfurcht sieht Frau Luna auf den Bildern aus, wie das Gesicht eines blatternarbigen Bratschisten. Möglicherweise war er nicht immer so. Man hat den Mond mit der Tschinelle, einem Edamerkäse und mit einer chirurgisch entfernten Rachenmandel verglichen, hat ihn Silberschüssel und Himmelstaler genannt. In Gedichten erschien er immer nur als ein »so wie«. Doch in Wirklichkeit ist er nicht »so wie«, sondern nur schlicht und einfach so.
VÖRÖSMARTY
Als hätte Shakespeare nachts mit rauchenden Fackeln und mit durchs Blut ein wenig verrosteten Heerscharen Ungarn besetzt.
FEIERTAG
Feiertage wurden in meiner Kindkeit bei uns daheim nicht nur angemessen, wie es sich gehört, begangen, man feierte sie etwas übertrieben, alles war ein wenig hochgejubelt, überzuckert, zu bunt und reich. Vermutlich fürchte ich mich heute deshalb vor jedem Feiertag, auf den ich mich nicht angemessen vorbereite, und dann plagt mich schließlich immer der Gedanke, dass ich zu wenig gegeben oder zu wenig bekommen habe: die aufregende Erwartung, die früher jedem Erlebnis vorausging, ja auf dem Grund des Lebens glimmte, ist auch heute nicht ganz erloschen, und sobald der Feiertag vorbei ist, werde ich deprimiert gewahr, dass etwas nicht so gelaufen ist, wie es sein sollte. Und ich möchte das Geschenk, dieses ganze Leben, am liebsten zurücktragen und umtauschen.
DIE KARPATEN
Als ich sie zum ersten Mal las, störte, verletzte mich Peto fis dröhnende Verachtung des mit emphatischer Übertreibung gering geschätzten Gebirges:
»Wildromantisch düstere Karpaten,
Mich kann eure Schönheit nicht ergreifen …«* Mir war jedes für sich lieb, das Wilde, das Romantische, das Düstere, die Karpaten. Das, nur das habe ich hier daheim geliebt, es stand meiner Seele nah. Diese Tannenwälder, die Bergzüge umschlangen etwas – Städte, Dichtung, einen Menschenschlag –, was das Edelste an Ungarn war. Auch heute, auch mit geschlossenen Augen, sehe ich den tiefgrünen Kranz der Tannen, der diese menschliche Landschaft zärtlich und majestätisch umrahmt, dieses einzige Fleckchen Erde, wo ich zu Hause bin.
IDENTITÄT
Um wie viel mehr, wie viel leidenschaftlicher und inniger sind wir mit unseren Sünden und Unzulänglichkeiten identisch als mit unseren Tugenden und Fähigkeiten! Um wie viel mehr kennzeichnen mich meine Schwächen und das, wonach ich mich sehne – wohl wissend, dass mir schadet, was ich gern möchte, wozu ich aber nicht stark, weise und diszipliniert genug bin –, als die Tatsache, dass ich mich gelegentlich und im Großen und Ganzen doch zusammennehme, auch etwas für meine Gesundheit tue und ganz nebenbei meine Pflichten erfülle. In Wahrheit sind wir ganz Schwäche, Sünde, ebendas, was wir zu kaschieren trachten. Die Tugend, die dann und wann sichtbar wird, ist nur die Oberfläche des Eisbergs, der wir in der Tiefe sind.
DIE ZEIT
Ins naturwissenschaftliche Denken hat eine neue, übernatürliche Kraft Einzug gehalten: die Theorie der Zeit als Raumdimension. Irgendwo existiert die Vergangenheit: nicht nur in Büchern, Gegenständen, in der Erinnerung, sondern auch in der übernatürlichen Sphäre der Zeit, in dem schwer fixierbaren, aber dennoch faktischen unendlichen Raum. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass auf irgendeiner Wellenlänge der Sinnesempfindungen plötzlich aus der Vergangenheit die Stimme Caesars ertönt. Warum nicht? Wenn man das Licht von Sternen fotografieren kann, von Sternen, die im All längst erloschen, objektiv also nicht mehr existent sind, deren Strahlung aber auf chemischem Wege auf der Fotoplatte noch nachweisbar ist, warum sollte man dann nicht auch in Geschehnisse vergangener Zeit eintauchen können? Alles hängt nur von den geeigneten Instrumenten ab. Über das passende Instrument verfügen wir: die Seele.
DIE ROLLE