1. KAPITEL
QUARZ UND TIGERAUGE
Sefia schaute zu Archer hinab, der zusammen mit ihren Habseligkeiten in einer versteckten Nische zwischen den Felsen lag. Er rührte sich kurz, zog sich die Decke von der Brust und lag dann wieder reglos da. In den zwei Stunden, seit der Mond am Himmel stand, war er so oft aufgewacht und wieder eingeschlafen, aufgewacht und wieder eingeschlafen, war immer wieder in seine Träume getaucht, um bald darauf nach Luft schnappend zurück ins Bewusstsein zu kehren.
Selbst jetzt schien er nicht zu ruhen, seine Stirn war gerunzelt, seine Finger zuckten, die Lippen waren zu einem Fauchen oder einem stummen Schrei verzogen. Sefia wollte zu ihm gehen, seine Stirn glätten und seine Fäuste öffnen, doch seit ihrer Flucht war er anders, verschlossen. Die Begegnung mit der Wache hatte ihn und ihr Zusammensein verändert.
Alles hatte sich verändert.
Sefia hockte auf einem Granitfelsen und zog die Decke fester um die Schultern. Sie hätte lieber ihre Hängematte gehabt, als in dieser Nische zu verharren, aber die Hängematte war zusammen mit dem Großteil ihres Proviants in Tanins Büro zurückgeblieben.
Und Nin. Ihre Tante, die sie geschworen hatte zu retten. Die Tante, die sie im Stich gelassen hatte. Ein kleiner Körper unter einem Bärenfellmantel.
Sefia schauderte, als sie daran dachte, was danach passiert war: das blitzende Messer und wie Tanins Haut unter der Klinge aufgeplatzt war. Ihr zweites Opfer.
Die Wache würde Sefia teuer bezahlen lassen. Jetzt waren zwei ihrer Anführer von Sefias Familie getötet worden.
Alle paar Minuten spähte sie angestrengt in den Wald. Sie tastete nach dem speziellen Sinn, den sie mit ihrer Mutter – und auch ihrem Vater – gemeinsam hatte, suchte ihre magischen Kräfte.
Sie waren immer da, ständig in Bewegung, wie ein mächtiger Ozean unter einer Eisschicht. Denn die Welt war mehr als das, was man sehen, hören und anfassen konnte. Wenn man die Gabe hatte, war die Welt illuminiert – jeder Gegenstand schwamm in seiner eigenen Geschichte, jeder Moment war zugänglich, wenn man nur wusste, wie man ihn finden konnte.
Sefia blinzelte und wirbelnde Goldströme wurden vor ihren Augen lebendig, Millionen winziger heller Flecken bewegten sich im Wind, Bäume reckten sich empor, zerfallende Materie schwebte sanft zu Boden. Weiter unten im Tal, keine zwei Meilen von ihrem Lager entfernt, erstreckte sich die ferne Bergstadt Cascarra am Fluss Olivin. Aus der Nähe sah Sefia Lichter wie Goldperlen, die die Straßen und Holzlager schmückten, Lastkähne zerrten sachte an ihrer Vertäuung, Rauch kringelte sich von den spitzen Dächern. Doch nichts störte den Frieden.
Sefia blinzelte erneut und ihre Vision – die von der Wache als Tiefenblick bezeichnet wurde – verblasste. Sie und Archer waren vorerst in Sicherheit. Die Wache hatte sie noch nicht aufgespürt.
Aber früher oder später war es so weit. Sie würden sie finden, genauso, wie sie Sefias Eltern gefunden hatten.
Lon und Mareah.
Als sie an die beiden dachte, rollte ihr Herz sich ein wie ein Blatt bei Frost. Manchmal konnte sie kaum glauben, dass sie zu einem Geheimbund von Mördern und Entführern gehört hatten – diese sanftmütigen Menschen, die sie großgezogen, beschützt und geliebt hatten. Aber dann fiel ihr ein, wie ihre Mutter das Messer herumgewirbelt hatte, bevor sie Gemüse klein schnitt. Wie sie einen Kojoten im Hühnerstall mit einem einzigen Messerwurf getötet hatte. Und sie dachte an ihren Vater, wie er mit seinem Teleskop am Fenster gestanden und den Ozean betrachtet hatte. Erst jetzt begriff Sefia, dass er nach Hinweisen für die Wache Ausschau gehalten hatte. Nach den Leuten, die ihnen auf den Fersen waren.
Ihre Eltern hatten ihr so vieles verheimlicht – wer sie waren und was sie getan hatten. Wegen der Geheimnisse ihrer Eltern musste sie weglaufen, anstatt zu kämpfen. Musste sich verstecken, anstatt frei zu sein. Nin war tot, weil Sefia nicht vorbereitet gewesen war. Bei aller Liebe zu ihren Eltern konnte sie ihnen das nicht verzeihen.
Und sich selbst auch nicht.
Und jetzt war sie schon wieder auf der Flucht.
Vor fünf Tagen waren sie und Archer mit einem Boot vor den Fährtenlesern der Wache geflohen. Sie waren an der Felsküste von Deliene entlang Richtung Norden gesegelt. Erst als sie ein anderes Schiff hinter sich entdeckten, das rasch aufholte, riskierten sie es, an Land zu gehen. Das Boot versenkten sie, um die Verfolger abzuschütteln.
Sie waren über den Hohen Grat geklettert, die Bergkette, die ins Herzland mitten im Königreich führte. Zwischen den Gipfeln waren sie in Richtung Cascarra gewandert. Dort hofften sie auf ein Flussschiff, das sie zurück zum Meer bringen könnte.
Dann waren sie immer weiter gerannt, solange sie konnten. Gejagte für den Rest ihres Lebens.
Sefia betrachtete den in Leder eingehüllten Gegenstand in ihrem Schoß. Bücher waren ohnehin selten in Kelanna, von der Wache wurden sie gehortet, während alle anderen durchs Leben gingen, ohne lesen und schreiben zu können. Aber dies war kein gewöhnliches Buch. Es war das Buch – unendlich und voller Magie. Es war das Protokoll von allem, was je gewesen war und je sein würde, alle Zeitalter mit feiner schwarzer Tinte aufgezeichnet.
Wie jeden Abend, seit sie wieder auf der Flucht war, nahm sie das wasserfeste Leder behutsam ab.
Sie könnte herausfinden, wer ihre Mutter und ihr Vater wirklich gewesen waren und warum sie so gehandelt hatten … aber sie brachte nie den Mut auf, hinzusehen.
Archer zuckte im Schlaf und die bösen Verbrennungen an seinem Hals wurden sichtbar. Hinter ihm knackten trockene Zweige, die wie Gewehrschüsse in der Stille hallten.
Sefia schaute verstohlen in den Wald, doch nichts regte sich im Unterholz.
Seufzend lehnte sie sich wieder zurück. Der Einband des Buchs war rissig und fleckig, mit verfärbten Einkerbungen, wo sich einmal Edelsteine und Filigranarbeiten befunden hatten. Die einzigen sichtbaren Zeichen des wertvollen Metalls waren die Schnallen und die mit Gold beschlagenen Ecken.
Aus Gewohnheit zog sie mit dem Finger das Symbol in der Mitte nach.
Zwei gebogenen Linien für ihre Eltern. Eine für Nin. Die gerade Linie für sie selbst. Der Kreis für das, was sie zu tun hatte: herausfinden, wofür das Buch da war. Nin retten. Und, wenn sie konnte, die Verantwortlichen bestrafen.
Aber sie konnte sich nicht überwinden das Buch aufzuschlagen. Konnte der Wahrheit immer noch nicht ins Gesicht sehen. Sie wollte das Buch gerade wieder in den Lederumschlag packen, als in der Ferne ein Ast knackte.
Ihr Körper spannte sich an, sie blinzelte und Gold strömte in ihr Blickfeld. Im Osten sah sie Männer, die vom Bergkamm hinabstiegen. Wie schwarze Fische in einem schwarzen Teich strömten sie ins Mondlicht und wieder hinaus, ihre Flossen blitzten an der Oberfläche auf, bis sie wieder untertauchten.
Fährtenleser. Sie mussten die Umgebung von der anderen Seite des Bergs aus abgesucht haben, und jetzt kamen sie näher.
Archer wand sich und warf seinen Rucksack um. Klappernd stieß die Feldflasche gegen die Klinge seines Schwerts.
Einen Moment lang verharrten die Fährtenleser. Dann wandten sie sich in ihre Richtung. Ihre Augen glühten in der illuminierten Welt, flackernd suchten sie die Dunkelheit ab.
Sie kamen näher.
Geübt durch die Jahre der Flucht schalteten sich Sefias Instinkte ein. Schnell packte sie das Buch und sprang zwischen den Felsen nach unten.
Archer schlug nun um sich, er fuhr mit den ausgestreckten Armen über den Boden. Er war so laut. Sefia schlang die Arme um ihn und hielt ihn fest. Unter ihnen knisterten die herabgefallenen Kiefernnadeln wie Feuer.
Er riss die Augen auf, groß und golden. Panik spiegelte sich in seinem Gesicht. Er klappte den Mund auf und zu, auf und zu, schnappte nach Luft, sein Herz hämmerte. Dann wehrte er sich wie ein Kaninchen in der Falle. Sie lockerte den Griff.
»Archer«, flüsterte sie.
Er stieß sie gegen die Felsen. Schmerz durchzuckte sie.
»Archer«, sagte sie jetzt verzweifelt. »Alles ist gut. Ich bins, Sefia. Archer.«
Er erstarrte, sein Atem ging zu schnell und zu laut.
Diesmal ließ er sich von ihr umarmen, sein Puls raste. Wenn er so nah war, streifte sein Atem ihre Wange. Sie biss sich auf die Lippe. Fünf Tage waren seit dem Kuss vergangen. Fünf Tage und sie spürte immer noch seinen Mund auf ihrem, hatte immer noch das Verlangen nach Wiederholung.
Als Archer die Schritte hörte, sah er auf. Sefia kannte die Geräusche, auf der Jagd mit Nin hatte sie sich selbst genauso bewegt. Pirschende Schritte und dazwischen langes stilles Lauschen. Hundert Fuß entfernt? Fünfzig? Sie zeigte in den Wald und formte mit den Lippen stumm das Wort Fährtenleser.
Er nickte und blinzelte schnell. Leise wie Schnee zog er ein Stück Quarz aus der Tasche und strich langsam mit dem Daumen darüber – ein Ritual, das Sefia ihm vor über einem Monat beigebracht hatte, um ihn von seiner panischen Angst zu befreien, ihn daran zu erinnern, dass er in Sicherheit war.
Aber sie waren nicht in Sicherheit.
Durch einen Felsspalt sah sie die Schatten, die sich zwischen den Bäumen bewegten. Die Fährtenleser waren jetzt überall um sie herum, mit Sternenlicht auf den Gewehren und Schatten in den Augen suchten sie den Boden nach Fußspuren ab.
Sie werden uns finden. Jeder, der auch nur ein bisschen vom Spurenlesen verstand, würde ihr kleines Lager entdecken. Sefia musste dafür sorgen, dass sie weiterzogen, und zwar bald.
Sie aktivierte wieder ihren Tiefenblick, dann schnippte sie mit den Fingern. In der illuminierten Welt spannten sich die Lichtfäden und sprangen zurück wie die Sehne eines Bogens. Die Goldstreifen kräuselten sich. Zehn Meter weiter, auf dem Hang nach Cascarra, knackte ein toter Ast.
Die Fährtenleser duckten sich. Ihre Gewehre fuhren in die Höhe. Sie waren so leise … und so schnell.
Sie machte es noch einmal, diesmal weiter entfernt.
Der Anführer winkte seine Truppe zum Flusstal hinüber und sie krochen auf das Geräusch der knackenden Äste zu, in Richtung Stadt, weg von Sefia und Archer.
Ihr Puls beruhigte sich und jetzt wurde sie Archers Körper gewahr, der mit ihrem eigenen verschlungen war. Er rieb nicht länger den Stein und lag ganz still. Mit müden Augen sah er sie an. »Hab ich dir wehgetan?«, flüsterte er.
Seine Stimme überraschte sie auch nach fünf Tagen noch mit ihren Klangschichten aus Feuer und Dunkelheit, wie ein Tigerauge.
»Nein.« Sie kniete sich hin und versuchte nicht zusammenzuzucken, obwohl es zwischen ihren Schulterblättern wehtat. Sie mussten weiter, bevor die Fährtenleser merkten, dass sie nicht in Cascarra waren. Sie nahm ihre Decke.
»Als ich aufgewacht bin und nicht wusste, wo ich war … als ich mich nicht bewegen konnte, dachte ich … Es tut mir leid, ich …« Er richtete sich auf und sie erwartete, dass er weitersprach. Doch er klappte den Mund zu und berührte die Narbe am Hals, das Brandmal, mit dem die Impressoren alle Jungen als Kandidaten kennzeichneten. Seit Jahren suchte die Wache nach dem Jungen, der sie in dem blutigsten Krieg, den Kelanna je erlebt hatte, in den Sieg führen sollte. Ein Killer. Ein Anführer. Ein Feldherr.
Weil er einer ihrer Kandidaten gewesen war, hatte Archer alles verloren – seinen Namen, seine Stimme, seine Erinnerungen – und war nur noch eine leere Hülle.
Vieles war bei ihrer Begegnung mit der Wache zurückgekommen. Aber seinen wahren Namen hatte Archer ihr immer noch nicht verraten, und in solchen Momenten wie jetzt hatte sie das Gefühl, ihn noch weniger zu kennen als zuvor.
Genau wie meine Eltern, dachte sie bitter.
»Sie hätten uns fast geschnappt«, sagte Archer und steckte den Quarz wieder ein.
»Tut mir leid. Ich wusste nicht, dass sie so nah waren.«
»Hättest du aber wissen können.« Sein Blick fiel auf das Buch. »Du könntest immer wissen, wo sie gerade sind. Dann wären wir ihnen immer einen Schritt voraus.«
Sefia wurde innerlich steif. Er hatte natürlich recht – das Buch enthielt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Jeder Schritt der Wache war irgendwo dort drin, tief vergraben in der Geschichte. Wenn sie diese Informationen hätten, könnten sie der Wache leicht ausweichen. Wenn sie schlau genug wären, könnten sie sich dem Feind sogar für immer entziehen. Und vielleicht wären sie dann frei.
Aber sie hatte Angst. Angst davor, was sie finden würde, wenn sie das Buch aufschlug.
Davor, was es ihr über ihre Familie erzählen würde … und vor den schrecklichen Taten, die sie womöglich begangen hatten.
Aber wenn sie damit Archer vor der Wache beschützen könnte? Archer, der für sie gekämpft, Hunger und schlaflose Nächte in Kauf genommen hatte? Archer, der, seit seine Erinnerungen zurückkamen, in gewisser Weise noch kaputter zu sein schien als vorher?
Sie sah ihm fest in die Augen. »Na gut.«
Im Mondschein legte sie das Buch wieder in den Schoß. Sie beugte sich so tief hinab, dass sie mit den Lippen fast das auf dem Einband berührte, und murmelte: »Zeig mir, was die Wache gerade macht.«
Sie holte tief Luft und öffnete die Schnallen. Die Seiten raschelten unter ihren Fingern und kamen zur Ruhe wie zwei von Tinte zerfurchte Felder.
Sie spürte Archer neben sich, wartend.
»Das Schlafgemach war völlig zerstört«, las Sefia flüsternd vor, als könnte die Wache sie hören. Mit einem Schaudern sah sie sich um, aber die Fährtenleser waren längst verschwunden. Sie waren in Sicherheit. Vorerst.
Sie las weiter. »Aufgeschlagene Bände und Papierrollen lagen überall auf dem Bett verstreut, wuchsen zu Bücherstapeln und Pergamentbergen an …« Ihr Blick huschte über die Zeilen. »O nein. Nein.«
Sie hatte sich getäuscht.
Sie würden nie in Sicherheit sein. Und ganz gleich, wie weit sie auch rannten und wie gut sie sich versteckten, sie würden niemals frei sein.
IST EIN