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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74091-352-6
»Mein letzter Tag bei Ihnen, Herr Dr. Winter!« sagte Miriam Fechner und sah den jungen Notaufnahmechef der Kurfürsten-Klinik in Berlin-Charlottenburg betrübt an. »Ich wäre gern noch länger geblieben, das wissen Sie ja – aber als nächstes werde ich in Ihrer Neurochirurgie eingesetzt. Ich soll das ganze Haus kennenlernen.«
»Sie waren uns eine große Hilfe, Schwester Miriam«, erwiderte Dr. Adrian Winter lächelnd. »Wir sind froh, daß Sie wenigstens eine Zeitlang unser Team verstärkt haben.«
»Aber das reicht nicht! Sie sind einfach zu wenig Leute hier für die viele Arbeit.«
»Wem sagen Sie das? Sogar der Verwaltungsdirektor stimmt dieser Ansicht zu, aber nicht einmal er kann etwas für uns tun – jedenfalls hat er bisher keine Dauerlösung gefunden. Deshalb freuen wir uns immer sehr, wenn uns jemand für einige Wochen helfen kann.«
»Trotzdem!« beharrte sie. »Es wäre besser, wenn ich hier bleiben könnte!«
»In der Neurochirurgie wird es bestimmt sehr interessant für Sie, Miriam.«
Sie ließ den Kopf hängen, so daß ihre langen blonden Haare fast ihr hübsches Gesicht verdeckten. »Aber nicht so interessant wie hier!« sagte sie.
Adrian betrachtete sie lächelnd. Schwester Miriam war noch jung, fünfundzwanzig Jahre erst, aber die Zusammenarbeit mit ihr war eine Freude gewesen. Sie war zwar sehr impulsiv, und oft genug war ihr Mund schneller als ihr Kopf, aber sie liebte ihren Beruf, und sie hatte eine schnelle Auffassungsgabe. Er würde es ihr nicht sagen, aber auch er bedauerte, daß sie die Notaufnahme schon wieder verließ. Eine zusätzliche Schwester war eine große Hilfe für sie alle gewesen.
»Ich werde versuchen, wieder in die Notaufnahme zu kommen«, sagte Miriam in diesem Moment, und ihre schönen blaugrauen Augen leuchteten auf bei dieser Idee. »Wären Sie damit einverstanden, Herr Dr. Winter?«
Er nickte. »Selbstverständlich. Aber machen Sie sich keine allzu großen Hoffnungen, Schwester Miriam, die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik ist nicht der einzige Bereich mit Personalmangel, und für uns werden keine zusätzlichen Kräfte eingestellt.«
»Ja, ich weiß«, murrte sie. »Das ist ja das, was ich nicht verstehe. Für alles wird Geld ausgegeben, aber am Pflegepersonal wird gespart, das ist doch ungerecht.«
Adrian wollte sich nicht mit ihr auf eine gesundheitspolitische Debatte einlassen – das würde, fand er, zu weit führen. Außerdem hatte er keine Zeit dazu, denn schon wieder wurde ein schwerverletzter Patient von zwei Sanitätern im Laufschritt hereingebracht.
»Er scheint innere Verletzungen zu haben, Herr Dr. Winter«, keuchte einer der Männer. »Er verblutet uns.«
Adrian verlor keine Zeit. Er rief nach seiner Kollegin, der Internistin Julia Martensen, und gleich darauf beugten sie sich bereits gemeinsam über den Verletzten, während sich Schwester Miriam beeilte, diesem eine Infusion anzulegen.
*
»Hey, schlaf nicht ein, André!« Jochen Meinhardt stieß seinen jüngeren Freund und Kollegen André Reichmann unauffällig an. Sie waren Lehrer an derselben Schule, und gerade fand eine Konferenz statt, in der einige wichtige Entscheidungen getroffen werden sollten. Jochen und André saßen zum Glück sehr weit vom Direktor, der gerade eine kurze Rede hielt, entfernt, so daß Jochens Flüstern nicht auffiel.
André zuckte zusammen, murmelte: »Nein, nein, keine Sorge«, und versuchte zuzuhören. Aber die Schmerzen waren wieder einmal unerträglich, dabei hatte er bereits zwei Tabletten genommen. Mit Migräne müsse man leben, hatte sein Hausarzt achselzuckend gesagt und André damit fast zur Verzweiflung gebracht. Er hatte früher nie unter Migräne gelitten – wieso also jetzt auf einmal? Mit solchen Kopfschmerzen konnte man keine Klasse von Dreizehnjährigen unterrichten!
Die Worte rauschten in seinen Ohren, es war ihm unmöglich zuzuhören. Irgendwann stieg der Geräuschpegel um ihn herum an, und er bemerkte, daß die Konferenz offenbar beendet war. Zum Glück mußte er heute nicht mehr unterrichten.
»Was ist eigentlich in letzter Zeit mit dir los?« erkundigte sich Jochen nun besorgt. Er war Mitte Vierzig, was man ihm aber keineswegs ansah. Seine Figur war schlank und durchtrainiert, die dunklen Haare waren ein wenig zu lang, was ihm aber gut stand. Jochen hatte André, der noch ziemlich neu an der Schule war, von Anfang an unter seine Fittiche genommen. Die beiden kamen gut miteinander aus, sie hatten viele gemeinsame Interessen, und André, der Ende Zwanzig war, schätzte an seinem älteren Kollegen, daß dieser seinen Beruf noch immer mit Begeisterung ausübte. Er war weder resigniert noch zynisch geworden, ging mit Geduld auf jede Schülerfrage ein, konnte aber auch knallhart reagieren, wenn er es für nötig hielt. Für André war Jochen Meinhardt ein Vorbild.
André war ein ruhiger und zurückhaltender junger Mann. Er nahm seinen Beruf sehr ernst und fand solche Kollegen schrecklich, die offen zugaben, nur Lehrer geworden zu sein, weil sie das gute Gehalt und die viele Freizeit schätzten. Er selbst bereitete sich auf seinen Unterricht überaus gründlich vor, und wenn er eine Arbeit hatte schreiben lassen, dann korrigierte er sie immer möglichst schnell. Es wäre ihm ungehörig vorgekommen, seine Schüler lange im unklaren über ihren Leistungsstand zu lassen.
»Ich habe schon wieder diese gräßlichen Kopfschmerzen«, antwortete er jetzt auf Jochens Frage. »Das hab’ ich früher nie gehabt, ich möchte mal wissen, wo das so plötzlich herkommt!«
»Vielleicht solltest du dich einfach mal gründlich untersuchen lassen«, meinte sein Kollege und sah ihn besorgt an. »Du siehst auch schlecht aus, das ist mir neulich schon aufgefallen.«
»Jetzt übertreib’ nicht«, meinte André und strich sich die dichten dunkelblonden Haare aus dem Gesicht. Er war ein sehr gutaussehender Mann, und mehr als eine seiner Kolleginnen und so manche der älteren Schülerinnen schwärmte für ihn – aber André schien das gar nicht zu bemerken. Er hatte bis vor einem Jahr eine Freundin gehabt, die sich ständig darüber beklagt hatte, daß er mehr Zeit für seine Schüler habe als für sie. Schließlich hatten sie sich ohne große Krise voneinander getrennt, und seitdem war er allein. Nicht, daß er nicht gern eine Freundin gehabt hätte, aber er war nicht unbedingt auf der Suche. Im Augenblick gefiel ihm sein Leben, wie es war – bis auf die unerklärlichen Kopfschmerzen.
»Sollen wir zusammen einen Happen essen gehen?« fragte Jochen, und André nickte. Jochen war seit ein paar Jahren geschieden. Seine Freundinnen wechselten häufig, weil er sich nicht noch einmal binden wollte. Deshalb gingen die beiden Kollegen und Freunde nach der Schule öfter zusammen essen, weil es niemanden gab, der sie zu Hause erwartete.
Als sie sich wenig später in ihrem Lieblingslokal gegenübersaßen, fragte André: »Was macht Barbara?« Barbara war Jochens derzeitige Freundin.
»Schluß«, sagte Jochen lakonisch.
»Warum?«
»Das Übliche. Sie kann nicht mit einem Mann zusammen sein, der solche Bindungsängste hat wie ich.«
Dieses Gespräch hatten sie schon öfter geführt, Jochens Beziehungen endeten alle so.
»Kannst du mir mal erklären«, sagte er jetzt, »warum die Frauen alle so versessen auf was Festes sind? Warum können sie nicht einfach ein bißchen Spaß haben, wie ich, und mich ansonsten in Ruhe lassen?«
»Das darfst du mich nicht fragen, Jochen. Ich verstehe da eher die Frauen als dich. Dieser Streß mit den ständig wechselnden Partnerinnen – für mich wäre das eine schreckliche Vorstellung.«
»Immer noch besser als Streß mit einer einzigen, die mir dann erzählt, was ich tun und lassen soll«, brummte Jochen. »Die mein Leben kontrolliert und mir das Gefühl gibt, daß ich in einem Gefängnis lebe. Nein, nein, ich will es unverbindlich – oder gar nicht!«
Er hatte André nicht viel über seine gescheiterte Ehe erzählt, aber das Wenige hatte gereicht, um André besser verstehen zu lassen, warum sich Jochen nie wieder binden wollte. Seine Frau hatte ihn auf Schritt und Tritt kontrolliert und ihn ständig verdächtigt, anderen Frauen nachzusehen. »So lange«, hatte Jochen gesagt, »bis ich es dann wirklich getan habe.«
Jetzt fragte er: »Was macht dein Kopf?«
»Die Tabletten wirken endlich, aber ich werde doch mal zu einem anderen Arzt gehen. Meiner zuckt immer nur mit den Schultern – dem fällt absolut nichts ein. Der tut so, als müsse ich damit leben und noch froh sein, daß ich kein schlimmeres Leiden habe. Ich frage mich manchmal, wie Leute ein Leben aushalten, bei dem sie ständig Schmerzen ertragen müssen. Wenn ich ernsthaft krank wäre…, also ich weiß nicht, ob ich so leben könnte.«
»Geh doch mal in die Kurfürsten-Klinik«, riet Jochen. »Die haben ausgezeichnete Spezialisten dort.«
»Ich will mich doch nicht ins Krankenhaus legen, weil ich Kopfschmerzen habe!« rief André entsetzt.
»Davon rede ich doch gar nicht. Da kann man sich auch ambulant behandeln lassen.«
»Ich überleg’s mir«, murmelte André. Er wollte eigentlich gar nicht so viel Aufhebens von seinen Kopfschmerzen machen. Andererseits beeinträchtigten sie ihn wirklich sehr. »Laß uns von etwas anderem reden«, bat er. »Das lenkt mich ab, und dann verschwinden die Schmerzen von ganz allein.«
Jochen tat ihm den Gefallen und erzählte von der »rasanten« Trainerin in dem Fitneß-Studio, das er einmal pro Woche besuchte.
»Das soll dann also die nächste werden?« erkundigte sich André. »Gönn dir mal ’ne Pause, Jochen!«
»Wenn du sie gesehen hättest, würdest du das nicht sagen«, meinte Jochen und grinste breit. »Was macht denn die graue Maus?«
»Du sollst sie nicht so nennen, das hab’ ich dir schon oft gesagt. Pia Wohlbrück ist unheimlich nett, und ich bin mit ihr befreundet, das weißt du ganz genau!«
»Ich bestreite ja gar nicht, daß deine Nachbarin nett ist – aber sie ist trotzdem eine graue Maus!«
»Sie zieht sich wahrscheinlich anders an als eine Trainerin in einem Fitneß-Studio«, sagte André friedlich. »Aber sie ist hübsch – nur eben auf eine eher unauffällige Art.«
»So unauffällig, daß man sie gar nicht sieht«, meinte Jochen spöttisch. Als er sah, daß André anfing, sich über ihn zu ärgern, lenkte er ein. »Ich meine es doch nicht böse, André. Aber sie könnte wirklich etwas mehr aus sich machen. Sie muß doch nicht so gesund aussehen, wie sie lebt.«
Über diese Formulierung mußte André lachen. »Ja, gesund lebt sie schon. Und ihre Baumwollsachen sind alle mit natürlichen Farben gefärbt, die Schuhe dürfen den Fuß nicht einengen…«
»Das meine ich ja«, warf Jochen lebhaft ein. »Immer diese langen Walle-Röcke, die flachen Schuhe, die weiten T-Shirts. Hat sie überhaupt eine Figur?«
»Ich nehme es an. Frag sie, wenn du’s genau wissen willst.«
Ihr Essen wurde gebracht, und das enthob Jochen einer Antwort. »Mhm«, sagte er nach dem ersten Bissen, »das schmeckt wieder einmal köstlich.«
Pia Wohlbrück war vergessen, und André war froh darüber. Er mochte seine Nachbarin wirklich sehr gern und hatte sich schon oft geschworen, mit Jochen überhaupt nicht mehr über sie zu reden. Jochen hatte eindeutig Vorurteile, was sie betraf.
Sie tranken nach dem Essen noch einen Kaffee, und Andrés Kopfschmerzen waren zu diesem Zeitpunkt ganz verschwunden. Vielleicht konnte er es doch vermeiden, sich in der Kurfürsten-Klinik untersuchen zu lassen. Wahrscheinlich hätte man ihn dort ohnehin nur ausgelacht, weil er wegen einer solchen Kleinigkeit die kostbare Zeit der Ärzte in Anspruch nahm.
*