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Swantje Oppermann studierte Literatur, Kultur und Medien an der Universität Siegen sowie Film- und Fernsehwissenschaften an der Universität Utrecht. Nach Zwischenstopps in Santa Barbara, Orlando und Bonn zog sie nach Berlin, wo sie für Film und Fernsehen tätig ist. Von ihr erschien bereits der Roman Saligia. Spiel der Todsünden.

Für Lina & Johannes

Brandenburg

Schweiß stand Evie auf der Stirn. Sie schnappte nach Luft wie ein Taucher, der zu lange unter Wasser gewesen war.

Das Vorderrad quietschte unter ihrem Tritt. Die Felge war verzogen und leistete bei jeder Umdrehung Widerstand. Evie drehte sich um. Die letzten Häuser, an denen sie vorbeigezogen war, wachten dort wie verlassene Hochsitze. Seufzend sog sie die schmerzhaft kühle Luft ein. Zurückzuschauen war, wie in eine tiefe Schlucht zu blicken, die man zu überqueren hatte. Keine gute Idee.

Mit dem nächsten Tritt kam Evie aus dem Gleichgewicht. Sie zog die Bremse und hielt schlitternd im Schotter des Straßenrandes. Der Schnürsenkel ihres Boots hatte sich in der Pedale verheddert. Als sie von ihrem Rad stieg, um ihn zu lösen, stürzte Evie. Sie fing ihren Körper an einem knochigen Baum ab, der am Wegrand wuchs. Das Fahrrad hing an ihrem Schuh wie eine übergroße Fußfessel. Es begrub ihren Unterkörper, als Evie einbeinig zu Boden sank. Ihr fehlte der Atem, um laut darüber zu fluchen.

Dafür schrien ihre wunden Fingerkuppen auf, als sie sich an dem Schnürsenkel zu schaffen machte. Die Wohnsiedlung hinter ihr schien mit jedem Atemzug wieder näher zu rücken, als bewege Evie sich rückwärts. Es war zu früh für eine Pause. Aber jetzt hing ihr Fuß fest, ihre Lunge prickelte und unter der dicken Kleidung war es entsetzlich heiß. Kalte Luft strömte durch den Stoff ihres Pullovers, als Evie den Reißverschluss des Mantels aufzog.

Während ihre Finger erneut das spitze Ende des Schnürsenkels zu fassen suchten, blickte Evie gen Himmel. Ein weißer Schleier hing seit Tagen über der Welt. Nicht einmal der Himmel sah mehr so aus wie früher. Sie hatten ihn seiner Farben beraubt.

Evie biss die Zähne aufeinander, als sie mit den Fingern abrutschte. Der Nagel ihres Zeigefingers grub sich in das rosafarbene Fleisch unter ihrem abgekauten Daumennagel.

»Gib mir meinen Schuh zurück und ich werde nie wieder an den Nägeln kauen«, fluchte sie.

Ihr Wunsch wurde nicht erhört. Schließlich schlüpfte sie aus dem Schuh und löste den Schnürsenkel aus dem Boot. Das Pedal hatte den Kampf gewonnen. Es durfte ihn behalten.

Evie lehnte sich gegen den Baum, der krumm neben der Fahrbahn wuchs wie eine angefahrene Straßenlaterne. Sie schätzte, dass sie bisher etwas mehr als fünfzehn Kilometer zurückgelegt hatte. Direkt vor ihr lag das Naturschutzgebiet. Ungefähr zwei Drittel der Strecke standen ihr somit noch bevor.

Müll quoll ihr entgegen, als sie ihren Rucksack öffnete. Evie grub nach ihrem Smartphone. Erst nachdem sie die halbe Tasche geleert hatte, wurde sie fündig. Sie schaltete das Gerät ein. Ihr blieben 28 Prozent Akku. Evie prüfte den oberen rechten Rand des Displays. Kein Empfang. Immer noch nicht.

Sofort schaltete sie das Smartphone wieder aus. Zu gern hätte sie ein wenig Musik gehört, aber das konnte sie sich bei dem niedrigen Akkustand nicht erlauben.

Stattdessen ergriff sie die gläserne Trinkflasche, die in der Seitentasche steckte. Trüb schwappte das Wasser in dem Gefäß. Mit dem Zeigefinger fischte Evie eine tote Mücke heraus, dann trank sie einen Schluck. Beinahe kam ihr die Flüssigkeit wieder hoch. Der Geschmack von Stein und Moos mit einer Apfelnote hing ihr in der Kehle. Wie Feinstaub legte er sich über Evies Speiseröhre. Mit verzogenem Gesicht wischte sie sich den Mund ab. Am liebsten hätte sie keinen Schluck mehr von der Brühe getrunken, aber sie hatte das Gefühl, mit jedem Tropfen mehr Durst zu bekommen. Pelzig legte sich der Geschmack über ihre Zunge. Für einen Moment wurde ihr schwindelig. Dieses Durstgefühl, die Hitze, die trockene Zunge ... sie kannte die Symptome. Mit unruhiger Hand griff sie nach dem Smartphone und hielt es sich vor die Augen. Waren ihre Pupillen geweitet? Sie konnte es in der schwachen Spiegelung kaum ausmachen.

»Nein«, sagte sie zu sich selbst. »Nein.« Evie sammelte hastig ihre Utensilien ein und steckte sie zurück in den Rucksack. Wollpullover, Trinkflasche, Energieriegel, Kopfhörer, Taschenlampe, den zerlesenen Zeitungsartikel. Sie musste sofort weiterziehen.

»Nein, bitte nicht«, murmelte sie.

Wenn ihre Befürchtung stimmte, dann blieben Evie maximal vierundzwanzig Stunden. Wahrscheinlich weniger.

Vierundzwanzig Stunden.

Dann war sie tot.

Evie

1

Meine Geschichte beginnt, lange bevor ich geboren wurde. Millionen von Entscheidungen, Milliarden kleiner Handlungen haben dazu geführt, dass ich diese Fahrt auf mich nehme. Auf einige der Entscheidungen hatte ich einen Einfluss. Auf die meisten nicht.

Auch ich kenne nicht die ganze Story. All die Zusammenhänge, die komplizierten Verstrickungen, die komplexen Vorgänge, die zu dieser Katastrophe geführt haben. Ich kann lediglich meine Sicht der Ereignisse schildern, so gut ich mich daran erinnere. Manchmal passierten sie so schnell, überholten uns gar, dass wir nicht mehr hinterherkamen.

Fieber hat alles verändert. Das Leben, das ich vor einem Jahr lebte, hat nichts mit dem Heute und Jetzt gemeinsam. Ich war ein normales sechzehnjähriges Mädchen. Ich hatte Träume und Wünsche. Ängste und Macken. Einige davon habe ich noch immer, andere sind nicht länger von Bedeutung.

Ich wollte die Welt bereisen. Mit dem Zug nach Paris oder Moskau, mit dem Segelboot nach Schweden oder bis nach Kapstadt. Ich wollte studieren. Was genau, hatte ich mir noch nicht überlegt. Hauptsache, in Berlin. Ich wollte einen Nebenjob annehmen, um mir die Kleidung leisten zu können, für die meine Eltern kein Geld ausgeben wollten. Vielleicht würde ich in einem Café arbeiten, regelmäßig Open Stage Nights organisieren und neue Musiker entdecken. Ich wollte nach dem Abitur mit meinem Freund Cedric in eine eigene Wohnung ziehen. Eine mit einem Balkon, von dem aus unsere zukünftigen Katzen auf die Straße herabblicken konnten.

Ich dachte, das wäre nicht zu viel verlangt.

Jetzt aber möchte ich nur noch eines: leben.

2

Meine erste Begegnung mit Fieber hatte mit einer positiven Nachricht zu tun. Es war der letzte Tag unseres Italienurlaubs und der vorletzte Tag der Sommerferien. Mama und ich standen uns seit einer halben Stunde in der Abflughalle die Beine in den Bauch. Wir hatten die letzten drei Wochen jeden Tag miteinander verbracht und einander entsprechend nichts mehr zu erzählen. Stattdessen lehnte ich mit Kopfhörern in den Ohren an einer Säule und schoss über mein Handy Nachrichten nach Deutschland.

»Wem schreibst du? Pippa?«, kämpfte Mamas Stimme gegen den Klang der Gitarre in meinen Ohren an.

»Ric«, antwortete ich knapp.

»Ich hätte dich nicht für so anhänglich gehalten«, sagte Mama.

Sie meinte es freundlich, erntete dafür aber einen irritierten Seitenblick von mir. »Ich bin nicht anhänglich.«

»Dafür verbringt ihr aber viel Zeit miteinander«, bemerkte sie.

Ich befand es für überflüssig, darauf einzugehen.

Mama streckte die Beine durch, wippte auf und ab. »Ich mag die Kombination. Außergewöhnlich.«

»Ric und ich?«, fragte ich verdutzt.

Lachend schüttelte sie den Kopf und deutete auf meine Fingernägel.

Für einen Moment nahm ich den Daumen vom Display und betrachtete mein Werk. Ich hatte die untere Hälfte der Nägel rosa lackiert und die Enden rot übermalt.

»Danke«, sagte ich und widmete mich wieder meinem Handy.

Als wir endlich an der Reihe waren, um unser Gepäck aufzugeben, bekam ich dies nur mit Verzögerung mit. Mama stupste mich mit dem Ellenbogen an, damit ich dem Flughafenmitarbeiter wenigstens das Mindestmaß an Respekt entgegenbrachte: einen Blick.

»Es freut mich, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Sie heute mit uns in der Business-Klasse fliegen«, verkündete der Mann hinter dem Check-in-Schalter mit einem unverhältnismäßig breiten Lächeln. Für jemanden, der sich täglich die Beschwerden von Passagieren anhören muss, war dies vermutlich das Highlight des Tages. Dementsprechend enttäuschend muss Mamas Reaktion für ihn gewesen sein.

Die zog eine verwunderte Grimasse. »Bei so einem kurzen Flug gibt es eine Business-Klasse?«

Das war typisch für sie.

Ich nahm den Ohrstöpsel aus dem linken Ohr, um mich besser in das Gespräch einbringen zu können. »Freu dich doch«, sagte ich und bemühte mich um die Begeisterung, die sie dem armen Fluglinienmitarbeiter verwehrte.

»Ein Upgrade«, murmelte Mama, als wir in die Business-Lounge geführt wurden.

»Papa wird sich ärgern, dass er früher geflogen ist«, kommentierte ich.

»Es ging nicht anders. Er wird nun mal in Zürich gebraucht. Das weißt du.« Mama blickte sich in der Lounge um, in der auffällig viele Männer in Anzügen saßen. »Siehst du. Bei der Bahn würde so etwas nie passieren. Die wissen nicht einmal, wie man Service buchstabiert.«

»Mama«, stöhnte ich.

Sie sagte es, um mich zu triezen. Als wir die Reise zu meinen Großeltern in die Toskana geplant hatten, hatte ich vorgeschlagen, zur Abwechslung mit der Bahn zu fahren. Mit dem Nachtzug kam man innerhalb von vierzehn Stunden nach Florenz. Mama aber weigerte sich, ihre kostbaren Urlaubstage in einem übervollen Abteil zu verbringen.

Bevor ich auf ihre Stichelei eingehen konnte, schoss mir ein Schmerz durch den Knöchel.

»Scusi«, murmelte jemand neben mir, um mich im nächsten Moment zur Seite zu schubsen.

Der Mann, der mir in die Hacke getreten war, beachtete mich nicht weiter. Auch er gehörte zur Spezies Geschäftsmann. Mit der linken Hand hielt er sich ein Telefon ans Ohr. Mit der anderen griff er nach einer Flasche Wasser. Auf dem Rückzug rempelte er mich erneut an. Diesmal bekam ich kein ›Scusi‹.

Ich rieb mir den schmerzenden Knöchel. »Ich wusste nicht, dass ich zum Boxsack upgegradet wurde.«

»Evelyn«, mahnte Mama und stieß mir zum dritten Mal an diesem Tag den Ellenbogen in die Seite.

Für mich war das eine klare Bestätigung. Ich war ab jetzt der Boxsack. Entnervt sah ich dem Mann hinterher. Er versprühte die Unruhe eines Wespenschwarms. An seinem Handgelenk funkelte eine Rolex, auf die er immer wieder nervöse Blicke warf. Untertassengroße Schweißflecken bildeten sich unter den Achseln. Das Gefäß unter seinem linken Auge pulsierte verdächtig. Schweiß lag ihm auf der Oberlippe, während er hektisch in sein Handy plapperte. Ratattatatta. Wie Gewehrfeuer.

Obwohl ich ein wenig Italienisch sprach, verstand ich kein Wort. Es klang, als stünde der Mann unter Druck. Ein Dampfkessel, der jeden Augenblick zu explodieren drohte. Er sah aus, als wolle er nicht hier sein. Und irgendwie passte er auch nicht ins Bild. Er wirkte wie jemand, für den selbst die Business Class zur Holzklasse gehörte.

Als das Boarding begann, setzte sich der Mann zu meiner Erleichterung auf einen Platz drei Reihen schräg vor uns. Genug Abstand, um uns nicht weiter mit seinem Geplapper zu beschallen. Kurz vor dem Start hörte er auf zu telefonieren. Speisen und Getränke lehnte er ab. Er machte stattdessen die Augen zu, um sich auszuruhen.

Tatsächlich unterschied sich die Business-Klasse bei einem so kurzen Flug kaum von der Economy. Wir bekamen ein extra Sandwich (labbrig) und Kaffee (dünn). Die Sitze waren etwas bequemer. Der Rest war nahezu identisch. Mama verbarg ihre Enttäuschung darüber nicht.

»Business-Klasse ist eine Übertreibung«, murmelte sie, als hätte sie für diese Plätze mehr gezahlt.

Erschöpft von der Reise zum Flughafen, entschied ich mich ebenfalls für ein Nickerchen. Mama war in ihr Buch vertieft und damit grundsätzlich unansprechbar. Ich lehnte mich zurück und zupfte den Mundschutz in meinem Gesicht zurecht. Darauf abgebildet war die flauschige Nase eines Kaninchens. Das war mein liebstes Design. Ric hatte mir den Mundschutz geschenkt. Inzwischen besaß ich mindestens ein Dutzend Masken.

Meine Augen brannten von der trockenen Flugzeugluft. Die Lider fielen mir von alleine zu.

Ich weiß nicht, wie lange ich schlief. Es konnten nicht mehr als dreißig Minuten gewesen sein, aber es fühlte sich an wie ein halber Tag. Der Geschäftsmann erschien mir im Traum. Erneut rempelte er mich an. Als ich die Augen wieder öffnete, machte sich der kostenlose Kaffee bemerkbar. Ich schnallte mich los und ging den schmalen Gang vor zu der Kabine. Die Toilette befand sich direkt hinter dem Cockpit. Sie war besetzt.

Ich lehnte mich gegen die Kabinenwand und wartete. Der Platz des Geschäftsmannes war leer. Natürlich blockierte er das WC. Wer sonst?

Ich überkreuzte die Beine und starrte in den Gang. Die meisten anderen Passagiere schliefen. Einige spielten auf ihren Handys herum. Wenige lasen. Kaum jemand unterhielt sich. Da war nur das Rauschen der Turbinen. Ein beruhigendes Geräusch, das davon ablenkte, dass wir in einer tonnenschweren Kapsel eingeschlossen waren, die Tausende von Metern über der Erde schwebte.

Erneut rieb ich mir die Augen. Mir ist es ein Rätsel, warum Reisen so anstrengend ist. Man sitzt die meiste Zeit herum oder wartet. Am Ende des Tages fühlt man sich, als wäre man die ganze Strecke zu Fuß gelaufen.

Das Schloss der Toilettenkabine öffnete sich klackend. Ich weiß nicht mehr, was als Nächstes kam. Der Knall oder der Schrei? Vielleicht beides gleichzeitig.

Die Toilettentür flog auf. Im nächsten Moment lag ich unter dem Geschäftsmann begraben. Der Bereich war zu eng für uns zwei. Unsere Körper verkeilten sich zwischen Tür und Wand. Später wurde mir bewusst, dass mein Kopf einen metallenen Trolley nur um Millimeter verfehlt haben musste.

Der Mann wog mindestens hundert Kilo. Er schrie mich auf Italienisch an. Der Mundschutz baumelte von seinem linken Ohr. Speichel flog mir ins Gesicht. Seine linke Hand umfasste den Stoff meines Sweatshirts. Die andere war unter meinem Oberkörper begraben. Sein Gesicht war feuerrot, die Pupillen geweitet, Schweiß perlte ihm von der Stirn, als er mich zu Boden drückte. Diese Augen. Wild und panisch wie bei einem angeschossenen Tier.

Wehrlos wand ich mich unter ihm. Ich bekam keine Luft. Das gesamte Gewicht des Mannes lastete auf mir. Für mich gab es keine Möglichkeit, mich zu befreien. Er zerrte am Kragen seines Hemds, schrie mir weiter italienische Worte ins Gesicht. Die immer gleichen Worte. Aber ich verstand sie nicht. Das sagte ich ihm unter Luftnot. Auf Deutsch.

Dann riss ihn jemand von mir herunter, zurück in den Gang. Der Mann stotterte vor sich hin. Schaum trat aus seinen Mundwinkeln.

Eine Handvoll Passagiere aus der Business-Klasse versammelte sich um den Mann. Eine Stewardess und ein Steward hatten Mühe, an ihnen vorbeizukommen. Sie versperrten mir die Sicht auf den zuckenden Körper.

Ich lag nach wie vor auf dem Boden. Mein Hinterkopf schmerzte. Ich war damit an die Wand geknallt, als der Mann auf mir gelandet war. Den Abdruck seiner Hand spürte ich noch auf meinem Rücken. Glühend heiß wie ein Brandmal.

Über die Lautsprecherdurchsage fragte die Stewardess, ob ein Arzt an Bord sei.

Dann stand Mama plötzlich neben mir und half mir, mich aufzusetzen. Sie fragte, ob es mir gut ginge. Ich reagierte nicht, aber ein klares »Nein« wäre die einzig richtige Antwort gewesen.

Der Mann lag im Gang. Seine Augenlider flatterten wie Mottenflügel. Einige der Passagiere waren wie versteinert, andere filmten den Vorfall mit dem Handy. Aus der Economy Class drängten weitere Passagiere nach vorne, um einen Blick auf das Geschehen zu bekommen. Einige von ihnen gaben dem Arzt, der sich mittlerweile zu dem Patienten vorgekämpft hatte, auf unterschiedlichen Sprachen Ratschläge. Deutsch, Englisch oder Italienisch; sie waren alle nutzlos. Denn der Arzt wirkte genauso hilflos wie alle anderen. Er sei eigentlich Gynäkologe, gestand er.

Mama fragte einen der Mitfliegenden, was mit dem Mann los sei. Keiner kannte die Antwort.

»Er hat nur immer wieder gesagt, dass er verbrennt«, behauptete jemand.

Dann regte sich der Geschäftsmann nicht mehr.

Eine halbe Stunde nach der Notlandung war er tot.

Ich weiß bis heute nicht, wie er hieß.

3

Noch Stunden später hörte ich die Schreie des Mannes in meinen Ohren wie einen grausamen Ohrwurm. Ich fühlte seinen Atem auf meinem Gesicht. Das Gewicht auf meinem Körper. Die Hand im Rücken.

»Ich habe noch nie eine Person sterben sehen«, sagte ich, als wir auf unsere Koffer warteten. Mit den Worten traten mir Tränen in die Augen.

Mama war selbst erschüttert. Ihr ganzer Körper war wie versteinert. Sie versuchte trotzdem, mich zu trösten. Schützend legte sie einen Arm um meine Schultern und versprach mir mit dünner Stimme, dass alles wieder gut werden würde. Ein Versprechen, das sie nicht halten konnte. Schon gar nicht für den toten Mann.

Meine Schwester Romy holte uns überraschend vom Flughafen ab. Durch den Zwischenfall an Bord und die Notlandung in München hatten wir reichlich Verspätung. Romy war sofort ins Auto gestiegen, sobald sie davon gehört hatte. Papa saß mittlerweile selbst im Flieger nach Zürich.

Wie betäubt sank ich auf die Rückbank. Mama schob sich neben mich. Sie nahm meine Hand und drückte sie. Ihre Fingerspitzen waren eiskalt. Zumindest kam es mir so vor. Vielleicht steckte die Hitze des Mannes noch in meinen Gliedern. Das Infrarot-Thermometer am Ankunftsterminal hatte meine Körpertemperatur allerdings als normal angegeben.

Da Romy kein eigenes Auto besaß, holte sie uns mit dem Fiat ihres Freundes ab. Eine alte Kiste, die bei jeder Bodenwelle knarzte und in der es permanent nach Heu roch.

In den ersten Minuten herrschte benommenes Schweigen. Dann fragte Romy, wie es Oma und Opa ginge. Mama erwiderte knapp, dass sie das Rentnerdasein weiterhin in vollen Zügen genossen. Oma sprach mittlerweile fast fließend Italienisch. Und Opa hatte den Hang hinter dem Haus mit Olivenbäumen bepflanzt, die inzwischen erste Früchte trugen. Erneutes Schweigen folgte.

Ungefragt begann Romy daraufhin, von ihrem Hof zu erzählen. Nicht wir waren es, die die Stille nicht ertrugen. Sie war es. Sie zählte auf, wie viele Eier die Hühner legten, berichtete, dass sie in diesem Sommer so viele Tomaten und Zucchini geerntet hatten wie nie zuvor, und erklärte, dass sie bei der Installation der neuen Photovoltaik mitgeholfen hatte.

Vor drei Jahren war Romy mit ihrem Freund Vito und einem befreundeten Pärchen auf einen alten Hof in Brandenburg gezogen. Seitdem drehte sich bei ihr alles um das Leben auf dem Land.

Romy redete an einem Stück. Mamas Zwischenbemerkungen fielen einsilbig aus. Ich hörte nur mit einem Ohr hin. Mit dem anderen lauschte ich über meine Kopfhörer der Musik. Aber in Gedanken war ich weiterhin bei dem Mann im Flugzeug.

Als Romy uns vor unserem Haus absetzte, dämmerte es. Mama machte sich daran, das Gepäck aus dem Kofferraum zu holen. Als ich aussteigen wollte, um ihr zu helfen, hielt Romy mich zurück.

»Kommst du zurecht, Lynnie?«, fragte sie. Eigentlich nannte nur Papa mich so. Irgendwann in den letzten Monaten war auch Romy zu diesem Spitznamen übergegangen. In den falschen Momenten konnte sie eine Nervensäge sein. Aber in den richtigen war sie warmherzig und der Inbegriff von Besonnenheit. Ich rechnete jede Woche damit, dass sie ihre Schwangerschaft verkündete und zur Super-Mum wurde.

»Ja«, sagte ich, nur weil ein »Nein« eine viel längere Antwort verlangt hätte, als ich in diesem Moment zustande bringen konnte.

Entsprechend kaufte Romy es mir nicht ab. »Das muss heftig für dich gewesen sein«, sagte sie. »Bist du sicher, dass du dir nichts getan hast? Mama hat gesagt, dass der Mann voll auf dich draufgeknallt ist.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nur ein paar blaue Flecke.«

»Wenn du willst, kannst du für ein paar Tage mit auf den Hof kommen. Übermorgen kriegen wir einen Esel.« Romy lächelte vorsichtig. »Es heißt, dass Esel viel innere Ruhe ausstrahlen. Wenn sie nicht gerade schrecklich laut schreien.«

Jetzt wagte sie sich zu einem vollen Lächeln vor. Romy hatte ein markantes Lächeln. Breit und voll. Sofort wanderten auch meine Mundwinkel ein Stück nach oben.

»Du kommst so selten zu Besuch«, bemerkte sie.

»Danke, Romy. Ehrlich. Aber die Schule geht wieder los«, schlug ich das Angebot aus. »Außerdem wartet Ric schon darauf, mich endlich wiederzusehen.«

»Der Kerl hat es dir echt angetan, was?«

»Wir haben Spaß zusammen«, sagte ich und zuckte mit den Schultern. »Mit ihm vergesse ich alles andere.«

»Ist doch schön. Die erste Liebe.« Romy lächelte, in Erinnerungen versunken. Ich versuchte, mich an ihren ersten Freund zu erinnern. Es gelang mir nicht. Sie hatte so viele gehabt. Romy als Single. Diese Person gab es in meiner Vorstellung nicht.

»Du kannst dich ja melden, solltest du es dir anders überlegen«, sagte sie dann.

Vermutlich lag es an dem Altersunterschied von acht Jahren, dass sie mich wie ihr Kind behandelte und nicht wie ihre Schwester. Romys Verhalten mir gegenüber schwankte zwischen bemutternd und belehrend. Deshalb haben wir nie ein besonders inniges Verhältnis zueinander entwickelt. Und weil sie genau dann von zu Hause auszog, als ich sie am meisten gebraucht hätte: Als ich in die Pubertät kam. Manchmal fühlte ich mich wie ein Einzelkind, so sehr hatte Romy sich aus unserem Alltag entfernt.

Hinter uns knallte die Kofferraumklappe zu. Mama zog die beiden Koffer zur Haustür. Romy sah ihr nach.

»Kommst du noch mit rein?«, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. »Passt aufeinander auf, ja?«, bat sie. »Du siehst ja, wie schnell es gehen kann. Mama hat gesagt, dass der Mann wohl einen epileptischen Anfall hatte?«

Diese Einschätzung teilte ich nicht. »Wie kommt sie ausgerechnet darauf?«, fragte ich.

Romy zuckte mit den Schultern.

Ich wusste nicht, was Mama zu dieser Diagnose geführt hatte.

Das rot glühende Gesicht des Mannes blitzte vor meinen Augen auf.

Stürzten sich Personen mit einem epileptischen Anfall auf andere Leute? Schrien sie? Klagten sie über das Gefühl, zu verbrennen?

Für den Rest des Abends konnte ich an nichts anderes mehr denken.

Woran war der Mann wirklich gestorben?

4

In dieser Nacht bekam ich kein Auge zu. Ich lag auf dem Rücken. Arme und Beine von mir gestreckt. Die Decke weit weg am Fußende des Bettes. Um kurz nach vier Uhr morgens gab ich auf.

Ich griff nach meinem Smartphone und suchte nach einer Erklärung. Anfangs war das eine schwachsinnige Idee. Ich hätte mir denken können, dass man nur auf Grausiges stößt, wenn man nach Schlagwortkombinationen wie ›Menschen‹, ›krank‹ und ›verbrennen‹ sucht. Wer lud solche Bilder hoch? Und, schlimmer noch, wer wollte sie sehen? Ich war in eine Ecke des Internets vorgestoßen, die ich eigentlich versuchte zu meiden.

Ich klickte mich durch unzählige Artikel, las über Brandopfer und brennende Ausschläge, über Notfälle in Flugzeugen, selbst über das Burning Man Festival. Keiner der Texte enthielt hilfreiche Hinweise.

Nach einer Weile kam ich auf die Idee, nach Videos aus dem Flugzeug zu suchen. Einige der Passagiere hatten mitgefilmt. Vielleicht hatte jemand einen Mitschnitt online gestellt.

Fast war ich erleichtert, als auch diese Suche keine Ergebnisse hervorbrachte. Wollte ich das Ganze wirklich noch einmal auf dem Display ansehen? Die Bilder waren auch so in mein Gehirn eingebrannt.

Ich war kurz davor, aufzugeben und mich einer Nacht voller Albträume zu stellen, als ich auf den ersten nützlichen Artikel stieß. Er war wenige Wochen alt. Darin wurden ein Dutzend Todesfälle miteinander in Verbindung gebracht. Von einigen hatte ich schon in den Medien gehört, weil die Opfer so prominent waren.

Der reichste Mann der Welt. Ein saudischer Prinz. Der spanische Besitzer eines der größten Textilunternehmen der Welt. Ein Mitarbeiter eines amerikanischen Agrarkonzerns. Ein indischer Kohlebaron. Der CEO einer US-amerikanischen Investmentfirma ... Ihre Todesfälle gaben Experten weltweit Rätsel auf.

In dem Artikel behauptete der Journalist, einen Zusammenhang erkannt zu haben. Mehreren Quellen zufolge hätten einige der Betroffene kurz vor ihrem Tod von einem Hitzegefühl berichtet. Die Körpertemperatur stiege schlagartig an. Augenzeugen zufolge hatten mindestens drei von ihnen beklagt, dass sie das Gefühl hätten, von innen zu verbrennen.

Die Todesfälle traten alle unabhängig voneinander auf. Viele der Betroffenen waren einander nie begegnet. Im näheren Umfeld der Verstorbenen hingegen gab es bisher keine ähnlichen Fälle oder Vorerkrankungen. Der Autor des Artikels glaubte trotzdem felsenfest an eine Verbindung. Die Opfer zählten zum Who’s who der Weltwirtschaft. Entscheider. Staatslenker.

Das konnte kein Zufall sein.

Nachdem ich den Artikel gelesen hatte, war mir unwohler als zuvor. Ich hatte meine Suche in der Hoffnung nach Antworten gestartet. Antworten, die mir Gewissheit gaben. Die hatte ich nicht gefunden. Und jetzt saß ich aufrecht im Bett.

Ich suchte nach weiteren Quellen. Einige Seiten zitierten den Artikel. In mehreren Foren wurde darüber diskutiert. Ein Großteil der Nutzer hielt den Autor für einen Spinner. Und die Nutzer, die ihn doch ernst nahmen, klangen selbst nach den ärgsten Verschwörungstheoretikern. Sie trugen Nutzernamen wie flatearther4real und princelebt.

Kaum ein anderes Medium sprang auf die Theorie auf. Die Sache war im täglichen Nachrichtenkreislauf untergegangen.

Trotzdem klang der Artikel für mich glaubhaft. Die vielen Todesfälle. Die Beschreibung der Symptome. Es traf alles genau auf den Mann aus dem Flugzeug zu. Nur hatte ich keine Ahnung, wie der dazu passen sollte.

Ich hatte einen ersten Hinweis gefunden.

An Schlaf war in dieser Nacht nicht mehr zu denken.

5

»Lies das«, sagte ich am nächsten Morgen und legte das Handy auf Mamas Frühstücksbrett.

Fragend sah sie mich an.

»Ich glaube, der Mann gestern ist daran gestorben«, sagte ich.

Mama überflog den Artikel in weniger als fünf Sekunden. Ich bezweifelte, dass sie dabei auch nur ein Wort erfasste. »Woran?«

»An dieser«, ich suchte nach dem richtigen Wort, »Hitze.«

»Hitze? Evie, der Mann hatte einen Anfall. Vermutlich einen epileptischen Anfall.«

»Das war kein epileptischer Anfall.«

Da war ich mir mittlerweile sicher.

Mamas Stirn schlug besorgte Falten. Ich kannte diesen Ausdruck. Er gefiel mir nicht. »Du siehst aus, als hättest du kaum geschlafen.« Sie nahm meine Hand und zog mich näher an sich heran. Dann betastete sie meine Stirn. »Wie fühlst du dich?«

Ich drehte den Kopf zur Seite und wand mich aus der Berührung. »Ich hab nichts.«

»Ich möchte nicht, dass du dich wieder in etwas hineinsteigerst.«

»Ich steigere mich da nicht hinein«, widersprach ich und war mir selbst nicht sicher, ob das stimmte. Schon einmal war mir die Kontrolle über meine Gefühle entglitten. Das lag gerade einmal sechs Monate zurück.

»Schatz, was da gestern passiert ist, ist furchtbar«, sagte sie. »Aber bitte denk nicht mehr darüber nach, als du musst. Das tut dir nicht gut. Das weißt du.«

»Machst du dir denn gar keine Gedanken?«, fragte ich.

»Natürlich. Ich …« Mama hielt inne und setzte sich auf. Sie wählte ihre Worte wohlüberlegt, als hätte sie Angst, etwas Falsches zu sagen. Dabei hätte ich gerne gewusst, was wirklich in ihr vorging, anstatt die zensierte Version zu hören. »Wir können dem Mann nicht mehr helfen. Es bringt nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Aber wenn dich das zu stark mitnimmt, dann …«

»Schon gut«, unterbrach ich sie und nahm das Smartphone.

»Evie.« Mamas Hand wand sich um mein Handgelenk. »Du kannst mit mir über alles reden.«

Ich nickte. »Ich weiß.«

Ein Seufzen entwich meinen Lippen. Ich konnte über alles mit Mama reden. Das bedeutete noch lange nicht, dass sie mich auch verstand. Ich ging zurück auf mein Zimmer und checkte meine Nachrichten. Ric hatte noch nicht auf meine nächtlichen Zeilen geantwortet. Vermutlich schlief er noch. Ich bat ihn, sich zu melden, sobald er wach war.

Dann fragte ich Pippa, ob sie Zeit hatte, zu uns nach Hause zu kommen. Obwohl es frühmorgens war, antwortete sie nach wenigen Augenblicken.

Pippa und ich kennen uns seit der ersten Klasse. Seit der zweiten sind wir beste Freundinnen.

Sind.

Waren.

Nach den Ereignissen der letzten Wochen bin ich mir da nicht mehr so sicher.

Mit Ric hatte ich vor allem Spaß. Er machte gerne Witze, aber auf richtige Diskussionen ließ er sich nicht ein. Schnitt man ein tief greifendes Thema an, war das Gespräch mit hundertprozentiger Sicherheit nach einer Minute beendet. Ric war schlecht darin, seine Gedanken und Gefühle auszudrücken. Das bedeutete nicht, dass er sie nicht hatte. Er sprach nur nicht gerne darüber. Vielleicht lag es daran, dass er der Jüngste von vier Brüdern war. Zu Hause fragte ihn niemand nach seiner Meinung.

Bei Pippa hingegen war das Gegenteil der Fall. Sie war Einzelkind. Sie drängte anderen ihre Meinung nahezu auf. Dafür konnte man mit ihr über die ernsten Fragen des Lebens reden, denn sie selbst war meistens ernst. Das fing schon in ihrem Gesicht an. Die ausdrucksstarken Augenbrauen schossen wie Pfeile auf ihre angedeutete Zornesfalte zu. Ihre spitze Nase roch jedes Problem auf fünfzig Meter Entfernung. Ihre kastanienbraunen Augen suchten stets nach einer Lösung.

Seit anderthalb Jahren war sie besonders ernst.

Seitdem wollte sie nicht mehr mit Pippa, sondern mit ihrem vollen Namen, Filippa, angesprochen werden. Plötzlich war auch ich nicht mehr Evie, sondern Evelyn.

Bis zuletzt konnte ich mich daran nicht gewöhnen. Es war, als spräche eine Fremde mit mir. Als ich Mama einmal davon erzählte, sagte sie mir, dass es normal sei, dass Freunde sich auseinanderentwickelten und unterschiedliche Wege einschlugen. Dass es in dem Fall keine Schuldige gab. Jede von uns tat das, was sie für richtig hielt.

Trotzdem fühlte es sich falsch an. Ich wollte nicht, dass sich alles änderte. Ich wollte, dass alles wieder so wurde, wie es einmal gewesen war. Ich hatte ja keine Ahnung, was noch auf uns zukommen würde.

»Wie geht’s dir?«, fragte Pippa, als sie zur Tür hereinkam. Ihre Stirn schlug besorgte Falten. Auch wenn wir mittlerweile unterschiedlichen Interessen folgten, waren wir doch füreinander da. Sie zog mich in eine feste Umarmung. Bei ihrem Geruch hatte ich das Gefühl, nie aus der Toskana abgereist zu sein. Pippa benutzte Olivenöl statt herkömmlicher Body Lotion. Das Haar wusch sie mit Zitronenwasser.

»Der erste Schock ist überwunden«, sagte ich.

Pippa legte ihren Mantel ab. Ein altes Stück aus ockerfarbener Wolle, das sie ihrer Mutter abgequatscht hatte. Sie trug fast ausschließlich Secondhandkleidung. Da Modetrends sich ständig wiederholten, sah man ihr meistens nicht an, dass ihre Kleidung älter war als sie selbst.

»Was ist denn hier passiert?«, fragte Pippa, als ich sie in mein Zimmer führte.

Die Gardinen waren zugezogen. Mein Koffer stand samt schmutziger Wäsche in der Ecke. Poster meiner Lieblingskünstler lagen auf dem Bett verteilt. Ich hatte sie abgehängt, um eine freie Fläche an der olivgrünen Wand zu schaffen.

Ich schaltete den Beamer ein, den ich aus Mamas und Papas Bürozimmer herübergeholt und an den ich meinen Laptop angeschlossen hatte. Als Abstellfläche diente die Kommode, die jetzt in der Mitte des Zimmers stand.

Der Lichtstrahl des Beamers warf ein rechteckiges Bild an die Wand. In der Mitte der Projektion befand sich der Artikel, den ich in der Nacht zuvor entdeckt hatte. Drum herum hatte ich digitale Karteikarten angeordnet, eine pro Todesopfer. Darauf standen Name, Funktion und Todestag der jeweiligen Person. Ich hatte Bilder von ihnen rausgesucht und hinzugefügt. Durch die Wandfarbe erhielten ihre Gesichter eine kränkliche Färbung. Grün war eigentlich die Farbe der Hoffnung. In diesem Fall sorgte sie für einen furchtbaren Teint.

Knapp zwei Dutzend Karten wurden in Sternform an die Wand projiziert. In der vergangenen Stunde war eine Person – wie ich vermutete – hinzugekommen. Ein brasilianischer Minister. Die Opfer stammten aus allen Regionen der Welt. Die einzige Verbindung, die zwischen ihnen bestand, war, dass sie einflussreich und wohlhabend waren.

»Die Schule hat doch noch gar nicht wieder angefangen«, wunderte sich Pippa. Die Falte zwischen ihren Augenbrauen erreichte eine bisher ungeahnte Tiefe.

Ich erklärte ihr, was es mit meinen privaten Hausaufgaben auf sich hatte.

»Die sind alle an der gleichen Sache gestorben?«, fragte Pippa. Sie stieg auf das Bett und kniete sich vor die Projektion, sodass ihr Körper einen Schatten an die Wand warf. In ihrem Hinterkopf setzten sich die ersten Rädchen in Bewegung.

»Scheint so«, antwortete ich. »Und der Mann gestern im Flugzeug gehört auch dazu. Glaube ich.«

Pippa musterte die Bilder. »Die ist auch tot?«

Sie deutete auf die Karte im unteren linken Zacken des Sterns. Darauf zu sehen war die Erbin eines Kosmetikimperiums.

»Was hat die Frau mit dem Gründer einer Firma im Silicon Valley zu tun? Oder mit der Vorsitzenden eines«, Pippa stockte kurz, als sie die Karte las, »chinesischen Internetkonzerns?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, wie das alles zusammenhängt oder wie der Mann aus dem Flugzeug da reinpasst. Aber das geht offenbar schon seit Monaten so. Und bis jetzt hat noch niemand eine Verbindung hergestellt.« Ich deutete auf den Artikel in der Mitte. »Bis auf ihn.«

Pippa überflog die ersten Zeilen des Textes. Sie fasste ihre schulterlangen Haare zusammen und band sie zu einem Zopf hoch. Auf beiden Seiten kam ein Undercut zum Vorschein.

»Warst du beim Friseur?«, fragte ich.

Pippas Augenbrauen formten zwei Widerhaken. Sie deutete auf das raspelkurze Haar an der Seite ihres Kopfes.

Ich nickte.

»Das trage ich schon seit ein paar Wochen so«, sagte sie dann.

Ich versuchte, mich daran zu erinnern, wann ich Pippa zuletzt mit hochgebundenem Haar gesehen hatte. Es gelang mir nicht. An den Undercut konnte ich mich auf jeden Fall nicht erinnern.

»Glaubst du, jemand hat die alle gezielt umgebracht?«, fragte ich. Bei dem bloßen Gedanken wurde mir übel.

Pippa legte den Kopf schief. Je mehr sie nachdachte, desto mehr spitzten sich ihre Lippen. Ihr Blick wanderte über die Karteikarten. »Wenn da was dran wäre, dann würden die Medien sich doch darauf stürzen, oder?«

»Womöglich suchen sie glaubwürdige Quellen«, warf ich ein. Selbst ich musste zugeben, dass die Beweislage dünn war. Und doch sagte mir mein Bauchgefühl, dass das nicht alles sein konnte.

Pippa sackte zurück, bis sie auf ihren Hacken saß. »Aber warum? Warum sollte das jemand tun? Ich kann mir das einfach nicht vorstellen.«

»Terror? Politische Morde? Ein wahnsinniger Serienmörder, der es auf die Reichen und Mächtigen abgesehen hat? Es muss eine Erklärung geben«, sagte ich.

Ich wusste selbst nicht, warum ich so darauf bestand. Jetzt, da einmal der Gedanke, dass mehr dahintersteckte, in meinen Kopf gepflanzt war, wurde ich ihn nicht mehr los. Dabei war es doch unkomplizierter, das Ganze als Zufall abzutun, keinen Zusammenhang darin zu sehen und nicht weiter darüber nachzudenken.

Pippa verzog das Gesicht. »Ich bin keine Expertin für Serienmörder. Aber wenn sich schon jemand die Mühe macht, all diese Leute umzubringen, dann würde der doch wollen, dass das bekannt wird. Denen geht es doch meistens um Aufmerksamkeit und Anerkennung.« Pippa zuckte mit den Schultern. »Also, mich würd’s stören, wenn ich mir die ganze Arbeit machen würde, aber niemand es mitbekommt.«

»Vielleicht machen die oder der Täter sich ja einen Spaß daraus. Vielleicht warten sie darauf, dass jemand den großen Zusammenhang sieht.«

»Und wie sollen die sich Zugang zu den ganzen Leuten verschafft haben? Die haben doch alle Bodyguards und Sicherheitspersonal.« Pippa zog die linke Augenbraue zu einem Bogen. »Sei mir nicht böse, aber das alles klingt ein wenig nach Verschwörungstheorie.«

Ich ließ die Schultern hängen. »Du hast recht.«

Frustriert biss ich mir auf die Unterlippe. In der Nacht hatte ich noch über flatearther4real gespottet, jetzt stellte ich selbst solche Vermutungen an. Die Projektion an der Wand hätte besser in den Keller eines Preppers gepasst als in das Zimmer einer Sechzehnjährigen.

»Du bist ganz blass«, bemerkte Pippa und stand vom Bett auf. »Willst du dich setzen?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Das war alles zu viel für dich«, sagte sie. »Es ist besser, wenn du das Teil ausschaltest und versuchst, dich abzulenken. Mach mal die Gardinen auf und lass frische Luft rein. Dich hier einzuschließen und dir den Kopf zu zerbrechen, bringt doch nichts. Die Sache klärt sich bestimmt bald von selbst«, sagte sie. Sie wartete einige Sekunden, bis sie einen anderen Vorschlag einbrachte: »Du könntest mit zum Plenum kommen.«

Stumm schüttelte ich den Kopf. Das war der letzte Ort, an den ich wollte. Gerne hätte ich es ihr erklärt, aber ich brachte es nicht über mich.

Pippa spitzte die Lippen. Ein klares Zeichen dafür, dass ihr ein paar unausgesprochene Worte auf der Zunge lagen. Irgendwann in den letzten sechs Monaten hatten wir aufgehört, jeden unserer Gedanken miteinander zu teilen.

In dem Augenblick ertönte ein Klopfen. Die Zimmertür ging auf. Cedric hatte die Basecap tief in die Stirn gezogen. Der Rucksack hing ihm über der linken Schulter. In seinem Kapuzenpullover und der Jogginghose sah er aus, als hätte er ursprünglich vorgehabt, den Tag auf dem Sofa zu verbringen. Kaugummi kauend sah er zwischen mir und Pippa hin und her.

»Was macht sie hier?«, fragte er.

»Was machst du hier?«, erwiderte Pippa schnippisch.

Cedric ließ sich von ihrem Konter nicht beirren. Er nahm seine Basecap vom Kopf, verwuschelte sein schwarzes Haar und legte sein unverschämtes Grinsen auf. Unverschämt, weil er es grundsätzlich dann einsetzte, wenn es vollkommen unpassend war. Sofort musste auch ich lächeln. Rics Grinsen hatte jedes Mal diesen Effekt auf mich. Wir hätten in diesem Moment auf einem sinkenden Schiff stehen können und einander trotzdem angelächelt, als wäre alles bestens.

»Deine Mum hat mich reingelassen. Sobald ich deine Nachrichten gelesen habe, bin ich hergekommen«, sagte Ric und nahm mich in die Arme. Er legte das Kinn auf meinen Kopf und schloss mich völlig ein, als wäre ich ein Päckchen, das er abholen wollte. Ich schmiegte den Kopf an seine Brust und sog den süßen Duft des Weichspülers ein, der in seinem Hoodie hing. Einen Moment lang wurde ich ganz ruhig. Nach diesem Gefühl hatte ich mich die letzten drei Wochen gesehnt.

Cedrics Herzschlag trommelte in meinem linken Ohr wie einer meiner Lieblingssongs. Ich hob den Kopf und gab ihm einen Kuss. Seine Lippen waren weich und warm.

Pippas Räuspern erinnerte mich daran, dass sie auch noch da war. »Wir waren eigentlich gerade beschäftigt …« Ich löste mich mit einem »Sorry« aus der Umarmung und wunderte mich direkt über mich selbst, dass ich mich dafür überhaupt entschuldigte.

»Ist alles in Ordnung?« Rics Blick fiel auf die Projektion an der Wand. »Was ist das?«

Ich erklärte ihm die Sachlage in fünf kurzen Sätzen. Ich erwartete, dass Pippa sich in das Gespräch einklinkte. Aber die war auf stumm geschaltet. Als hätte Cedric ihr mit seinem Auftauchen die sonst so laute Stimme genommen.

Sobald die beiden im gleichen Raum waren, herrschte grundsätzlich eine Atmosphäre wie nach dem Staffelfinale von Game of Thrones.

»Sieht aus, als würdest du mich hier nicht länger brauchen.« Pippa griff nach ihrem Rucksack und bewegte sich in Richtung Tür. »Wie gesagt. Wahrscheinlich klärt sich die Sache bald von selbst.«

»Geh noch nicht«, sagte ich, als sie an mir vorbeirauschte.

»Ich muss zum Plenum. Wir sehen uns in der Schule.«

Bevor ich etwas erwidern konnte, verschwand sie auf den Flur.

»Mann. Die Eiskönigin ist nichts dagegen«, sagte Ric mit einem Grinsen auf den Lippen.

»Dir macht das wohl überhaupt nichts aus? Dass sie dich nicht ausstehen kann?«, fragte ich. Mich hätte es gewurmt, wenn jemand so viel Abneigung mir gegenüber an den Tag gelegt hätte. Vor allem, wenn es die beste Freundin der eigenen Freundin war.

Cedric aber gefiel das. »Wieso sollte es?« Er lächelte sein breites Ric-Lächeln, dann fuhr er mit den Händen unter mein Shirt. Warm glitten seine Finger über meinen Rücken. »Jetzt habe ich dich wenigstens für mich allein.«

Ich ging nicht darauf ein. Dabei hatte ich bis zum Rückflug an nichts anderes denken können als daran, Ric wiederzusehen und ihm von all den Urlaubserlebnissen zu berichten, von denen ich ihm längst per Sprachnachricht erzählt hatte. Doch Pippas abrupter Abgang hing mir nach. Ich überlegte, ihr nachzulaufen. Warum konnten wir nicht einfach alle miteinander auskommen?

»Hey«, sagte Ric und zog mich an sich. Er legte die Stirn an meine. Seinen karamellbraunen Augen blickten mich aufmunternd an. »Ich hab dich vermisst.«

Das entlockte mir ein erneutes Lächeln.

Sein Atem kitzelte auf meinem Gesicht, als er sprach. Er roch fruchtig. Nach dem Kaugummi, den er im Mund hatte.

»Yaro war voll genervt von mir«, erzählte er. »Weil ich die ganze Zeit nur von dir gequatscht habe. Er findet übrigens auch, dass dir der neue Bikini ziemlich gut steht.«

Ich seufzte, irritiert und geschmeichelt zugleich. »Hast du ihm etwa alle Fotos gezeigt?«

»Nicht alle.« Er grinste.

Das Gespräch war albern. Das wusste ich. Aber einen Moment lang war es Cedric gelungen, mich abzulenken.

»Schön, dass du wieder da bist«, sagte er.

»Finde ich auch.« Ich schmiegte den Kopf an seinen Hals und schloss die Augen. Ich hatte nicht Pippas kritische Art gebraucht, sondern Cedrics Ablenkungsmanöver. Wo Pippa die Dinge kaputt dachte, machte er sich keinen großen Kopf. Seine Handflächen schlossen sich um meine Taille. Dann küsste er mich erneut.

In diesem Moment war Cedric der Einzige, der mich die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden vergessen machen konnte. Ich nahm sein Gesicht zwischen meine Hände und erwiderte die Küsse. Seine Lippen schmeckten nach Cassis. Auch das hatte ich in den letzten drei Wochen vermisst.

Unsere Füße glitten über den Boden. Fast stießen wir gegen die Kommode. Unsere Körper verdeckten das Bild des Beamers. Lang und breit legte sich unser Schatten auf die Wand über meinem Bett. Ich beachtete die Projektion nicht weiter. Die Namen, die Todesdaten, die Gesichter.

Ich beschloss, nicht mehr darüber nachzudenken.

Vermutlich hatte Pippa recht. Die Sache würde sich bestimmt bald von alleine klären.

Brandenburg

Evie entwich ein bitteres Seufzen, als sie an jenen Tag zurückdachte. Damals war es ihr so leicht gefallen, wegzugucken und die Augen vor der Wahrheit zu verschließen. Das war nicht länger möglich.

Jetzt, da die Wahrscheinlichkeit bestand, dass der letzte Tag ihres Lebens angebrochen war, trat sie noch heftiger in die Pedale. Sie wollte so schnell wie möglich ankommen.