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© 2017 Gustav Keller

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH

ISBN: 978-3-7448-5275-3

Inhalt

Einleitung

Frost und Hitze habe ich ertragen,
Hunger und Durst erduldet,
Strapazen und Leiden waren mir reichlich zugemessen,
Hundertfach habe ich dem Tod ins Auge gesehen,
Ich war kein Held.
Keine Geschichte weiß von mir zu berichten.

Denkmalinschrift

im militärgeschichtlichen Museum in Rastatt

Als am 8. Mai 1945 die Waffen schwiegen, wurde es seltsam still. Der bislang größte Krieg der Weltgeschichte war zu Ende. Deutschland besiegt, besetzt, zerstört. Viele Millionen getötet, gefangen, auf der Flucht.

Die Deutschen fielen in ein tiefes Sinnloch. Eine kollektive Depression breitete sich aus wie eine ansteckende Massenerkrankung. Die Hirne wurden von quälenden Fragen okkupiert. Warum sind wir mit Hitler diesen Weg gegangen? Was war der Sinn? Wie überleben wir? Werden auf den Trümmern jemals wieder Blumen wachsen?

Es dauerte einige Jahre, bis in der verdunkelten Kollektivseele wieder Licht zu sehen war. Verzweiflung wich allmählich wachsender Zuversicht. So wie die Seele sich zu erholen begann, kam der Wiederaufbau von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Gang.

Auch wenn die materiellen Zerstörungen nach und nach beseitigt wurden, war der Krieg im Bewusstsein der Menschen noch präsent. Nicht nur in den Köpfen derjenigen, die ihn bewusst erlebt hatten. Alle, die in der Nachkriegszeit aufwuchsen, lernten recht bald, was das Wort Krieg bedeutete.

Sehr konkret lernte ich als Nachkriegskind diesen Begriff. Täglich sah ich die Bilder gefallener und vermisster Familienmitglieder, die in Uniform und mit Stahlhelm ins Wohnzimmer blickten. Todesorte wie Stalingrad, Leningrad oder El Alamein prägte ich mir ein, bevor ich diese später im Atlas aufsuchte. Auf einem Wandsims befand sich der Panzer einer griechischen Landschildkröte, die Vater aus dem Krieg als Souvenir mitgebracht hatte. Im Keller lagerten immer noch Gasmasken und Verbandskästen. Unter einem nahe gelegenen Lehm-Buckel befand sich nach wie vor der private Luftschutzraum, den mein Großvater am Kriegsbeginn hatte bauen lassen. Eine Regalreihe des Bücherschranks enthielt mehrere Bildbände, in denen der Zweite Weltkrieg dokumentiert war. Obwohl die Eltern dies anfangs nicht wollten, blätterte ich immer wieder neugierig darin. Viele Fotoalben waren voll von Bildern, die aus der Soldatenzeit meines Vaters und meines Onkels stammten. Im Wald fanden wir immer mal wieder Ausrüstungsgegenstände, die Soldaten kurz vor der Kapitulation entsorgt hatten: Karabiner, Maschinengewehre, Pistolen, Munition, Erkennungsmarken, Patronentaschen, Stahlhelme und Tornister. Im nahe gelegenen Fluss entdeckten wir einen Blindgänger, der vom Kampfmittelbeseitigungsdienst entschärft werden musste. Regelmäßig waren auf der Bundesstraße, die das Dorf durchzog, französische Soldaten, Militärfahrzeuge und Panzer zu sehen. Uns wurde erklärt, dass diese seit dem Ende des verlorenen Krieges hier seien. Mancher sprach verächtlich von den Besatzern.

Der Zweite Weltkrieg war auch ständiges Thema in den täglichen Gesprächen. Aus unterschiedlichsten Anlässen. Nörgelten wir Kinder über das Essen oder wurde nicht alles aufgegessen, kamen die Erwachsenen auf die Nahrungsnot im Krieg, in der Gefangenschaft und in den ersten Nachkriegsjahren zu sprechen. Froh wäre man damals über das gewesen, was heute aufgetischt wurde. Ständig drängten sich die Kriegstoten in die Erinnerung. Oft flossen dabei Tränen. Die Großmutter betete für meinen gefallenen Onkel Gustav. Die Tante, deren Sohn in der Weite der Kalmückensteppe von seinen Kameraden zum letzten Mal lebend gesehen und danach als vermisst gemeldet worden war, brachte in jede Begegnung ihr Leid ein. Seit der Vermisstenmeldung kreisten ihre Gedanken ständig um ihn.

Oft genügte ein Stichwort. Und schon wurden Assoziationen zum Krieg geweckt. Die Männer erzählten die Geschehnisse aus der Frontperspektive, die Frauen aus der Heimatperspektive. Über das Erzählen wurde jedes Mal die Vergangenheit vergegenwärtigt.

Fanden Familienfeste statt, war der Krieg immer mit am Tisch. Kriegserlebnisse beherrschten die Unterhaltung. Zentrale Themen waren Kämpfe, Märsche, Waffen, Tod, Verwundung, Gefangennahme, Gefangenschaft, Bombardierung, Einmarsch, Plünderungen, Not, Leid. Unsere Kenntnisse vom Krieg wuchsen schneller als unser Schulwissen.

Der Krieg war auch deshalb nicht zu verdrängen, weil es viele Kriegsversehrte gab. Amputierte, Gelähmte, Blinde. Überall sah man sie. In der Familie, in der Verwandtschaft, in der Nachbarschaft, in den öffentlichen Verkehrsmitteln, auf Gehwegen und Plätzen. Heute empfinde ich noch die Mitleidsgefühle, als ich auf einem Weihnachtsmarkt einen Kriegsblinden erblickte, der auf der Drehorgel Weihnachtslieder spielte.

Neue Kriege rufen vergangene Kriege ins Gedächtnis. So geschah dies laufend während der fünfziger Jahre. Denn der Kriegsgott Mars machte keine Pause. Auf der koreanischen Halbinsel entzündete sich ein blutiger Krieg und verwüstete das Land. In Südostasien eskalierte der Indochinakrieg, an dem viele ehemalige deutsche Soldaten als französische Legionäre teilnahmen. Am Suezkanal mündete der Streit um dessen Kontrolle in eine bewaffnete Auseinandersetzung. In Ungarn wütete im Herbst 1956 zwölf Tage lang ein Volksaufstand, der von sowjetischen Truppen niedergeschlagen wurde. In Algerien bekriegten sich die Kolonialmacht Frankreich und die Unabhängigkeitsbewegung unerbittlich. Zusätzlich zu diesen Einzelkriegen gab es zwischen den Westmächten und dem Ostblock den kalten Krieg. Die Waffen blieben zwar kalt, aber es war ein Konflikt am Rande eines Atomkrieges.

Täglich wurde in den Nachrichten über die regionalen heißen Kriege und über den großen kalten Krieg berichtet. Im Radio, im Fernsehen, in den Zeitungen und in den Wochenschauen der Lichtspielhäuser. Dadurch wuchs die Angst der Deutschen vor der Wiederkehr des Krieges. Die Bundesregierung riet zum Anlegen von Krisenvorräten. Die Kommunen prüften in regelmäßigen Abständen ihre Alarmsirenen. Bundeswehr und Nationale Volksarmee rüsteten für den Ernstfall.

Aufgrund der Präsenz des Krieges waren wir Buben der fünfziger Jahre kriegsinteressiert und kriegskundig. Zum einen erlebten wir ihn als beängstigend, weil er uns immer noch bedrohte. Zum anderen empfanden wir ihn als spannend, weil wir dadurch Spannungen loswurden. Verbunden mit einer nicht zu verheimlichenden Kriegslust. Kriegsspielzeug stand oben auf der Wunschliste, wenn Weihnachten oder Geburtstage bevorstanden. Gewehre, Panzer, Geschütze, Jeeps, Kriegsschiffe. In verschiedenen Szenarien spielten wir Krieg. Am häufigsten Deutsche gegen Russen, Deutsche gegen Amerikaner, Deutsche gegen Engländer, Deutsche gegen Franzosen.

Je kriegskundiger ich wurde, desto mehr wollte ich darüber erfahren, wo mein Vater im Krieg war und was er dort tat und erlebte. Ich stellte mir vor, ich wäre ein Gebirgsjäger, wie mein Vater einer gewesen war. Um diese Identifikation auszufüllen, brauchte ich Wissen. Wissen aus erster Hand meines Vaters. Deshalb stellte ich ihm fortlaufend Fragen, die er meist bereitwillig beantwortete. Äußerst selten reagierte er abwehrend. Einmal geschah es, als ich von ihm wissen wollte, wie viele Feinde er getötet hatte. Er bat mich mit strenger Mimik darum, ihn dies nie wieder zu fragen. Abgesehen von dieser Abwehrreaktion war er weiterhin bis zu seinem Tod gesprächsbereit, wenn ich kriegsgeschichtlichen Wissensbedarf hatte.

70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entschloss ich mich, Vaters Kriegsjahre nachzuzeichnen. Ergebnis dieser Rekonstruktion ist das vorliegende Buch. Erstens basiert es auf seinen spontanen Erzählungen, zweitens auf meinen Befragungen, drittens auf den Kriegstagebüchern der 6. Gebirgsdivision (Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg im Breisgau) sowie auf kriegsgeschichtlicher und biografischer Literatur.

An dieser Stelle danke ich meiner Frau Birgit Keller für das gründliche Redigieren des Manuskripts.

Feldzug in Frankreich

Der Franzose scheint wirklich von allen Geistern verlassen,
sonst konnte und musste er das verhindern
.

Fedor von Bock

Vater betonte stets, den Krieg nicht herbeigesehnt zu haben. Er genoss sein Vorkriegsleben. Geldsorgen hatte er keine, denn er gehörte einer wohlhabenden Familie an. Die Mitarbeit im Betrieb seines Vaters war für ihn Mittel zum Zweck einer aktiven Freizeit. Er war Mitglied des Nationalsozialistischen Kraftfahrzeugkorps und Oberscharführer. Dort fuhr er erfolgreich Motorradrennen und unternahm mit seinen Freunden an den Wochenenden ausgedehnte Touren durch Süddeutschland. In der kalten Jahreszeit trieb er begeistert Wintersport. Von den nordischen und alpinen Wettbewerben brachte er viele Siegerurkunden und Pokale mit. Der gut aussehenden Spitzensportler wurde von vielen Frauen umschwärmt, zwischen denen er sich nicht entscheiden konnte.

Im August 1939 wurde Vater eingezogen. Ihm war klar, dass der Frieden nicht mehr lange dauern würde. Zunächst diente er als Holzspezialist in einem Baubataillon, das in Mittelbaden mit dem Festungsbau am Westwall beschäftigt war. Obwohl es sich noch nicht um einen Kriegseinsatz handelte, musste er eine Erkennungsmarke am Hals tragen. Sie hatte die Nummer -192-Bau Komp. 2/61. Diese Metallmarke wurde im Soldatenjargon Hundemarke genannt. Sie diente der Identifizierung gefallener Soldaten.

Als am 1.9.1939 mit dem Einmarsch in Polen der Zweite Weltkrieg begann, wurde Vater keineswegs euphorisch. Noch war er nicht im Feld, als um 5.45 Uhr zurückgeschossen wurde. Bald nach Kriegsbeginn musste er als Angehöriger des Jahrgangs 1911 eine militärische Ausbildung absolvieren. Bevor er einrückte, unternahm er nochmals eine Motorradtour. Seine letzte Friedensfahrt. Dann reiste er mit einem Rekrutenzug der Wehrmacht zum Truppenübungsplatz Heuberg auf der Schwäbischen Alb oberhalb von Stetten am Kalten Markt. Dieser wegen seiner sibirischen Wetterverhältnisse unbeliebte Ort hieß in der Soldatensprache Stetten am kalten Arsch. Für den Wintersportler kein Problem.

Truppenübungsplatz Heuberg am Kalten Markt

Vater (2. v. r.) vor der Kaserne auf dem Heuberg

Der Wehrdienst machte aus Vater einen Soldaten. Er lernte das korrekte Melden. Er wurde an den verschiedenen Waffen ausgebildet: Karabiner, Pistole, Handgranate, Panzerfaust. Seine Kondition, die bereits sehr gut war, wurde durch Gelände- und Orientierungsmärsche optimiert. Es wurde ihm der Gebrauch von Karte und Kompass beigebracht. Und das Biwakieren bei derben Minusgraden war eine besonders harte Lektion.

Die Rekruten übten fleißig für den Krieg. Ihre Kampffähigkeit verbesserte sich von Tag zu Tag. Dass sie nicht zum Selbstzweck trainierten, war allen klar. Man rechnete damit, bald in den wirklichen Krieg ziehen zu müssen. Die Frage war nur, wann und wohin. Viele tippten auf Frankreich. Etwas überrascht war man, als am 9. April deutsche Truppen ohne Kriegserklärung in Dänemark und Norwegen landeten. Einen Monat später begann dann der Westfeldzug.

Vaters geheimer Wunsch, wieder ins Friedensleben zurückkehren zu können, war endgültig zerstört. Anfang Juni 1940 wurde er der 6. Gebirgsdivision zugeteilt, die auf dem Heuberg im Eilverfahren zusammengestellt wurde. Sein Truppenteil war die Aufklärungs-Abteilung 112, zu deren wichtigster Aufgabe die Gefechtsfeldaufklärung gehörte.

Symbol der 6. Gebirgsdivision war das Gelbe Edelweiß. Kommandiert wurde der militärische Großverband von Oberst Ferdinand Schörner, Träger des Pour le Mérite und zuvor Chef des Gebirgsjägerregiments 98 in Mittenwald. Dieser galt als Offizier mit sehr strenger Dienstauffassung. Einer seiner Führungsgrundsätze hieß: Die Angst vor dem Chef muss größer sein als die Angst vor dem Feind.

Vater in Uniform

Am 10.Juni 1940 setzten sich die Gebirgsjäger nachts rheinwärts in Bewegung. In den Alb- und Schwarzwalddörfern schliefen die meisten Menschen noch. Während Paris bereits besetzt war, musste Ostfrankreich endgültig in die Knie gezwungen werden. Zunächst verblieb das Gelbe Edelweiß im Bereitstellungsraum westlich von Freiburg im Breisgau. In der Nacht vom 19. auf den 20. Juni überschritt man bei Sasbach den Rhein. Zentrales Kampfziel war es, die Maginot-Linie zu knacken und den letzten französischen Widerstand in den Hochvogesen zu brechen. Für Vater eine vertraute Gegend, die er in der Vorkriegszeit öfters mit dem Motorrad bereist hatte.

Die Kampfhandlungen waren nur von kurzer Dauer. Obwohl die Division überlegen war, fielen die ersten Kameraden. Die französischen Truppen wurden vor sich hergetrieben. Sie befanden sich in chaotischer Auflösung. Ihre Soldaten waren kampfesmüde und demoralisiert. Die Division stieß von den Vogesen bis zu den Jurahöhen der Franche-Comté an der Schweizer Grenze vor.

Genf war nur noch drei Tagesmärsche entfernt. Während einer Patrouille entdeckte Vater eine Grenzlücke, durch die er hätte desertieren können. Der Impuls war stark, aber noch stärker war die Angst, ertappt und wegen Fahnenflucht hingerichtet zu werden. Zwei Tage später nahm er an einer Versammlung der Division in Pontarlier teil. Der Kommandeur lobte die militärische Leistung der Gebirgsjäger und redete ihnen Stärke ein: Ihr fühlt euch jedem Fremden und jeder Überraschung gegenüber mit Recht gewaltig überlegen!