Gabriele und Jürgen Jost

Die Taunus-Ermittler 4 – Wo ist Verena?

Kriminalroman

Books on Demand

Von Gabriele und Jürgen Jost bereits erschienen:

Kriminalromanreihe Die Taunus-Ermittler:

Band 1 Steinige Wege

Band 2 Spuren

Band 3 Endstation Linie 3

Andere Romane:

Meeresrauschen für Lara

Weitere Infos unter:

www.Gabriele-und-Jürgen-Jost.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2013 Gabriele und Jürgen Jost

Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:

BoD - Books on Demand

ISBN: 978-3-8482-9544-9

Inhaltsverzeichnis

  1. Kapitel 1
  2. Kapitel 2
  3. Kapitel 3
  4. Kapitel 4
  5. Kapitel 5
  6. Kapitel 6
  7. Kapitel 7
  8. Kapitel 8
  9. Kapitel 9
  10. Kapitel 10
  11. Kapitel 11
  12. Kapitel 12

1.

Verena schlenderte über die Hornauer Straße in Richtung Stadtmitte. Endlich hatte sie wieder einmal Zeit für sich. Sie war an diesem Dienstag überraschend schnell mit ihrer Arbeit fertig geworden, was schon längere Zeit nicht mehr vorgekommen war. Dabei hatte sie doch gerade wegen der ausufernden Überstunden ihren sicheren Arbeitsplatz im Industriepark aufgegeben und im Januar bei diesem kleinen Büro in der Hornauer Straße angefangen. Auch oder gerade weil ihr neuer Chef so zufrieden mit ihr war, drohte nun das gleiche Spiel von vorn zu beginnen. Zu allem Überfluss sahen sich Stefan und Peter in ihrer Auffassung bestätigt, dass es ein Fehler war, den sicheren und gut bezahlten Job gegen weniger Geld bei deutlich mehr Freizeit einzutauschen. Doch wo war die Freizeit geblieben? Würden ihr Onkel und ihr Freund recht behalten?

»Nun ja, das muss die Zeit zeigen«, sagte sie sich, betrat das Kaufhaus und ging in die Schreibwarenabteilung.

Während sie nach schön bedrucktem Briefpapier suchte, dachte sie: Das mit den Überstunden darf keinesfalls wieder die gleichen Dimensionen annehmen wie vor einem Jahr, als ich selbst später abends noch in der Firma war. Am Ende langweilt sich mein Schatz zu Hause und geht mir fremd.

Unterdessen hatte sie die Schreibwarenabteilung verlassen und war zu den Taschen weitergegangen, da ihre Handtasche nicht mehr die neueste war und auch Stefan nichts gegen einen Ersatz sagen konnte. Er hatte zwar nicht ganz unrecht, wenn er sagte, dass man sie zum Schutz ihres Geldbeutels von Schreibwaren, Taschen und Schuhen fernhalten müsse, aber dass sich ihr Verlobter inzwischen nahezu jedem Einkaufsbummel verweigerte, fand sie auch nicht gerade prickelnd. Keinen Bogen machte er dafür um Speisegaststätten jeder Art, was man ihm und auch ihrem Onkel, der genauso gern aß, auch deutlich ansah. Wann immer sich ihnen die Gelegenheit bot, während ihrer Ermittlungen essen zu gehen, taten sie es.

Wie lange Verena ihren Gedanken nachgehangen hatte, wusste sie nicht, aber als sie auf ihre Armbanduhr sah, wurde ihr klar, dass sie sich beeilen musste, um alles zu schaffen, was sie sich vorgenommen hatte. Schließlich wollte sie noch in den Supermarkt in der Fischbacher Straße und danach Yvonne besuchen. Zuerst würde sie sich aber eine Tasse Kaffee gönnen.

So bezahlte sie die Kleinigkeiten, die sich fast ohne ihr Zutun in ihrem Einkaufskorb angesammelt hatten, und verließ das Kaufhaus. Kurz darauf bog sie in den verkehrsberuhigten Teil der Bahnstraße ein, wo neben der Konditorei noch ein italienisches Café lag. Als sie es erblickte, wurde ihre Lust auf einen Cappuccino so groß, dass sie nicht daran vorbeigehen konnte.

»Was darf ich Ihnen bringen?«, fragte der junge, attraktive Kellner.

»Einen Cappuccino bitte.«

Wenige Augenblicke später brachte der schwarzgelockte Mann den Kaffee, und da er sich offenbar für unwiderstehlich hielt, begann er sie ziemlich dreist anzubaggern.

»Na, was haben wir denn heute Abend vor?«

»Da geh ich mit meinem Mann in die Oper«, erteilte Verena ihm eine ziemlich deutliche Abfuhr, und der junge Mann zog sich sogleich zurück.

Dennoch war Verena die Lust auf ihr Getränk ziemlich vergangen, und sie verließ das Lokal schneller, als sie es vorgehabt hatte.

Kaum zwanzig Minuten später hatte sie auch den Supermarkt in der Fischbacher Straße wieder verlassen und freute sich, dass die biologische Hautcreme, die sie für ihre empfindlichen Hände brauchte, dieses Mal vorrätig gewesen war. Zudem hatte sie gleich noch etwas zum Abendessen für sich und Stefan gekauft.

Verena setzte die nicht gerade leichte Tasche ab, sah auf ihre Armbanduhr und dachte: Ach, es ist ja noch nicht einmal drei. Da ich erst um halb vier mit Yvonne verabredet bin, kann ich ja noch einen kleinen Umweg machen.

Sie ging die leichte Steigung stadtauswärts in Richtung Fischbach, und als sie eine Weile gegangen war, überquerte sie die Hauptverkehrsader, um in der Seitenstraße Im Förstergrund zu verschwinden. Diese fiel zum Fischbachtal hin leicht ab und war an einer Seite noch unbebaut. Dort gab es noch mehrere wild zugewucherte Obstbaumgrundstücke. Hier fühlte sich Verena wohl. Fröhlich den neuesten Hit ihrer Lieblingsgruppe Fernando Express vor sich hin summend, ging sie dicht an den Baumgrundstücken bis zur Straßenbiegung entlang, wo erst im vergangenen Jahr gegenüber einem besonders verwilderten Grundstück drei ziemlich noble Einfamilienhäuser errichtet worden waren. Vorsichtig stellte sie ihre Einkaufstasche auf dem Boden ab und wollte sich gerade wieder aufrichten, als von diesem zugewucherten Grundstück aus ein Kätzchen auf sie zugehumpelt kam. Offenbar war eine seiner Pfoten leicht verkrüppelt.

»Na, meine Süße«, lockte Verena das Tier. »Komm mal zu mir.«

Die niedliche, schwarzweiß getigerte Katze rieb ihren Kopf an Verenas Bein und steckte ihn anschließend in die gut gefüllte Einkaufstasche.

Verena streichelte das Kätzchen und sagte: »Du hast wohl Hunger.«

Plötzlich krallte sich das Tier an ihrem nackten Arm fest und hinterließ vier deutlich sichtbare Striemen.

»Aua!«, rief Verena zornig, aber das Kätzchen schmiegte sich bereits wieder an ihren Arm, sodass ihre Tierliebe schnell über den Ärger siegte und sie fragte: »Was hast du denn?«

Die Katze humpelte auf das Grundstück zu und sah sich immer wieder nach Verena um. Sie ließ ihre Einkaufstasche auf dem menschenleeren Bürgersteig stehen und folgte ihr.

»So etwas kenne ich sonst nur von Hunden, wolltest du vielleicht einer werden?«, fragte Verena grinsend, und als das Tier mit einem herzhaften »Miau« antwortete, musste sie laut lachen.

Inzwischen waren die beiden einige Meter auf das verwilderte Grundstück vorgedrungen, das so stark eingewachsen war, dass man kaum fünf Meter weit sehen konnte. Schlingpflanzen wuchsen an den Apfelbäumen hinauf, und die Disteln standen gut und gern zwei Meter hoch.

»Mensch, was ist das hier? Erstaunlich, dass es hier am Stadtrand eine solche Idylle gibt«, murmelte Verena und lauschte gebannt dem Gezwitscher der Vögel und dem Rascheln in den Bäumen. Außerdem, so dachte sie, herrscht hier eine angenehme Kühle, überall sonst kann man es ja vor Hitze kaum aushalten. Schließlich hat ja erst vor einigen Tagen der August mit annähernd fünfunddreißig Grad begonnen, und wer weiß, wie es weitergeht.

Verena riss sich von ihren Gedanken los, folgte weiter der Katze und stolperte. Sie sah nach unten und bemerkte, dass sich ein Schnürsenkel ihrer neuen, bequemen, blauen Halbschuhe gelöst hatte. Sie bückte sich und wollte ihn wieder zubinden, da hielt sie mitten in der Bewegung inne.

Allerdings geschah das nicht freiwillig, denn zwei starke Männerarme hatten sie von hinten gepackt und hielten sie in einer eisernen Umklammerung gefangen. Verena war viel zu schockiert, um auch nur an Schreien zu denken, aber nach einigen Sekunden versuchte sie sich dem stahlharten Griff zu entwinden. Leider war sie gegen die schiere Kraft des Mannes machtlos, der sie einfach wegschleifte.

Was sollte sie tun? Um Hilfe rufen? Sich weiter wehren? Aber wenn er dann vollends durchdrehte? Würde er dann über sie herfallen? Verena wurde die Entscheidung abgenommen, denn der Mann hielt ihr ein mit Chloroform getränktes Tuch unter die Nase, das ihr augenblicklich sämtliche Sinne raubte.

Jan keuchte gewaltig, als er sich in den Sessel fallen ließ. Er hatte sie ganz allein in die Hütte geschafft, obwohl sie erbitterten Widerstand geleistet hatte. Erst nachdem er sie ins Reich der süßen Träume geschickt hatte, war seine Aufgabe leichter geworden. Nun lag sie in der kleinen dunklen Kammer nebenan und schlief tief und fest dem neuen Morgen entgegen.

Er dachte wehmütig an den Augenblick, als er sie auf der Pritsche abgelegt und diese bezaubernde Frau wie hingegossen vor ihm gelegen hatte. Ihre vollen Brüste hatten sich deutlich unter dem dünnen T-Shirt abgezeichnet. Für einen kurzen Moment war er versucht gewesen, es nach oben zu schieben, immerhin hatte er schon jahrelang keine Frau mehr gehabt.

Rattenscharf, die Tussi, dachte er und seufzte. Der Mann, der dich bekommt, ist ein Glückspilz.

Zögernd riss er sich von ihrem Anblick los und bekämpfte die in ihm aufwallende Erregung, indem er laut zu sich sagte: »Du bist doch kein Sittenstrolch, Jan, und wirst dich an einer wehrlosen Frau vergreifen.« Dann verließ er schnell die Kammer.

Nachdem er sich mit einem Schluck Bier wieder beruhigt hatte, murmelte er: »Mädchen, du wirst uns das Geld bringen, das uns eine Flucht ins Ausland ermöglicht.«

Dann ging er im Geiste noch einmal die Sicherheitsmaßnahmen durch, die er alleine getroffen hatte, denn sein Kumpel Marc, mit dem er zusammen aus dem Gefängnis geflohen war, war mal wieder auf eigenen Wegen unterwegs. Jan hatte die Griffe an dem kleinen Oberlicht in der Kammer abgeschraubt und das Fenster verdunkelt, sodass die Frau, sollte sie wider Erwarten aufwachen, vollkommen orientierungslos war. Aber auch wenn es ihr gelänge, das Fenster zu öffnen und um Hilfe zu rufen, würde sie hier höchstwahrscheinlich niemand hören und schon gar nicht sehen. Die Hütte auf diesem Grundstück war weder von der nahen Straße noch von dem hinten vorbeiführenden Feldweg aus zu sehen. Ein purer Zufall, dass Jan sie, als er mit seinem Kumpel das Terrain erkundet hatte, gefunden hatte. Er war mächtig stolz auf sich. Hier konnten sie erst einmal in Ruhe überlegen, wie sie weiter vorgehen wollten.

Was Jan weniger gefiel, war, dass Marc immer mehr sein eigenes Ding durchzog und sich nicht im Geringsten an Absprachen hielt. So wollte er eigentlich schon seit Stunden zurück sein, aber bislang fehlte jede Spur von ihm. Auch wenn Jan ganz gewiss nicht ängstlich war, wurde er doch langsam unruhig, denn eine Entführung war doch etwas anderes als das, was er sich bislang hatte zuschulden kommen lassen. Er hatte zwar mit seinen gerade einmal fünfunddreißig Jahren schon viel Mist gebaut, aber die zwölf Jahre Gefängnis verdankte er mehr oder weniger einer Verkettung unglücklicher Umstände.

Ganz anders sein Kumpel Marc. Der war ein hartgesottener Gangster und wusste genau, was er wollte. Jan dachte auch kurz darüber nach, ob es nicht ein Fehler war, mit Marc zusammen auszubrechen und jetzt auch noch dieses Mädchen zu entführen. Aber was sollte er tun? Für einen Rückzieher war er schon viel zu weit gegangen.

In immer kürzeren Abständen blickte Jan auf seine Armbanduhr und stellte fest, dass es inzwischen nach neunzehn Uhr war. Wo blieb sein Kumpel nur? Es waren bereits fünf Stunden vergangen, seit der sich mit den Worten »Ich bin bald wieder da« verabschiedet hatte. Nur gut, dass ihr Opfer vermutlich bis zum nächsten Morgen ruhiggestellt war.

Wie um sich selbst Mut zu machen, sagte Jan halblaut vor sich hin: »Marc wird gleich kommen. Oder hat sich der Bursche bereits abgesetzt?«

Im Fernsehen lief gerade die Wettervorhersage der Heute-Nachrichten, aber Peter bekam davon nicht allzu viel mit. Die beiden gut belegten Wurstbrote, die er sich zum Abendessen bereitet hatte, ließ er unangetastet stehen. Er war in Gedanken bei Annika Fahrwaldt, der besten Freundin seiner geschiedenen Frau Michaela. Es war gerade erst ein Jahr her, dass Peter, Stefan und Verena sie davor bewahrt hatten, für den Mord an ihrem Ehemann, den ein anderer begangen hatte, zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt zu werden.1

»Gut, dass wir ein perfektes Team sind«, murmelte Peter, denn es hatte die drei Detektive sehr viel Mühe gekostet, den Darmstädter Hauptkommissar Beierlein davon zu überzeugen, dass ein Serienmörder der Täter war. Im Zuge der Ermittlungen hatte sich Peter, der sein Herz schon seit vielen Jahren als Eiswüste bezeichnete, aufs Heftigste in Annika verliebt und sich in den Monaten danach aufopfernd um sie gekümmert. Nach und nach hatte sie begonnen, seine Gefühle zu erwidern, aber es dauerte mehr als neun Monate, bis sie begannen sich diesen zu stellen. Das hatte auch damit zu tun, dass die beiden Annikas Sohn, den neunjährigen Sven, nicht überfordern wollten.

Ach, Annika, am Samstag sehe ich dich wieder, aber ich vermiss dich jetzt schon, dachte Peter gerade, da riss ihn das Läuten der Türglocke aus seinen Tagträumen.

Er ging zur Haustür, riss sie auf und sah verwundert Stefan vor sich stehen. »Was ist denn los? Hast du deinen Schlüssel vergessen?«

»Wahrscheinlich habe ich ihn oben liegen lassen«, sagte Stefan und spurtete an Peter vorbei ins Obergeschoss.

»Was ist denn mit dir los?«, rief Peter ihm noch verwundert hinterher, da tauchte Stefan bereits wieder auf und schwenkte den Schlüsselbund durch die Luft.

»Mein Gott, du rennst hier vielleicht hektisch durch den Flur, komm mit ins Wohnzimmer und lass uns ein Bier trinken.«

»Verena ist nicht hier bei dir?«

»Nein, wieso? Du kannst gern überall nachsehen, auch unter dem Schrank.«

»Hör auf mit deinen blöden Scherzen, mir ist im Moment nicht danach.«

»Wieso denn?«

»Verena kommt nicht nach Haus. Als sie um neunzehn Uhr immer noch nicht da war, hab ich mich ins Auto gesetzt und bin zur Firma gefahren. Ich wollte ihrem neuen Chef mal gehörig die Leviten lesen…«

»Donnerwetter, das hast du dich getraut?«

Ohne direkt zu antworten fuhr Stefan fort: »Als ich in der Hornauer Straße ankam, wollte der Mann gerade das Büro abschließen. Wir haben uns eine Weile unterhalten und er hat mir erzählt, dass Verena bereits um dreizehn Uhr ihren Arbeitsplatz verlassen hat.«

»Das ist wirklich sonderbar. Wo könnte sie denn danach hingegangen sein?«

»Wenn ich das wüsste, wäre mir wohler zumute.«

»Habt ihr euch vielleicht gestritten?«

»Überhaupt nicht. Wir vertragen uns zurzeit besser denn je, aber so langsam macht mich diese Warterei wahnsinnig.«

»Wenn du jetzt durchdrehst, wird’s auch nicht besser«, wandte Peter ein. »Denk noch mal in Ruhe nach. Hat Verena nicht doch noch was gesagt?«

»Nicht dass ich wüsste«, stöhnte Stefan gequält auf, um dann wie elektrisiert hochzufahren: »Wart mal, jetzt hab ich’s. Verena hat was davon gesagt, dass sie noch einkaufen gehen will…«

»Na, siehst du!«

»Aber sie wollte um etwa achtzehn Uhr wieder hier sein.«

Instinktiv sah Peter zur Wanduhr hinüber, die genau zwanzig Uhr anzeigte.

»Du hast recht, es ist nicht Verenas Art, sich derart zu verspäten. Wenn sie es nicht schafft eine Verabredung einzuhalten, ruft sie an.«

»Ja, es muss irgendetwas passiert sein«, jammerte Stefan, »ich hab’s dir gleich gesagt. Wo bist du bloß, Verena?«

»Jetzt mach mal halblang«, versuchte Peter seinen Freund zu beruhigen, »hast du dich denn noch nie verspätet?«

»Doch, schon, aber irgendwie spüre ich, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt.«

»Angenommen, du hättest recht«, nahm Peter den Faden überraschend bereitwillig auf, »dann wird es von deinem Gejammer auch nicht besser. Setz dich auf die Couch, ich hole uns erst mal was zum Essen und Trinken.«

»Mir ist es ein Rätsel, wie du jetzt ans Essen denken kannst«, lamentierte Stefan, »aber etwas Flüssiges käme mir gerade recht.«

»Das kann ich mir gut vorstellen«, sagte Peter, der gerade mit einem vollen Tablett aus der Küche zurückkam, und öffnete ihnen zwei Bierflaschen.

Dann setzte er seine an den Mund und trank sie in Windeseile leer.

»Du bist kein bisschen besser als ich«, beschwerte sich Stefan, angelte seinerseits nach einer Bierflasche und nahm einen riesigen Schluck.

»So, das reicht erst mal«, sagte Peter und nahm Stefan die Flasche weg. »Jetzt rufen wir Andrea an, vielleicht weiß die ja mehr.« Andrea Dehler war Verenas Mitbewohnerin, auch wenn diese ihre Freizeit schon seit Langem fast ausschließlich bei Stefan verbrachte.

Inzwischen, da es schon nach halb neun war, war Peter fast genauso besorgt wie Stefan, aber um diesen nicht noch weiter zu verunsichern, versuchte er seine Nervosität nicht zu zeigen. Er wählte und lauschte dem Freizeichen, bis auf der Gegenseite endlich abgenommen wurde.

Er wartete gar nicht erst, bis Andrea sich meldete, und rief sofort: »Hallo, Frau Dehler, hier ist Peter Stettner«, in den Hörer.

»Hallo, Herr Stettner«, wunderte sich die Angesprochene, »was gibt es denn?«

»Ist Verena bei Ihnen?«

»Nein.«

»Das gibt’s doch nicht.«

»Aber«, stotterte Andrea verunsichert, »Ihre Nichte ist doch die meiste Zeit bei Ihnen, oh Verzeihung, bei ihrem Verlobten. Wir haben uns vor drei Tagen zum letzten Mal gesehen. Wieso fragen Sie?«

»Weil Verena bislang nicht nach Hause gekommen ist. So langsam beginne ich mir Sorgen zu machen.«

»Das kann ich mir auch nicht erklären«, antwortete Andrea betroffen, »mittlerweile ist es fast einundzwanzig Uhr.«

»Eben darum.«

»Bitte halten Sie mich auf dem Laufenden, Herr Stettner.«

»Natürlich tue ich das. Entschuldigen Sie bitte noch mal die Störung und einen schönen Abend noch.«

Kaum hatte Peter aufgelegt, da fuhr ihn Stefan an: »Glaubst du mir jetzt endlich, dass da etwas passiert ist?«

»Ich fürchte, dass du damit recht hast. Aber lass uns in Ruhe nachdenken, wie wir weiter vorgehen.«

Während Stefan dumpf vor sich hinstarrte, arbeitete es in Peters Kopf fieberhaft, und gegen jede Gewohnheit würdigten sie die beiden Flaschen Schwarzbier, die vor ihnen standen, keines Blickes.

Gegen zehn Uhr sagte Peter: »Ich werde jetzt erst einmal die Polizei anrufen und nachfragen, ob sich irgendwo ein Unfall ereignet hat, an dem Verena beteiligt sein könnte. Wenn das nicht der Fall ist, versuche ich sie als vermisst zu melden, auch wenn es dazu noch etwas früh ist.«

So wählte Peter die Nummer der Kelkheimer Polizeistation, wo man ihn als ehemaligen Kollegen und Detektiv gut kannte, aber nicht sonderlich schätzte. Allerdings bekam er einen ganz jungen und unerfahrenen Beamten an die Strippe, dem der Name Peter Stettner nichts sagte.

Peter erklärte ihm den Sachverhalt, dass seine Nichte vor über neun Stunden ihren Arbeitsplatz verlassen habe und seitdem nicht zu Hause angekommen sei, sich nicht gemeldet hätte und auch sonst nirgendwo aufgetaucht sei. Dann fragte er, ob sich in Kelkheim zwischen dreizehn und neunzehn Uhr ein Verkehrsunfall mit Fußgängerbeteiligung ereignet hätte.

»Nein«, antwortete der Beamte kurz angebunden, und Peter wollte kurzerhand eine Vermisstenmeldung erstatten.

Da lachte der Polizist am anderen Ende der Leitung hell auf und fragte: »Wissen Sie eigentlich, wie viele Frauen für ein paar Stunden oder sogar Tage verschwinden, weil sie einen heimlichen Geliebten haben?«

»Meine Nichte nicht!«, rief Peter ungehalten ins Telefon, »und außerdem sitzt ihr Verlobter neben mir.«

»Vielleicht hat Ihre Nichte ja gerade deswegen das Weite gesucht.«

Peter verschlug es angesichts des süffisanten Tonfalls des Beamten glatt die Sprache.

Er knallte den Hörer in die Basisstation zurück, murmelte: »Trottel«, und sagte dann zu Stefan: »Gleich morgen früh setzen wir uns mit Claus in Verbindung.«

Um diese Zeit war es auf dem verwilderten Grundstück am Stadtrand fast schon unheimlich. Zumindest empfand Jan, der ein Stadtmensch war, das so. Durch das gekippte Fenster der Hütte hörte er das Rauschen der Blätter im Wind und das Rascheln der Katzen, die auf Mäusejagd gingen, im hohen Gras. Plötzlich scharrte ein Schlüssel im Türschloss, und er fuhr wie elektrisiert hoch.

»Endlich bist du wieder da, Marc«, sagte er erleichtert. »Wo warst du denn? Das hat ja ewig gedauert.«

»Na und, Hinkebein?«, erwiderte Marc mit selbstzufriedenem Grinsen.

Jan verdrehte die Augen. Er hinkte tatsächlich leicht, seit er vor seiner Verhaftung auf der Flucht in einen Autounfall verwickelt worden war. Diesen Gehfehler würde er sein Leben lang nicht mehr loswerden, und das dürfte seinen ohnehin bescheidenen Erfolg bei Frauen in Zukunft weiter schmälern.

Auch hatte diese Behinderung dazu geführt, dass er in der Haft eine Abneigung gegen junge, schöne Frauen entwickelt hatte, denn einer solchen meinte er sein Martyrium zu verdanken. Nur so war es zu erklären, dass er mit Marc aus dem Gefängnis ausgebrochen war, um dieses Modepüppchen, wie Marc sie nannte, zu entführen.

Marc nahm sich ein Bier aus dem Kasten, ließ sich erschöpft in den zweiten Sessel im Raum fallen und hob die Füße mitsamt den Schuhen auf den ohnehin wackligen Holztisch.

Dann angelte er sich wie selbstverständlich eines der beiden Wurstbrote, die Jan für sich gemacht hatte, und rief: »Hey, Kumpel, wirf mir mal noch ne Flasche Bier rüber, die hier ist schon fast leer!«

»Okay«, brummte Jan halblaut.

Er merkte genau, dass sein Kumpan im Moment schlechte Laune hatte. Deshalb legte er sofort sein Brot zur Seite und erfüllte den Wunsch, der im Grunde ein Befehl war.

»Geht’s nicht schneller?«

»Nein«, antwortete Jan, der spürte, wie auch in ihm der Zorn hochstieg. »Ich will jetzt erst einmal wissen, wo du so lange warst. Meinst du nicht, dass du mir eine Erklärung schuldig bist? Treibst du dich mit irgendwelchen Weibern…«

»Ich wüsste nicht, dass wir verheiratet sind.«

»Red doch keinen Mist und unterbrich mich nicht dauernd. Findest du das richtig, dass ich hier das Risiko habe und du den Spaß?«

»Welches Risiko? Meinst du das Einsammeln der kleinen Zuckerschnecke? Hat doch alles geklappt, oder?«

»Natürlich, hältst du mich für vollkommen blöde?«

Marc ging nicht auf die Frage ein und sagte stattdessen: »Na, dann zeig mir mal das Wunderwesen.«

»Geh ruhig in ihre Schlafkammer, aber sei um Himmels willen leise.«

»Nichts da, du kommst mit. Außerdem kann unsere Prinzessin auf der Erbse ihren Schönheitsschlaf ruhig mal für einige Minuten unterbrechen.«

»Bist du wahnsinnig? Wir sind nicht maskiert, sodass sie uns erkennen könnte.«

»Scheiße«, fluchte Marc, »die hab ich glatt vergessen zu besorgen«, dann dachte er: Dieser Jan ist gar nicht so blöd, wie ich meinte.

Behäbig erhob er sich aus dem bereits reichlich zerschlissenen Sessel und folgte Jan, der vorsichtig den knarrenden Schlüssel am rostigen Kastenschloss der Verbindungstür drehte. Jan öffnete sie nur so weit, dass ein schwacher Lichtschein in die Kammer fiel und man Verenas Konturen gerade so erkennen konnte.

In diesem Moment wälzte sie sich auf ihrem schmalen und unbequemen Nachtlager herum und murmelte im Schlaf vor sich hin. Die beiden Entführer zuckten zusammen, und Marc bildete sich ein, die Worte: »Wo bin ich hier gelandet«, verstanden zu haben.

Mit einem Schlag war er so nüchtern, als hätte es die drei Flaschen Bier, die er in der letzten halben Stunde getrunken hatte, nie gegeben, und er reagierte sofort. Rasch packte er seinen Komplizen an der Schulter, riss ihn zurück und zog die Tür ins Schloss. Augenblicklich begann er sich die Schuhe, die er erst wenige Minuten zuvor in die Ecke gefeuert hatte, anzuziehen und forderte Jan auf, es ihm nachzutun.

»Was ist denn los? Wo willst du denn hin mitten in der Nacht?«

»Nicht ich – wir. Die Sache wird mir hier zu gefährlich, und außerdem habe ich bereits das nächste Quartier für uns klargemacht. Eigentlich erst für morgen. Aber inzwischen hab ich hier kein gutes Gefühl mehr. Also los, beweg deinen Arsch!«

»Du hast recht. Mir war das hier ohnehin nicht geheuer. Wahrscheinlich wimmelt es hier schon morgen Nachmittag nur so von Bullen, wenn die Kleine nicht von ihrer Tante zu den Eltern zurückkommt.«

Schon zum zweiten Mal an diesem Abend wunderte sich Marc über seinen Komplizen, den er während ihrer gesamten gemeinsamen Haftzeit als weit weniger scharfsinnig kennengelernt hatte.

Außerdem trägt die Kleine an der Hand einen Ring, der durchaus ein Verlobungsring sein könnte, dachte Marc. Das bedeutete, sie hatte einen Freund, und der würde sie wahrscheinlich noch früher vermissen als ihre Eltern. Höchste Zeit also, hier abzuhauen.

»Du fährst«, begann Marc unvermittelt zu sprechen, »ich hab drei Flaschen Bier intus, und wir dürfen nicht auffallen. Ich erkläre dir auf der Fahrt, wohin es geht; hol schon mal den Wagen, den ich organisiert habe.«

Jan tat, was Marc ihm aufgetragen hatte, und blieb gleich hinter dem Steuer des Kastenwagens sitzen.

Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, ich wäre Teil eines alten Derrick-Krimis, dachte er grinsend.

In diesem Augenblick wurde er recht unsanft aus seinen Gedanken gerissen, denn von der Beifahrerseite her zischte Marc: »Träum nicht rum, hilf mir lieber, unsere Fracht zu verstauen.«

Jan tat, was Marc von ihm verlangte, stellte die Flügeltüren des Transporters weit auf und nahm ihm die schlafende Frau ab. Er bettete sie auf ein paar Decken und zurrte sie so an der Seitenwand des Wagens fest, dass sie sich auch in einer Kurve nicht verletzen konnte. Zehn Minuten später verließen sie das Grundstück.

Was die Ganoven im Eifer des Gefechts nicht bemerkten, war, dass im Haus gegenüber schon eine ganze Weile das Licht brannte. Carmen Steinmüller konnte wegen der Hitze, die auch mitten in der Nacht kaum nachgelassen hatte, nicht schlafen. Ruhelos geisterte sie durch die Wohnung, während ihr Mann seelenruhig weiterschnarchte. Als er sich unwirsch brummend auf die andere Seite drehte, löschte Carmen das Licht wieder, blieb aber noch eine Weile am offenen Fenster stehen. Hätten Jan und Marc nach oben gesehen, wäre ihnen die Zeugin aufgefallen.

»Das ist seltsam«, murmelte die neununddreißigjährige, nicht gerade schlanke Frau vor sich hin, als sie das unbeleuchtete Fahrzeug aus der Grundstücksausfahrt kommen sah. Wäre sie nicht so müde gewesen und hätte länger nachgedacht, hätte sie vermutlich die Polizei gerufen.

1 Vgl. Die Taunus-Ermittler Band 3: Endstation Linie 3

2.