Physik des Fliegens,

Strömungsphysik,

Raketen,

Satelliten

von

Klaus Weltner

Sonderdruck des Kapitels 5 aus Band 2 (Mechanik II) des „Handbuch des Physikunterrichts, Sekundarbereich I“, herausgegeben von Fritz Langensiepen mit Rainer Götz und Helmut Dahncke, Schriftleiter Richard Hagner

Das vorliegende Werk wurde sorgfältig erarbeitet. Dennoch übernehmen Autor, Herausgeber und Verlag für die Richtigkeit von Angaben, Hinweisen und Ratschlägen sowie für eventuelle Druckfehler keine Haftung.

Herstellung und Verlag:

BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7412-3298-5

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Der uralte Menschheitstraum des Fliegens ist heute eine Realität. Daran haben wir uns gewöhnt. Dennoch übt das Fliegen immer noch eine große Faszination besonders auf junge Menschen aus. Es steht im scheinbaren Widerspruch zur Grunderfahrung, dass schwere Gegenstände in der Regel auf dem Boden stehen. Warum Flugzeuge fliegen können, ist eine Frage, über die auch heute noch jeder Mensch im Laufe seiner Entwicklung einmal staunt und nachdenkt. Im Physikunterricht ist dieses Thema in den letzten Jahrzehnten an den Rand getreten, wenn nicht gar verschwunden. Das ist bedauerlich, denn ohne Not hat damit der Physikunterricht einen Inhaltsbereich vernachlässigt, der wie wenige andere geeignet ist, Schüler zu interessieren und an die Physik heran zu führen. Mit der Erklärung des Fliegens kann der Physiklehrer demonstrieren, dass eine zunächst rätselhafte aber bedeutsame Tatsache auf eine einfache Weise verstanden werden und mit geläufigen Alltagserfahrungen verknüpft werden kann.

In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich die Darstellung der Flugphysik gewandelt. Seit etwa 1920 wurde die Entstehung des aerodynamischen Auftriebs mit Hilfe des Bernoullischen Gesetzes erklärt. Diese Erklärung enthielt fundamentale Unzulänglichkeiten und war oft falsch. Sie hat in der Regel weder Lehrer noch Schüler befriedigt und damit vermutlich auch zum Verschwinden der Flugphysik aus dem Unterricht beigetragen. Seit einigen Jahren wird die Entstehung des Auftriebs aus Rückstoßbetrachtungen abgeleitet. Das ist physikalisch sachgerechter und für Lehrer wie für Schüler überzeugender. Mit Rückstoßbetrachtungen lassen sich viele Phänomene aus einem einheitlichen Ansatz verstehen: Vortrieb des Propellers, Auftrieb des Hubschraubers, Auftrieb der Tragflächen, Tragflächenboot, Wasserski u. a. Im Zentrum der Überlegungen stehen die fundamentalen Begriffe der Mechanik wie die Massenträgheit von Luft, der Zusammenhang von Kraft und Beschleunigung. Die Physik des Fliegens ist dann eine direkte Anwendung der Newtonschen Gesetze. In der vorliegenden Schrift findet der Lehrer Erklärungsmodelle auf phänomenologischer Grundlage, die durch einfache und überzeugende Demonstrationsexperimente gestützt werden. Für vertiefende Betrachtungen sind die theoretischen Grundlagen dargestellt sowie messende Versuche. Dieses Kapitel aus dem Handbuch der Physikunterrichtes für den Sekundarbereich I eignet sich deshalb auch für den Gebrauch in der Sekundarstufe II.

In den letzten Jahren wurden internationale Vergleichsstudien zum Stand der Leistungsfähigkeit der Schüler in Physik und in den Naturwissenschaften durchgeführt. Zur Überraschung der deutschen Öffentlichkeit schnitten unsere Schüler allenfalls durchschnittlich ab. Damit ist eine öffentliche Diskussion ausgelöst, wie der Unterricht in Mathematik und in den Naturwissenschaften verbessert werden kann. Einer der Wege wird darin gesehen, den Unterricht problemorientierter und anwendungsnäher zu gestalten, um einerseits mehr Interesse zu wecken und anderseits die Fähigkeit zu fördern, in Zusammenhängen zu denken. Die Flugphysik ist ein Bereich, der dabei helfen kann.

Dem Aulis Verlag ist zu danken, dass er es ermöglicht hat, dieses Kapitel aus dem Handbuch des Physikunterrichts als Separatdruck zu veröffentlichen und damit den Lehrern und Lehrerinnen der Physik leicht zugänglich zu machen und ihnen eine praktische Hilfe für den Unterricht zu Verfügung zu stellen. Möge es helfen, den Physikunterricht interessanter und für unsere Schüler bedeutsamer zu gestalten.

Klaus Weltner

5 Physik des Fliegens, Strömungsphysik, Raketen, Satelliten

5.0 Vorbemerkung

Wissenschaftlich wirft die Flugphysik heute keine grundlegenden Probleme mehr auf. Die Aerodynamik ist inzwischen eine technische Disziplin geworden. Die Physik des Fliegens ist praktisch aus der Ausbildung der Physiklehrer verschwunden, weil die Physik heute andere Schwerpunkte hat. Infolgedessen ist die Flugphysik auch an den Rand des Physikunterrichtes getreten. Vom Standpunkt des Schülers aus gesehen ist dies bedauerlich, denn Schüler interessieren sich stark für Probleme des Fliegens, der Flugtechnik und der sportlichen Varianten wie Drachenfliegen, Segelflug, Flugmodellbau und Modellfliegen. Schüler sind am Fliegen interessiert, weil es für den Heranwachsenden immer wieder faszinierend ist, dass so schwere Gegenstände wie Flugzeuge in der Luft fliegen können. Seine Grunderfahrung ist, dass alle schweren Gegenstände auf die Erde fallen. Daher bewegt ihn die Frage, wie es gelingt, dennoch die Schwere zu überwinden. Das ruhige Gleiten eines Flugkörpers, das Wechselspiel des technischen Geräts mit den Kräften der Natur, die Ähnlichkeit mit dem Fliegen und Segeln der Vögel, das hat alles gewiß auch einen besonderen ästhetischen Reiz. Es ist die primäre Aufgabe des Physikunterrichtes, dem Schüler die Umwelt zu erschließen. Daher darf der Physikunterricht das Flugwesen im Unterricht nicht aussparen. Auch dann nicht, wenn der Lehrer in seiner Ausbildung auf diese Aufgabe wenig vorbereitet wurde. Um hier eine Hilfestellung zu geben, sind in dieses Kapitel Erläuterungen eingefügt, die dem Lehrer Hintergrundwissen und Zusammenhänge vermitteln. Es gilt, das didaktische Potenzial der Flugphysik zu nutzen, um Interesse für den Physikunterricht zu wecken und zu erhalten.

Im Unterricht geht es zunächst darum, dem Schüler die Entstehung des Auftriebs verständlich zu machen und dieses Phänomen mit Erfahrungen zu verknüpfen, die der Schüler bereits hat. Das sind Erfahrungen mit Rückstoßphänomenen. Die Zurückhaltung vieler Physiklehrer gegenüber der Flugphysik dürfte auch darin begründet sein, dass sowohl in ihrer Ausbildung wie in Schulbüchern gelegentlich eine Darstellung zu finden ist, die sich auf das Bernoullische Gesetz stützt. Diese Darstellung ist unvollständig und oft falsch. Bei dieser Darstellung steht die Flugphysik gewissermaßen als ein Fremdkörper am Rande der übrigen Physik. Das „aerodynamische Paradoxon“ (Abschnitt 5.5.1) erscheint in solchen Zusammenhängen dann oft auch als Kuriosum, das in didaktisch fragwürdiger Weise eingesetzt wird, um den Reiz der Physik zu erhöhen. Die Erklärung des Auftriebs kann auf Rückstoßphänomene zurückgeführt und damit aus grundlegenden physikalischen Prinzipien abgeleitet werden. Die Flugphysik steht dann nicht am Rande der übrigen Physik, sondern ist eine interessante Anwendung der Bewegungsgesetze und des Prinzips „actio = reactio“. Die in der Tat nicht einfachen Zusammenhänge dieser unterschiedlichen Erklärungsmodelle werden in Abschnitt 5.4.1 c erläutert (das Konzept des dynamischen Kraftbegriffs in Abschnitt 4.5 und die vertiefenden Versuche dazu in 4.5.2). Die Auftriebsentstehung sollte mit Vorerfahrungen der Schüler verknüpft sein, dazu gehört auch die Neuinterpretation von Alltagserfahrungen. Aus diesem Grunde beginnen die Überlegungen mit dem Auftrieb beim Hubschrauber und dem Vortrieb von Propeller und Düsentriebwerk. Daran schließt sich die Behandlung der Tragfläche und des Fliegens an. In keiner Unterrichtseinheit über das Fliegen sollten der Bau einfacher Flugmodelle und Versuche an diesen Modellen fehlen. Beim Bau der Modelle lernt der Schüler, technische Zeichnungen zu lesen, Bauanleitungen umzusetzen und praktisch zu arbeiten. Damit erweitert er seine Handlungsfähigkeit. Auch wenn der Physiklehrer kein Modellbauer im engeren Sinn ist, so ist er doch in der Lage, einfache Flugmodelle zu bauen und zum Bau anzuleiten. Er kann zumindest in die Anfangsgründe einführen und damit Interessen der Schüler anregen. Einfache Bauanleitungen werden mitgeteilt, aber es sei auch darauf hingewiesen, dass es für diesen Zweck erprobte Bausätze gibt.

5.1 Auftrieb und Antrieb, Hubschrauber und Propeller

5.1.1 Didaktische Gesichtspunkte

Im Zentrum der Physik des Fliegens steht die Frage, wie der Auftrieb erzeugt werden kann, der das Gewicht des Flugzeuges kompensiert. In der Sprache des Schülers geht es um die Überwindung der Schwere. Es gibt grundsätzlich drei Möglichkeiten, um eine dem Gewicht gleiche und entgegengesetzt gerichtete Kraft zu erzeugen:

– den hydrostatischen Auftrieb (Luftballon, Zeppelin)

– den aerodynamischen Auftrieb (Hubschrauber, Flugzeug)

– die Trägheitskraft (Zentrifugalkraft) bei der Kreisbewegung (Satellit)

Das Schweben des Luftballons ist leichter zu erklären als das Fliegen der Flugzeuge. Die Entstehung des hydrostatischen Auftriebs im Wasser lässt sich experimentell gut untersuchen. Der Satz: „Der Auftrieb ist gleich dem Gewicht der verdrängten Wassermenge“ ist griffig und unmittelbar einleuchtend. Um das Schweben des Luftballons zu verstehen, muss in Gedanken die sichtbare Flüssigkeit durch das nicht sichtbare Gas ersetzt werden. Dies erfordert eine Abstraktionsleistung vom Schüler, sie fällt ihm aber erfahrungsgemäß nicht zu schwer.

Bei der Bewegung des Satelliten ist unmittelbar einsichtig, dass es sich um eine Kreisbahn handelt - mit sehr großem Radius und geringer Krümmung. Dem Schüler sind vom Autofahren her Trägheitskräfte (Zentrifugalkräfte) bekannt. Er erlebt sie beim Kurvenfahren als mitbewegter Beobachter in einem beschleunigten Bezugssystem. Es leuchtet unmittelbar ein, dass nennenswerte Trägheitskräfte, die dem Gewicht des Satelliten entsprechen, sehr hohe Bahngeschwindigkeiten erfordern (Abschnitt 5.7).

Die Erklärung des aerodynamischen Auftriebs ist demgegenüber nicht ganz so einfach. Vom Tragflügel oder dem Hubschrauberrotor wird ursprünglich ruhende Luft nach unten beschleunigt. Dafür üben sie eine nach unten gerichtete Kraft auf die Luft aus. Die Reaktionskräfte der Luft auf Tragflügel oder Hubschrauberrotor sind dann nach oben gerichtet. Die grundlegenden Zusammenhänge lassen sich im Unterricht am durchsichtigsten beim Hubschrauber zeigen. Daher sollte er vor dem Flugzeug behandelt werden.

Der Auftrieb beim Hubschrauber als Rückstoßphänomen

Am Beginn des Unterrichtes steht die Untersuchung von Rückstoßphänomenen. Vorbereitend werden Erfahrungen aus dem täglichen Leben bewusst gemacht und interpretiert sowie neue Versuche durchgeführt. Wer mit einem Gartenschlauch Wasser spritzt, verspürt bei hohem Wasserdruck eine nach hinten wirkende Kraft. Man kann sie auch bei der Handbrause beim Duschen spüren. Feuerwehrleute müssen ihre Spritzen gegen diese Kraft gut festhalten. Springt man aus einem leichten Boot an das Ufer, kann man gut beobachten, dass das Boot eine Kraft in die entgegesetzte Richtung erfährt. Im Klassenzimmer können und sollen die unten beschriebenen Versuche (V 5.1.2 1 bis V 5.1.2 6) durchgeführt werden. Sie lassen sich zusammenfassend deuten:

– Um einen Körper in eine Richtung zu beschleunigen, muss man eine Kraft auf ihn ausüben. Dabei erfährt man selbst eine rückwirkende Kraft, den Rückstoß.

– Die beschleunigende Kraft muss umso größer sein, je größer die zu beschleunigende Masse ist und je größer die Beschleunigung ist.

Es handelt sich um das von Newton formulierte Grundgesetz der Bewegung (Abschnitt 4.5):

Kraft = Masse mal Beschleunigung.

Weiter gilt: Kräfte treten immer paarweise auf, „actio = reactio“.

Wer auf einen Körper eine beschleunigende Kraft ausübt, erfährt selbst eine Reaktionskraft, die in die entgegengesetzte Richtung wirkt. Diese Reaktionskraft wird umgangssprachlich Rückstoß genannt. Auf dem Rückstoß beruhen viele bekannte Antriebsarten: Der Ruderer beschleunigt mit seinem Ruder Wassermassen nach hinten. Das gleiche gilt für das Paddel. Die Reaktionskraft treibt das Boot nach vorn. Auch die Schiffsschraube schleudert Wassermassen nach hinten, ebenso das Wasserrad alter Flussschiffe. Wichtig für das Verständnis des Schülers ist, dass die Rückstoßkraft auch bei der Beschleunigung von Luft demonstriert wird (V 5.1.2 4, V 5.1.2 5). Montiert man ein Gebläse oder einen starken Fön auf ein leicht bewegliches Wägelchen, so kann der Rückstoß gut gezeigt und auch gemessen werden. Wenn diese Versuche durchgeführt sind, ist die Wirkungsweise des Propellers bereits einsichtig: Er beschleunigt Luft nach hinten, der Rückstoß wirkt als Vortrieb. In diesem Zusammenhang muss man auch gelegentlich falschen Vorstellungen entgegentreten, dass die Schiffsschraube oder die Luftschraube sich wie ein Korkenzieher in das umgebende Medium hineinschraube.

Jetzt folgt zwanglos der Übergang zum Hubschrauber. Seine rotierenden Rotorblätter beschleunigen Luft nach unten, der Hubschrauberrotor wirkt wie ein überdimensionierter Propeller. Der Auftrieb ist umso größer

– je mehr Luft pro Sekunde nach unten beschleunigt wird

– je größer die Beschleunigung und damit die Endgeschwindigkeit des Luftstroms ist.

Daraus folgt bereits, dass Rotorblätter einen großen Durchmesser haben müssen, um hinreichend große Luftmassen beschleunigen zu können, damit schließlich der Rückstoß das Hubschraubergewicht kompensieren kann. Die Masse der pro Sekunde beschleunigten Luft hat in der Technik einen eigenen Namen, es ist der Massendurchsatz.

Jetzt kann bereits ein neuer Zusammenhang verständlich gemacht werden: die Abhängigkeit des Auftriebs von der Strömungsgeschwindigkeit. Wir können uns fragen, was sich ändert, wenn man die Strömungsgeschwindigkeit verdoppelt. Unmittelbar folgt, dass sich dann zwei Größen verändern:

– Der Massendurchsatz wird verdoppelt. In der gleichen Zeit wird die doppelte Masse Luft beschleunigt.

– Die Luft wird auf die doppelte Geschwindigkeit beschleunigt.

Hier haben wir zwei Verdoppelungen. Sie wirken zusammen, der Auftrieb wird viermal so groß sein (V 5.1.2 4). Die weitere Fähigkeit des Hubschraubers, sich auch horizontal – und zwar in jeder Richtung – zu bewegen, wird durch leichte Neigung in die gewünschte Richtung erreicht. Dann bekommt die Beschleunigung der Luft und damit die Reaktionskraft zusätzlich eine horizontale Komponente. Beim Abfliegen ist die Vorwärtsneigung des Hubschraubers gelegentlich besonders deutlich zu beobachten.

Quantitative Betrachtung:

Der Zusammenhang lässt sich quantitativ beschreiben. In Kapitel 4 ist der Zusammenhang zwischen Kraft, Masse und Beschleunigung dargestellt. Es handelt sich um das Grundgesetz der Mechanik:

Es wird dabei in der Regel eine konstante Masse betrachtet, die im Zeitintervall Δt infolge der Kraft F ihre Geschwindigkeit um Δv ändert.

In unserem Zusammenhang allerdings wird durch den Rotor ein Luftstrom erzeugt. Pro Zeitintervall Δt wird ein Massenanteil Δm aus dem Zustand der Ruhe auf die Geschwindigkeit vS gebracht. Die Geschwindigkeitsänderung Δv ist hier also konstant und gleich vS. Die Masse m ist hier gleich Δm. Man kann also die obige Gleichung umformen zu

Der Quotient wird als Massendurchsatz bezeichnet. Der Massendurchsatz ergibt sich aus der Dichte der Luft ρ, dem Strahlquerschnitt A und der Strahlgeschwindigkeit vS zu

Setzen wir jetzt den Ausdruck für den Massendurchsatz ein, so erhalten wir für den Auftrieb:

Wenn die Luftmassen nach unten beschleunigt werden, wirkt die Reaktionskraft nach oben.

Der effektive Strahlquerschnitt AV 5.1.2 4V 5.1.2 5