Ludger Fischer

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Endlich Ordnung im Brexit-Chaos

Zweite, erweiterte Auflage 2019
© Osburg Verlag Hamburg 2019
www.osburgverlag.de
Alle Rechte vorbehalten,
insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags
sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,
auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Lektorat: Wolf-Rüdiger Osburg
Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg
Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-95510-194-7
eISBN 978-3-95510-195-4

Das Problem bei politischem Selbstmord besteht darin, dass man weiterlebt, um ihn zu bereuen.

Sir Winston Churchill

Inhalt

»Ordeeer! Ordeeer! Ordeeer!«

Maße in Massen

BREXIT-Spezial 1

Out and proud

Not bad

BREXIT-Spezial 2

Versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen

Tea ist kein Tee

BREXIT-Spezial 3

Das Volk kann rechnen. Aber nicht gut

Was heißt eigentlich »vereinigt«?

Das steht doch alles in keinem Verhältnis

BREXIT-Spezial 4

Wer kümmert sich denn jetzt ums Klo?

Total tolle Technik

Sehr schöne Fahrzeuge

Design zum Schreien

BREXIT-Spezial 5

Ganz viele Süppchen auf dem Brexit-Feuer

Wie viel Furlong ist ein Fanthom in Yards?

Der dreifache Jakob

Brexit religiös

BREXIT-Spezial 6

Moooment!

Euer Lordschuft

BREXIT-Spezial 7

Der Scoxit vom Brexit

Feuerwerks- und Wassermusik

BREXIT-Spezial 8

Gute Grenzen – Schlechte Grenzen

Nicht viel zu sagen: Die Kwien

BREXIT-Spezial 9

Wollt Ihr den totalen Brexit?

Royals sind nie hässlich

BREXIT-Spezial 10

Was ist eigentlich eine Zollunion?

Geschüttelt, nicht gerührt

BREXIT-Spezial 11

Drei Teller kalter Kotze

Habt Ihr uns jetzt nicht mehr lieb?

Ein mörderisches Land

Isolierverglasung? Wozu soll das gut sein?

BREXIT-Spezial 12

Hobin Rood

Crazy Law

Wem’s schmeckt …

Frühstück!

BREXIT-Spezial 13

Die Banken gehen und die Musik spielt jetzt in Antwerpen

Mit Schirm, Charme und Bowlerhut

BREXIT-Spezial 14

Hurra, die Briten ziehen aus!

It’s so funny!

Rangeln und Prügeln

BREXIT-Spezial 15

Hard Brexit? Soft Brexit? Pragmatisch oder prinzipientreu?

Natürlich alles künstlich

Heizer auf Elektroloks

Fleischesser und Kleiderständer mit Bärenfellmützen

Napoleon war kein großartiger Staatsmann

BREXIT-Spezial 16

Was ist eine Ausnahme wert, wenn sie für alle gilt? Nix!

Kein Umgang für uns

BREXIT-Spezial 17

War Großbritannien jemals gut für die EU?

Der Hof der Kriminalen

BREXIT-Spezial 18

Brexit, Öxit, Tschüß EU?

Eine Success-Story

Das Näseln

BREXIT-Spezial 19

Um den Scherbenhaufen sollen sich andere kümmern

Alte Partner, neue Partner

BREXIT-Spezial 20

Was wollte das Vereinigte Königreich eigentlich in der EU?

Solidarität ist, wenn’s uns nutzt

Frauen im Club? Shocking!

BREXIT-Spezial 21

Eigentlich wollten wir ja gar nicht aussteigen

Das Teebeutel-Wiederverwendungsverbot

BREXIT-Spezial 22

Die Rechenkünstler

Nur das Nötigste

Lane, Mews, Avenue, Crecent, Rise, Way, Grove, Path oder Walk

BREXIT-Spezial 23

Brexit-Historie

Strange

The most eccentric Brit

Die armen Reichen

Kurze Küsten und prächtige Piers

BREXIT-Spezial 24

Nicht alle wollen Deregulierung

Die Middleclass ist die Unterschicht

BREXIT-Spezial 25

Wer dafür ist, muss dagegen stimmen

Briten wollen Deutsche werden

BREXIT-Spezial 26

Schock, Super-GAU, Scherbenhaufen

Kollektive Selbstschädigung

Briten prügeln anders

Nackt sein ist geil

BREXIT-Spezial 27

Jetzt aber raus hier!

»Ordeeer! Ordeeer! Ordeeer!«

Der Wolfgang Schäuble des britischen Unterhauses

Wenn es im deutschen Bundestag etwas lauter wird, schreitet der Vorsitzende ein. Wenn es im britischen Parlament etwas lauter wird, liegt das am Vorsitzenden. Er krakeelt und blökt und grimassiert, um sich in diesem Affentheater Gehör zu verschaffen. Das nennt man »gehobene Gesprächskultur«. Ab und zu wird es auch im deutschen Bundestag etwas lustiger, wenn etwa eine Abgeordnete mit dem Fuß aufstampft wie eine trotzige Zehnjährige. Das war’s dann aber auch schon. Im britischen Parlament stampfen Abgeordnete regelmäßig mit dem Fuß auf, um ihren hanebüchenen Argumentationen Gehör zu verschaffen. Die zuhörenden Abgeordneten finden das auch immer sehr lustig, dürfen aber nicht klatschen, wohl aber höhnend grölen. Das nennt man »intensiver Gedankenaustausch«.

John Bercow ist kein Komiker. Er trägt auch keine lächerliche Perücke, wie es seine Vorgänger bis 1992 taten. Er trägt wohl seinen Talar und bunte Krawatten. Die Welt amüsiert er mit seinen teilweise sogar erfolgreichen Bemühungen, Abgeordnete des britischen Unterhauses zu disziplinieren. Das ist seine Aufgabe als Parlamentssprecher. So wie die von Wolfgang Schäuble im deutschen Parlament, der diese Aufgabe aber mit deutlich weniger Unterhaltungswert erfüllt.

Wenn die Regierung ein Gesetz für »eindeutig festgeschrieben« hält (not amendable), kann er trotzdem Anträge von Parlamentariern zulassen. Das macht er gelegentlich und sich damit keine Freunde in der Regierung. Die wirft ihm Verrat, Arroganz, Eigenmächtigkeit, mangelnde Neutralität vor, außerdem eine Verletzung der Spielregeln. Die Opposition findet ihn prima.

Gejohle, Gelächter und Zwischenrufe, das sind die Szenen, in denen Bercow zur Hochform aufläuft. Er brüllt die Abgeordneten an, erklärt ihnen wie Grundschülern die Kunst der Geduld und der Zurückhaltung. Das wurde besonders in den Brexit-Debatten nötig. Seine Auftritte gelten als »very British«. Im ganzen Brexit-Chaos wurde er zeitweise als einziger Gewinner betrachtet, bis er um seinen sicher geglaubten Einzug ins House of Lords nach seiner Amtszeit bangen musste. Seine Frau hatte sich mit einem Autoaufkleber gegen den Brexit positioniert und Bercow sich von deren Position nur dadurch distanziert, dass er witzelte, ihm »gehöre« seine Frau nicht. Einigen war das zu wenig, anderen schon zu viel.

Maße in Massen

Warum es im Vereinigten Königreich so schwer ist, das rechte Maß zu finden

Bier, leckeres, starkes Bier, erhält man in Großbritannien in Gläsern, die jeweils ein Pint fassen. Gläser für ein Pint haben eine unerhebliche Wulst im oberen Fünftel, durch die so ein Glas zu den weltweit wunderhübschesten Trinkgläsern zählen dürfte. Es gibt auch Gläser, die zwei Pint fassen, die aber nur von Männern mit ganz großen Händen gehandhabt werden können. Selten wird ein halbes Pint serviert. Wenn man davon schneller besoffen wird als von kontinentalem Bier, liegt das wohl kaum daran, dass ein Pint etwas mehr als ein halber Liter ist, nämlich 0,569 Liter. Wo im Alltag der Briten als Flüssigkeitsmaß Ounces (28,41 Liter) und Quarts (1,14 Liter) verwendet werden, habe ich nicht herausgefunden. Wohl aber, dass Benzin und Diesel in Gallonen à 4,54 Liter abgegeben werden. Das sind, wenn man etwas schlabbert, fast genau 8 Pints. Warum 8? Warum nicht 12?

Die Englische Währung zu berechnen ist im Vergleich dazu ein Kinderspiel: Kleinste Einheit war lange ein Farthing. Zwei Farthings ergaben aber nicht etwa einen ganzen Penny, sondern einen halben, zwei halbe Pence aber zum Glück einen ganzen Penny. Drei Pence nannte man einen Thrupenny Bit. Zwei Thrupence waren ein Sixpence. Zwei Sixpence zählten so viel wie ein Shilling. Den nannte man der Einfachheit halber Bob. Zwei Bobs ergaben einen Florin. Nahm man einen solchen Florin zusammen mit einem Sixpence, hatte man schon eine halbe Crown und mit vier halben Crowns einen Zehn-Bob. Zwei Zehn-Bobs waren ein Pfund und jetzt kann man leicht ausrechnen, wie viel ein Pfund war: Genau zweihundertundvierzig Pence. Profis aber zahlten in Guinees und das sind ein Pfund und ein Shilling. Mal anders betrachtet, dann wird es klarer: Fünf Shilling machten eine Crown und vier Crowns ein Pfund. Somit war ein Pfund zwanzig Shilling wert. Oder man nahm vier Farthings und erhielt so einen Penny. Zwölf Pence ergaben einen Shilling und zweieinhalb Shilling eine Crown. Logisch. So war es, bevor die Briten dachten, sie müssten alles unnötig komplizieren und ein Dezimalsystem einführen. Kleinste Einheit ist seitdem der Pence. 10 Pence machen einen Shilling und so weiter bis zum Pfund, das jetzt nicht mehr aus 20 Shilling, sondern aus 100 Pence besteht. Das kapiert doch keiner!

Bei Längenmaßen sind Briten ungleich großzügiger als Kontinentaleuropäer. Die kleinste Einheit im täglichen Gebrauch ist nämlich ein Inch und das sind schon gleich 25,4 Millimeter. Deswegen beträgt ein Millimeter auch nur 0,03937 Inch. Ein Inch ist ein Zwölftel Feet, also 0,0833333 Feet. Ein Feet in Zentimetern ausgedrückt 30,48. Fast so gut wie ein Meter ist der Yard, nämlich 0,914 Meter, weil ein Meter nämlich gleich 1,0936 Yard-Einheiten umfasst. Und weil eine Meile – warum auch immer – 1760 Yards hat, entspricht ein Kilometer 0,6214 Meilen oder umgekehrt eine Meile 1,609 Kilometern.

Bei Gewichten ist alles noch viel einfacher: Ein Ounce ist 28,41 Gramm, ein Pound deswegen 0,4536 Kilo und eine britische Tonne entspricht 0,9 Einheiten einer metrischen Tonne. Andersherum betrachtet entspricht ein Gramm 0,0352 Ounces, ein Kilo 2,2046 Pounds und eine Tonne 1,1 britischen Short Tons.

Im Fortgeschrittenenkurs behandeln wir dann Flächenmaße und nautische Meilen.

BREXIT-Spezial 1

Out and proud

Dummheit und Stolz sind aus demselben Holz

Auf was Menschen alles stolz sein können! Auf die eigenen Leistungen, selbst wenn die nicht der Rede wert sind, auf ihre Kinder, selbst wenn die gar nichts auf die Reihe kriegen, auf ihr Land, und sei es auch noch so klein und arm und rückständig. Das Vereinigte Königreich ist nicht klein und noch nicht richtig arm und nur etwas rückständig. Es gibt dort viele Menschen, die sind stolz darauf, die EU zu verlassen. Der Ausstieg wird für alle Briten enorm teuer, aber er zahlt sich aus: Das Gefühl, wieder auf eigenen Beinen zu stehen und nicht an den Fäden der EU zu hängen, ist den Insulanern viel wert. Sie sind sehr stolz darauf. Auch die Brexiter sind selbstverständlich ohne ihr Zutun und aus schierem Zufall im Vereinigten Königreich geboren. Daraus leiten sie aber einen Nationalstolz, einen Regionalstolz und einen Lokalstolz ab, den sie mit Identität verwechseln. Es ist ihnen nicht peinlich. Es ist eine Variante des bayerischen »Mia san mia«-Gefühls. Auch dort fragt man besser nicht nach, »Ja was seid Ihr denn?« Fragt man dagegen Briten, die den EU-Ausstieg fordern, welche EU-Regelung sie als besonders belastend oder einschränkend empfinden, erhält man stets die präzise Antwort »Diese ganzen«. Mehr müssen Brexiter nicht wissen, um ganz genau zu wissen, dass sie von der Brüsseler Bürokratie gegängelt und gebeutelt werden.

Da grölt man doch lieber »Rule, Britannia!«

»Herrsche, Britannia! Britannia beherrsche die Wellen;

Briten werden niemals Sklaven sein.«

Na ja. Außer vielleicht Sklaven ihres Hangs zum Anderssein.

»Sooo schlimm wird’s schon nicht werden mit dem Wirtschaftseinbruch«, sagten die Brexiter, »schließlich wollen Mercedes und BMW weiter ihre Luxusautos bei uns verkaufen.«

September 2018. Hamsterkäufe kurbelten die britische Wirtschaft an. Privathaushalte deckten sich zwar nicht mit Mercedes- und BMW-Fahrzeugen ein, wohl aber mit haltbaren Lebensmitteln. Firmen besorgten sich das Nötigste an Material, damit die Produktion am Brexit-Tag nicht vollkommen eingestellt werden müsste. Die Chancen, dass es zu einem geordneten Ausstieg des Vereinigten Königreichs aus der EU kommen würde, sanken. Beide Seiten bereiteten sich auf ein Scheitern der Verhandlungen vor. Zu dreist erschien der EU die Rosinenpickerei, die Theresa May ihr als »Angebot« gemacht hatte. Es war ein Friss oder Stirb-Angebot, mit dem sie sich angeblich auf die EU zubewegt habe: Handelsfreiheit für Waren – ja, für Dienstleistungen, Personen, Niederlassung – nein. Das, meinte die im eigenen Land schon arg geschwächte Premierministerin, sei doch auch bei anderen Drittstaaten möglich. Ja, sagten die anderen siebenundzwanzig Regierungschefs da, bei anderen Drittstaaten schon, aber nicht bei ausscherenden EU-Mitgliedern. Wenn wir damit erst mal anfangen, wollen bald alle irgendwelche Sonderregelungen. Sie zeigten sich einig gegen die Aussteiger wie sonst in keinem Fall. Das britische Angebot wurde von ihnen großzügig abgelehnt.

Not bad

Kommunikation ist, wenn man etwas anderes sagt, als man meint

Die Begrüßungsfloskel »How do you do?« ist keine Frage. Sie wird deshalb nicht etwa mit einem »Prima« oder »So la la« beantwortet, sondern mit einem zweiten »How do you do?« Damit bringen Briten unmissverständlich zum Ausdruck, dass sie die Frage nicht ernst nehmen, nicht ernst genommen wissen wollen und schon gar nicht mit einem Bericht über das Befinden der begrüßten Person belästigt werden wollen. Wer nach einem »How do you do?« nicht genauso antwortet, allenfalls ein »fine« zurückgibt, sondern anfängt, seine Zipperlein aufzuzählen, erntet sehr hoch gezogene Augenbrauen, verbunden mit einem übertrieben gesungenen »Really?« Briten sagen selten, was sie meinen. Nichtbriten verstehen deshalb selten, was sie sagen. Sagt ein Brite etwa, dass man auch andere Möglichkeiten in Betracht ziehen sollte, meint er, der Vorschlag sei ja so was von hirnrissig, dass es sich darüber gar nicht zu diskutieren lohne. Falls kleine Änderungen an einem Text vorgeschlagen werden, schreibt man den ganzen Text am besten neu. Wenn ein Brite beinahe zustimmt, stimmt er in Wahrheit keinesfalls zu. Einladungen zum Dinner sind Ausdruck großer Freundlichkeit, sollten allerdings nicht als Einladungen zum Dinner missverstanden werden. Schuldbekenntnisse – »Ich glaube, ich habe da einen Fehler gemacht« – sind auf jeden Fall als Schuldzuweisungen zu interpretieren. Sagt ein Brite, er wolle etwas in Erinnerung halten, hat er es schon vergessen, bevor der Satz ausgesprochen ist. Sachen, die er interessant findet, gehen ihm total am Arsch vorbei. Gibt er zu, etwas enttäuscht zu sein, heißt das, er ist am Boden zerstört. Schlägt er etwas vor, ist das eine Anweisung. Halten Sie sich dran! »Ziemlich gut« bedeutet »totaler Mist«. Ein tapferer Vorschlag ist ein Vorschlag, den nur Bekloppte machen können. Statements, deren Verständnis bestätigt wird (I hear what you say), kann man glatt vergessen. Sie sind dermaßen abwegig, dass man am besten sein Maul hält und sich schnell verkrümelt. Kommen wir zum enthusiastischen Ausruf von Briten, die etwas super-duper-spitzen-extraklasse finden. Er lautet: »That’s not bad.«

BREXIT-Spezial 2

Versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen

Der Wahlversprechen-Boomerang

Wer hält sich schon an Wahlversprechen? Wahlversprechen werden gemacht, um Wahlen zu gewinnen. Sie werden nicht gemacht, um eingelöst zu werden. So dumm sind Politiker auch nicht, dass sie sich an das Blaue, das sie vom Himmel herunter versprochen haben, gebunden fühlten. Außer David Cameron. Dabei kann man das Versprechen, das er 2013 gab, noch kaum zum Wahlkampf 2015 rechnen. Bis dahin aber wiederholte er dieses Versprechen mehrfach. Er glaubte selbst kaum daran, dass seine Partei nochmals gewinnen würde. Er versprach, sein Volk um ein Mandat für die konservative Partei zu Neuverhandlungen mit der EU zu bitten. Hatte sein Parteikollege Edward Heath bei den Verhandlungen zum Beitritt 1973 etwa nicht aufgepasst? Nach diesen Neuverhandlungen solle ein Referendum über Gedeih und Verderb stattfinden: »It will be an in – out referendum.« Seine eigenen Kabinettsmitglieder waren über diese Ankündigung nicht informiert und entsprechend not amused. Sie hielten das angekündigte Referendum für unverantwortlich. Cameron hoffte, dadurch den Druck, der von der sozialistischen Partei und von der neuen Ausstiegspartei UKIP und aus seinen eigenen Reihen auf seine Regierung ausgeübt wurde, zu verringern. Es klappte: Er gewann die Wahlen 2015, konnte fortan statt mit Koalitionspartnern allein regieren und steckte trotzdem in einer noch tieferen Bredouille als vor der Wahl. Entweder hielte er sich an sein Versprechen, ein Referendum abzuhalten, oder er hielte sich an sein Versprechen, Schaden vom britischen Volk abzuwenden. Er entschied sich für die erste Variante und schadete seinem Volk damit massiv. Das gilt nicht nur für den wirtschaftlichen Schaden, der – Völker sind extrem leidensfähig – schon irgendwie verkraftet werden wird. Das gilt für den kulturellen, wissenschaftlichen, sozialen Schaden, der unvermeidlich ist. Der Brexit wird für die britische Gesellschaft nicht bloß die Folgen einer verlorenen Schlacht haben, sondern die eines verlorenen Krieges. Die meisten Kulturen haben ihren Untergang allerdings gelassen hingenommen. Es wurde weiter gewurschtelt, denn »a bissl was geht immer«. So haben die Römer die flexiblen Italiener hervorgebracht und die K.-und-k.-Monarchie die anpassungswütigen Österreicher. Das schon lange zerfallende aber mit dem Brexit endgültig vernichtete britische Weltreich wird von Menschen bewohnt werden, die ihre Lebenskraft aus Schrulligkeit gewinnen. Durch sie wird der wirtschaftliche und der mentale Schaden kompensiert werden. Es werden all die putzigen, scheinbar charmanten Kauzigkeiten noch mehr kultiviert werden, auf die das Inselvolk so ungeheuer stolz ist.

Die Sozialisten unterstützten die Ausstiegskampagne mit dem Slogan »Vote leave – take control«. Irgendwer musste ihnen erzählt haben, Briten hätten die Kontrolle über ihr Land verloren. Eine unbenennbare Schar von Leuten in Brüssel hätte die Herrschaft über das Inselreich an sich gerissen. Viele Menschen, denen das Ergebnis der Brexit-Abstimmung zuerst ungefährlich erschien, unter ihnen der ehemalige Premierminister Tony Blair und der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan, waren schnell dabei, sich Hoffnungen auf ein zweites Referendum zu machen. Die Chance aber, dass sich die Briten dabei eher von Vernunft leiten lassen würden als beim Referendum 2016, wäre sowieso gering gewesen. Ganz Großbritannien würde es mit und nach dem Brexit besser gehen, wirtschaftlich, kulturell, sozial. Das glaubten die meisten Briten. Bloß ein paar notorische Europäer, Globalisten, Freihandelsfanatiker waren da anderer Meinung. Eigentlich alle. Die Kämpfer für Minderheitenrechte, für Umweltschutz, für den Ausbau des Bildungssystems hätten gerne auch in Zukunft lieber Seite an Seite mit ihren kontinentalen Verbündeten gekämpft. Und die schottischen Whiskyhersteller – eine kleine, wenn auch recht einflussreiche Minderheit – auch. Der schottische Wirtschaftsminister Keith Brown forderte deshalb von der Regierung in London das Unmögliche: »Die EU-Gesetze müssen nach dem Brexit garantiert sein.« Schließlich verkaufe Schottland jährlich für 4,5 Milliarden Euro Scotch Whisky ins Ausland, meistens ins europäische. Nicht bekannt ist, wie viel Whisky er schon getrunken hatte, als er das Unmögliche forderte, nämlich den EU-Gesetzen außerhalb der EU Geltung zu verschaffen. Philip Anthony Hammond, Schatzkanzler Großbritanniens, gab sich der Hoffnung hin, dass mit dem Brexit der ökonomische Kuchen größer werde: »Wenn wir die Brexit-Verhandlungen zwischen Großbritannien und der Europäischen Union erfolgreich führen, dann können wir den Kuchen größer machen und alle ein größeres Stück abbekommen.« Wie er dieses Kunststück bewerkstelligen wollte, sagte er leider nicht. Schließlich war er sich durchaus darüber im Klaren, »dass Großbritannien nie wirklich hinter einer tiefen politischen Integration mit der EU gestanden« habe. Und damit hatte er ganz sicher recht.

Der Versuch, das verlorene Weltreich durch den Anschluss Europas an das Vereinigte Königreich zu kompensieren, ist gescheitert. Auf dem Kontinent wurde es nicht einmal bemerkt, dass man von 1972 bis 2019 von der benachbarten Insel aus regiert wurde. Das kränkte die Briten sehr. Eine ähnliche Erfahrung hatten sie schon mit vielen Ländern gemacht, denen sie ein gemeinsames Wohl, das Commonwealth, aufgedrängt hatten. Bis heute genießen noch 52 Länder das Privileg, die britische Königin ihr Staatsoberhaupt nennen zu müssen. Nichtbritische Banausen sind offensichtlich nicht in der Lage, den Nutzen zu erkennen, der ihnen durch die britische Besatzungsmacht entstand oder entsteht.

Tea ist kein Tee

Reichlich Rituale um das Ungenießbare

Tea ist nicht zu verwechseln mit Tee. Briten trinken Tea, solange sie noch nicht ganz wach sind. Das Ritual nennen sie Early morning tea. Danach trinken sie Tea, wenn sie im Laufe des Tages etwas schwächeln. Auf jeden Fall trinken sie Tea zur Tea time. Die wird in jedem Haushalt und in jedem Hotel und in jedem Büro anders angesetzt, liegt zwischen drei und fünf Uhr nachmittags, findet aber auf die Minute genau statt. Zur Tea time werden Savouries, das sind kleine Sandwiches, belegt mit Ei, Gurken, Kresse, Schinken oder Lachs gereicht. Die Tea time ist streng zu unterscheiden vom High tea, der für Gäste zwischen fünf und sieben Uhr zelebriert wird. Es handelt sich um eine Art Abendessen, denn zum Tea werden kalter Braten, kaltes Huhn, gekochtes Gemüse, Kuchen und Früchte gereicht. Danach gibt es Abendessen, natürlich abgeschlossen mit einem Tea. Kurz bevor sie erschöpft vom vielen Tea-Trinken ins Bett sinken, trinken Briten noch ein Tässchen Tea, dann gelegentlich verdünnt mit ein paar Gläsern Whisky, in (Nord-)Irland auch mit Whiskey. Jede Zubereitung von Tea ist ein eigenes Ritual, neben dem eine japanische Teezeremonie wie das Aufbrühen einer Instantsuppe wirkt. Gastgeber klopfen noch vor Sonnenaufgang dezent an die Tür des Gästezimmers und fragen, ob sie eintreten dürften, um den Early morning tea zu servieren. Mein erstes Erlebnis dieser Art hielt ich für einen Traum. Erst der brühheiße Tea brachte mir zu Bewusstsein, dass ich nicht mehr schlief. Beim Entgegennehmen des ebenso heißen wie hässlichen Potts hatte ich schlaftrunken den Fehler gemacht, die Frage »with milk?« mit Nein zu beantworten. Tea ist nämlich, wie ich schaudernd feststellte, gar kein Tee, sondern ein Aufguss von bitterem Staub, dem in einem komplizierten Verfahren jedes Aroma entzogen wird. In Indien heißt der für das ehemalige koloniale Mutterland produzierte Tea »The Dust«. Der aus Teeblättern fein zerriebene Staub, abgefüllt in kleine Papiersäckchen, wird so lange in heißem Wasser liegen gelassen, bis das Wasser ungenießbar bitter geworden ist. Dann wird mit heißem Wasser nachgegossen und weil die Flüssigkeit dann immer noch nicht trinkbar ist, mit Milch verdünnt. Briten können sehr indigniert aus der Wäsche schauen, wenn sie Nichtbriten dabei beobachten, wie sie Teebeutel nach einer gewissen Zeit aus der Kanne oder dem Glas oder dem hässlichen Pott entfernen. Ihre Augenbrauen kommen dann kaum wieder runter. Über die Frage, ob zuerst Milch und dann Tea (Milk-in-first) oder zuerst Tea und dann Milch (Tea-in-first) eingegossen werden sollte, streiten sich Mifs und Tifs heftig. Tea-Forscher Andrew Stapley hat bewiesen: Bei der Milk-in-first-Version mischen sich beide Flüssigkeiten schneller. Um einige Millisekunden. Außerdem schützt die Milch die dünnen Tässchen vor dem kochendheißen Tea. Wer es sich leisten kann, also vorwiegend der Adel, trank Tea deshalb aus hauchdünnen Qualitätstässchen, die den Temperaturunterschied locker wegstecken, und zeigte das damit, dass er demonstrativ zuerst den Tea einschenken ließ. Keinen Streit gibt es darüber, ob Cakes, Scones, Currant bread, Fat rascals, Fruit bread, Malt bread oder Spice bread zum Tea gereicht wird. Alles ist möglich. Bedingung ist allerdings, dass alle diese Gebäcke so trocken sind, dass beim Verzehr eines einzigen Eckchens tassenweise Tea nachgespült werden muss. In der britischen Kolonie Amerika hatte man nie so recht verstanden, wie Tea eigentlich zubereitet wird. Einige ganz Ungeduldige versenkten sogar eine ganze Lieferung Tea kistenweise im Hafen von Boston. Für sie war das eine Party. Besser wurde der Tea dadurch nicht und auch nicht das Verhältnis der Kolonie zum Mutterland.

BREXIT-Spezial 3

Das Volk kann rechnen. Aber nicht gut

Weniger Zuwanderung bedeutet weniger Wohlstand

Mal nachrechnen: Großbritanniens Beitrag zum EU-Budget im Haushaltsjahr 2015/16 betrug 20,3 Milliarden Euro. Im Gegenzug erhielt das Land Subventionen an öffentliche Institutionen, etwa Universitäten und sonstige Forschungsinstitute, in Höhe von 3,2 Milliarden Euro und außerdem Rückzahlungen von rund 4,6 Milliarden Euro. Britische Landwirte erhielten zusätzlich aus dem EU-Haushalt 4 Milliarden Euro. Tatsächliche Nettozahlung an die EU somit: 8,5 Milliarden Euro. Dem stehen zu erwartende Einbußen durch den Brexit von mindestens 20 Milliarden Euro gegenüber. Sie entstehen dadurch, dass künftig die Bestimmungen des EU-Binnenmarkts für Großbritannien nicht mehr gelten. Auf Seiten der EU fehlen die 8,5 Milliarden Euro dann natürlich, allerdings: eigentlich hätte es noch mehr Geld sein müssen, das fehlte, weil Großbritannien bei seinen Einzahlungen der großzügige Briten-Rabatt berechnet wurde. 350 Millionen Pfund, wurde dagegen behauptet, flössen wöchentlich nach Brüssel und würden dort verschwendet. Das Geld sei weg. Das sagten die Brexiter. Sie wussten genau, dass es nicht stimmte. Ein Ausstieg kostet dagegen, und das stimmt, jeden britischen Haushalt jährlich mindestens 4300 Pfund. Das sagten die Bleiben-Wir-Drin-Leute. Die Botschaften waren klar. 350 Millionen Pfund sind viel mehr, als 4300 Pfund. Das Volk kann rechnen. Aber nicht gut.

Auch Bauern können rechnen. Vor allem rechnen sie mit Unterstützungszahlungen, die bisher von der EU verteilt wurden. »Wenn Brüssel uns nicht mehr unterstützt, dann tut das eben London«, rechneten sich die britischen Bauern aus. »Die haben ja dann viel mehr Geld, weil sie nicht wöchentlich 350 Millionen Pfund nach Brüssel überweisen müssen.« Wenn die britischen Bauern sich da mal nicht verrechnet haben. 72 Prozent der britischen Landwirtschaftsprodukte werden in die EU exportiert. Die wurden durch das schwächelnde Pfund schon unmittelbar nach der Brexit-Abstimmung immer billiger. Andersherum stammen 40 Prozent der im Königreich verkauften Lebensmittel aus dem Rest der EU. Die wurden und werden immer teurer. Theresa May hatte versprochen, dass die EU-Subventionen an britische Landwirte bis 2020 – jährlich immerhin 4 Milliarden Euro – von der britischen Regierung übernommen würden. Es handelte sich natürlich nur um ein Wahlversprechen und damit um eine glatte Lüge. Sie wollte die Bauern dazu bringen, sie bei den vorgezogenen Neuwahlen am 8. Juni 2017 zu wählen, und damit in eine starke Position zu kommen, um in Brüssel hart, härter, »strong and stable« zu verhandeln. Die absolute Mehrheit reichte ihr seltsamerweise dazu nicht aus. Inwiefern eine starke Position zu Hause allerdings ihre Verhandlungsposition gegenüber 27 EU-Staaten hätte stärken sollen, wusste nur Theresa May.

Die Wahl ging schief, die Verhandlungsposition blieb so schwach wie zuvor. Die Ankündigung, vormalige EU-Subventionen, also Direktzahlungen, durch die Regierung in London zu ersetzen, ist ein interessanter Testfall für die verbleibenden EU-Staaten: Sollten die britischen Bauern nicht mehr aus dem ungeliebten Brüssel, sondern aus London Geld erhalten, bar und richtig viel, sodass es, wie bisher, mindestens die Hälfte ihres Einkommens ausmacht, werden andere Bevölkerungsgruppen fragen, weshalb sie nicht auch Direktzahlungen erhalten. Kleinbetriebe, soziale Institutionen, private Hochschulen und andere schlecht laufende Läden werden ebenfalls Direktzahlungen fordern. Der britischen Regierung wird es schwerfallen, den Sonderstatus von Landwirten zu begründen, die bisher aus dem EU-Topf genährt wurden. Da fiel es ja nicht so auf, woher das Geld kam. Hauptsache, es floss.

Und dann meckerte 2018 auch noch OLAF. Das ist die europäische Behörde für Betrugsbekämpfung. Das Vereinigte Königreich hatte die EU im großen Stil betrogen. Es hatte für die Einfuhr außereuropäischer Waren insgesamt zwei Milliarden Euro zu wenig an Zöllen verlangt und damit die eigene Handelspolitik begünstigt. Das »Weltklasse-Zollsystem« Großbritanniens, von dem die Premierministerin schwärmte, hatte vor allem Billigimporteure aus China begünstigt. Die hatten unter anderem Baumwollhosen pro Kilo billiger deklariert als den Rohstoff Baumwolle. Anderen EU-Ländern fiel diese Masche auf, den »Weltklasse-Zöllnern« im Königreich aber nicht. OLAF wird auch nach dem Brexit viel Arbeit haben, etwa mit den Pensionen für EU-Beamte. Dafür muss Großbritannien natürlich weiterhin zahlen, jedenfalls genau in dem Verhältnis, in dem diese Pensionäre aus dem Vereinigten Königreich stammen. Dazu meinte die Premierministerin, die Briten hätten bei der Volksabstimmung über den Brexit dafür gestimmt, »dass wir in der Zukunft nicht jedes Jahr gewaltige Summen Geld an die Europäische Union zahlen«. Das wird sich aber nicht vermeiden lassen. Es sei denn, die Briten würden einen eigenen Pensionsfonds einrichten, der natürlich noch teurer wäre. Für Pensionen und EU-Programme für Forschung, Soziales, Investitionen und regionale Entwicklung wären auf jeden Fall noch mindestens 60 Milliarden Euro abzudrücken. Michel Barnier, Chef-Unterhändler der EU, sagte dazu: »Es gibt keinen Preis dafür, wenn man geht – aber wir müssen die Konten ausgleichen.«

Was heißt eigentlich »vereinigt«?

Der Brexit läutet das Ende des zwangsvereinigten Königreichs ein