Über das Buch

Stell dir vor, du verliebst dich – nur leider in den einen, in den du dich nicht verlieben solltest …

Paris im Mai und endlich das lang ersehnte Wiedersehen mit ihrer besten Freundin Laura, die vor einem Jahr dorthin gezogen ist. Anna kann es kaum erwarten! Tatsächlich geht die Reise schon gut los: Im Zug lernt Anna Jo kennen. Es funkt so richtig – anscheinend auch bei ihm, denn sie verabreden sich gleich für die nächsten Tage.

Anna kann ihr Glück nicht fassen: ein Date in der Stadt der Liebe!

Doch noch bevor es dazu kommt, wird ihr klar: Jo ist genau der Junge, von dem ihr ihre beste Freundin seit Wochen vorschwärmt …

ANNA

Laura hielt Wort. Wir skypten und chatteten ziemlich oft und sie schickte viele Fotos. Ihre neue Internationale Schule fand sie anfangs ziemlich gut. Sie mochte ihre Fächer, die Lehrer, die gute Ausstattung und die vielen unterschiedlichen Nationalitäten der Schüler. Echt, Anna, an unserer Schule kommt man sich manchmal vor wie bei der UNO.

Aber ich merkte rasch, dass etwas nicht stimmte. Es fehlte die für Laura typische Begeisterung, der gewohnte Überschwang. Vielleicht, spekulierte ich, war der Neuanfang für sie doch schwieriger, als sie erwartet hatte. Laura spricht zwar perfekt Französisch, aber beherrschte sie auch den Pariser Jugend-Jargon? Wusste sie, was in Paris gerade angesagt war, musik- und klamottenmäßig und überhaupt?

Dann tauchten die ersten Namen auf und immer öfter fielen die Worte »Freunde«, »Kumpel«, »Freundin«. Ich zuckte jedes Mal zusammen wie unter einem Nadelstich und wusste nicht, was schlimmer war: die Tage, an denen ich nicht mit Laura redete, oder die, an denen sie mir erzählte, was sie alles erlebt hatte mit ihrer neuen, bunt gemischten Clique.

Alldem hatte ich wenig entgegenzusetzen. Klatsch und Tratsch aus der alten Schule schienen Laura immer weniger zu interessieren, und aus meinem Privatleben gab es wenig Aufregendes zu berichten. Zwar gab es eine Clique von Leuten, mit denen ich immer mal wieder abhing, aber insgesamt war alles eher eintönig. Eintönig und anstrengend zugleich.

Meine Eltern hatten mir nämlich eine Bedingung gestellt: Wollte ich Laura in den Pfingstferien besuchen, so der Deal, durfte ich im Zwischenzeugnis keine Drei haben.

Das war mal wieder typisch für sie. Warum konnten sie mir nicht ein Mal, ein einziges Mal nur, etwas, das ich gerne wollte, einfach erlauben, ohne Wenn und Aber? Wo sie mich doch angeblich sooo lieb haben und immer nur mein Bestes wollen. Aber so läuft das nicht bei uns. Man kriegt nichts umsonst in dieser Familie, man muss es sich verdienen. Um mir ein gebrauchtes Smartphone kaufen zu können, musste ich in der Nachbarschaft Babysitten und Rasen mähen, und das Geld für die Fahrkarte nach Paris habe ich mir selbst zusammengespart, denn inzwischen bin ich so weit, dass ich von ihnen am liebsten gar nichts mehr geschenkt haben will.

Nicht, dass wir arm wären. Mein Vater hat einen Posten im mittleren Management bei Mercedes Benz – beim Daimler, wie man hierzulande sagt –, meine Mutter arbeitet halbtags bei einer Versicherung. Wir haben zwei Autos, wir fahren zweimal im Jahr in den Urlaub und die Doppelhaushälfte ist abbezahlt. Nein, es liegt nicht am Geld, sondern an der festen Überzeugung unserer Eltern, dass man Kinder nicht verwöhnen oder gar verziehen darf.

Einmal hat Hendrik meine Mutter gefragt, wie sie und unser Vater eigentlich zu zwei Kindern gekommen seien. Sie hat ihn angeschaut, als befürchtete sie, gleich einen schlüpfrigen Witz zu hören zu kriegen, aber Hendrik sagte: »Ich frage mich nur manchmal, wie wir es uns verdient haben, geboren zu werden.« Ich habe meiner Mutter angesehen, dass sie Hendrik dafür am liebsten eine gescheuert hätte und mir auch, weil ich unverhohlen gekichert habe.

Eins weiß ich: Wenn ich mal Kinder haben sollte, verwöhne ich sie nach Strich und Faden! Ich werde nur dann streng sein, wenn es gar nicht mehr anders geht.

Manchmal jedoch geschehen noch Zeichen und Wunder. Gestern Abend hat mir Papa sage und schreibe hundert Euro als Taschengeld für Paris zugesteckt. Das kann man mit einem fetten Rotstift im Kalender anstreichen.

 

Um das Ziel »keine Drei im Zwischenzeugnis« zu erreichen, musste ich mich in den Laberfächern voll reinhängen, und so führte mein Weg nach Paris über die LiteratuR-AG, wo ich mich mit Droste-Hülshoff und Büchner herumschlagen musste. Aber es hat etwas gebracht: eine satte Zwei in Deutsch und in Englisch, und in Latein bin ich sogar haarscharf an einer Eins vorbeigeschrammt. Meine Eltern zeigten sich beeindruckt und gratulierten sich im Stillen zu ihren raffinierten Erziehungsmethoden.

 

Der Zug fährt schon seit ein paar Minuten, noch immer ist mein Abteil leer. Plötzlich wird es Nacht. Ein Tunnel. In der Fensterscheibe sehe ich ein schmales Gesicht mit großen Augen. Sie sind blaugrau, was man jetzt gerade nicht erkennen kann. Auch die Sommersprossen sieht man nicht, dafür ist es zu dunkel. Das Haar … immer noch ungewohnt. In unserem Viertel hat ein neuer Friseur aufgemacht und vor drei Tagen habe ich in einem Anfall von Verwegenheit meine lange Mähne ein gutes Stück kürzen lassen. Dadurch komme mein Hals viel besser zur Geltung, hat der Figaro behauptet und auch noch hinzugefügt, ich hätte tolle Augenbrauen und ein elegantes Profil. Ich war hin und weg, und nun weiß ich auch, warum Frauen so gerne Schwule als Freunde haben.

Jetzt sind da auf einmal Wellen, wo vorher keine waren, und ein paar hellbraune Strähnen beleben das Bitterschokoladenbraun. Strähnen und Wellen, lieber Himmel, auf meinem Kopf ist auf einmal ganz schön was los. Sogar meine Mutter hat eingeräumt, dass mir die neue Frisur gut steht. Was Laura wohl dazu sagen wird? Sie hat die Frisur nämlich noch gar nicht gesehen, wir haben vergangene Woche nur gechattet, und dabei gab es – so wie in den vorangegangenen zwei Wochen auch – mal wieder nur ein einziges Thema: Einstein.

 

Ich lehne mich zurück, schließe die Augen und horche in mich hinein. Eigentlich müsste ich doch vor lauter Vorfreude kurz vorm Platzen sein. Doch ich fühle mich hauptsächlich müde. Es hat mich viel Energie gekostet, jetzt hier im Zug nach Paris zu sitzen.

Vielleicht könnte ich mich unbeschwerter freuen, wenn ich nicht so sehr für diese Reise hätte kämpfen müssen. Wenn man für eine Sache allzu viel bezahlt hat, macht sie einem oft gar nicht mehr so viel Spaß.

Nein, sei ehrlich, Anna, das ist es nicht!

Es ist dieser Junge. Der Junge aus Lauras Schule, mit dem sie schon zwei Dates hatte. Oder waren es drei? Einstein, wie sie ihn nennt. Er ist der wahre Grund für mein Unbehagen. Keine Ahnung, wie er aussieht, ein Foto von ihm hat sie mir noch nicht geschickt und ich habe sie nicht danach gefragt.

Hat mich einfach nicht interessiert.

Du wirst ihn ja kennenlernen, hat Laura gesagt.

Ich seufze. Mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben, ob es mir nun passt oder nicht. Und nein, es passt mir nicht.

Ich gönne Laura das Herzklopfen, die Schmetterlinge im Bauch und all diesen Romantik-Kitsch. Soll sie haben. Es überrascht mich auch nicht, dass es so gekommen ist. Laura ist bildhübsch und lebhaft und bestimmt sind die Jungs in Frankreich viel charmanter als die Büffel an unserer Schule. Es war abzusehen, dass sie sich in der Stadt der Liebe verlieben wird, und ich hoffe, dass dieser Einstein nett ist und dass sie zusammen glücklich werden, bis dass der Tod sie scheidet. ABER … hätte der Wunderknabe nicht ein paar lausige Wochen später in ihr Leben treten können, nach den Pfingstferien, nach meinem Besuch bei ihr?

Wochenlang habe ich mich auf die Zeit mit Laura in Paris gefreut. In diesen knapp zehn Tagen, die ich in Paris verbringen werde, möchte ich mit Laura Paris erobern, mit ihr die Sehenswürdigkeiten abklappern, in Cafés rumhängen, shoppen gehen und alberne Dinge machen. Es soll wieder so sein wie früher, oder sogar noch besser. Zwei Freundinnen in Paris. Klingt wie ein Filmtitel, und wie wunderbar könnte das sein!

Aber nun ist da dieser Einstein.

Mit sehr gemischten Gefühlen denke ich an jenes Skype-Gespräch vor gut zwei Wochen zurück, in dem sie den Typen zum ersten Mal erwähnte. Wobei erwähnte es nicht wirklich trifft. Schmachtend und seufzend hat sie ohne Punkt und Komma von ihm geschwärmt:

»Er ist so cool, ich meine, wirklich cool, keiner von diesen Posern, die in Wahrheit nur eingebildet sind. So was hat er gar nicht nötig, denn er ist verdammt schlau, eine echte Intelligenzbestie. Deswegen nenne ich ihn auch Einstein. Er gibt sogar Nachhilfe in Mathe, genau wie du, ist das nicht irre? Nein, nein, er ist keiner von diesen verklemmten Nerds, die nur über komisches Zeug reden, das außer ihnen keiner versteht, so einer ist er nicht. Er interessiert sich für alles, auch für Kunst und Philosophie, er ist … ach, er ist einfach süß! Richtig süß und dabei echt heiß! Aber das Gute daran ist: Er weiß das nicht mal. So ein stilles Wasser, verstehst du? Wir waren zusammen in einem Café, und ich sag dir, da sind Funken geflogen zwischen uns und ich hatte auf einmal das große Flattern und so ein ganz komisches Gefühl im Bauch, wenn ich ihn nur angeschaut habe, und ich habe ihn eigentlich die ganze Zeit angeschaut, ich musste einfach, es war wie ein innerer Zwang …«

So ging das wie ein Wasserfall, ich kam gar nicht zu Wort, was egal war, denn ich hätte sowieso nichts dazu zu sagen gewusst.

Wenn er auf ihre Schule geht, denke ich jetzt, warum ist er ihr dann nicht schon am Anfang des Schuljahres aufgefallen? Dann wäre der Sturm der Gefühle inzwischen vielleicht schon etwas abgeflaut.

Jetzt weiß ich nicht, was mich in Paris erwartet. Ich habe das Gefühl, dass ich zum ungünstigsten Zeitpunkt komme. Wäre es Laura vielleicht sogar lieber, wenn ich zu Hause geblieben wäre? Wird sie mich während der nächsten Tage als lästiges Anhängsel betrachten? Das würde sie natürlich nie zugeben, aber wie kann ich sicher sein, dass sie nicht genau das denkt? Was immer wir unternehmen werden, ich werde mich stets fragen müssen: Wäre sie jetzt lieber mit ihm zusammen? Vielleicht ist er aber auch die meiste Zeit dabei und dann werde ich ihn als lästig empfinden und er mich ebenso. Oder die beiden werden pausenlos Händchen halten und Rumknutschen und ich werde mir vorkommen wie das fünfte Rad am Wagen. Es wird furchtbar werden. Zum Teufel mit diesem Einstein!

Ich merke, wie ich mich innerlich aufrege, mir steigen sogar Tränen in die Augen. Gott sei Dank sieht es keiner.

Mein Handy piept. Eine Nachricht von Laura.

Eeeeeeendlich, ich raste gleich aus! Fahr schneller,

Zug! Mama freut sich auch schon

tierisch, wir werden am Bahnsteig sein.

♥♥♥♥♥♥♥♥♥♥ xxx

Ich blinzle die Tränen weg und ein Lächeln huscht mir übers Gesicht.

Anna Cornelius, was bist du nur für eine dumme, eifersüchtige Kuh!

Die trüben Gedanken sind wie weggewischt. Wie konnte ich mich nur so reinsteigern in meine Ängste? Was habe ich mir nur gedacht? Kein Junge wird es je schaffen, sich zwischen Laura und mich zu stellen. Nie, nie, nie!

ANNA

Noch immer ist niemand in meinem Abteil aufgetaucht, abgesehen vom Schaffner, der mein Ticket abgestempelt und mir eine gute Reise gewünscht hat. Vielleicht hat eine ganze Gruppe den Zug verpasst oder ihre Pläne geändert. Mir soll das nur recht sein, ich genieße den Luxus, das Abteil ganz für mich zu haben. So kann ich mir in Ruhe den Reiseführer anschauen, den mir meine Mutter heute früh noch in die Hand gedrückt hat. Ich fand es nett von ihr, deshalb habe ich darauf verzichtet, sie darauf hinzuweisen, dass wir Digital Natives so etwas wie Reiseführer in Papierform nicht mehr benutzen.

Ah, Paris! Diese schönen Bilder. Montmartre, der Louvre, Notre-Dame, der Blumenmarkt, der Eiffelturm, das Seineufer … Nach ein paar Seiten merke ich, dass ich das alles gar nicht lesen will. Nicht jetzt. Laura wird mir schon die tollsten Orte zeigen. Obwohl unsere Interessen bisweilen recht verschieden sind. Die Interessen, aber vor allen Dingen auch unser Temperament.

»Wir sind wie Yin und Yang.« Lauras Worte und da ist was dran. Sie singt im Schulchor, ich bringe nur schräge Töne hervor. Sie ist unglaublich hübsch, mit ihrem herzförmigen Gesicht, den türkisfarbenen Augen, dem kleinen Schmollmund und ihren tollen, rötlichen Haaren. Ich dagegen bin eher Durchschnitt, da muss man sich nichts vormachen. Ich bin in diversen naturwissenschaftlichen AGs, Laura spielt Theater und lernt Klavier. Laura ist impulsiv und aufbrausend, ich eher besonnen und planend. Laura ist der Prototyp eines verwöhnten Einzelkindes, mein Bruder und ich werden kurz gehalten und wir müssen uns alles erkämpfen. Eigentlich ist es ein Wunder, dass Laura und ich überhaupt miteinander befreundet sein können. Manchmal kommt es mir auch eher so vor, als wären wir Schwestern. Und gerade weil wir in der Schule nicht alles zusammen gemacht haben, hatten wir uns immer so viel zu erzählen.

Es gibt natürlich auch Gemeinsamkeiten. Wir hören dieselbe Musik und lieben dieselben Filme und Serien und wir hassten oder mochten dieselben Leute an der Schule.

Ob ich ihren Freund wohl nett finde? Bestimmt, wir haben ja auch meistens denselben Jungs-Geschmack.

 

Ich muss eingeschlafen sein, denn ich werde wach, als jemand mit einem Rums die Abteiltür öffnet. Ein riesiger Rucksack schiebt sich herein und eine männliche Stimme fragt. »Excusez-moi, est-ce que c’est libre ici?«

»Bitte?«

»Oh, Verzeihung. Ist hier noch ein Platz frei?«, tönt es in leicht schwäbisch eingefärbtem Deutsch, und hinter dem Riesenrucksack kommt ein schmales, blasses Gesicht zum Vorschein. Ein Junge, etwa so alt wie ich.

»Sieht so aus«, murmele ich, wenig begeistert, nun doch noch Gesellschaft zu bekommen.

»Ausgezeichnet. Ich bin nämlich auf der Flucht.«

»Vor dem Schaffner? Der war schon hier«, sage ich. »Aber sein französischer Kollege wird sicher auch noch vorbeischauen, also versteck dich lieber auf dem Klo.«

»Was? Nein!« Er schüttelt den Kopf und lacht. »Ich bin kein Schwarzfahrer. Ich flüchte vor der fröhlichen Rentnertruppe in Wagen 9, die schon einiges intus hat, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Alles klar.« Mein Mitgefühl hat er. Ich deute auf die Plätze mir gegenüber. »Freie Auswahl. Und ich lärme und trinke nicht. Jedenfalls nicht in Zügen.«

»Indianerehrenwort?«

Ich hebe zwei Finger und grinse. Der scheint ja ganz okay zu sein.

»Wunderbar!« Er stellt seinen Rucksack neben meinen Koffer, lässt sich auf den mittleren Sitz fallen und seufzt erleichtert auf.

»So schlimm?«, frage ich.

»Schlimmer!«

Es gibt ein dankbares Lächeln für die edle Retterin, die ihn möglichst unauffällig von oben bis unten mustert.

Schwer zu glauben, dass der Typ aus Wagen 9 kommt. Wenn man mich fragen würde, würde ich sagen, der kommt direkt aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert. Diese Klamotten! Grau kariertes Tweedsakko mit ledernen Flicken an den Ellbogen, darunter ein leicht vergilbtes Leinenhemd mit abgewetztem Kragen, senffarbene, an manchen Stellen ebenfalls schon leicht fadenscheinige Cordhosen, die ohne diese unsäglichen Hosenträger bestimmt an ihm herabrutschen würden. Bloß das nicht! Man mag sich nicht ausmalen, was für ein bizarres Textil der Herr Zeitreisende wohl darunter trägt. Fehlt eigentlich nur noch die Pfeife im Mundwinkel, und fertig ist die Karikatur des englischen Landadeligen. Oder habe ich was verpasst? Ist Retro gerade ganz groß angesagt, ganz Paris läuft so herum und nur ich habe nichts davon mitgekriegt? Denkbar ist das. Denn mal ehrlich, was verstehe ich denn schon von Mode?

Da ich ihm Ruhe versprochen habe, beschließe ich, stillschweigend mein Gehirn zu füttern. Ich hole das Magazin, das ich mir am Bahnhof gegönnt habe, aus dem Außenfach meines Koffers.

Mein Gegenüber fischt ebenfalls Lesestoff aus den Tiefen seines Rucksacks hervor und wuchtet diesen dann auf die Gepäckablage.

Ob mein Koffer auch da rauf soll?

Sehr aufmerksam, der junge Lord. »Ja. Warte ich helfe dir.«

»Lass nur, ich hab’s gleich«, ächzt er. Schon passiert. Dabei sieht er gar nicht aus wie ein Muskelprotz. Sicher alles nur eine Frage der Technik.

Ich bedanke mich, er setzt sich wieder hin und fährt sich mit den Händen ein paarmal ordnend durch sein Haar, was allerdings nicht viel bringt, seine Frisur erinnert immer noch an einen Wischmopp. Irgendwie riecht das Abteil seltsam, seit er hier ist. Es riecht wie … es riecht … ich komm gleich darauf … es riecht so ähnlich wie der Schrank auf unserem Dachboden, wenn man ihn öffnet.

Er pflanzt sich einen Kopfhörer zwischen sein Haargestrüpp. Hört sich nach monotonem Elektro an. Und was lesen Euer Lordschaft denn so? Ich schiele neugierig hinter meinem Heft hervor: The Quantum Theory of Light.

Das ist ja interessant.

Ich widme mich nun ebenfalls wieder meiner Lektüre.

Neue Galaxien hinter der Milchstraße gefunden Forscher finden 100 Milliarden Sterne

Bislang hat der Staub der Galaxien die Sicht behindert. Nun jedoch ist es Wissenschaftlern von der Universität Western Australia in Perth gelungen, durch den Sternennebel hindurchzusehen, den die Milchstraße verursacht. Mithilfe des Teleskops CSIRO Parkes gelang es, die noch völlig unentdeckte Region, die hinter unserer Milchstraße liegt, näher zu erforschen. Die 883 Galaxien sind nur 250 Millionen Lichtjahre entfernt, was eine für astronomische Verhältnisse eher geringe Entfernung darstellt. Mit ihrem Fund können die Forscher ein Phänomen aufklären, das sich der Große Attraktor nennt.

Der Große Attraktor. So, so.

Konzentration, wenn ich bitten darf!

Gar nicht so einfach. Ich spüre, wie er mich ansieht. Als ich ohne Vorwarnung aufschaue, kreuzen sich unsere Blicke.

Gerade, dichte Wimpern. Bernsteinfarbene Pupillen.

Der Anstand verlangt es, beizeiten wieder wegzusehen, aber es vergehen zwei, drei Sekunden, ehe ich mich wieder um die jüngsten Erkenntnisse der Astrophysik kümmern kann. Das Weltall tanzt mir vor den Augen herum. Durchatmen! Dir wird doch jetzt nicht schlecht werden? Kommt vielleicht vom Rückwärtsfahren, ich hätte mich beizeiten umsetzen sollen. Jetzt geht das nicht mehr, das sähe ja komisch aus, wenn ich mich plötzlich neben ihn setzte. Ein Blick aus dem Fenster, wo etwas Braungrünes vorbeiflitzt. Nicht wahr, Herr Zeitreisender, dieser Hochgeschwindigkeitszug ist schon etwas anderes als die Kutschen und die gute alte Eisenbahn?

Warum bin ich denn plötzlich so albern, wenn auch nur in Gedanken? Sind wir schon in Frankreich? Ist das jetzt wichtig?

Ich will mir die Haare zurückstreichen, eine typische Verlegenheitsgeste, die sich mit den Jahren eingeschliffen hat, aber die langen Haare sind ja nicht mehr ganz so lang. Mir rutscht mein Heft vom Schoß, wir bücken uns beide danach und entgehen nur äußerst knapp einem Zusammenprall unserer Köpfe. Seine Haare berühren meinen Scheitel, was bei mir wiederum ein Kribbeln auslöst, das sich vom Kopf bis über den Rücken ausbreitet. Bestimmt ein elektrostatischer Effekt.

»Tut mir leid«, sagen wir im Chor und lächeln beide verlegen.

Sein Kopfhörer ist verrutscht, jetzt nimmt er ihn ganz herunter.

Um einer weiteren Kollision aus dem Weg zu gehen, überlasse ich es ihm, die Zeitschrift aufzuheben. Das Heft hat sich beim Herunterfallen geschlossen, sodass man den Titel lesen kann.

»Du liest die Sterne und Universum?« Seine Augenbrauen schießen nach oben. Sie sind kräftig und dunkler als das braune Haar.

»In der Tat«, antworte ich gestelzt. »Und sollte dir jetzt eine Bemerkung über Mädchen und Naturwissenschaften auf der Zunge liegen, dann schluck sie lieber runter.«

Er macht ein lautes Schluckgeräusch. »Gulp.«

Ich muss lachen.

Er ist bis an die Vorderkante seines Sitzes gerutscht. Die Ellbogen auf die Knie gestützt und den Kopf weit vorgestreckt, starrt er mich jetzt vollkommen unverhohlen an. Was ist denn jetzt los? Was für einen Freak habe ich da zu mir ins Abteil gelassen? Dieses Starren, voll creepy, wie Laura sagen würde. Hat dieser Mensch denn gar keine Kinderstube, hat man ihm nicht beigebracht, dass man fremde Leute nicht so anstarrt? Er scheint einen Punkt an meiner Wange zu fixieren. Siedend heiß fällt mir der Pickel neben meinem rechten Nasenflügel ein. Hoffentlich ist dieses Abdeckzeugs noch drauf!

»Was ist?«, frage ich gereizt. »Hab ich plötzlich zwei Köpfe oder vier Ohren?«

»Du weißt es nicht?«

»Was weiß ich nicht?«

»Moment, ich zeig es dir.« Aus der Innentasche seines unsäglichen Sakkos zieht er ein iPhone heraus. Technisch ist er also doch auf der Höhe der Zeit. Noch ehe ich protestieren kann, macht er ein Foto von meinem verblüfften Gesicht. Dann steht er auf, setzt sich neben mich und zieht das Foto größer. Der Pickel ist deutlich zu sehen. Gott, ist das peinlich!

»Hier, die Sommersprossen auf deiner rechten Wange. Das ist das Sternbild des Stiers, eindeutig.«

»Red keinen Blödsinn!«

»Schau doch hin!« Er deutet auf das Display. »Hier, das da sind die Hörner, das ist der Schweif … das ist … irre!«

Es hat etwas Befremdliches, wie er meine Sommersprossen auf dem Handydisplay antippt. Als ich erneut bemerke, wie verrückt das sei, ruft er zum Beweis eine Webseite mit Sternbildern auf.

»Du könntest recht haben«, muss ich schließlich zugeben. »Mit viel Fantasie …«

»Das ist eine exakte Übereinstimmung.« Er strahlt mich voller Begeisterung an und ich muss automatisch auch lächeln.

Er setzt sich wieder auf seinen Platz mir gegenüber.

»Ich bin aber Sternzeichen Waage, falls das etwas zur Sache tut«, erkläre ich.

»Tut es nicht. Dieser Sternzeichen-Quatsch ist Verarschung, wenn du mich fragst.«

»Finde ich auch«, beeile ich mich zu versichern.

»Sag bloß, du hast das noch nie bemerkt?«

Was stellt der sich vor? Dass Mädchen mit einem Sternenatlas vor dem Spiegel stehen und ihre Sommersprossen, die sie am liebsten los wären, nach Übereinstimmungen mit Sternbildern abchecken?

»Nein«, sage ich. »Du bist der Erste, der das entdeckt hat, eine Pionierleistung, sozusagen.«

»Nicht mal dein Freund?«

Ein bisschen arg plump, aber wollen wir mal nicht so sein. Zumal er es wohl selbst gemerkt hat, jedenfalls ist er rot geworden.

»Ich habe keinen Freund«, sage ich.

Eine Antwort, die ihn breit grinsen lässt. Ich mag seinen Mund. Er ist vielleicht ein bisschen zu groß, aber das macht ihn sympathisch, ganz besonders, wenn er lächelt.

»Und du hast ganz bestimmt keine Freundin«, setze ich hinzu.

Das Grinsen vergeht ihm. »Äh … was … was macht dich da so sicher?«

»Ich bitte dich! Kein Mädchen würde ihren Freund so rumlaufen lassen.« Inzwischen bin ich mir sicher, dass es in unserem Abteil nach Mottenkugeln riecht. Was in Anbetracht seines Outfits durchaus plausibel ist. Am liebsten würde ich ebenfalls ein Foto von ihm machen und es Laura schicken. Die glaubt mir sonst bestimmt nicht.

Er nickt. »Gut erkannt.«

»Hast du einen Altkleidercontainer geplündert?«

»Du bist ganz schön frech.«

»Und du hast ungefragt meine Sommersprossen fotografiert.«

»Was lediglich der wissenschaftlichen Beweisführung dient.«

»Du arbeitest also an einer Studie über die Anordnung von Sommersprossen nach Sternbildern?«

»Bis jetzt noch nicht, aber die Idee hat was. Ich habe einen rothaarigen irischen Klassenkameraden, der wäre sicher eine Fundgrube.«

»Das Foto wird wieder gelöscht!«

»Wie Madame wünschen.«

Der kleine Schlagabtausch lässt uns schelmisch lächelnd zurück.

Ich warte, dass er das Foto löscht, aber er macht keinerlei Anstalten, sondern zupft am Ärmel seines Sakkos: »Die Sachen sind von meinem Großvater.«

»Ah.« Bestimmt wohnt der in einem Schloss mit Wassergraben, einer mahagonigetäfelten Bibliothek und einer Halle mit Kristalllüstern und ausgestopften Tieren …

»Er ist gestorben. Vor drei Tagen war seine Beerdigung. Ich komme gerade von dort. Er wohnt … wohnte in einem Dorf bei Tübingen.«

Mist, verdammter! »Das … das tut mir leid. Ich hab das mit dem Altkleidercontainer nicht so gemeint, entschuldige bitte«, sage ich zerknirscht.

»Schon in Ordnung.«

»Warst du ganz allein da?«, will ich wissen.

»Nein. Meine Eltern waren dabei. Aber mein Vater kam nur zur Beerdigung und ist dann gleich wieder gefahren und meine Mutter und meine Tante bleiben noch und räumen sein Haus leer, weil es verkauft werden soll. Ich wollte eigentlich noch länger dableiben, aber ich habe das nicht ausgehalten.« Er sieht traurig aus.

»Hast du ihn gerngehabt?«

»Ja. Wir haben früher ganz in seiner Nähe gewohnt, ich war fast jeden Tag bei ihm. Er war jetzt schon 94 und ist von einer Sekunde auf die andere gestorben, als er nach seinen Bienen geschaut hat.«

Ich fühle mich hilflos. Außerdem finde ich diese Unterhaltung auf einmal ziemlich persönlich, wenn man bedenkt, dass wir uns erst seit ein paar Minuten kennen. Nicht, dass mich das stört, aber ich weiß nicht, was ich sagen soll.

Er grinst ein bisschen schief. »Ein schöner Tod, wie es so schön heißt.«

»Auf jeden Fall ein schneller. Ob’s schön war, weiß wohl nur er«, sage ich.

»Sie wollten seine Kleidung weggeben, aber ich dachte, ich behalte einiges davon. Er sah in diesem Sakko immer so fesch aus.« Jetzt lächelt er. »Fesch war eins von seinen Lieblingsworten.«

»Nur trug er vermutlich keine Converses«, werfe ich ein.

»Ach, weißt du, so ein kleiner Stilbruch unterstreicht nur den Look. Darf ich fragen, wie du heißt?«

»Anna.«

»Jo.«

»Und Jo ist die Abkürzung von …?«

»Vergiss es, saublöder Name.«

Johannes? Jonathan? Jonas? Nein, zu normal. Jobst? Wir hatten mal einen Jobst in der Grundschule und natürlich nannten wir den armen Kerl grundsätzlich nur Birne oder Japfel. Ich verkneife mir ein Grinsen.

»Fährst du bis Paris oder noch weiter?«, will er wissen.

»Paris. Ich besuche meine Freundin. Sie wohnt da zurzeit.«

»Wie lange?«

»Ein Jahr. Wir haben uns seit acht Monaten nicht mehr gesehen. Also, richtig gesehen, nicht über Skype.«

Acht lange Monate. Kaum zu glauben.

Obwohl ich es besser hätte wissen müssen, hatte ich im Stillen gehofft, meine Eltern würden mich zu Weihnachten mit einem Ticket nach Paris überraschen. Dann hätte ich mit Laura Silvester in Paris feiern können! Vor meinem geistigen Auge sah ich schon den bunt angestrahlten Eiffelturm im Kreuzfeuer der Leuchtraketen. Die Hoffnung wurde zur fixen Idee, bis ich ganz fest daran glaubte. Aber dann gab es zur Bescherung doch nur einen neuen Wintermantel. Ein »praktisches« Geschenk, so wie jedes Jahr, etwas, das man mir früher oder später sowieso hätte kaufen müssen. Ich war so enttäuscht, dass ich heulend die Treppe hinauf in mein Zimmer gerannt bin, während ich meine Mutter sagen hörte, dies sei die Pubertät, am besten, man ignorierte es.

»Ich meine, wie lange bleibst du in Paris?«, holt mich die Stimme von Jo zurück ins Hier und Jetzt.

»Bis nächsten Sonntag. Also sieben Tage, wenn man die An- und Abreise nicht mitzählt.«

»Die muss man aber unbedingt mitzählen«, meint Jo. »Die Reise an einen Ort, an dem man noch nie war, ist doch das Spannendste an der ganzen Sache.«

»Der Weg ist das Ziel, meinst du das?«

»Ungefähr. Man ist voller Erwartungen und stellt sich vor, wie es sein wird …Und der Rückweg ist auch wichtig, weil man dann ein bisschen anders ist als vorher. – Hoffentlich.«

»So habe ich das noch nie gesehen«, muss ich zugeben. Aber es stimmt womöglich. Als ich acht oder neun war, schleppten mich meine Eltern nach Florenz, in den Dom und in die Uffizien. Sie befürchteten, ich würde mich langweilen, und vielleicht tat ich das auch, aber ein paar Monate danach begann ich mich für die Renaissance zu begeistern und ganz besonders für Leonardo da Vinci. Jetzt frage ich mich, wie es sein wird, Laura wieder gegenüberzustehen. Werden mich die Tage mit ihr in Paris verändern? Wird Paris irgendetwas mit mir … machen? Ja, wahrscheinlich wird es das: Danach wird mir mein Leben noch öder und langweiliger vorkommen als jetzt schon.

»Sprichst du Französisch?«, will Jo wissen.

»Nicht sehr gut. Ich habe es erst seit zwei Jahren als Wahlfach. Allerdings habe ich es schon vorher ein bisschen von meiner Freundin gelernt, denn ihre Mutter ist Französin. Und du?«

»Klar, muss ich wohl. Wir leben seit vier Jahren in Paris, ich geh dort zur Schule. Warst du überhaupt schon mal da?«

»Noch nie«, gestehe ich.

»Dann hast du ja eine Menge vor dir. Was willst du dir ansehen?«

»Das Übliche wahrscheinlich. Aber auf jeden Fall das Pendel.«

Einem, der The Quantum Theory of Light liest, muss ich nicht extra erklären, dass damit das Foucaultsche Pendel im Pantheon gemeint ist. Das Pendel muss ich unbedingt sehen, auch wenn Laura sich dort bestimmt zu Tode langweilen wird. Ganz abgesehen davon, dass es noch ein harter Brocken werden wird, ihr Sinn und Funktion des Pendels zu erklären. Nicht, dass Laura doof wäre, ganz im Gegenteil. Sie ist nicht nur perfekt in ihren Muttersprachen Deutsch und Französisch, sondern auch sehr gut in Englisch, und sie hat »nur so zum Spaß« Spanisch und Italienisch gelernt. Dazu liest sie eine Menge und ihre Deutschaufsätze sind kleine Meisterwerke. Mit den MINT-Fächern dagegen steht Laura ziemlich auf Kriegsfuß. »Um das Licht einzuschalten, muss ich nicht wissen, wie ein Atomkraftwerk funktioniert«, lautet eine ihrer Ausreden. Wie sie jetzt wohl mit Mathe und Physik klarkommt, ohne meine Hilfe?

Jo sieht mich forschend an, und ich werde mir bewusst, dass ich laut geseufzt habe. »Ich freu mich riesig, meine Freundin endlich wiederzusehen«, erkläre ich. »Es war so fade ohne sie.«

»Sie hat dich bestimmt auch vermisst.«

»Da bin ich nicht sicher«, bricht es aus mir heraus. »Sie ist der Typ, der schnell Freunde findet.«

Er nickt. Schweigt.

»War es für dich schwierig, als du nach Paris gezogen bist?«, will ich wissen.

»Bisschen schon, ja. Ich bin nicht so der gesellige Typ.«

»Ich auch nicht«, gebe ich zu.

»Was machst du dann so, in deiner Freizeit?«, will er wissen.

»Ich mag Filme. Und ich lese viel.« Ich deute auf mein Sterne-und-Universum-Heft.

»Keine Romane?«, fragt er.

Was meint er damit? Irgendwelche Schmonzetten? Oder die Klassiker?

»Nur, wenn ich muss, für die Schule. Aber … na ja … neulich habe ich Per Anhalter durch die Galaxis gelesen. Das war witzig.«

Seine Augen leuchten auf. »Ha! Das hab ich schon dreimal durch. Das Buch ist der Wahnsinn!«

»Warum kann man nicht mal so ein Buch in Deutsch behandeln?«, frage ich.

»Ja, das frage ich mich auch«, stimmt er mir zu. »Wir mussten Madame Bovary lesen. Ätzend.«

»Außerdem bin ich in der Mathe- und in der Physik-AG und ich gebe Nachhilfe, um mein Taschengeld aufzubessern. Es ist also nicht so, dass ich nicht ausgelastet wäre.« Ich merke, dass das klingt, als wäre ich eine Streberin, die keine Freunde hat. Okay, ich bin eine Streberin, die nur ein paar wenige Freunde hat, jetzt, wo Laura weg ist. Aber ich muss es ja nicht gleich jedem auf die Nase binden. Andererseits glaube ich nicht, dass dieser Jo Mädchen interessant findet, die sich stundenlang Schmink-Tutorials auf YouTube reinziehen.

Stellt sich die Frage, warum du Wert darauf legst, dass er dich interessant findet?

»Bei uns heißt die AG Science and Technology«, erklärt Jo gerade. »Läuft aber auf dasselbe raus. Wir beschäftigen uns zurzeit mit Gravitationswellen.«

»Wir auch. Seit es dafür den Nobelpreis gab, ist das wohl überall Thema. Aber es ist ja auch faszinierend«, füge ich rasch hinzu.

»Absolut«, stimmt Jo mir zu. »Sogar unser Physiklehrer ist dabei regelrecht poetisch geworden.« Er zitiert den Lehrer mit schwärmerischer Stimme: »Der Todestanz zweier Neutronensterne, die sich immer schneller umkreisen und schließlich in einem gigantischen Lichtblitz miteinander verschmelzen …«

Ich kichere verlegen und er lächelt ein wenig schief.

Irgendwie gefällt mir der Typ.

 

Längst habe ich mein Schweigegelübde vergessen und er hat seinen Kopfhörer weggepackt. Wir reden. Über das, was Laura Nerdthemen nennen würde: schwarze Löcher, Gammablitze, Antimaterie, Neutronensterne und – nicht ganz ernsthaft – über die Degradierung des Pluto vom Planeten zum Asteroiden. »Ich hab sogar noch so ein PlutO-IS-a-Planet!-T-Shirt«, gesteht Jo. »Passt mir aber nicht mehr. Als der Astronomie-Kongress das entschieden hat, war ich ja noch in der Grundschule.«

»Glaubst du, dass irgendwann Zeitreisen möglich sein werden?«, frage ich mit Blick auf seine Klamotten.

»Ich denke schon. Ich weiß nur nicht, ob wir das noch erleben werden.«

»Vielleicht doch«, erwidere ich. »Wenn wir welche treffen, die zurückgekommen sind.«

»Stimmt«, meint Jo. »Man sollte die Leute also nicht nur fragen, woher sie kommen, sondern auch noch, von wann.«

»Ich kann es mir nicht wirklich vorstellen«, räume ich ein.

»Hätten sich vor hundert Jahren die Leute so etwas vorstellen können?«, meint Jo und hält sein Smartphone in die Höhe.

»Auch wieder wahr.«

»Du weißt bestimmt, was Einstein sagte: Der Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist nur eine Illusion, wenn auch eine hartnäckige.«

Einstein, sieh an, da ist er ja schon wieder. Zum Glück wechselt Jo das Thema. »Schaust du auch Serien?«

»Sicher.« Was glaubt er, womit ich meine einsamen Abende verbringe? Immer lernen kann schließlich auch kein Mensch.

»Kennst du Stranger Things?«, fragt er.

»Ja klar. Ich kann’s kaum erwarten, bis es die nächste Staffel gibt.«

Der Gesprächsstoff geht uns nicht aus und die Zeit, diese hartnäckige Illusion, vergeht im Flug. Ich schaue auf die Uhr und kann es kaum fassen. Nur noch zwanzig Minuten, dann sind wir in Paris. Sicher hat sich Laura schon auf den Weg gemacht. Ob sie wohl genauso aufgeregt ist wie ich?

»… deine Handynummer?«

Wie? Was? Abgelenkt durch den Gedanken an Laura habe ich den Anfang seiner Frage nicht mitbekommen und sehe ihn groß an. »Entschuldige. Was hast du gesagt?«

Jetzt gerät er ins Stottern. »Ich … ich wollte … ich habe gefragt, ob du mir deine Handynummer gibst. Ich dachte, wir könnten vielleicht mal einen Kaffee trinken gehen. Oder ich begleite dich ins Panthéon. Oder wir machen was total Abartiges und fahren auf den Eiffelturm rauf.« Sein Gesicht ist ein wenig rot angelaufen, während seine Finger sich an einem Seemannsknoten abarbeiten.

Mein Herz macht einen kleinen Hüpfer. »Das … ja … das wäre toll!«

Er lächelt und macht sein Handy startklar. »Schieß los!«

»Erst musst du das grässliche Foto löschen.«

»Echt jetzt? Das ist hübsch.«

»Ist es nicht. Lösch es, du hast es versprochen.«

»Okay«, seufzt er. »So, weg.«

Ich diktiere ihm meine Nummer und kurz danach piept mein Handy, weil er mir zur Kontrolle auch gleich eine SMS geschickt hat.

»Ich weiß aber noch nicht genau, wann ich Zeit haben werde«, sage ich vorsichtshalber. »Ich muss mich nach meiner Freundin richten.«

»Ja, ja, klar«, nuschelt er. »Melde dich einfach, es wird schon klappen. Deine Freundin kann doch auch mitkommen.«

»Mach ich.«

Das fängt ja gut an! Ich bin noch nicht einmal in Paris angekommen und habe schon eine Verabredung mit einem sehr süßen Jungen. Mit komischen Klamotten zwar, aber trotzdem … Laura wird den Mund nicht mehr zukriegen, wenn ich ihr das erzähle.

Er steht auf und nimmt seinen Rucksack herunter und danach meinen Koffer. »Ich muss noch mal zurück an meinen Platz, ich hab da noch einen Koffer liegen.«

»Noch mehr Sachen von deinem Großvater?«

Er nickt verlegen, öffnet die Tür und stellt seinen Rucksack in den Gang. Dann dreht er sich noch einmal um.

»Anna?«

Schon wieder ist da dieses Kribbeln, jetzt, wo er meinen Namen ausspricht. Mit Elektrostatik lässt sich das dieses Mal beim besten Willen nicht erklären.

»Ja?«

»Wir sehen uns, okay?«

Er sieht mich eindringlich an und mir wird auf einmal flau im Magen. Sicher, weil ich schon halb verhungert bin. Vor lauter Reden habe ich nämlich ganz vergessen, eines der belegten Brote zu essen, die meine Mutter mir eingepackt hat. Was sicher auch sein Gutes hatte, denn hätte sich der Geruch von Leberwurst mit dem nach Mottenkugeln gemischt, wäre uns vielleicht doch noch schlecht geworden.

»Ja, bestimmt«, sage ich.

»Okay«, sagt er und steht immer noch in der Tür.

»Jo?«

»Hm?«

»Ich mag deine Opa-Klamotten. Du siehst fesch darin aus.«

Er grinst, beugt sich zu mir hinab und küsst mich auf die Wange.

»Au revoir, Anna!«

»Au revoir, Jo!«

Dann verschwindet er und mein Stier-Sternbild beginnt zu glühen.