Andreas Saumweber
Schattenkrieg
Druidenchronik. Band 1
Roman
ISBN 978-3-8412-0007-5
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Mai 2010
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2010
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.
Umschlaggestaltung morgen, Kai Dietrich unter Verwendung von Motiven der Agentur iStockphoto © Kateryna Govorushchenko, © GildedCage und © Ufuk Zivana, sowie eines Motivs von © Hustenreiz/Dreamstime.com
Satz LVD GmbH, Berlin
E-Book Konvertierung: le-tex publishing services GmbH,
www.le-tex.de
www.aufbau-verlag.de
PROLOG
KEELIN
RONAN
KEELIN
DERRIEN
KEELIN
VERONIKA
RONAN
KEELIN
VERONIKA
DERRIEN
KEELIN
RONAN
BATURIX
DERRIEN
BATURIX
VERONIKA
DERRIEN
BATURIX
VERONIKA
RONAN
BATURIX
VERONIKA
KEELIN
VERONIKA
DERRIEN
KEELIN
VERONIKA
RONAN
KEELIN
RONAN
DERRIEN
VERONIKA
BATURIX
VERONIKA
KEELIN
VERONIKA
RONAN
DERRIEN
KEELIN
BATURIX
KEELIN
VERONIKA
DERRIEN
BATURIX
RONAN / BATURIX
KEELIN
BATURIX
VERONIKA
EPILOG
DRAMATIS PERSONAE
Andreas Saumweber - SCHATTENSTURM
Ölbohrplattform Statfjord-C,
Nordmeer
Donnerstag, 10. September 1998
Die Außenwelt
Im Grunde genommen war es ein lausiger Job. Die Regierung bezahlte ein Viertel der Stunden überhaupt nicht, und auch die Sondervergünstigungen wurden mehr und mehr zusammengestrichen. Dazu kamen die Sicherheitslücken, die in der letzten Zeit aufgetreten waren und die Arbeit beinahe zu einem Himmelfahrtskommando machten. Ganze sieben Taucher waren in den letzten Wochen verschollen, allein vier bei Statfjord-C. Über das Jahr verteilt waren es bereits zwanzig Tote. Lars war ein routinierter Taucher, mit seinen knapp fünfunddreißig Jahren erfahrener als die meisten Berufstaucher der staatlichen Ölbohrgesellschaft. Doch seit neuestem starben nicht mehr nur junge, unerfahrene Draufgänger, sondern auch alte Hasen. Und da das Nordmeer wohl kaum von einem Jahr aufs andere gefährlicher geworden war, konnten nur die Einsparungen der Gesellschaft für die vielen Toten verantwortlich sein.
Der Sikorsky-Hubschrauber befand sich im Landeanflug. Durch das Seitenfenster sah Lars die gelben Kräne und den riesigen weißen Rumpf der Plattform. Dahinter zeichnete sich fern am Horizont die Silhouette der Küstengebirge schwarz vor dem Dunkelblau des Morgenhimmels ab. Vom Nebel, der während dieser Monate oft dick über dem Nordmeer lag, fehlte heute jede Spur.
Nicht, dass das für Lars interessant war. In den Tiefen des Nordmeers war es zu jeder Zeit stockfinstere Nacht. Ohne Taschenlampen und die Scheinwerfer der Tauchschlitten war eine Arbeit dort unten nicht möglich.
Der Pilot setzte den Hubschrauber sehr sorgfältig und sanft auf die Landeplattform. Seufzend öffnete Lars die Schnalle des Sicherheitsgurts und stand auf. Das ständige Hintergrundgeräusch der Rotoren schwoll zu einem mächtigen Dröhnen an, als sein Tauchpartner Sven die Seitenluke aufschob und nach draußen sprang. Gemeinsam machten sie sich daran, die schweren, unförmigen Taschen mit ihrer Tauchausrüstung nach draußen zu schaffen. Sie bedankten sich kurz bei dem Piloten für den ruhigen Flug und schleppten ihre Gerätschaften in den Schwebegang, der die Plattform mit dem Rest der Station verband. Hinter ihnen heulten die Motoren des Helikopters auf. Durch ein Sichtfenster beobachtete Lars, wie der Sikorsky abhob und in Richtung Südwesten davonflog.
Abgeschnitten, dachte er. Dieses mulmige Gefühl empfand er immer, wenn er neu auf eine Station kam. Dieses Mal war keine Ausnahme.
Er hörte laute Schritte auf dem Gitterboden des Ganges und riss seinen Blick vom Fenster los. Ein Mann in Jeans, Pullover und offener, gelber Regenjacke kam ihnen entgegen. Sein Gesicht war glatt rasiert und wurde von langen, gepflegten grauen Haaren eingerahmt. Ihm folgten zwei Arbeiter, die unter der unvermeidlichen Regenjacke ölverschmierte Blaumänner trugen.
»Willkommen auf Statfjord-C!«, begrüßte sie der Mann. »Ich bin Erik Sundskogen, technischer Leiter dieser Station.«
Die beiden Taucher stellten sich vor, während sie ihm die Hand schüttelten. Anschließend führte sie Erik durch den Schwebegang zum Lift. Die beiden Arbeiter folgten ihnen, die schwere Ausrüstung der Taucher schleppend.
»Wie war der Flug?«, fragte der Ingenieur, während sie auf die Kabine des Aufzuges warteten.
»Ruhig«, antwortete Sven. »Sehr schönes Wetter heute.«
»Ihr1 kommt von der Odin?«
»Ja.«
Die Türen des Lifts öffneten sich, und sie stiegen ein. Während sie nach unten in den Bauch der Station fuhren, konnte sich Lars ein Lächeln nicht verkneifen. Obwohl der Ingenieur lange Haare und legere Kleidung trug, sprach er die polierte und rhetorisch geschulte Sprache eines Managers. Damit stand er im massiven Gegensatz zu Sven, der mit seinen wild vom Kopf abstehenden Dreadlocks, den schmuddeligen Jeans und der alten zerschlissenen Armeejacke aussah wie aus irgendeiner Kommune entlaufen.
Den Ingenieur schien Svens Äußeres jedoch kaum zu beeindrucken – natürlich nicht, denn Taucher waren unter den Besatzungen der Ölplattformen schon immer als Exzentriker verschrien, und Sven war kaum das wildeste Beispiel dafür. Tauchern haftete der Mythos eines gewissen Heldenmutes an. Wie die Dinge zurzeit standen, war diese Heldenverehrung nicht einmal ganz unberechtigt. Der Gedanke ließ Lars erschaudern.
Nachdem Erik sie durch ein Labyrinth aus gleichartigen, monotonen Gängen geführt hatte, erreichten sie schließlich einen Konferenzraum. Dort warteten schon mehrere Techniker auf sie, die der Ingenieur der Reihe nach vorstellte. Lars vergaß die Namen sogleich wieder. Er hatte noch nie ein Talent für Namen gehabt, und außerdem waren seine Gedanken schon mit dem bevorstehenden Tauchgang beschäftigt. Nachdem sie sich gesetzt hatten, bot ihnen der Ingenieur ein Frühstück an. Sven nickte wortkarg.
»Für mich bitte nur einen Kaffee«, meinte Lars. Vor der Arbeit aß er nie. Er hasste das Gefühl, mit vollem Bauch im Taucheranzug zu stecken. Außerdem hatte er sich einmal die Maske vollgekotzt, weil er frühmorgens unbedingt die Reste der Pizza vom Vorabend hatte essen müssen. Er wäre damals beinahe erstickt – seitdem tauchte er nüchtern.
Erik gab die Bestellung an einen der Arbeiter weiter. Nachdem die beiden Taucher versorgt waren, kam er schnell zur Sache: »Vor zwei Tagen registrierten wir um 0:32 Uhr ein Seebeben der Stärke drei auf der Richterskala. Ab diesem Zeitpunkt begann die Station, instabil zu werden. Ihr spürt das Schwanken, wenn ihr darauf Acht gebt.«
Er wartete, sah sie auffordernd an. Lars nickte nachdenklich. Nun, da Erik es erwähnt hatte, war es tatsächlich zu spüren.
»Stärke drei kann doch einer Plattform nichts ausmachen!«, erwiderte Sven.
»Das dachten wir auch, aber die Tatsachen sehen anders aus. Jedenfalls habe ich sofort veranlasst, die Bohrer zu stoppen. Unsere Pumpen stehen still.«
Er wartete für einen kurzen Moment, und Lars war sich fast schon sicher, dass nun ein Satz »Ich muss euch kaum erzählen, welche Kosten hier für die Gesellschaft entstehen!« folgen würde.
Doch Erik ersparte ihnen einen solchen Kommentar. Er sprach weiter, nun jedoch nicht mehr mit der Touristenführer-Stimme, sondern ernster, hörbar bedrückt: »Laut den Geräten liegt das Problem an der Nordwest-Säule, die Nummer drei. Ich habe gleich ein Team nach unten geschickt, um sich die Sache einmal anzusehen.« Sein Blick ging zu Boden. Lars war schon fast klar, was nun kommen würde. »Der Kontakt ist zu beiden Tauchern abgerissen, beinahe gleichzeitig. Wir haben keinen Notruf bekommen, nichts. Sie waren auf einmal – weg.«
»Was ist mit den Schlitten?«, fragte Sven scharf.
Lars’ Kollegen war einmal bei einem Tauchgang der Schlitten mit sämtlichem Arbeitsgerät durchgegangen, zum ungünstigsten Zeitpunkt, der möglich gewesen war: Sven war gerade dabei gewesen, sich das Schweißgerät anzulegen, als der Schlitten plötzlich mit voller Kraft angefahren war und ihn in die Tiefe gezerrt hatte. Sven hatte sich mit größter Mühe losgeschnitten; wenn es ihm nicht gelungen wäre, hätte ihn der Unfall das Leben gekostet. Seitdem misstraute er den Tauchgefährten und vermied sie, wann immer es ging.
»Sie sind intakt«, antwortete Erik, »und senden immer noch ihre regulären Peilzeichen. Ich habe daraufhin die zweite Schicht geweckt und sie hinuntergeschickt.«
Lars nickte grimmig. Seit den neuesten Sparmaßnahmen der Gesellschaft gab es nur noch zwei Tauchteams auf jeder Bohrinsel. Da über den Tag verteilt immer wieder Tauchgänge anfielen, konnte so nicht ständig ein Reserveteam bereitstehen. Erik war hier jedenfalls kein Vorwurf zu machen.
»Es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis die beiden Taucher so weit waren.«
Auch das war eine normale Zeitspanne. Taucher in hundert Metern unter der Wasseroberfläche benötigten einen besonderen Druckschutz. Es dauerte eine Weile, bis man in die speziellen Anzüge geschlüpft war. Und natürlich kostete es auch wertvolle Minuten, bis die Psyche eines Mannes von Tiefschlaf auf Tauchklar! geschaltet hatte.
»Mit Hilfe der Peilzeichen haben sie die Schlitten problemlos gefunden, aber von den Männern selbst gab es keine Spur. Ich habe angeordnet, die Kameras an den Schlitten auf Dauerbetrieb zu stellen und die Taucher etwa eine halbe Stunde lang suchen zu lassen. Dann habe ich abbrechen lassen und sie zu dem Schaden geschickt. Was dann kam, ist für mich völlig unverständlich, aber vielleicht versteht ihr das als Taucher besser als ich. Wenn ihr mit dem Frühstück fertig seid, könnt ihr euch in der Zentrale die Aufzeichnungen ansehen.«
»Wir sind so weit«, meinte Sven, dessen Heringsschnitte kaum angerührt war.
Kein gutes Zeichen, befand Lars. Sein Kollege war normalerweise ein guter Esser, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Das Einzige, was ihn davon abhalten konnte, war eine durchsoffene Nacht. Doch erstens war das schon seit Jahren nicht mehr passiert, und zweitens wusste Lars zufälligerweise ganz genau, dass Sven am Vortag nichts getrunken hatte. Sie waren mit den Kollegen auf der Odin im Videoraum gewesen und hatten gemeinsam einen Actionfilm aus der Videothek der Plattform angesehen.
Sven hatte nicht etwa keinen Hunger, weil er einen Kater hatte. Er hatte Angst.
Sie schwiegen, während sie der Ingenieur in den Kontrollraum brachte. Lars spürte das leichte Schwanken der Bohrplattform nicht mehr, dafür befanden sie sich nun zu tief in der Station. Dafür spürte er umso deutlicher, wie auch in ihm selbst die Nervosität wuchs. Dass ein einzelnes Tauchteam verschwand, war schon oft passiert. Einmal hatte er selbst nach einem solchen Unfall die Leichen bergen müssen, damals noch mit seinem früheren Kollegen Albert, der inzwischen mit einem Hirnschaden in einem Heim für Schwachsinnige lebte. Lars hatte jedoch noch nie davon gehört, dass hintereinander gleich zwei Teams verlorengingen. Er hielt es für leichtsinnig, nun noch ein drittes hinunterzuschicken, ohne zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen einzuleiten.
Schließlich erreichten sie die Tauchzentrale. Sie befand sich in einem der untersten Stockwerke, nahe dem Taucherlift und einer Gitter-Anlegestelle für kleinere Motorboote. In einem Nachbarraum befand sich die Druckausgleichskammer, die für Tauchunfälle benötigt wurde.
Die Zentrale war kleiner als die der Odin, ansonsten jedoch genauso aufgebaut. Auf einer Seite befand sich eine Reihe von Bildschirmen über einem großen Kontrollpult. Darunter surrten zahlreiche Rechner leise vor sich hin. Auf der anderen Seite befanden sich große Aktenschränke, in denen vermutlich auch das allerletzte Baudetail der Bohrplattform verzeichnet war. Ein blondes Mädchen und eine dunkelhaarige ältere Frau mit Kopfhörern saßen auf Drehstühlen. Sie nickten ihnen zu, als sie eintraten. Die Ältere nahm den Kopfhörer ab.
»Irgendetwas Besonderes?«, fragte Erik.
Sie schüttelte den Kopf, zeigte auf zwei flimmernde Bildschirme. »Wir registrieren immer noch Peilzeichen von drei der vier Schlitten, aber wir bekommen weder Kamerabilder noch Funkkontakt.«
»Scheiße«, murmelte Sven. Lars nickte.
»Was ist mit dem vierten Schlitten?«, fragte Erik.
Die Frau zuckte mit den Schultern.
»Kannst du die Aufzeichnungen vom letzten Tauchgang abspielen?«
»Natürlich.«
Die Frau nahm zwei Videokassetten vom Pult und legte sie in entsprechende Rekorder. Ihre Kollegin drehte sich auf dem Drehstuhl herum und wandte sich ab, als die Monitore aufflackerten – Lars fragte sich, ob aus Horror oder nur, um nicht in ihrer Konzentration gestört zu werden.
Die beiden Aufnahmen waren völlige Routine. Lars hatte solche Bilder schon Dutzende Male gesehen, wenn er als Reserveschicht einen Tauchgang beobachtet hatte. Die Kamera des Führungstauchers zeigte die monströse Betonsäule, an der sie entlang auf Tiefe gingen, während die des Hintermannes auf den Vordermann gerichtet war. Er trug einen roten Taucheranzug, Flossen in der gleichen Farbe und auf dem Rücken zwei neongelbe Sauerstoffflaschen. Mit den Armen hielt er sich an seinem Tauchschlitten fest, dessen Schraube nur als undeutliches Flackern zu erkennen war. Eine rote Sicherungsleine war an seinem Gürtel befestigt und verschwand nach oben.
»Hatte die erste Gruppe Sicherungsleinen?«, fragte Sven.
Die Frau schüttelte den Kopf.
Die vorbeiziehenden Markierungen an der Säule ließen Lars darauf schließen, dass sich die beiden Taucher nicht beeilt hatten. Man konnte zwar auch schneller, direkter runtergehen, doch das erhöhte die Gefahr eines Tiefenrauschs. Kein Wunder, dass die Kollegen bei einem so gefährlichen Tauchgang kein Risiko eingehen wollten.
Nicht, dass es ihnen etwas genutzt hätte … Lars fröstelte.
Die Lautsprecher gaben ein einzelnes, schnell auf- und abschwellendes Geräusch aus – wischwischwischwischwisch –, das von den Schrauben der Tauchschlitten stammte. Immer wieder war ein fernes, metallenes Ächzen zu hören, das vermutlich mit dem Schwanken der Station zusammenhing.
Erik ließ vorspulen, bis zu der Stelle, an der die Taucher auf die Tauchschlitten ihrer Vorgänger stießen. Offenbar waren beide noch völlig in Ordnung. Die Kameras waren zum Zeitpunkt des … Vorfalls … jedoch abgeschaltet gewesen, so dass es vom ersten Team keine Aufnahmen gab.
»Die Taucher haben eine halbe Stunde lang herumgesucht«, erklärte Erik, während er erneut auf Schnelldurchlauf schalten ließ, »und nichts gefunden. Wir spulen vor, bis sie tiefer runtergehen.« Als die Taucher das Seebett erreicht hatten, schaltete die Technikerin wieder auf normale Geschwindigkeit.
Das Licht des Scheinwerfers fiel auf den Meeresgrund. Alle Ausleger der Säule waren entweder abgebrochen oder aus dem felsigen Boden ausgerissen. Damit war zu rechnen gewesen, wenn die Station schwankte, Lars hatte das selbst schon mehrmals gesehen. Wenn eine Säule ihre Quersicherungen verlor, konnte sie sich in ihrem Bohrkanal leicht nach oben und unten bewegen, wenn der Seegang nur stark genug an der Plattform riss. Was er jedoch noch nie gesehen hatte, war das, was mit dem Loch selbst passiert war.
Aus einem engen, exakt an die Stahlsäule angepassten Bohrloch war eine Art unförmiger Tunnel geworden. Das Gestein schien einfach aus dem Boden gerissen und in der Umgebung verstreut worden zu sein.
»Mich laust der Affe!«, murmelte Sven.
Erik sah sie eindringlich an. »Habt ihr so etwas schon einmal gesehen?« Beide schüttelten den Kopf.
»Sieht aus wie gesprengt«, überlegte Lars laut.
»Davon hätten wir etwas mitbekommen«, meinte Erik.
»Habt ihr doch«, warf Sven ein. »Du hast doch von einem Seebeben erzählt, oder?«
»Eine Sprengung hört sich ganz anders an als ein Seebeben. Außerdem – wer sollte da unten sprengen?«
»Die Ökoterroristen von Greenpeace vielleicht?«, meinte Sven ironisch.
Die Taucher suchten etwa fünfzehn Minuten zwischen den Felstrümmern nach Spuren der beiden verschwundenen Kollegen. Dann war die Übertragung plötzlich beendet. Ein graues Flimmern ersetzte die Kamerabilder.
»Bjørn, Christoph, die Kameras sind tot!«, erklang die alarmiert klingende Stimme Eriks vom Tonband. »Was ist los?«
»#Keine Ahnung#«, kam mit einem Knacksen des Funkgeräts die Antwort.
»Das ist Björn«, kommentierte Erik.
»#Ich kriege so ein beschissenes Gefühl#«, murmelte eine andere Stimme, ebenfalls knacksend, bei der es sich wohl um Christoph handelte.
»#Ich glaube, da ist etwas …#« Bjørns Stimme. »#Da ist irgendetwas in diesem Loch!#«
»# Was machst du denn?#«, fragte Christoph. »#Du kannst doch nicht da hinein! Warte!#«
»#Ich glaube, da ist etwas drinnen! Etwas Rotes … Könnte ein Taucheranzug sein.#«
Die Diskussion wurde hektischer. »#Du bleibst da drin stecken, das ist viel zu eng!#«
»#Ach, das geht schon. Wenn ich das Tauchgerät vom Rücken nehme, dann passe ich hinein. Das Gerät ziehe ich hinter mir her!#«
»Brecht den Tauchgang ab!«, befahl Erik.
»#Du hörst, was der Boss sagt!#«, fügte Christoph hinzu.
»#Das dauert doch nur ein paar Minuten.#«
Es entstand eine längere Pause. Lars sah den Schweiß auf Svens Stirn stehen. Er selbst spürte sein Herz hart gegen seine Brust schlagen. Seine Hände hatten sich krampfartig um die Stuhllehne verkrallt und begannen zu schmerzen.
»#Er geht jetzt hinein.#« Christophs Stimme klang resignierend. Und kurz darauf: »#Bjørn, alles klar?#«
Eine Pause entstand. Sie zog sich in die Länge.
Bjørn meldete sich schließlich doch noch: »#Das ist so verdammt eng! Du###« Und dann störte das Funkgerät. »####helfen müs### da rauszukommen.#«
»#Der Empfang wird schlechter#«, kommentierte Christoph.
Dann veränderte sich Bjørns Stimme plötzlich. Ein neuer Unterton lag in ihr – der Unterton des Entsetzens. »# Verdammte Schei####« Der Ausruf ging im Rauschen der Statik unter. »#Christoph, wir ##### weg hier! ##### müss#####«
Doch Christoph antwortete nicht. Lars blickte zu Erik. Der Mann war aschfahl geworden.
»#Christoph! ##### melde ##### Mach jetzt kein###### Zentrale, was ist ####« Die Panik war nun deutlich zu hören. »#Bitte ##### zieht mich#####« Bjørns Stimme überschlug sich, als er schrie: »#HIIIIL#######«
Die Übertragung brach ab.
Bedrücktes Schweigen erfüllte den Kontrollraum. Lars sah zu Sven, dessen Augen seine eigenen Gefühle widerspiegelten – Angst. Er dachte an seine Frau Birgit und seine beiden Töchter …
Das Geräusch der zurückspulenden Kassetten wirkte unnatürlich laut in der Stille des Kontrollraums. Erik setzte dazu an, etwas zu sagen, als die Plattform plötzlich heftig schwankte. Gegenstände fielen vom Kontrollpult zu Boden, die junge Blonde rollte auf ihrem Drehstuhl davon, und Lars stürzte gegen die Schränke hinter ihm. Der kurze Tumult, der daraufhin ausbrach, beruhigte sich schnell wieder, als eines der Telefone läutete. Eine Technikerin ging ran und gab den Hörer sogleich an Erik weiter. Während dieser sprach, bemerkte Lars, wie die Plattform weiter schwankte, bei weitem nicht mehr so stark wie gerade eben, aber dennoch spürbar. Was passierte hier bloß?
Erik legte wieder auf. Nachdenklich starrte er in die Runde. »Die Nummer zwei ist ebenfalls locker. Wenn hier nicht bald was geschieht, dann reißt sich die Station los oder kentert. Sven, Lars, ich will euch eigentlich nicht da hinunterschicken. Doch wie die Dinge stehen, bleibt mir gar keine andere Wahl. Irgendjemand muss herausfinden, was dort unten vor sich geht! Macht euch bereit.«
Er gab beiden noch einmal die Hand, dann verließ er eilig den Kontrollraum.
Als Viktor die Brücke des Seenotkreuzers verließ, zog ihm der Sturm beinahe die Tür aus der Hand. Heulend griffen die Windfinger nach seiner Regenjacke und versuchten, ihn von der Leiter zu zerren. Regen peitschte beinahe waagerecht aus tiefhängenden grauen Sturmwolken, gemischt mit Eiskristallen, denn zusammen mit dem Wettereinbruch war auch ein Temperatursturz gekommen. Viktor kämpfte sich die Reling entlang in das Heck des Schiffes, ständig auf der Suche nach nicht ordnungsgemäß befestigter oder verräumter Ausrüstung. Zum Glück für seine Mannschaft fand er keine, und so kehrte er trotz schwerer Regenjacke völlig durchnässt und deshalb übelgelaunt auf die Brücke zurück.
Mit ihm fuhr ein Windstoß durch die Tür und verteilte die Ausdrucke des Wettertickers im gesamten Raum. Einer seiner Männer, Karl, machte sich hektisch daran, die Zettel wieder aufzusammeln, bevor sie sich in den Pfützen am Boden vollsaugen konnten. Viktor stieß ein paar lästerliche russische Flüche aus, während er die Regenjacke auszog. Das Meer präsentierte sich prächtig durch die Sichtfenster – so aufgewühlt hatte der alte Kapitän das Nordmeer nur selten erlebt.
»Gib der Leitstelle Bescheid, dass wir die Patrouille abbrechen!«, befahl er seinem Stellvertreter Leif. »Wir waren jetzt lange genug da draußen, inzwischen sollten es sogar die langsamsten Kähne auf die Schleichwege geschafft haben!« Mit Schleichwegen meinte er die direkten Küstengewässer, die vom Rest des Nordmeers durch zahllose vorgelagerte Inseln abgeschnitten waren. Dort würde der Sturm viel weniger zu spüren sein.
Viktor nahm Karl die Papiere, die dieser gerade mühsam aufgesammelt hatte, aus der Hand und setzte sich auf seinen Kapitänssessel. Wütend blätterte er sie durch. Während sie sich in den einzelnen Daten geringfügig unterschieden, blieb die Aussage die gleiche: Eigentlich lag das Meer ruhig und sanft vor ihm, zwischen Schäfchenwolken schien die Sonne hindurch, und der Wind blies gerade mal stark genug, dass die Möwen nicht vor Langeweile vom Himmel fielen. Das Problem war einzig und allein, dass sich das Wetter einen feuchten Kehricht um den Wetterbericht scherte!
»Sehen diese Idioten im Wetterdienst eigentlich auch mal aus dem Fenster?«, schrie er wütend, den Papierstapel zur Seite wischend. »Sagt der Leitstelle, dass sie diese Wetterfrösche suspendieren sollen oder am besten gleich an die Wand stellen!«
Karl schnappte sich die Ausdrucke, bevor sie erneut zu Boden fielen. Währenddessen rief Leif über Funk nach der Leitstelle. Viktor nickte, zufriedengestellt. Seine Männer hatten schnell gelernt, dass ihr Skipper erwartete, dass seine Befehle immer ausgeführt wurden. Wenn Viktor seinen Männern sagte, sie sollten die Leitstelle anscheißen, dann war das nicht nur das Gemeckere eines Kommandanten, sondern tatsächlich eine Arbeitsanweisung. Andere Kommandanten hielten das vielleicht anders. Er hielt es so.
Leif begann, halblaut in das Funkgerät hineinzunuscheln.
»Die Leitstelle?«, fragte Viktor. Als Leif nickte, nahm er ihm kurzerhand den Hörer ab. Manche Dinge erledigte man am besten selbst.
»Hör mal, sind eure Wetterfrösche besoffen?«, schrie er, ohne sich zu melden. »Oder denkt ihr, es ist mal wieder Zeit, die Jungs auf den Booten zu verarschen? Schau mal aus dem Fenster und sag mir, wie man da einen solchen Wetterbericht ausgeben kann!«
Sein Gegenüber erkannte ihn natürlich sofort. Viktor war im gesamten Leitstellengebiet für seine permanente üble Laune bekannt, und das wusste er auch. »# Viktor, der Wetterdienst steht vor einem Rätsel#«, begann der Funker in beruhigendem Tonfall. »# Wir werden das besprechen, und dann werden wir sehen, ob die Jungs geschlafen haben oder nicht. Vorerst aber stehen sie ihre Schicht durch, genauso wie ich das hier am Funkgerät tun werde und du auf deinem Kahn. Bring ihn in einen der Fjorde, wenn du da draußen nasse Füße bekommst. Die meisten Schiffe in unserem Bereich sind schon wieder eingelaufen, und wer noch draußen ist, fährt auf den Schleichwegen. Also hör in Gottes Namen auf, Gift und Galle zu spucken!#«
»In Ordnung … aber wenn du dir den Wetterfrosch nicht krallst, der das versaut hat, werde ich es tun, verlass dich darauf.«
Damit unterbrach er die Verbindung. Sein Zorn hatte sich allerdings etwas beruhigt – die Aussicht, aus diesem Schweinewetter herauszukommen, war sehr verlockend. In Viktors Augen gab es nur wenige Momente, an denen Gott – oder wer auch immer für so was verantwortlich war – den Menschen spüren ließ, dass er nicht für das Meer bestimmt war, doch dies war so einer. Er war heilfroh, dass niemand da draußen in Gefahr war. Zum Glück tendierten viele Kapitäne dazu, sich lieber früher als später auf die Schleichwege zurückzuziehen, wenn ein Sturm aufzog. Kein Wunder, wenn man bedachte, wie viele Seelenverkäufer heute vor der Küste Norwegens unterwegs waren.
Um sein eigenes Schiff machte sich Viktor allerdings keine Sorgen. Es gab kaum ein Schiff, das so seetüchtig war wie ein Seenotkreuzer – außer einem U-Boot vielleicht, und das zählte nicht –, aber wenn er nun einen der vielen rostigen Frachter oder dünnhäutigen Tanker kommandieren würde, würde er auch lieber hinter dem Inselschutzwall Verstecken spielen, als sich diesen Elementen auszusetzen.
So aber konnte das Wetter fast noch Spaß machen! Eine kindische Jungenfreude befiel Viktor, während sich sein Schiff durch einen Brecher nach dem anderen fraß. Die Seen, die dabei in die Luft gewirbelt wurden, klatschten hart gegen die Sichtfenster der Brücke, so dass die Scheibenwischer kaum noch mit der Arbeit nachkamen. Der Kampf gegen die Elemente hatte fast schon etwas Heroisches, fand er. Er stauchte seinen Stellvertreter zusammen, als er bemerkte, dass der Angsthase direkten Kurs auf eine Lücke zwischen zwei Inseln gesetzt hatte, um sich auf einen Schleichweg zurückzuziehen. Stattdessen ordnete er an, nach Norden zu kreuzen, um wenigstens noch ein bisschen mehr von diesem Sturm zu erleben. Das war wirklich ein Wetter, das man nicht alle Tage erlebte!
Er stand auf, weil ihm das ständige Hin- und Hergerutsche auf dem Stuhl auf die Nerven ging. Lieber balancierte er die Höhen und Tiefen des Seegangs in den Knien aus. Auf der Seekarte deutete er für Leif mit dem Finger einen Kurs an, den er einschlagen sollte. In dem ruhigen Gewässer des Fjords konnten sie dann in aller Ruhe das letzte Stück nach Bergen gondeln.
»Ich mache noch einmal’nen Rundgang!«, meinte Viktor und griff nach seiner Regenjacke.
Grinsend trat er nach draußen in das Wetter, wohl wissend, dass sich seine Männer hinter seinem Rücken vielsagend an die Stirn tippen würden. Sofort griff der Sturm nach ihm. Viktor hielt sich eng an den Wänden, um nicht vollends von den Böen erfasst und davongeblasen zu werden. Die Temperatur war eisig. Mühsam arbeitete er sich nach vorn zum Bug und war fasziniert davon, dass das meiste Spritzwasser, das der Bug aus den Wellen riss, über seinen Kopf hinweg gegen die Vorderaufbauten und die Brücke des Schiffs schoss.
»Mensch, alter Wladimir, das hättest du dir nie träumen lassen, dass dein Sohn einmal ein echter Wikinger wird, was?«, rief er laut in den Sturm. Sein Vater stammte aus der russischen Hafenstadt Murmansk und war vor einem halben Jahrhundert über die Grenze nach Norwegen geflohen. Viktor war äußerst stolz darauf, dass er es nur eine Generation später geschafft hatte, einen angesehenen Posten als Schiffskommandant in der Küstenwache zu ergattern. Natürlich war er trotzdem Russe, wenn nicht dem Ausweis, dann zumindest dem Blute nach, doch in diesem Augenblick wusste er, was die alten Norweger dazu gebracht hatte, in diese trostlose Fjordlandschaft zu ziehen und zu Seeleuten zu werden.
»Käptn!«
Der Schrei riss Viktor aus seinen Gedanken. Wer wagte es –
»Käptn, Funkspruch!«
Seine üble Laune kehrte zurück. Warum verstanden es seine Männer nicht, wenn ein Mann einmal alleine sein wollte? Dieser eine Augenblick im Bug des Seenotkreuzers war so gut gewesen … Wütend stapfte er zurück zu seiner Brücke.
»Was?«, meinte er, als er zur Tür hereinkam, doch das Wort war mehr Fluch als Frage. »Hätte das nicht noch fünf Minuten Zeit gehabt?«
Leif hielt ihm wortlos die Funkkladde hin.
Zwei Worte waren darauf zu lesen:
NOTRUF – STATFJORD C
Viktor fiel die Kinnlade nach unten. Unmöglich! Er versuchte, im Blick seines Stellvertreters irgendwelche Ironie zu entdecken, ein Anzeichen darauf, dass der Mann einen Scherz machen wollte. Ha, er würde ihm das Fell über die Ohren ziehen … Doch er musste bestürzt feststellen, dass in der Miene des Mannes keine Spur davon zu erkennen war.
»Kursänderung!«, befahl er. »Neues Ziel: Statfjord-3! Wir fahren einen so direkten Kurs wie irgend möglich!« Dann griff er nach dem Bordsprechgerät und wählte den Maschinenraum. »Maschinen: zwei Mal Volle Kraft voraus!«
Er sank nachdenklich in seinen Sessel. Das ständige Rollen war in Vergessenheit geraten. Sein Seenotkreuzer war für Schiffsbesatzungen ausgelegt, nicht für die komplette Crew einer Bohrinsel. Wie viele Männer über dem Höchstlimit er wohl aufnehmen konnte? Und vor allem: Wie sollte er bei diesem Mistwetter, bei diesem Seegang überhaupt irgendjemanden retten?
»Zentrale, kann es sein, dass der Sturm schlimmer wird?«, fragte Lars nach oben. »Wir spüren die Seebewegung bis hier herunter!« Entweder es gab hier seit neuestem eine Strömung, die vorher noch niemand entdeckt hatte, oder das Meer war wegen irgendetwas sauer. Ziemlich sauer.
»#Sturm, Lars?#«, fragte die Stimme Eriks. »#Sturm ist gar kein Ausdruck! Sieht so aus, als ob Poseidon persönlich auf einen Besuch vorbeischauen wollte! Wenn wir nicht solche Probleme mit unserer Statik hätten, wär’s ein tolles Schauspiel. Aber solange wir das nicht in den Griff kriegen …#«
»#Könnte der Sturm die Station aus der Verankerung reißen?#«, fragte Sven, seine Stimme durch das Funkgerät genauso entrückt wie die Eriks oben im Kontrollraum, obwohl er keinen Meter weit von Lars entfernt war.
Nachdem sie gerade festgestellt hatten, dass auch die Standsäule 2 ausgegraben war, fand Lars diese Überlegung gar nicht so abwegig – ein Sturm und zwei lose Säulen konnten nicht gut sein für die Statik einer Bohrinsel. In der Geschichte der norwegischen Ölförderung waren bereits zwei Bohrplattformen ausgerissen worden, die Bravo und die Alexander Kielland …
Er war dennoch erschüttert, als Erik Svens Frage bejahte: »# Wenn wir viel Pech haben … Ein Seenotkreuzer ist jedenfalls unterwegs. Ich hoffe trotzdem, dass ihr beiden vielleicht herausfinden könnt, was da unten eigentlich passiert ist! Vielleicht können wir so das Schlimmste vermeiden.#«
»# Verstanden!#«, bestätigte Sven.
Lars war in seinem Taucheranzug schweißgebadet vor Angst. Vor allem nun, da sie zu Standsäule 3 unterwegs waren, wo dieser Bjørn aus der letzten Schicht seine grausige Entdeckung gemacht hatte – und wo er zusammen mit seinem Gefährten verschwunden war. Er wusste, dass es Sven nicht anders erging. Als sie für ein paar Minuten allein gewesen waren, während sie ihre Anzüge angelegt hatten, hatte Sven davon gesprochen, den Tauchgang zu verweigern. Lars hätte ihm gerne zugestimmt … doch es war klar, dass sie das nicht nur die Anstellung gekostet hätte. Die Company hätte schon dafür gesorgt, dass sie in ganz Norwegen keinen Job mehr als Taucher bekommen würden.
So waren sie den Weg des vermeintlich kleineren Übels gegangen – auch wenn Lars diese Entscheidung nun bereute.
Immerhin waren sie komplett ausgerüstet. Erik hatte dafür gesorgt, dass trotz der Personalkürzungen unter den Tauchern alle sechs Tauchschlitten der Station weiter gewartet worden waren. So konnten sich Lars und Sven von den Fahrzeugen ziehen lassen und sich ihre Kraft sparen. Für was eigentlich? fragte sich Lars mit wachsender Furcht – und die Leute in der Zentrale bekamen Bilder der Schlittenkameras.
Wir sind zu ihrem ganz privaten Fernsehprogramm geworden, dachte er bitter. Ein Thriller in noch nie da gewesener Realitätsnähe! Happy End nicht zwingend vorgesehen …
Schweigend tauchten sie weiter durch die Finsternis. Das Seebett war übersät mit Felsentrümmern, die aus den Bohrlöchern der Standbeine gebrochen waren. Darüber stand eine etwa einen Meter starke Schicht aus feinem Sand, der vom unterseeischen Seegang hin- und hergetrieben wurde. Lars fragte sich, wie sie mit all dem aufgewirbelten Schmutz etwas in diesem Loch von Standbein 3 entdecken sollten. Eines war jedoch klar: Wenn irgendjemand von ihm verlangen würde, das Tauchgerät vom Rücken zu nehmen und in dieses Loch zu kriechen, würde er kündigen, sofort und auf der Stelle. Er hatte seinen Mut bewiesen, als er den Tauchgang akzeptiert hatte – alles, was darüber hinausging, war blanker Wahnsinn!
»#Sven, Lars, die Kameras sind tot!#« Eriks Stimme war eisig.
An Panik grenzende Angst befiel Lars. Doch auf diese Situation war er vorbereitet, auch darüber hatte er mit Sven gesprochen, als sie sich auf den Tauchgang vorbereitet hatten. Deshalb zitterte Lars’ Stimme auch nur ein wenig, als er antwortete: »Wir brechen den Tauchgang ab. Zentrale, wir tauchen auf.«
»#Aber Lars –#«, entgegnete Erik.
»Wir brechen den Tauchgang ab. Sven?«
»# Wir tauchen auf#«, bestätigte sein Partner.
Lars steuerte den Tauchschlitten nach oben. Nur mühsam gelang es ihm, sich zu beherrschen, nicht überhastet und übereilt aufzutauchen – das würde Taucherkrankheit und bei einer solchen Tiefe den fast sicheren Tod bedeuten. Stattdessen regulierte er die Geschwindigkeit des Schlittens sogar etwas nach unten.
Die Fahrt zog sich in die Länge. »Zentrale, was macht das Wetter?«, fragte er, um sich nicht gar so schrecklich alleine zu fühlen.
»#Es sieht nicht gut aus#«, antwortete Erik. »# Wind und Wellen kommen direkt von Westen.#«
Und Nummer 2 und 3 lagen auf der Westseite der Station …
»Ziemlich wackelig da oben, was?«
»#Das könnt ihr aber annehmen … Der Vergleich mit einem Rodeoritt ist zwar etwas übertrieben, aber …#« Er beendete den Satz nicht. Es war auch nicht nötig, Lars verstand ihn auch so.
»Vielleicht doch ganz gut, dass ihr den Seenotkreuzer bestellt habt!«
Die Zentrale antwortete nicht.
Lars wurde siedendheiß bewusst, dass Erik vorhin keineswegs den Satz offen gelassen hatte – die Verbindung war abgerissen!
»Zentrale?«, fragte er, um sich zu vergewissern. »Zentrale!«
Keine Antwort.
»Jetzt aber schnell!«, rief er und drehte die Geschwindigkeit nach oben. Taucherkrankheit hin oder her.
Er blickte sich um, um zu sehen, ob Sven zurückfiel.
Das Blut gefror in seinen Adern.
Da war kein Sven. Keine Spur von seinem Gefährten. Nicht einmal der Tauchschlitten mit seinen Scheinwerfern war zu sehen.
Und Lars wusste mit plötzlicher Gewissheit, dass er die Wasseroberfläche nicht mehr erreichen würde.
In diesem Moment schoss ein Strahl Wasser in seine Maske. Der Schreck ließ ihn instinktiv einatmen. Der Schmerz war höllisch, als sich das Salzwasser in seine Lungen fraß. Die Panik war nicht mehr aufzuhalten. Der Tauchschlitten glitt lautlos davon, während Lars in der zunehmenden Finsternis mit hektischen Bewegungen nach dem abgerissenen Schlauch seiner Sauerstoffflasche suchte.
Viktor war fassungslos. Der Sturm hatte sich beinahe ebenso schnell wieder beruhigt wie er aufgezogen war. Was jedoch noch weitaus unglaublicher war als der Sturm selbst war die absolute Ruhe, in die das Meer nun verfallen war. Die Wasseroberfläche war spiegelglatt, wie mit dem Lineal gezogen. Eine absolute Flaute, eine der tödlichsten Gefahren, die einem Segler drohte.
Der Seenotkreuzer war jedoch kein Segler und schoss deshalb mit fast 30 Knoten auf sein Ziel zu. Viktor fand es geradezu unheimlich, so weit auf hoher See zu sein, ohne den Seegang in den Beinen zu spüren.
Was ebenfalls unheimlich war, war die Tatsache, dass die Bohrplattform nicht auf dem Radar zu entdecken war. Dass sie sich nicht mehr über Funk meldete, war nicht allzu merkwürdig, es wäre nicht das erste Mal, dass ein Unwetter die Funkantennen einer Plattform verbog. Doch das Radar seines Schiffes war in Ordnung, zumindest behaupteten das seine Techniker, eigentlich müsste die Plattform zu sehen sein …
Ihm blieb lediglich übrig, auf die in den Karten verzeichnete Position von Statfjord-C zuzuhalten. Den bisher gelaufenen Kurs hatte er selbst in die Karte eingezeichnet, und so glaubte er – trotz des wohl recht großen Fehlers aufgrund des Sturms – die Plattform nicht verfehlen zu können. Zudem eine solche Bohranlage kaum zu übersehen war.
Laut Leitstelle waren inzwischen auch Flugzeuge gestartet. Sie hatten sich die erste Viertelstunde nach Aussetzen des Sturmes nicht in die Luft getraut und würden noch ein paar Minuten brauchen, bis sie eintreffen würden. Bis dahin würden die Männer, die Viktor mit Ferngläsern ausgerüstet auf den Balkon vor die Brücke befohlen hatte, Ausguck spielen müssen. Wenn modernste Funk- und Radartechnik versagte, musste man eben auf einfache – und tausendfach bewährte – Methoden zurückgreifen.
Einer dieser Ausgucks war es auch, der den Kapitän auf den Ölteppich aufmerksam machte. Viktor ließ sofort darauf zusteuern.
Der Seenotkreuzer lief näher heran und schließlich hinein. Viktor traute kaum seinen Augen. Der Ölteppich war so dick, dass die schwarze, schmierige Brühe beinahe über die Bordwand schwappte. Die von den beiden Schiffsschrauben aufgewühlte Hecksee war kaum zu erkennen, nicht einmal, als er sich über die Reling lehnte. Ihm war klar, woher dieses Öl stammte. Das Ölfeld, das 4000 Meter unter dem Kiel seines Schiffes lag, war leck geworden, vermutlich sogar an mehreren Stellen, und sprudelte nun ungehindert und unkontrolliert an die Oberfläche. An diesem Tag lernte Viktor ein Gefühl kennen, das er noch nie zuvor empfunden hatte: Er fühlte sich klein und unbedeutend, während sein Schiff durch einen Ölfleck von gigantischen Ausmaßen pflügte, auf der Suche nach einem knapp 650 000 Tonnen schweren Stahlungetüm von einer Bohrinsel.
Als aus heiterem Himmel der Sturm erneut mit voller Macht losbrach, traf er die Crew des Seenotkreuzers völlig unvorbereitet.