Als Ravensburger E-Book erschienen 2017
Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH
© 2017 Ravensburger Verlag GmbH
Titel der Originalausgabe: The School for Good and Evil. The Last Ever After.
Textcopyright 2015 © Soman Chainani
Cover and map illustration copyright © 2015 Iacopo Bruno
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Garbsen.
Übersetzung: Ilse Rothfuss
Lektorat: Ulrike Schuldes
Umschlag: Iacopo Bruno
Lettering: Raffaela Schütterle
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.
ISBN 978-3-473-47809-5
www.ravensburger.de
In einem tiefen, dunklen Tann
Liegt eine Schule wundersam.
Die Schule für Gut und Böse.
Zwei Türme wie Zwillingsköpfe,
Einer für die Reinen,
Einer für die Gemeinen.
Es gibt kein Entrinnen,
Der Wald ist ein Graus,
Nur durch ein Märchen
Find’st du hinaus.
Wie hätte Sophie nicht an ihrer wahren Liebe zweifeln sollen, da sie ja nicht einmal wusste, ob ihr Auserwählter jung oder alt war?
Er sieht definitiv jung aus, dachte sie, den Blick auf den schlanken Jungen gerichtet, der mit nacktem Oberkörper am Fenster stand und ihr den Rücken zukehrte. Blasses Sonnenlicht hüllte ihn ein. Sophies Blick glitt über seine makellose Alabasterhaut, die feine schwarze Kniehose, den stacheligen Haarschopf, so weiß wie frisch gefallener Schnee, die sehnigen Arme, die gletscherblauen Augen. Er sah keinen Tag älter aus als sechzehn. Und trotzdem besaß dieser schöne Fremde eine Seele, die viel, viel älter war – unendlich viel älter. Deshalb hatte Sophie seinen Ring hartnäckig zurückgewiesen. Wie konnte sie einen Jungen heiraten, der den Schulmeister in sich trug?
Aber je genauer sie ihn ansah, desto weniger erkannte sie den mächtigen Zauberer in ihm. Er war nur ein netter Junge, der um ihre Hand anhielt – schöner und mächtiger als jeder Prinz. Und im Gegensatz zu einem gewissen anderen Prinzen gehörte er ihr.
Sophies Gesicht verdüsterte sich. Sie war jetzt ganz allein. Alle hatten sie verlassen. Und dabei hatte sie sich solche Mühe gegeben, gut zu sein. Aber was war der Dank dafür? Nichts als Verrat hatte sie geerntet. Sie hatte keine Familie, keine Freunde, keine Zukunft. Der schöne Junge vor ihr war ihre letzte Hoffnung auf Liebe. Ihr blieb keine andere Wahl mehr. Sophie schluckte und trat langsam zu ihm.
Sieh ihn dir doch an: Er ist nicht älter als du, redete sie sich ein. Er ist der Prinz deiner Träume. Sie streckte ihre zitternden Finger nach seiner Schulter aus, erstarrte jedoch mitten in der Bewegung. Nur die dunkelste Magie hatte den Schulmeister ins Leben zurückgebracht. Schaudernd zog sie ihre Hand zurück. Doch wie lange hielt diese Magie vor?
»Du stellst dir die falschen Fragen«, sagte eine ruhige Stimme. »Magie schert sich nicht um Zeit und Raum.«
Sophie hob den Blick. Der Junge sah nicht sie an, sondern starrte in die fahle Sonne, deren Licht kaum den Morgennebel durchdrang.
»Seit wann kannst du meine Gedanken lesen?« Sophie schluckte.
»Das muss ich gar nicht«, erwiderte er. »Ich weiß genau, wie Leser denken.«
Sophie trat in ihrem schwarzen Cape neben ihn und fröstelte in der eisigen Kälte, die seine marmorweiße Haut ausstrahlte. Sie dachte an Tedros, an seine warme goldene Haut, und ihr wurde plötzlich heiß. War es Wut oder Enttäuschung – oder beides? Widerstrebend trat sie einen Schritt näher, bis ihr Arm die bleiche Brust des Jungen streifte, der sie immer noch nicht ansah.
»Was ist?«, fragte Sophie.
»Die Sonne …« Er schaute auf das fahle Flimmern im Nebel. »Ihr Licht wird von Tag zu Tag schwächer.«
»Schade, dass du nicht die Macht hast, die Sonne scheinen zu lassen«, murmelte Sophie. »Dann wäre jeder Tag ein Fest.«
Der Junge warf ihr einen bösen Blick zu. Sophie erstarrte. Im Gegensatz zu ihrer einst besten Freundin war ihr neuer Prinz weder gut noch freundlich. Sie sah schnell wieder zum Fenster und zitterte im eisigen Wind. »Und außerdem ist die Sonne im Winter doch sowieso immer schwächer. Um das zu wissen, braucht man keinen Hexenmeister.«
»Aber vielleicht einen Leser, der es erklären kann.« Der Junge lief zu dem weißen Steintisch in der Ecke. Eine lange, blitzende Feder, die wie eine Stricknadel geformt war, schwebte über einem offenen Märchenbuch. Sophie drehte sich um und ihr Blick fiel auf die letzte Seite – auf ein Bild von ihr, wie sie den Schulmeister jungküsste, während Agatha mit ihrem Prinzen nach Hause entschwand.
ENDE
»Drei Wochen sind schon vergangen, seit der Storiker unser Ende besiegelt hat«, sagte der Junge. »Er hätte längst eine neue Geschichte anfangen müssen, diesmal mit der Liebe auf der Seite des Bösen. Mit einer wahren Liebe, die den Storiker in eine Waffe des Bösen verwandelt statt in einen Fluch.« Seine Augen wurden schmal. »Und was macht er? Klappt das Buch wieder auf, das er gerade geschlossen hat, und rührt sich nicht mehr. Schwebt über dem ENDE wie bei einem Theaterstück, über dem sich der Vorhang nicht schließen will.«
Sophie konnte den Blick nicht von Agatha und Tedros abwenden, die sich auf dem Bild zärtlich im Arm hielten. Es schnürte ihr die Kehle zu. »Hier«, krächzte sie und schlug den Buchdeckel über dem Liebespaar zu, dann stellte sie das kirschrote Märchenbuch neben »Froschkönig«, »Rapunzel«, »Aschenputtel« und all die anderen Märchen, die der Storiker beendet hatte, ins Regal.
Das Buch flog sofort wieder heraus, knallte ihr ins Gesicht und schleuderte sie an die Wand, dann zischte es auf den Steintisch zurück und blätterte sich wieder auf der letzten Seite auf. Der Storiker blitzte boshaft darüber.
»Das war kein Zufall.« Der Junge stolzierte zu Sophie, die sich ihre brennende Wange rieb. »Der Storiker hält unsere Welt am Leben, indem er neue Geschichten schreibt, und wie du siehst, weigert er sich, deine Geschichte abzuschließen. Aber solange die Feder keine neue Geschichte beginnt, stirbt die Sonne, bis es dunkel wird im Wald, und das würde für uns alle das Ende bedeuten.«
Sophie sah den Jungen an, der im trüben Licht vor dem Fenster stand. »Aber … aber worauf wartet der Storiker?«
Er beugte sich vor, um ihren Hals zu berühren, und legte seine eisigen Finger auf ihre zarte Pfirsichhaut. Sophie wich zurück, bis sie gegen das Regal stieß. Lächelnd kam der Junge auf sie zu. »Ich fürchte, er bezweifelt, dass ich deine wahre Liebe bin«, flüsterte er. »Und dass du dich tatsächlich dem Bösen verschrieben hast und Agatha und Tedros für immer fort sind.«
Sophie sah langsam zu dem schwarzen Schatten auf.
»Und ob der hier wirklich für dich bestimmt ist«, fuhr der Schulmeister fort und hielt ihr seine Hand hin.
Sophie starrte auf den goldenen Ring an seinem kalten weißen Finger und auf ihr schreckensbleiches Gesicht, das sich darin spiegelte.
Drei Wochen waren vergangen, seit Sophie den Schulmeister junggeküsst und ihre beste Freundin nach Hause verbannt hatte. Einen Moment lang hatte sie ihren Sieg genossen. Agatha hatte sich für Tedros entschieden statt für sie, doch in Gavaldon gab es keine Prinzen. Dort würde sie ein normales Leben mit einem normalen Jungen führen, während Sophie ihr Happy End in einer anderen Welt genoss. Schließlich hatte sie ihr Märchen gewonnen, und das bedeutete immerwährendes Glück.
Aber als der Schulmeister sie dann in seinem modrigen Turmzimmer abgesetzt hatte, zitterte Sophie am ganzen Leib. Agatha war fort. Ihre beste Freundin. Und mit ihr Tedros, der Prinz, dem Sophie zweimal nahe gekommen war: zuerst als Mädchen (da hatte sie ihn für ihre wahre Liebe gehalten) und dann als Junge (da war er ein guter Freund gewesen). Tedros hatte ihr Agatha weggenommen, ohne die sie nicht leben konnte. Und stattdessen hatte sie diesen schönen Jungen abbekommen, von dem sie nur wusste, dass er die dunkelsten Tiefen des Bösen verkörperte. Als er sich ihr mit einem lüsternen Lächeln näherte, wusste Sophie, dass sie einen Fehler gemacht hatte.
Aber da war es schon zu spät gewesen. Es gab kein Zurück mehr. Agatha war fort und vor ihrem Fenster lagen die Trümmer der beiden verbrannten Schulen, die zu einem blutigen Schlachtfeld geworden waren. Jungen und Mädchen kämpften bis aufs Messer gegeneinander. Wütende Lehrer feuerten Zauber auf ihre Schüler ab und fielen sich gegenseitig in den Rücken … Sophie wirbelte entsetzt zum Schulmeister herum – und da kniete der schöne Junge mit dem schlohweißen Haar vor ihr, den Ring in seiner Hand. »Nimm ihn«, drängte er, »und du wirst zwei Jahre Krieg verhindern. Nie mehr Gut gegen Böse. Nie mehr Jungen gegen Mädchen. Stattdessen das reine, unanfechtbare Böse, und du meine Königin. Nimm den Ring, dann bekommst du endlich dein Happy End.«
Doch Sophie hatte sich geweigert.
Der Schulmeister sperrte sie im Turm ein und versiegelte das Fenster, sodass sie nicht hinauskonnte. Jeden Morgen um Punkt zehn Uhr kam er zu ihr und wiederholte seinen Antrag, jedes Mal in anderer Kleidung. Einmal trug er ein Schnürhemd, dann wieder ein wallendes Gewand, eine enge Weste oder einen Rüschenkragen. Ja, selbst sein weißes Haar war immer anders – kurz und stachlig, wild gelockt oder als glatter Pagenschnitt. Auch Geschenke brachte er mit: juwelenbesetzte Kleider, prächtige Blumensträuße, duftende Cremes und Seifen, Heil- und Würzkräuter aller Art. Und stets erriet er ihre Wünsche. Sophie verbrachte ihre Tage allein im Turm unter seinen Märchenbüchern, seinen alten blauen Gewändern und der silbernen Maske, die wie eine heilige Reliquie an der Wand hing. Dreimal am Tag erschien wie von Zauberhand ihr Essen, aber nicht zu bestimmten Zeiten, sondern immer dann, wenn sie hungrig war, und nur das, worauf sie gerade Lust hatte. Alles war perfekt angerichtet: winzige Portionen auf weißen Knochentellern – gedämpftes Gemüse, Obst und Fisch, und hin und wieder eine Schüssel voller Speckbohnen (ein Überbleibsel aus Sophies Zeit als gefräßiger Junge). Wenn die Nacht kam, tauchte ein riesiges Luxusbett mit blutroten Samtdecken und weißem Spitzenhimmel im Zimmer auf. Anfangs konnte Sophie nicht schlafen vor Angst, dass er im Dunkeln zu ihr kommen würde. Aber das passierte nie. Er kam immer erst am nächsten Morgen zu ihrem stummen Ring-Verweigerungs-Ritual.
In der zweiten Woche, als Sophie allmählich wieder die Alte wurde, fragte sie sich, was aus der Schule geworden war. Tobte der Krieg zwischen Jungen und Mädchen wirklich weiter, weil sie den Ring nicht annehmen wollte? Sie fragte den Schulmeister nach ihren Freunden in der Schule des Bösen, nach Hester, Dot, Anadil und Hort. Aber er gab ihr keine Antwort, als wäre der Ring der Preis dafür, aus diesem lähmenden Stillstand herauszukommen.
An diesem Tag nun hatte er zum ersten Mal mit ihr geredet, seit sie hier eingesperrt war. Sie stand mit ihm am Fenster im trüben Licht der sterbenden Sonne und wusste, dass sie ihre Entscheidung nicht länger ungestraft aufschieben konnte. Entweder besiegelte sie ihr Happy End mit ihm oder sie würde unweigerlich sterben, so wie die Sonne. Der goldene Ring glänzte heller in der Hand des Schulmeisters, er verhieß neues Leben. Sophie schaute zu dem Jungen auf, der ohne Hemd vor ihr stand – und sah nur einen Fremden. »Ich kann nicht«, wisperte sie und wich zurück. »Ich kenne dich doch gar nicht.«
Der Schulmeister steckte den Ring in seine Hosentasche. »Was willst du über mich wissen?«
»Zuallererst deinen Namen«, verlangte Sophie. »Wie soll ich dich nennen, wenn ich bei dir bleibe?«
»Die Lehrer nennen mich ›Meister‹.«
»Ich ganz bestimmt nicht!«, fauchte Sophie.
Das Gesicht des Schulmeisters verfinsterte sich, aber Sophie gab nicht nach. »Ohne mich wird es kein Happy End für dich geben«, sagte sie mit schriller Stimme. »Und ich lasse mich nicht von dir herumkommandieren. Wahre Liebe kann man nicht erzwingen, auch wenn du noch so schön und reich und mächtig bist. Tedros hatte das alles auch, ganz zu schweigen von seinem berühmten Charme. Aber was hat es mir genutzt? Ich verdiene einen Prinzen, der mich glücklich macht. Ich will nicht hinter Agatha zurückstehen, die ja auch nicht dauernd ›Mein Prinz‹ zu Tedros sagen muss. Wenn du also willst, dass ich dir eine Chance gebe, musst du mir deinen Namen verraten.«
Der Schulmeister lief zornrot an, doch Sophie war jetzt in Fahrt. »Ich habe hier das Sagen, damit das klar ist. Mag sein, dass du der Meister dieser Höllenschule bist, aber meiner bist du nicht, okay? Der Storiker wartet auf meine Entscheidung, nicht auf deine, das hast du selbst gesagt. Ich entscheide, ob ich deinen Ring annehme – und ob diese Welt lebt oder stirbt. Und ich lasse sie untergehen, ohne mit der Wimper zu zucken, wenn du mich wie eine Sklavin behandelst und nicht wie deine Königin.«
Der Schulmeister starrte sie an, die Adern an seinem geisterbleichen Hals pulsierten. Sophie trat einen Schritt zurück, sank murrend in sich zusammen und schaute weg. Das Schweigen dehnte sich unerträglich aus.
»Rafal«, murmelte der Schulmeister endlich. »Mein Name ist Rafal.«
Rafal. Wie das klang! Auf einmal sah Sophie ihn mit neuen Augen: seine glatte milchweiße Haut, das Feuer in seinen Augen, seine stolze Haltung. Das alles passte perfekt zu seinem Namen: Rafal, was so viel wie Sturmwind bedeutete. Ein Name, der ein Märchen verhieß, an das sie glauben konnte.
Sophie errötete, von dem wilden Verlangen erfasst, Rafal zu berühren … bis ihr wieder bewusst wurde, wer er war. Dieser Junge hatte seinen eigenen Bruder im Namen des Bösen getötet und traute ihr dieselbe Schandtat zu.
»Und dein Bruder? Wie hieß der?«, fragte sie.
Mit flammendem Blick wirbelte er herum. »Wozu willst du das wissen? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du mich dann besser kennst?«
Sophie ließ das Thema fallen. Der Nebel hatte sich gelichtet und über den beiden schwarzen Burgen trat in der Ferne ein grünlicher Dunst hervor. Zum ersten Mal seit drei Wochen war das Fenster lange genug frei geblieben, dass sie hinaussehen konnte. Aber die Schulen wirkten verlassen, ohne jedes Lebenszeichen auf den Dächern und Balkonen. »W-w-wo sind die alle?«, stotterte sie und spähte angestrengt auf die Brücke zwischen den beiden Burgen, die jetzt wieder ganz war. »Was ist mit den Mädchen? Die Jungen wollten sie doch töten …«
»Eine Königin hätte das Recht, mich nach der Schule zu fragen, über die sie herrscht«, sagte er. »Aber noch bist du nicht meine Königin.«
Sophie räusperte sich und starrte auf den Ring, der sich in seiner Tasche abzeichnete. »Ähm, warum wechselst du ständig deine Kleider? Das ist irgendwie … komisch.«
Zum ersten Mal wirkte Rafal verlegen. »Ich dachte, vielleicht gefalle ich dir besser, wenn ich wie der Prinz gekleidet bin, auf den du so versessen warst. Aber dann ist mir eingefallen, dass Artus’ Sohn nicht gern Hemden trägt.«
Sophie schnaubte und versuchte, nicht auf seine muskulöse Brust zu starren. »Seit wann sind Allmächtige zu Selbstzweifeln fähig?«
»Wenn ich allmächtig wäre, müsste ich nicht um deine Liebe betteln«, knurrte er.
Sophie hörte die Verletztheit in seiner Stimme, und plötzlich kam er ihr wie ein ganz normaler, unglücklich verliebter Junge vor. »Liebe kann man eben nicht erzwingen«, schoss sie zurück. »Das weiß ich aus bitterer Erfahrung. Und außerdem, was nutzt dir meine Liebe? Du könntest mich jedenfalls nie lieben. Du liebst doch nichts und niemanden, zumindest solange du auf der Seite des Bösen bist. Deshalb ist dein Bruder auch tot.«
»Aber ich lebe, vom Kuss meiner wahren Liebe wiedererweckt«, sagte er.
»Du hast mich überlistet.«
»Und du hast den Kuss nicht verweigert.«
Sophie wurde blass. »Ich würde dich nie … aus Liebe küssen!«
»Ach ja? Wie merkwürdig, da doch nur gegenseitige wahre Liebe mich wieder jung machen konnte …« Als er Sophies entgeistertes Gesicht sah, fügte er grinsend hinzu: »Hat deine beste Freundin dir das nicht erklärt?«
Sophie schwieg; die Wahrheit raubte ihr jede Widerstandskraft. So wie Agatha damals Tedros’ Hand hätte nehmen können, statt Sophie zu wählen, hätte Sophie auch den Schulmeister ins Grab zurückverbannen können. Stattdessen war sie jetzt hier, Gefangene eines Kusses, den sie zu leugnen versuchte. Warum hatte sie den Schulmeister in jener Nacht nicht zurückgewiesen? Nicht einmal als sie erkannt hatte, wer sie da küsste? Sophie schaute Rafal an. Was hatte er nicht alles getan, um sie zu gewinnen, über Tod und Zeit hinweg? Er hatte zu ihr gestanden, als niemand sonst etwas mit ihr zu tun haben wollte. Er hatte als Einziger an sie geglaubt. »Warum bin ich dir so wichtig?«, fragte sie mit erstickter Stimme.
Rafals Lippe hing leicht hinunter. Eine Sekunde lang erinnerte er sie an Tedros, wenn der Prinz seinen Panzer ablegte – ein verlorener kleiner Junge, der den großen Helden spielte. »Weil ich vor langer Zeit auch so war wie du«, sagte der junge Schulmeister. »Ich habe versucht, meinen Bruder zu lieben und meinem Schicksal zu entrinnen. Ich dachte sogar, ich hätte die wahre …« Er verstummte. »Aber ich erntete nur noch mehr Schmerz, noch mehr Böses, so wie du. Immer wenn du dich nach Liebe sehnst, endet es im Schmerz. Deine Mutter, dein Vater, Agatha, Tedros … je mehr du nach Licht strebst, desto dunkler wird es in dir. Und trotzdem willst du immer noch nicht glauben, dass dein Platz in Böse ist.«
Sophie zuckte zusammen, als Rafal ihr Kinn hochhob. »Jahrtausendelang hat Gut uns diktiert, was Liebe ist«, sagte er. »Aber warum soll es nicht eine andere Form von Liebe geben? Eine dunklere Liebe, die Schmerz in Macht verwandelt und die nur der versteht, der sie teilt. Deshalb hast du meinen Kuss erwidert, Sophie. Weil ich dich sehe, wie du wirklich bist, und dich dafür liebe, nicht wie die anderen. Wir haben mehr Opfer füreinander gebracht, als Gut sich je vorstellen kann. Und was kümmert es uns, wenn sie es nicht Liebe nennen? Wir beide wissen es besser – Dornen gehören genauso zu einer Rose wie die Blütenblätter.« Er beugte sich zu ihr und hauchte ihr einen Kuss auf ihr Ohr. »Ich bin der Spiegel deiner Seele, Sophie. In mir liebst du dich selbst«, wisperte er. Dann hob er ihre Hand an seinen Mund und küsste sie galant.
Sophie durchzuckte ein Schmerz, als würde ihr das Herz aus der Brust gerissen. Sie hatte sich noch nie so nackt gefühlt und verkroch sich tiefer in ihr schwarzes Cape. Doch während sie ihn ansah, sein kantiges, makelloses Gesicht, kam sie langsam wieder zu Atem und eine tröstliche Wärme durchströmte sie. Rafal verstand sie, dieser Prinz mit der dunklen Seele, und jetzt sah sie auch, wie tief seine saphirblauen Augen waren. Benommen schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß ja nicht mal, ob du wirklich ein Junge bist.«
Lächelnd sagte Rafal: »Die Dinge sind, wie du sie siehst, Sophie, das müsstest du doch von deinen Märchen wissen.«
»Ich verstehe nicht …« Sophie runzelte die Stirn, aber ihr Herz hatte ihn sehr gut verstanden.
Rafal schaute zur Sonne auf, die bleich und sterbend über der Schule hing, und Sophie wusste, dass die Zeit der Fragen vorbei war. Zitternd sah sie seine Hand in seiner Tasche verschwinden.
»Werden wir so glücklich sein wie Agatha und Tedros?«, stieß sie hervor.
»Vertrau deiner Geschichte, Sophie. Sie hat nicht umsonst ihr Ende gefunden.« Rafal drehte sich zu ihr. »Aber jetzt musst du auch endlich daran glauben.«
Sophie starrte auf den Goldreif in seiner Hand und ihr Atem ging schneller. Schaudernd schob sie seine Hand beiseite. Rafal griff nach ihr, und Sophie stieß ihn gegen die Wand und presste ihre flache Hand gegen seine kalte Brust. Rafal wehrte sich nicht, als Sophie mit wildem Blick über sein Brustbein tastete. Sie wusste selbst nicht, wonach sie suchte, bis sie es unter ihren Fingern spürte. Ihre Hand hob und senkte sich im Rhythmus von Rafals Herzschlag. Langsam blickte Sophie auf und lauschte auf das starke, hoffnungsvolle Pochen, das nicht anders war als ihr eigener Herzschlag.
»Rafal«, wisperte sie beschwörend.
Seine Fingerspitzen streichelten ihr Gesicht und diesmal zuckte Sophie nicht vor ihrer Kälte zurück. Rafal zog sie an sich und ihre Zweifel lösten sich in Luft auf, ihre Angst verwandelte sich in Vertrauen. In ihr schwarzes Cape gehüllt, schmiegte sie sich an seinen weißen Körper, zwei Schwäne, ein schwarzer und ein weißer, in vollkommenem Gleichgewicht. Als Sophie ihre linke Hand ins Sonnenlicht hielt, zitterte sie nicht. Rafal streifte den Ring über ihren Finger, Millimeter für Millimeter glitt das warme Gold über ihre Haut, er passte wie angegossen. Sophie hielt den Atem an und Rafal lächelte, ohne den Blick von ihr abzuwenden.
Arm in Arm drehte sich das frisch vermählte Paar zum Storiker um, der über ihrem Märchen schwebte und nur darauf wartete, ihre Liebe zu besiegeln und das Buch endlich zu schließen.
Doch die Feder regte sich nicht. Das Buch blieb offen.
Sophie stockte der Atem. »Was ist passiert?«
Sie folgte Rafals Blick zu der trüben rostroten Sonne, die noch eine Nuance dunkler geworden war. Das Gesicht des Schulmeisters erstarrte zur tödlichen Maske. »Mir scheint, es ist nicht unser Happy End, das die Feder bezweifelt …«
»Was weißt du denn schon von mir!«, fauchte Tedros und knallte seiner Prinzessin ein muffiges Kissen ins Gesicht.
Agatha hustete, packte das Kissen und prügelte damit auf ihn ein, sodass er gegen ihr schwarzes Bettgestell gedrückt und mit Federn übersät wurde. Schlitzer sprang Tedros ins Gesicht und schnappte nach den Federn. »Ich weiß mehr über dich, als dir lieb ist«, giftete Agatha und griff nach dem schlecht sitzenden, schmuddeligen Verband unter Tedros’ blauem Kragen.
Tedros stieß sie weg, und Agatha schlug nach ihm, bis Tedros zornig den Kater packte und ihn ihr an den Kopf warf. Agatha duckte sich und Schlitzer segelte ins Badezimmer. Der Kater ruderte wild mit seinen runzligen kahlen Pfoten und landete kopfüber in der Kloschüssel. »Du hast keine Ahnung von mir, sonst wüsstest du, dass ich mein Leben selbst in die Hand nehme«, schnaubte Tedros und zerrte an seinen Hemdschnüren.
»Spinnst du? Du wirfst meine Katze nach mir?«, brüllte Agatha. »Nur weil ich dich vor dem Wundbrand bewahren will?«
»Diese Katze ist der reinste Teufel«, zischte Tedros, die Augen auf Schlitzer gerichtet, der vergeblich aus der Kloschüssel herauszuklettern versuchte. »Und ich hasse Katzen!«
»Ja, klar, du magst lieber Hunde mit schmachtenden, treuherzigen Augen. Passt ja auch viel besser zu dir …«
Tedros starrte sie wütend an. »Willst du mich jetzt auch noch beleidigen, nur wegen diesem blöden Verband?«
»Drei Wochen, und die Wunde heilt immer noch nicht«, seufzte Agatha. Sie hob Schlitzer hoch und rieb ihn mit ihrem Ärmel trocken. »Das fängt noch an zu eitern, wenn es nicht behandelt wird.«
»Vielleicht macht ihr das in der feinen Villa Grabhügel ja anders, aber bei uns in Camelot begnügt man sich mit einem Verband.«
»Ein Verband, der so aussieht, als hätte ihn ein Zweijähriger angelegt«, spottete Agatha.
»Dich will ich sehen, wenn du mit deinem eigenen Schwert angegriffen wirst, während du dich gerade in Luft auflöst«, sagte Tedros. »Sei froh, dass ich noch lebe – eine Sekunde später, und er hätte mich aufgespießt.«
»Pah! Eine Sekunde später, und ich hätte gemerkt, was für ein Waschlappen du bist, und hätte dich zurückgelassen.«
»Als ob du in diesem Kuhdorf einen Jungen finden würdest, der besser ist als ich.«
»Na und? Ich würde dich liebend gern zum Teufel jagen, wenn ich dafür hier nur ein bisschen mehr Ruhe und Platz hätte.«
»Und ich dich für ein anständiges Essen und ein warmes Bad«, giftete Tedros.
Agatha funkelte ihn an. Schlitzer bibberte in ihren Armen.
Endlich senkte Tedros den Blick und gab sich geschlagen. Er streifte sein Hemd ab, breitete die Arme aus und setzte sich aufs Bett. »Na gut, Prinzessin.«
Agatha säuberte die zehn Zentimeter lange Wunde in Tedros’ Brust mit Rosenöl, Zaubernuss und einem Schuss Silbernadelextrakt aus der Karre, in der Callis ihre Kräutertinkturen aufbewahrte. Schaudernd dachte Agatha daran, wie Tedros diese Wunde erhalten hatte, die so dicht an seinem Herzen lag; wie der Schulmeister wieder jung geworden war und den gefesselten Tedros angegrinst hatte … wie er mit mordlustigen Augen zustach … Nur komisch, dass Tedros keine Albträume davon hatte. Aber vielleicht war das der Unterschied zwischen einem Prinzen und einem Leser: Wer wie Tedros im Endloswald aufgewachsen war, betrachtete jeden Tag, der nicht mit dem Tod endete, als Erfolg.
Agatha streute abgekochte Gelbwurz auf Tedros’ Wunde, und der Prinz biss stöhnend die Zähne zusammen. »Hab dir doch gesagt, dass es nicht heilt«, murmelte sie.
Tedros fauchte wie ein wildes Tier und drehte sich weg. »Deine Mutter hasst mich. Deshalb kommt sie nie nach Hause.«
»Sie muss zu ihren Kranken.« Agatha massierte das gelbe Pulver in die Wunde. »Wir brauchen schließlich was zu essen.«
»Und warum lässt sie dann ihren Arzneikarren hier?«
Agathas Hand erstarrte auf Tedros’ Brust. Das hatte sie sich auch schon gefragt, wenn Callis wieder einmal so lange wegblieb. Sie verstärkte ihren Druck und Tedros zuckte zusammen. »Zum letzten Mal, sie hasst dich nicht.«
»Seit drei Wochen sind wir hier eingesperrt. Ich esse ihre ganzen Vorräte auf, mache alles dreckig und verstopfe ständig das Klo, und außerdem streiten wir die ganze Zeit. Ist doch klar, dass sie mich hasst.«
»Blödsinn. Callis sieht dich einfach als zusätzliches Problem in einer sowieso schon brenzligen Lage.«
»Agatha, da draußen wartet ein ganzes Dorf darauf, uns umzubringen, und das nennst du brenzlig?«, schnaubte Tedros und kniete sich hin. »Wir sind verratzt, wenn wir nichts unternehmen. In einem Monat werde ich sechzehn, dann bin ich König von Camelot. Das Reich liegt in Trümmern, okay, und die Hälfte seiner Bewohner sind fort, aber das bringen wir schon in Ordnung. Wir gehören dorthin, Agatha. Warum können wir nicht in unsere Welt zurück?«
»Du weißt genau, warum.«
»Ja, gut. Du willst deine Mutter nicht für immer verlassen. Und ich hab ja keine Familie mehr«, brummte er und schaute weg.
Eine fliegende Röte überzog Agathas Hals. »Tedros …«
»Schon gut«, sagte der Prinz leise. »Wenn mein Vater noch am Leben wäre, würde ich ihn auch nicht verlassen.«
Agatha rückte näher zu ihm. »Tedros, wenn dein Königreich dich braucht, dann musst du zurück«, sagte sie widerstrebend.
Tedros seufzte. »Ich würde dich nie verlassen, Agatha.« Er zupfte an einem Faden in seiner schmutzigen Socke. »Ich könnte es auch gar nicht, selbst wenn ich wollte. Es gibt ja nur einen Weg in den Wald zurück – wir müssten es uns gleichzeitig wünschen.«
Agatha erschrak. Spielte er etwa doch mit dem Gedanken, sie zu verlassen? Sie schluckte und fasste ihn am Arm. »Ich kann nicht zurück, Tedros. Im Wald passieren so schreckliche Dinge. Wir können froh sein, dass wir entkommen sind.«
»Froh? Wie lange sollen wir hier noch versauern? Wir können doch nicht ewig eingesperrt bleiben!«
Agatha zuckte zusammen. »Ist doch egal, wo wir unser Happy End erleben, oder? Hauptsache, wir sind zusammen«, sagte sie hoffnungsvoll. »Hat das nicht einer unserer Lehrer mal gesagt?«
Tedros ging nicht darauf ein. Agatha sprang auf und riss einen Streifen von dem sauberen Handtuch ab, das am Bettpfosten hing. Tedros fiel aufs Bett zurück, die Arme ausgestreckt wie ein Kaktus, und ließ sich schweigend von ihr verbinden.
»Manchmal vermisse ich Filip«, sagte er leise.
Agatha sah ihn erschrocken an. Tedros wurde rot und zupfte an seinen Nägeln. »Ich weiß, wie idiotisch das klingt, nach allem, was er uns angetan hat … oder nein, sie! … ähm … oder was auch immer. Ich müsste ihn hassen – nein, sie. Aber Jungs verstehen sich auf eine Weise, wie es bei Mädchen niemals möglich wäre. Obwohl er ja nicht wirklich ein Junge war …« Tedros sah Agathas Gesicht. »Ach, vergiss es.«
»Ach ja? Und ich versteh dich natürlich nicht«, sagte Agatha gekränkt.
Tedros zögerte. »Es ist nur … also in den ersten zwei Jahren waren wir eher in die Vorstellung verliebt, wie es wäre, zusammen zu sein, als dass wir wirklich zusammen waren. Von Filip hab ich mehr erfahren als von dir – wir sind nachts zusammen aufgeblieben, haben Lammkoteletts aus dem Speisesaal geklaut, uns aufs Dach gesetzt und einfach geredet … Filip war mein erster wirklicher Freund.« Tedros wich Agathas Blick aus. »Du und ich, wir waren nie Freunde. Wir haben ja nicht mal Kosenamen füreinander. Bei uns waren es immer nur geraubte Glücksmomente und die Hoffnung, dass unsere Liebe genug wäre. Aber jetzt sitzen wir hier schon so lange fest, ohne dass wir je allein sein können – oder jagen und schwimmen gehen. Wir essen, schlafen, atmen, sind ständig zusammen, als bewachten wir uns gegenseitig, und trotzdem bleiben wir uns fremd. Ich hab mich noch nie so alt gefühlt.« Er warf Agatha einen kurzen Blick zu. »Dir geht’s doch genauso, du kannst es ruhig zugeben. Wir benehmen uns wie ein schrulliges altes Ehepaar. Jede Kleinigkeit, die dich an mir stört, wird total aufgebauscht.«
Agatha versuchte auf ihn einzugehen. »Und was stört dich an mir?«
»Ach, lass doch«, brummte Tedros und wälzte sich auf den Bauch.
»Ich will es aber wissen. Was stört dich an mir?«
Tedros warf sich wütend herum. »Also, erstens behandelst du mich wie den letzten Trottel.«
»Das stimmt nicht …«
Tedros funkelte sie an. »Ich dachte, du willst es wissen?«
Agatha verschränkte die Arme.
»Du behandelst mich wie einen Trottel«, wiederholte Tedros. »Und jedes Mal, wenn ich mit dir reden will, stellst du dich taub. Glaubst du, es ist so leicht für mich, mein Zuhause aufzugeben, obwohl eine Prinzessin doch eigentlich ihrem Prinzen folgt und nicht umgekehrt? Du stampfst in deinen hässlichen Klumpschuhen im Haus herum wie ein Elefant im Porzellanladen, und wenn du badest, ist hinterher alles überschwemmt … Du lächelst kaum noch, und wenn ich dich mal zu kritisieren wage, verdrehst du die Augen, als wäre es unverschämt von mir, weil du einfach so …«
»So was?« Agatha stemmte die Hände in die Hüften.
»So gut bist«, schnaubte Tedros.
»Okay, jetzt bin ich dran«, sagte Agatha. »Also, erstens jammerst du die ganze Zeit herum, als wärst du mein Gefangener und als hätte ich dich von deinem besten Freund weggerissen, der doch gar nicht existiert … Du machst mir Vorwürfe, weil ich dich hergebracht habe, als müsste ich mich dafür entschuldigen, dass ich dir das Leben gerettet habe. Und der Gipfel ist, dass du auch noch behauptest, eine Prinzessin müsse ihrem Prinzen folgen. Außerdem bist du jähzornig und schwitzt wie ein Eber, und du gehst mir total auf die Nerven mit deinen ewigen Vorurteilen. Immer redest du über Dinge, von denen du keine Ahnung hast, und wenn du etwas runterschmeißt, was ziemlich oft vorkommt, schimpfst du auf mein Zuhause, statt die Schuld bei dir selber zu suchen …«
»Weil es hier auch so eng ist!«
»Na und? Das hier ist kein Märchenschloss, Euer Hoheit, sondern das wirkliche Leben. Und du merkst nicht mal, wie ich darum kämpfe, uns über Wasser zu halten. Dass ich mir Tag und Nacht den Kopf zerbreche, wie wir unser Happy End schöner gestalten können. Und da wunderst du dich, dass ich keine Lust habe, mit dir herumzualbern oder tiefschürfende Gespräche über Kaffeesorten zu führen? Aber klar, du bist ja auch Tedros von Camelot, der schönste Prinz im Endloswald, und wehe, seine Hoheit langweilen sich und fühlen sich alt!«
Tedros grinste. »Echt? Bin ich wirklich so schön?«
»Du bist schlimmer als Sophie!«, brüllte Agatha in ihr Kissen. »Und die wollte mich umbringen! Zwei Mal!«
»Dann geh doch in den Wald und hol dir deine Sophie zurück.«
»Und du deinen Filip!«, bellte Agatha.
Dann verstummten sie, als ihnen klar wurde, dass sie von ein und derselben Person redeten.
Tedros rutschte neben Agatha und legte seine Arme um sie. Agatha schmiegte sich an ihn, den Tränen nahe. »Was ist nur aus uns geworden?«, wisperte sie.
Als Agatha ihren Prinzen vor dem Schulmeister gerettet hatte, war sie überzeugt gewesen, dass alles gut werden würde. Sie war dem Tod entronnen, hatte Tedros in Sicherheit gebracht und den Wald hinter sich gelassen wie eine schlechte Erinnerung. Erleichtert hatte sie ihren Prinzen an sich gedrückt, als das weiße Licht zwischen den beiden Welten sie einhüllte. Endlich gehörte Tedros ihr – der Prinz, der sie liebte und dessen Kuss sie noch auf den Lippen spürte …
Aber dann war Agatha kopfüber in einen Erdwall geknallt.
Als sie vorsichtig die Augen öffnete, lag sie in stockdunkler Nacht auf Tedros, mitten auf dem Friedhof von Gavaldon. Schlagartig fiel ihr alles wieder ein, was sie hier zurückgelassen hatte: das Versprechen an Stefan, seine Tochter zurückzubringen, das sie nicht gehalten hatte; die Drohung der Ältesten, sie zu töten; die Geschichten über die Hexen, die einst auf dem Dorfplatz verbrannt worden waren … Entspann dich, Agatha – das ist unser Happy End, hatte sie sich ermahnt. Hier kann uns nichts Böses geschehen.
Langsam hatte sie zu dem vertrauten Dach hochgeblinzelt, das wie ein Hexenhut auf dem verschneiten Hügel aufragte, und ihr Herz jubelte bei dem Gedanken, endlich wieder zu Hause zu sein. Sie konnte es kaum erwarten, das glückliche Gesicht ihrer Mutter zu sehen. Falls Callis nicht auf der Stelle der Schlag treffen würde … Lächelnd schaute sie auf ihren Prinzen hinunter.
»Tedros, wach auf!«, flüsterte sie. Der Prinz lag in seinem schwarzen Blauwald-Umhang reglos in ihren Armen, und die einzigen Geräusche kamen von ein paar Krähen, die nach Grabwürmern pickten, und einer trüben Fackel, die über dem Tor knisterte. Agatha fasste Tedros an seinen Hemdschnüren, um ihn zu schütteln, aber ihre Hände trafen auf etwas Warmes, Klebriges. Langsam streckte sie sie ins Fackellicht. Blut.
Da stürzte sie in ihren Klumpschuhen durch den Pulverschnee, zwischen den verfallenen Grabsteinen hindurch, bis die Villa Grabhügel endlich direkt vor ihr lag, allerdings ohne die Kerzen, die sonst immer auf der Veranda brannten. Agatha drehte vorsichtig den Türknauf herum, die Tür ging knarzend auf, und dann schoss etwas aus dem Bett, in ein Gewirr von Laken verheddert wie ein schusseliger Geist. Gleich darauf schaute der Kopf ihrer Mutter hervor, die sie verwirrt anblinzelte. Callis wurde rot vor Freude, als sie ihre Tochter erkannte, die so lange fort gewesen war. Doch dann sah sie die Panik in Agathas Augen und alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. »H-hat dich jemand g-gesehen?«, stotterte sie.
Agatha schüttelte den Kopf. Callis atmete auf und wollte sie in die Arme schließen, aber Agathas Gesicht war immer noch schreckensbleich. Ihre Mutter erstarrte. »Was hast du getan?«, stieß sie hervor.
Dann hetzten sie gemeinsam den Grabhügel hinunter, Callis in ihrem schlabbrigen schwarzen Nachthemd, Agatha in ihren Klumpschuhen. Hastig fassten sie Tedros unter den Armen und schleiften ihn durch den Schnee zum Haus. Agatha sah zu Callis auf, die wie eine ältere Ausgabe von ihr selbst war, mit ihrem schwarzen Haarschopf und dem teigigen Gesicht. Aber statt bei Tedros’ Anblick in Ohnmacht zu fallen, wie Agatha erwartet hatte, spähte ihre Mutter die ganze Zeit verstohlen zum dunklen Dorf hinunter, und Agatha konnte sie noch nicht einmal nach dem Grund fragen. Zuerst musste Tedros verarztet werden.
Sobald sie ihn ins Haus geschleppt hatten, legte Callis Tedros auf den Teppich und schnitt sein feuchtes, klebriges Hemd auf, während Agatha den Ofen anfeuerte. Als sie sich wieder neben ihn kniete und die tiefe Schwertwunde sah, wurde sie fast ohnmächtig. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Er wird doch wieder gesund, oder? Er muss doch …«
»Zu spät, um ihn zu betäuben«, brummte Callis und kramte in ihren Schubladen nach Nähgarn.
»Ich musste ihn herbringen, Mutter … sonst hätte ich ihn verloren …«
»Wir reden später darüber«, sagte Callis scharf. Über den Prinzen gebeugt, nähte sie die Wunde mit fünf Stichen zu, bis Tedros sich vor Schmerzen krümmte. Als er die Nadel in der Hand der fremden Frau sah, packte er einen Besenstiel, der in der Nähe stand, und schrie, dass er ihr den Schädel einschlagen würde, wenn sie nicht sofort von ihm abließ.
Von da an knisterte die Luft vor Feindseligkeit zwischen den beiden.
Irgendwie lullte Agatha ihren Prinzen in den Schlaf, und am nächsten Morgen – Tedros’ schlecht vernähte Wunde eiterte und er lag im Delirium – scheuchte Callis ihre Tochter in die Küche. Das Schlafzimmer war mit einem schwarzen Laken abgetrennt. »Mich wollte er auch umbringen, als wir uns das erste Mal begegnet sind«, versuchte Agatha ihre Mutter zu beschwichtigen und nahm zwei Eisenteller aus dem Schrank. »Das gibt sich, glaub mir.«
Callis schöpfte dampfenden Eintopf aus dem Kessel in eine Schale. »Ich nähe ihm ein neues Hemd, bevor er geht.«
»Ähm … Mutter, da liegt ein echter Märchenprinz auf unserem Fußboden und du hast nichts anderes im Kopf als sein Hemd?«, sagte Agatha und setzte sich auf einen knarzenden Schemel. »Willst du gar nicht wissen, wer er ist?« Plötzlich weiteten sich ihre Augen. »Moment mal – was heißt, bevor er geht? Tedros bleibt in Gavaldon … für immer.«
Callis stellte die Schale vor Agatha. »Iss jetzt. Kein Mensch mag kalte Krötensuppe.«
»Ich weiß, es wird eng zu dritt«, fuhr Agatha unbeirrt fort. »Aber Tedros und ich können uns Arbeit im Dorf suchen. Und wenn wir genug gespart haben, ziehen wir alle in ein größeres Haus, vielleicht sogar in einer der Dorfgassen.« Sie grinste. »Lebende Nachbarn, Mutter, stell dir das mal vor!«
Callis starrte Agatha mit ihren braunen Augen böse an. Agatha verstummte und folgte dann dem Blick ihrer Mutter zu dem kleinen dreckverkrusteten Fenster über dem Spülbecken. Sie stieß ihren Stuhl zurück und nahm ein nasses Geschirrtuch vom Ständer. Damit rieb sie die klebrige graue Schicht aus Staub, Fett und Moder ab, bis endlich Licht hereinfiel. Erschrocken wich sie zurück.
Unten am Fuß des verschneiten Hügels wehten leuchtend rote Flaggen von jedem Laternenpfosten auf dem Dorfplatz.
»Hexen?«, würgte Agatha hervor und starrte ihr eigenes Gesicht an, das ihr von allen Fahnen entgegenblickte. Statt der malerischen bunten Häuschen, die den Angriffen aus dem Wald zum Opfer gefallen waren, standen lauter hässliche neue Steinbaracken um den Dorfplatz herum. Ein Wachtrupp in langen schwarzen Umhängen und mit schwarzen Eisenmasken patrouillierte mit erhobenen Speeren durch die Gassen und am Waldrand entlang. Agatha schauderte. Ihre Augen wanderten zu der Stelle neben dem schiefen Uhrturm, wo einst die Statuen gestanden hatten, die für Sophie und sie errichtet worden waren. Jetzt ragte dort eine Holztribüne mit einem riesigen Scheiterhaufen aus Birkenästen auf. Zwei brennende Fackeln waren an der Richtstätte befestigt und dazwischen hing ein Banner mit den Porträts von Agatha und Sophie.
Agatha stockte der Atem. Da war sie mit knapper Not der öffentlichen Hinrichtung in der Schule entkommen, nur um hier auf dem Scheiterhaufen zu enden?
»Ich habe dich gewarnt, Agatha«, sagte Callis hinter ihr. »Für die Ältesten war Sophie eine Hexe, die schuld an den Überfällen aus dem Wald war. Man hat dir verboten, nach ihr zu suchen. Aber du hast nicht auf sie gehört und dich damit selbst zur Hexe gemacht.«
Agatha drehte sich auf wackligen Beinen um. »Und jetzt wollen sie mich verbrennen?«
»Wenn du allein zurückgekommen wärst, hätten dich die Ältesten vielleicht verschont.« Callis saß am Tisch, den Kopf in den Händen. »Du wärst mit einer harten Strafe davongekommen, so wie ich – dafür dass ich dich entkommen ließ.«
Erschrocken sah Agatha ihre Mutter an, konnte aber keine Narben in ihrem Gesicht oder an ihren sehnigen Armen entdecken.
»Was haben sie dir angetan?«
»Nichts im Vergleich zu dem, was euch passieren wird, wenn sie euch finden.« Callis sah mit roten, entzündeten Augen zu ihr auf. »Die Ältesten haben uns immer verachtet, Agatha. Wie konntest du nur so dumm sein und einen Prinzen aus dem Wald mitbringen?«
»Im M-M-Märchenbuch st-stand ›Ende‹«, stotterte Agatha. »Und du hast selber gesagt: Wenn ›Ende‹ dasteht, dann ist das auch das Happy End.«
»Happy End? Mit ihm?« Callis sprang auf die Füße. »Es gibt einen Grund, warum eure beiden Welten getrennt sind, Agatha. Und das muss auch so bleiben. Er wird hier niemals glücklich sein. Du bist eine Leserin und er ist ein …«
Callis hielt inne, drehte sich schnell zum Spülbecken um und pumpte Wasser in einen Kessel.
»Mutter«, sagte Agatha, der es kalt über den Rücken lief. »Woher weißt du, was ein Leser ist?«
»Hmmm, was sagst du, Liebes?«
»Ein Leser. Woher kennst du das Wort?«
Callis pumpte noch lauter. »Muss ich wohl in einem Buch gelesen haben.«
»In einem Buch? In welchem Buch?«
»In einem der Märchenbücher, wo sonst?«
Ja, natürlich. Agatha atmete auf. Ihre Mutter hatte schon immer einiges über die Märchenwelt gewusst – so wie alle Eltern in Gavaldon, die vor Mr Deauvilles Buchladen Schlange gestanden hatten, um Hinweise auf ihre entführten Kinder zu erhalten. Wahrscheinlich stand der Ausdruck »Leser« in einem der Bücher. Deshalb hat sie mich Leserin genannt. Und deshalb war sie auch nicht überrascht, als ich mit Tedros aufgetaucht bin.
Aber Callis pumpte weiter Wasser in den Kessel, der längst voll war und überfloss. Sie starrte in die Ferne und pumpte immer schneller, als wollte sie damit ihre Erinnerungen auslöschen. Agathas Herz zog sich zusammen. Die Märchenbücher hatten nichts damit zu tun, dass Callis bei Tedros’ Anblick nicht aus der Fassung geraten war. Nein, ihre Mutter wusste aus eigener Erfahrung, wie es war, in einem Märchen zu leben …
»Er muss in den Wald zurück, sobald er aufwacht«, sagte Callis und ließ die Pumpe los.
Agatha schreckte aus ihren Gedanken hoch. »In den Wald? Wir können froh sein, dass wir lebend dort rausgekommen sind, und du willst uns zurückschicken?«
»Nicht dich«, sagte Callis, ohne sich umzudrehen. »Nur ihn.«
»Das sagst du bloß, weil du nichts von wahrer Liebe weißt«, zischte Agatha empört.
Callis erstarrte. Die Knochenuhr tickte laut in der gespannten Stille.
»Glaubst du wirklich, das ist dein Happy End, Agatha?«
»Ja, Mutter. Es muss so sein. Weil ich ihn nie mehr verlassen werde. Und dich auch nicht«, flehte Agatha. »Ich dachte, ich könnte im Wald glücklich werden, vor dem wirklichen Leben davonlaufen … aber es geht nicht. Ich wollte nie ein Märchen. Ich wollte immer nur hierbleiben, bei meiner Mutter und meiner besten Freundin. Ich konnte ja nicht ahnen, dass ich am Ende einen Prinzen bekommen würde.« Agatha tupfte sich die Augen ab. »Wenn du wüsstest, was wir alles durchgemacht haben, um zueinanderzufinden – all das Böse, das wir hinter uns gelassen haben. Es ist mir egal, wenn ich die nächsten hundert Jahre mit Tedros hier ausharren muss. Wenigstens sind wir dann zusammen. Gib uns eine Chance, Mutter.«
Stille senkte sich über die rußige Küche.
Callis drehte sich zu ihrer Tochter um. »Und Sophie?«
Agathas Stimme wurde kalt. »Fort.«
Vom Dorfplatz klang gedämpft das Läuten der Turmuhr herauf, bis der Wind das Geräusch übertönte. Callis nahm den Kessel und ging zum Holzofen. Mit angehaltenem Atem beobachtete Agatha, wie sie eine Flamme unter dem Topf entfachte und ein paar Wurmwurzblätter ins Wasser streute. Dann rührte sie mit dem Kochlöffel um, immer und immer wieder, auch nachdem die Blätter sich längst aufgelöst hatten.
»Wir werden Eier brauchen«, sagte Callis endlich. »Dein Prinz isst sicher keine Kröten.«
Agatha wurden die Knie weich vor Erleichterung. »Oh, danke, Mutter, danke, danke …«
»Ich sperre euch ein, wenn ich morgens in den Ort hinuntergehe. Die Wachen werden nicht herkommen, solange wir vorsichtig sind.«
»Du wirst ihn lieben wie einen Sohn, Mutter, glaub mir …« Agatha verzog das Gesicht. »Wieso in den Ort hinunter? Ich dachte, du hast keine Patienten mehr?«
»Ihr dürft kein Feuer im Ofen machen und kein Fenster öffnen«, fuhr Callis unbeirrt fort und schenkte zwei Becher Tee ein.
. Agathas Wangen brannten vor Scham. Einem Jungen, der ihren Anblick kaum noch ertragen konnte. Und die ganze Zeit hatte sie geglaubt, zwischen Sophie und Tedros wählen zu müssen, um ihr Happy End zu finden. Aber das war falsch. Immer wenn sie einen der beiden vorzog, biss sich die Sache in den Schwanz und die Welt geriet noch mehr aus den Fugen. Sobald sie Sophie vor sich sah, wie sie allein im Turm des Schulmeisters saß, quälten sie neue Schuldgefühle und die Angst schnürte ihr die Kehle zu, als schmorte sie in einem selbst entfachten Fegefeuer.
»Ich denke auch an sie.«
Agatha drehte sich zu Tedros um, der am Fenster saß und sie mit bebenden Lippen ansah. »Wie wir sie einfach im Stich gelassen haben«, wisperte er rau. »Ich weiß, dass sie eine schlechte Freundin war … Und dass sie böse ist … und dass das mit Filip nur ein Trick war. Aber wir haben sie einfach diesem Monster ausgeliefert. Wir haben alle im Stich gelassen, die ganze Schule, nur um uns selbst zu retten. Was bin ich für ein Prinz, Agatha?« Ein paar Tränen kullerten über seine stoppligen Wangen. »Ich will nicht, dass du deine Mutter verlässt. Aber wir sind hier nicht glücklich, weil der Böse in unserer Geschichte noch am Leben ist. Weil wir keine Helden sind. Sondern Feiglinge.«
Agatha schaute in Tedros’ verweintes Gesicht und ihre ganze Liebe zu ihm flutete in ihr Herz zurück. »Dann ist das nicht unser Happy End?«, hauchte sie.
Tedros lächelte, ein Lächeln, in dem sein alter Charme aufschimmerte.
Und Agatha lächelte zurück, zum ersten Mal seit Wochen.