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DIE AUTORIN
Seit ihrem Studium an der Mount Saint Vincent University in Halifax arbeitet Kat Kruger freiberuflich als PR-Beraterin und Autorin. Ihr Debütroman DIE NACHT HAT KRALLEN wurde bereits mehrfach ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrem Ehemann in Kanada.
Kat Kruger
Die Nacht
erhebt sich
Aus dem Englischen
von Michaela Link
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1. Auflage
Deutsche Erstausgabe April 2016
First published by Fierce Ink Press © 2014 by Kat Kruger
Originaltitel: »The Magdeburg Trilogy Book Three. The Night Is Found«
© 2016 cbt Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem Englischen von Michaela Link
Lektorat: Kerstin Weber
Umschlaggestaltung: init | Kommunikationsdesign,
Bad Oeynhausen unter Verwendung des
Originalcovers von Angela Goddard
Umschlagbilder: © Gettyimages (polotan, Fuse);
Thinkstock (Istock/tomgigabite)
mi · Herstellung: kw
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-16037-1
V002
www.cbt-buecher.de
»Die Werwölfe … sind Gottes Hunde … wenn sie nicht wären und dem Teufel den Segen wieder wegstählen oder raubten, so würde aller Segen in der Welt weg sein.«
– Der alte Thies vom Gut Kaltenbrunn (Kirchspiel Lemburg) in seiner Vernehmung als livländischer Werwolf im Jahre 1691, zitiert nach Hermann von Bruiningk: »Der Werwolf in Livland und das letzte im Wendenschen Landgericht und Dörptschen Hofgericht i. J. 1692 deshalb stattgehabte Strafverfahren«, in: Mitteilungen aus der livländischen Geschichte 22 (1924),
S. 163–220, hier S. 207.
1
Berühmte letzte Worte
»Führe die Rudel.«
Ich schrecke aus dem Schlaf hoch und blinzele in das grelle Sonnenlicht, das durchs Fenster der Kabine fällt. Mir steht der Schweiß auf der Stirn, und halb erwarte ich, Roul auf dem Platz mir gegenüber sitzen zu sehen. Stattdessen schläft dort tief und fest Amara. Das gleichmäßige Dröhnen der Triebwerke hat auch mich kurz nach dem Start eingelullt. Der Traum war völlig unerwartet gekommen – eine Erinnerung, die ich vor Monaten zusammen mit Rouls Asche beerdigt hatte. Mein Geist hat den seltsamen Zustand zwischen Schlaf und Wachen genutzt, um jenen Moment noch einmal heraufzubeschwören, das Brennen der Kugel, die mich gestreift hatte, bevor sie seinen Körper durchschlug. Ich lockere meine Krawatte und öffne den obersten Hemdknopf, um die beinahe unsichtbare Narbe zu berühren, die diese Kugel an meinem Hals hinterlassen hat – inzwischen überdeckt von einer Tätowierung Amaras. Das Motiv ist ganz ihr Stil: ein Adler mit ausgebreiteten Flügeln, bereit, sich in die Lüfte zu erheben. Es hat mich sofort an jene Narbe in Rodolfo »Roul« de Aquilas Handfläche erinnert. Und das sollte es auch. Aquila, hat sie gesagt, ist lateinisch für Adler. Er ist jetzt für immer in meine Haut tätowiert, als Erinnerung an sein Leben, das er für mich geopfert hat. Roul war es auch, der mir nicht lange, bevor er auf der Schwelle zu seinem Pariser Stadthaus getötet wurde, erklärt hatte, dass Tätowierungen eine uralte Tradition unter geborenen Werwölfen seien. Symbole für die Meilensteine in unserem Leben. Diese Tätowierung wird meine erste von vielen sein.
Ich mache es mir in dem dicken Ledersitz des Learjets bequem und nehme das schwere Kristallglas aus dem Getränkehalter in der Echtholzvertäfelung des Privatfliegers, um einen Schluck Mineralwasser zu trinken. Tierisch angenehm. Ein seltsamer Ausdruck, wenn man bedenkt, dass diese ganzen Annehmlichkeiten in meiner anderen Gestalt total überflüssig wären. Das Flugzeug ruckelt leicht, verliert an Höhe und signalisiert, dass wir uns im Landeanflug befinden – und plötzlich wird mir die Schwere all dessen bewusst, was vor mir liegt. Das Schicksal des Rudels, meines Rudels, lastet allein auf meinen Schultern. Wenn ich es nicht schaffe, die anderen Werwölfe davon zu überzeugen, dass wir uns verbünden müssen, könnte die bloße Existenz unserer Art auf dem Spiel stehen.
Ich habe keine Ahnung, was mich auf amerikanischem Boden erwartet. Mit dem Zeigefinger male ich ein imaginäres Bild auf die breite Armlehne, ein Bild, das mir seit Rouls Tod im Kopf herumspukt. Ein simples Symbol, das er mit seinem eigenen Blut auf den Boden gezeichnet hat, nur einen Moment, bevor er seinen letzten Atemzug tat. Eine Kinderzeichnung: ein Dreieck auf einem Viereck – Zuhause.
Selbst aus dieser Höhe zeigt New York ein gänzlich anderes Stadtbild als Paris. Unter den Wolkenfetzen erstreckt sich die Skyline: Betonklötze aus Glas und Stahl, durchbrochen vom Grün des Central Parks, wo die Stadt erste Anzeichen des Frühlings erahnen lässt. Dort unten bin ich aufgewachsen, doch irgendwie kommt es mir fremd vor. Zuhause … und doch wieder nicht. Nicht mehr. Eigenartig, wie einige Monate in der Fremde jene Welt verändern können, die zuvor so alltäglich, deren Vertrautheit so tröstlich gewesen war. Dabei weiß ich eigentlich, dass es nicht der Ort ist, der sich verändert hat – ich bin es. Die Bürde, die jetzt, nach Rouls letzten Atemzügen, auf meinen Schultern liegt, hat meiner Welt und allem darin einen ernsten Anstrich verliehen.
»Führe die Rudel.«
Drei Worte. Ob schon jemals zuvor nur drei Worte so viel Verantwortung in die Hände einer einzigen Person gelegt haben, die so wenig auf ihre Aufgabe vorbereitet war? Wohl kaum. Vier Monate, nachdem Roul sein Leben für mich gegeben hat, verspüre ich immer noch diese Anflüge von Selbstzweifel, was meine Führungsqualitäten betrifft. Sie sind mir treu geblieben wie ein lästiger Juckreiz, aber ich bin fest entschlossen, diese Zweifel ein für alle Mal zu ersticken. Es steht einfach zu viel auf dem Spiel, und dort, wo ich hinwill, ist für Zögerlichkeiten kein Platz. Wenigstens habe ich Amara an meiner Seite. Wir sind die einzigen Passagiere an Bord dieses Privatjets von Fenrir Pharmaceuticals. Den Löwenanteil der Firma ebenso wie die meisten seiner größeren Vermögenswerte hat Roul mir hinterlassen. Allerdings wäre ich unter anderen Umständen wohl kaum seine erste Wahl gewesen. Zumal die Führung eines Rudels noch nie an einen Nachfolger übergeben worden ist. Normalerweise kämpfen die Alphas darum. Doch mit Rouls Ermordung ist bereits genug Blut vergossen worden, und es steht mehr auf dem Spiel als je zuvor: Eine ganze Spezies ist in Gefahr. Und das ist alles andere als normal.
Ebenso wie diese Reise über den Atlantik alles andere als ein Heimaturlaub ist. Amara und ich sind als Spähtrupp unterwegs. Nach dem, was man mir erzählt hat, sind einige Werwölfe zur selben Zeit und aus ähnlichen Gründen wie die Pilgerväter in die Neue Welt ausgewandert, nämlich um der Verfolgung in der Alten Welt zu entgehen – auch wenn es sich bei den Werwölfen um eine andere Art von Verfolgung gehandelt hatte. Diejenigen, die zurückgeblieben waren, können nicht mit Sicherheit sagen, was mit den Auswanderern drüben geschehen ist. Rudel sind ja von Natur aus in Revieren organisiert, und kein europäischer Werwolf könnte sich einfach so auf amerikanischen Boden wagen, ohne mit ernsthaften Anfeindungen rechnen zu müssen. Jene, die es dennoch taten, sind jedenfalls niemals zurückgekehrt. Es kursieren wilde Gerüchte über irgendeine Art von Zusammenschluss, eine Vereinigung der dortigen Rudel, denen niemand viel Glauben schenkt. Bis auf Roul, der sich ziemlich sicher war, dass sie es durchgezogen haben. Er hatte gehofft, das Gleiche in der Alten Welt zu schaffen – die Zusammenführung der europäischen Rudel. Jetzt ist es an mir, dem letzten Spross seiner Blutlinie, einem Werwolf von einem knappen halben Jahr. Mein menschliches Leben liegt definitiv hinter mir. Und vor uns liegt ein Krieg. Ich habe die mir verbliebene Zeit genutzt, um mich darauf vorzubereiten. Schließlich konnte ich ja schlecht in Rouls herrschaftlichem Pariser Stadthaus abhängen und darauf warten, dass der Feind zu mir kam, ganz abgesehen davon, dass ich wohl kein zweites Mal einer Luparii-Kugel entkommen werde. Diese Werwolfjäger haben nämlich nur ein einziges Ziel: unsere Spezies auszulöschen.
Seit sie sich mit den Jagdhunden Gottes entzweit und ihre lockere Allianz gewaltsam in einem blutigen Akt des Verrats zerrissen haben, verfolgen die Scharfschützen der Luparii uns Werwölfe in ganz Europa. Wie Roul vorausgesagt hat, mussten die Einzelgänger als Erste dran glauben. Ungeschützt und allein, so berichtete Arden, waren viele Wölfe leichte Beute für die Luparii und wurden gegen ihren Willen »geheilt«. Die größte Stärke der Luparii ist – wie die aller guten Jäger – ihre Geduld. Einen nach dem anderen können sie uns dezimieren, bis wir nicht mehr genug sein werden, um irgendetwas gegen sie auszurichten. Und in der Zwischenzeit gaben die Jagdhunde Gottes, eine Armee gebissener Werwölfe unter der Führung des Magistraten Breber, deutlich zu erkennen, dass sie für den Krieg mobil machen. Für sie ist der Wolfsbann, das sogenannte Heilmittel, ein zweifelhafter Segen. Zwar kann der Wolfsbann jenen, die Zivilisten geblieben sind und ihr altes menschliches Leben zurückhaben wollen, genau das geben. Doch dann sind da noch die anderen, die nichts haben, wohin sie zurückkehren können, und jene, die sich ganz den Jagdhunden Gottes und einer militärischen oder religiösen Aufgabe verschrieben haben, um die Geborenen in Schach zu halten. Für sie sind wir der große, böse Wolf aus dem Märchen, eine potenzielle Gefahr für die Menschheit, die unter ihrer Leitung kontrolliert werden muss. Die Rudel waren schon immer zu klein, um gegen ihre Herrschaft anzukommen. Und jetzt ist es erst recht ein hoffnungsloses Szenario. Es sei denn, wir können uns zusammentun. Stärke durch Zahl.
Wäre Arden – Amaras Freund und in gewisser Weise mein geheimer Bruder – im November, als alles begann, nicht gegen seinen Willen geheilt worden, wäre er ein sicherer Kandidat für die Leitung des Rudels gewesen. Auf ganz andere Art als Roul hätte er die Chance dazu gehabt. Doch Henri Boguet, einst skrupelloser Inquisitor bei den Hexenprozessen und verrückter Wissenschaftler der Moderne, hatte andere Pläne. Den allzu menschlichen Akt der Rache eingeschlossen. Ich habe nie die ganze Geschichte gehört, nur den entscheidenden Teil, dass Arden der Werwolf war, der Boguet gebissen hatte. Jahrhunderte später wurde Arden das erste unfreiwillige »Testobjekt« im Rahmen von Boguets Plan, die Welt von Werwölfen zu befreien. Dass das Mittel dazu ausgerechnet mithilfe meiner DNA entwickelt worden ist, hab ich bis heute nicht ganz verkraftet. Das ist einer der Gründe, der mich antreibt, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen.
Jetzt ist Arden kein Werwolf mehr – jedenfalls nicht physiologisch –, und nach den uralten Regeln und Traditionen müsste er eigentlich aus dem Rudel ausgestoßen werden. Aber diese Regeln gelten nicht für mich, den Hybriden, die fehlplatzierte Schachfigur in diesem großen Spiel. Wie auch immer, Arden hätte als Anführer des Rudels den Herausforderungen der modernen Welt den Rücken gekehrt und seine Wölfe tief in die Wälder geführt, weg von den Errungenschaften der Menschheit. Und irgendwann wird uns genau das noch nützlich sein. Schon nach meiner Rückkehr aus den USA werde ich mich auf seine Überlebenskünste in der Wildnis verlassen müssen, um unsere Spezies über die Schlachtfelder zu führen. In meiner amerikanischen Heimat jedoch wäre er mir keine große Hilfe. Deshalb ist Arden mit der Aufgabe zurückgeblieben, die anderen Rudel vor dem in Europa bevorstehenden Krieg und vor den mit Wolfsbann präparierten Biowaffen zu warnen. Ich selbst werde mir ihr Vertrauen erst verdienen müssen, wenn ich auch nur die leiseste Hoffnung haben will, die Rudel jemals vereinen zu können. Und dann wird mich immer noch ein Krieg an zwei Fronten erwarten. Es hat noch keine direkte Stellungnahme von den Jagdhunden Gottes gegeben, aber sie wird kommen.
Amara regt sich und erwacht. Ihre dunklen Augen leuchten im Sonnenlicht. Sie trägt ein schlichtes schwarzes Strickkleid mit schwarzen Lederstiefeln, die ihr bis über die Knie reichen, das Haar zu einem hohen Pferdeschwanz zurückgebunden. Als sie kurz zu mir herüberschaut, spüre ich mal wieder, wie mir gegen meinen Willen Hitze ins Gesicht steigt. Selbst nach den Monaten, die wir zusammen in Rouls Herrenhaus verbracht haben, bin ich immer noch nicht immun gegen ihre raubtierhaften Blicke. Wann immer sie mich anschaut, spüre ich mit allen Sinnen, dass ich ein »Eindringling« in ihre Welt bin. Ihr Leben ist ebenso stark erschüttert worden wie meins, aber ich brauche jemanden mit Einfluss an meiner Seite, jemanden, der mich in Fragen beraten kann, mit denen ich allein vielleicht nicht fertigwerde. Seit sie und Arden aus Quedlinburg zurückgekehrt sind, hat sie nicht viel gesagt. Man hat ihnen alles genommen. Nicht zuletzt ihre Besitztümer – die kleine Wohnung in Paris, seine Metzgerei im Erdgeschoss, ihr Tätowierwerkzeug. Ardens unfreiwillige Menschlichkeit hat ihrer Beziehung ein Verfallsdatum aufgedrückt. Er hat jetzt eine menschliche Lebensspanne vor sich, eine, die dazu führen wird, dass er altert und stirbt, während sie weiterlebt. Und jetzt habe ich sie gebeten, etwas von der gemeinsamen Zeit, die ihnen verbleibt, aufzugeben – das vielleicht größte Opfer, das sie bringen konnten. Früher hat sich ihre gemeinsame Zeit scheinbar unendlich wie ein Meer zum Horizont hin erstreckt. Jetzt ist ihnen nur der kleine Rest im Stundenglas geblieben und jedes noch so feine Körnchen Sand zählt. Wie für jeden Werwolf ist auch für Arden immer noch das Rudel die Basis des gesellschaftlichen Lebens, mit Amara als Mittelpunkt. Für Amara jedoch ist Arden das Einzige, was sie an das Rudel bindet. Seine beharrliche Weigerung, diesem Leben – entgegen aller Widerstände – den Rücken zu kehren, ist das, was sie nun daran hindert fortzugehen. Während der langen Zeit, in der Arden sich allmählich von seiner Schusswunde erholte, war ich mir beinahe sicher, dass ich weder ihn noch Amara je wiedersehen würde. Und selbst, als sie dann doch endlich zurückkamen und erfahren mussten, dass Roul tot war – dass es an mir war, die Rudel zu führen –, selbst da rechnete ich noch damit, bei meinem Vorhaben, Rouls letzten Wunsch zu erfüllen, womöglich allein zu sein.
Amara schert sich nicht um die Aussicht unter uns, stattdessen spüre ich ihren bohrenden Blick auf mir.
Ohne zu ihr hinüberzusehen, sage ich: »Wenn du etwas zu sagen hast, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt dafür.«
»Es wäre klug gewesen, eine Waffe mitzunehmen.«
Ich kann meine Überraschung nicht verbergen, daher halte ich den Blick fest aufs Fenster gerichtet. »Ich dachte, du hältst nichts von Feuerwaffen.«
»Du verwechselst Ardens Ansichten mit meinen.«
Wir schweigen für einen Moment, und ich denke noch einmal darüber nach, was uns da unten erwarten könnte. »Dieses geeinte Rudel in der Neuen Welt … das könnte alles bloß ein Märchen sein.«
»Du hast selbst gesagt, dass es nur eine Möglichkeit gibt, die Wahrheit herauszufinden. Ich mache mir viel mehr Sorgen darüber, dass diejenigen, auf deren Territorium wir landen, uns vielleicht daran hindern werden, von ihnen zu erzählen.«
Eine Gänsehaut überzieht meine Arme, und ich bin dankbar, dass sie es unter meinem Anzug nicht sehen kann. »Weißt du, was Ardens Abschiedsworte an mich waren? Homme mort ne fait guerre.«
Ein toter Mann führt keinen Krieg.
Sie wendet den Blick ab. »In letzter Zeit war er stark mit Gedanken an die Sterblichkeit beschäftigt – an seine eigene und die anderer.«
Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass in ihrer Stimme ein Anflug von Sarkasmus mitschwingt. Aber ich weiß es besser und Amara meint es todernst. Als der Jet nach rechts abdreht, zieht sie die Blende an ihrem Fenster nach unten und versucht, die Reiseübelkeit herunterzuschlucken, aber es gelingt ihr nicht ganz, sie vor mir zu verbergen, da sie sich in der ungewöhnlichen Blässe ihrer Haut zeigt. Ich blicke wieder aus meinem Fenster, als wir zur Landung auf dem Teterboro Airport in New Jersey ansetzen, Knotenpunkt für kleinere Privatjets und Businessflüge. Instinktiv ziehe ich mein Handy aus der Innentasche des Jacketts. Es ist hier elf Uhr vierzehn vormittags. Trotz des mehrstündigen Fluges nur zwei Stunden später als bei unserem Aufbruch aus Paris. Die Zeitverschiebung fühlt sich an, als sei ich durch einen Riss im Raum-Zeit-Kontinuum gefallen. Ich habe zwar etwas geschlafen, aber es wird sicher nicht lange dauern, bis der Jetlag sich bemerkbar macht. Und das, wo ich doch gerade in den nächsten Tagen einen klaren Kopf brauche. Während wir über die Rollbahn holpern, entsperre ich mein Handy und schicke eine SMS an Madison, um sie wissen zu lassen, dass wir sicher angekommen sind.
»Sir?« Die Stimme des Piloten erreicht mich vom Cockpit, aber ich checke nicht gleich, dass er tatsächlich mich meint, bis er sich wiederholt. »Sir.«
»Was gibt es?«
»Sie sollten vielleicht einen Blick nach draußen werfen.«
Als ich meinen Sicherheitsgurt löse, schiebt Amara ihre Fensterblende hoch. Blaue und rote Lichter blitzen über ihre blasse Haut. Polizeistreifenwagen haben den Jet eingekreist. Meine Sorge, das Rudel aufzuspüren, löst sich in Nichts auf. Es hat uns bereits aufgespürt – noch bevor ich auch nur einen Fuß auf amerikanischen Boden gesetzt habe. Zu welchem Zweck, werde ich erst nach der persönlichen Begegnung wissen. Amara betrachtet mich mit einem unverfrorenen Ich-hab’s-dir-ja-gesagt-Blick. Sie hatte ja recht. Ich hätte wahrscheinlich wirklich eine Waffe mitnehmen sollen.
2
Born in the USA
Ich stehe auf und spähe auf die Landebahn, wo ich dem erwartungsvollen Blick eines Cops begegne. Ende dreißig, helles, rötlichbraunes Haar, stark gefurchtes Gesicht. Den zwei goldenen Streifen auf den Schultern nach zu urteilen, muss er Captain des New York City Police Departments sein. Etwas an seiner kriegerischen Haltung sagt mir, dass er einer von uns ist. Mein Instinkt drängt mich wegzurennen: Nichts wie raus hier und so viel Abstand wie möglich zwischen sie und uns bringen. Aber genau deshalb bin ich ja hier. Also, nicht um wegzurennen, sondern um sie zu finden. Diese Arbeit haben sie mir nun abgenommen. Aber vielleicht beunruhigt mich die ganze Situation gerade deshalb so.
Jetzt, nachdem die Triebwerke verstummt sind, taucht der Pilot aus dem Cockpit auf. Erst denke ich, dass er die Ausgangsluke öffnen will, aber stattdessen hält er inne, um ein Paneel aufzuschieben, hinter dem ein Metallsafe zum Vorschein kommt. Als er einen Schlüssel aus der Tasche nimmt, den Safe öffnet und das herausholt, worauf er es abgesehen hat, stutze ich – dieses FAMAS-Sturmgewehr kenne ich bis jetzt nur aus meinem Call of Duty-Spiel.
»Nein«, sage ich in dem Versuch, nicht erschrocken zu klingen, angesichts der höchstwahrscheinlich geladenen Waffe. »Wir sind nicht hergekommen, um noch einen Krieg anzuzetteln.«
Er wirft einen unsicheren Blick in Amaras Richtung, also marschiere ich den Gang runter, um zu zeigen, wer hier das Sagen hat. Ich habe eine Menge über Körpersprache gelernt, seit mir die Führung des Wolfsrudels übertragen worden ist. Wenn man eine Situation unter Kontrolle hat, ist schon der halbe Kampf gewonnen – Körpersprache ist nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern auch ein Mittel, um Selbstvertrauen zu zeigen. Nur wenn das misslingen sollte und es keine andere Möglichkeit gibt, greife ich entweder verbal oder – wenn es gar nicht anders geht – physisch durch. Das heißt, ich muss den Wolf in mir kanalisieren, ohne ihn gänzlich zu entfesseln. Manchmal ist das gar nicht so einfach.
»Gibt es ein Problem?«, frage ich und baue mich dominant vor ihm auf.
Der Pilot schluckt seine Aufsässigkeit runter, während er die Waffe wieder verstaut. Leise antwortet er: »Dann nehmen Sie wenigstens die hier.«
Er greift erneut in den Waffenschrank und reicht mir eine Pistole, doch ich zögere.
»Sie hat Ihrem … Vorgänger gehört«, beharrt er.
Ich stopfe die Hände tief in die Hosentaschen und entscheide mich dagegen. »Legen Sie sie weg und lassen Sie die Leute an Bord kommen.«
»Er hätte …«
»Ich bin aber nicht er, nicht wahr.« Es ist mehr eine Feststellung als eine Frage.
»Nein, Sir.«
Er räumt die Waffe auf, schließt den Metallsafe ab und schiebt das Paneel an seinen ursprünglichen Platz, bevor er die Luke öffnet und die Gangway auf das Rollfeld hinablässt. Ein kalter Windstoß rauscht herein, zusammen mit dem nassen, erdigen Duft von Frühling. In der Erwartung hereinstürmender Cops trete ich einen Schritt zurück. Das dumpfe Scheppern von Stiefeln auf den Metallstufen kündigt das Erscheinen des Captains persönlich an. Seine breite Gestalt füllt den Türrahmen aus, während er das Flugzeug mit geübtem Blick rasch inspiziert, die Hände auf seinem Gürtel, zweifellos bereit, falls nötig jeden Moment seine Waffe zu ziehen.
»Sie sind vom Zoll befreit und eine Eskorte erwartet Sie … eine Aufmerksamkeit der Gründer.« Angesichts seines Akzents vermute ich, dass er aus Brooklyn kommt, aber ein Brooklyn, wie es Bill »der Metzger« Cutting in Gangs of New York verkörpert. Nach einer Pause wandert sein Blick zu den Ledersitzen. »Das heißt, wann immer der Boss bereit ist.«
Ohne den Captain auch nur eines Blickes zu würdigen, scrollt Amara, die nach wie vor sitzt, über mein Tablet. Natürlich würde jeder davon ausgehen, dass sie hier das Sagen hat. Ich bin noch keine achtzehn, und auch wenn ich in den letzten Monaten in meine eigene Haut hineingewachsen bin, kann ich mit ihrer Jahrhunderte umfassenden Reife natürlich nicht mithalten. Ich lasse es darauf beruhen, aber es ist ein gefährliches Spiel, so zu tun, als sei sie diejenige, die in Rouls Fußstapfen getreten ist. Auch wenn ich nicht leugnen kann, dass sie ihre Rolle besser spielt als ich. Immerhin können wir so ein wenig Zeit gewinnen, um herauszufinden, worauf es diese amerikanischen Werwölfe abgesehen haben. Ich hätte ihr immenses Interesse vorhersehen sollen, aber ich dachte, ich würde derjenige sein, der sie in ihrem Versteck aufspürt – nicht umgekehrt. Der Cop beobachtet uns, während wir unsere Taschen schultern, dann führt er uns zu der wartenden Eskorte: einer schwarzen Limousine mit zwei Streifenwagen und einem schwarzen Ford Interceptor ohne Kennzeichen. Ich habe keine Ahnung, wo sie uns hinbringen oder wen wir überhaupt treffen werden. Ich weiß ja noch nicht mal, wie sie herausgefunden haben, dass wir hierher unterwegs sind. Ihre Organisation ist uns ein komplettes Rätsel, eines, in das ich mir einige Einblicke erhoffe, bevor wir ihr Revier wieder verlassen – oder daraus entlassen werden. Die Türen schließen sich fast lautlos, als wir in der Limousine Platz nehmen – ein äußerst unheilvolles Gefühl von Gefangensein. Unser Fahrer gibt Gas, um dem Captain in seinem kennzeichenlosen Interceptor zu folgen, während wir – von den beiden Streifenwagen flankiert – mit blitzenden Lichtern durch den Vormittagsverkehr auf der Interstate 95 South Richtung Manhattan rasen.
Amara und ich schweigen die ganze Fahrt über. Wir wollen nichts preisgeben für den Fall, dass wir belauscht werden. Paranoia ist eine der unerwünschten Nebenwirkungen, wenn man auf so vielen Most-wanted-Listen steht. Wir passieren New Jersey Meadowlands, Tausende von Hektar Sumpfland, dem ich nie besonders viel Beachtung geschenkt habe, als ich noch in der Stadt lebte. Jetzt gehe ich im Geiste eine Liste von Grünflächen durch, falls wir fliehen müssen. Ein Schwarm kleiner Vögel flattert aus dem Sumpf empor und fliegt dann mit präzisen, koordinierten Bewegungen los wie eine Kunstfliegerformation – zeitgleich schwenken sie gemeinsam ab. Genauso muss ich die Rudel zusammenbringen. Bei den Vögeln sieht es so einfach aus. Bei ihnen gibt es keine Politik, mit der sie sich beschäftigen müssten. Jenseits des Sumpfes erhebt sich die Skyline von Manhattan vor uns, ganz Glas und Beton, bevor wir in die Tiefen des Holland-Tunnels fahren, wo grellweiße Lichter die langen gekachelten Wände erhellen. Diese Strecke bin ich wahrscheinlich schon hundertmal gefahren, aber noch nie hat sich mein Zuhause so fremd angefühlt.
Als wir in Paris die Flughafen-Security passiert haben, muss dieses amerikanische Rudel – anscheinend nennt es sich die Gründer – unseren Flugplan im System und jede unserer Bewegungen verfolgt haben. Sie konnten beruhigt davon ausgehen, dass wir unbewaffnet sein würden. Es ist noch zu früh, um zu sagen, ob es ein Fehler war, die Pistole im Flieger zu lassen. Keine Ahnung, wie lange sie uns bereits beobachten. Haben sie mich vielleicht schon auf ihrem Radar, seit ich im Ausland bin? Roul war als Geschäftsführer von Fenrir Pharmaceuticals ja nicht gerade unsichtbar. Aber ich hätte nicht erwartet, dass sie so gut organisiert sind. Die Polizeieskorte ist ein netter Vorgeschmack und eine ziemlich klare Botschaft, was ihr Machtlevel betrifft. Rudel operieren normalerweise in kleineren Grüppchen. Die Infiltration der New Yorker Polizei hatte ihnen mit Sicherheit einiges abverlangt. Und dass einer von uns in den Rang eines Captains aufgestiegen ist, ist gelinde gesagt ziemlich beeindruckend. So, wie ich das verstanden habe, war Rouls Ehrgeiz, sich inmitten von Menschen eine erfolgreiche Existenz aufzubauen, ziemlich einzigartig in Europa. Die anderen Werwölfe verbrachten ihr Leben größtenteils an den Rändern der Gesellschaft, zwischen den Welten, nicht in der Lage, sich voll zu integrieren, und zugleich außerstande, den Einmischungen durch die Menschen zu entgehen. Aber das hier ist eine ganz andere Liga.
Die Limousine biegt von der Canal Street nach links ab und hält schließlich an. Der Chauffeur lässt uns exakt vor 240 Centre Street im Stadtviertel NoLIta aussteigen. Vor uns erhebt sich ein majestätischer Bau: weiße Steinquader, hohe Säulen und ein Ziergiebel über dem Eingang; eine grüne Kupferkuppel krönt das Herzstück des Gebäudes und erinnert mich an einen europäischen Palast; die breite Treppenflucht führt hinauf zu drei kunstvoll geschmiedeten Metalltüren, die in die Torbögen eingelassen sind und zu beiden Seiten von einem steinernen Löwen bewacht werden. Es weckt Heimweh nach Paris in mir. Wahrscheinlich ist es seltsam, so starke Gefühle für einen Ort zu hegen, an dem ich weniger als ein Jahr gelebt habe – noch dazu einen großen Teil davon in Quarantäne oder in einem Versteck. Doch in gewisser Weise wurde ich dort ein zweites Mal geboren.
Ein Wachmann lässt uns herein und der nostalgische Look setzt sich auch im Innern des Gebäudes fort. Wir betreten ein vornehmes, mit Marmor ausgelegtes Foyer. Von der hölzernen Kassettendecke, die mit floralen Intarsienarbeiten geschmückt ist, hängen Kristallkronleuchter. Begleitet vom Echo unserer Schritte, folgen wir dem Captain am Concierge vorbei zum Aufzug. Wir fahren ins Penthouse. Er weist die beiden Cops an, vor der Tür zu warten, bevor er einen Code in das Keypad an der Tür eingibt und vor uns eintritt. Das Penthouse steht in scharfem Kontrast zu dem, was ich vom Rest des Gebäudes gesehen habe: wie aus einem Science-Fiction-Roman. Gewölbte, metallene Tragebalken erstrecken sich fast sieben Meter in die Höhe, ebenso schneeweiß gestrichen wie die Wände und die Decke. Die Möbel alle aus Glas, Chrom oder eisblauem Leder. Meine Augen brauchen eine Weile, um sich an die grelle Helligkeit des Raums zu gewöhnen.
Mit einem erschöpften Seufzer stelle ich meine Tasche ab und nehme im selben Moment eine flüchtige Bewegung vor uns wahr. Ein Mädchen, das aussieht, als sei es kaum älter als ich, blättert gelangweilt in einer Zeitschrift. Zwei braune Wölfe lümmeln träge auf den anderen Sofas. Sie heben nicht einmal den Blick, als ich zu ihnen hinüberstarre. Beide Wölfe tragen eine Art Designer-Hundehalsband, breit, aus Leder und mit Edelsteinen besetzt. Als das Mädchen eine weitere Seite umblättert, leuchten ihre perfekt manikürten Nägel auf, die ebenfalls mit winzigen Juwelen verziert sind. Unter dem langen braunen Haar, das sie locker zurückgebunden hat, erhasche ich den Schimmer eines Ohrrings. Der Captain räuspert sich, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Es entsteht eine unangenehme Pause, während sie die Seite seelenruhig zu Ende liest, bevor sie aufschaut. Ihre hellbraunen Augen sind mit Kajal umrandet und verleihen ihr ein katzenhaftes Aussehen. Augen, die zwischen uns hin und her flackern, bevor sie schließlich mit kühlem Blick auf Amara ruhen. Einer der Wölfe lässt ein tiefes, behagliches Schnurren ertönen. Ich mache einen Schritt vorwärts, um uns vorzustellen, aber der Captain drückt mir seine Hand auf die Brust.
»Das ist nah genug«, erklärt er und tritt dann ein Stück zur Seite.
»Wir sind hier, um mit den Gründern zu sprechen«, erklärt Amara bestimmt. »Sind Sie beide das?«
Das Mädchen bleibt stumm, ihre Augen wandern lediglich zu ihrem uniformierten Gefährten.
»Und wer zur Hölle sind Sie?«, fragt der Cop. »Ich habe Rodolfos de Aquila in diesem Flugzeug erwartet.«
»Bedauerlicherweise ist Aquila tot«, sagt Amara ausdruckslos.
»Nun, so viel hab ich mir bereits gedacht«, antwortet er unbeeindruckt. Falls er Roul gekannt hat, lässt er es sich nicht anmerken. Nicht, dass der Werwolf an sich eine Spezies wäre, die ihr Herz auf der Zunge trägt.
Er schaut zwischen uns hin und her, bis sein Blick auf meinen Halsansatz fällt. Er verkrampft sich plötzlich und umkreist mich, versperrt mir abermals den Weg zu dem Mädchen. Geistesabwesend folgt meine rechte Hand der Richtung seines Blickes. Ich habe es versäumt, meinen Kragen wieder zuzuknöpfen, sodass man das Tattoo an meinem Nacken sehen kann. In jedem Tropfen Tinte liegt eine eigene Geschichte, und was auch immer er in Bezug auf mich spekuliert – es bedeutet nichts Gutes. Schon in der nächsten Sekunde zieht er sein Hemd aus und wirft es zu seinen Füßen auf den Boden. Ich trete zurück und fahre mir mit der Hand über das kurz geschorene Haar am Hinterkopf. Noch während ich beobachte, wie er seinen Gürtel abschnallt, weiß ich, was als Nächstes passieren wird.
»Para bellum«, sagt er.
Bereite dich auf den Krieg vor.
Er will gegen mich kämpfen. Die Werwolfversion des Fight Club, eine Sitte, die offenbar rund um den Globus verbreitet ist und die ich immer noch nicht kapiere. Diese Kämpfe beginnen plötzlich und ohne große Vorwarnung und dienen nicht nur der Demonstration von körperlicher Kraft, sondern vielmehr dazu, die im Innern eingepferchte Bestie zu entfesseln. Ein Ritus, dem ich mich nicht entziehen kann. Ich habe keine Ahnung, was für eine Rolle dieser Polizei-Captain innerhalb seines Rudel spielt, aber als er sich sein weißes Unterhemd über den Kopf zieht, erkenne ich ganz klar den sehnigen Körperbau des Kriegers, auch wenn die etwas schlaffere Haut an seinen Rippen sein fortgeschrittenes Alter verrät. Über seinem Herzen prangt eine Tätowierung – ein gelber Schild mit einem blauen, kauernden Löwen, wie ein Familienwappen. Jede noch so kleine Tätowierung hat ihre eigene Bedeutung.
»Est modus in rebus.« Es gibt ein Maß in allen Dingen. Ich halte mit einer von Rouls lateinischen Phrasen dagegen, obwohl schon jetzt klar ist, dass wir uns unausweichlich auf einen körperlichen Showdown zubewegen. »Ist das wirklich notwendig?«
»Hier gibt’s keine Kompromisse«, antwortet er ungerührt. »Nicht in meinem Revier.«
»Genug«, sagt Amara und legt mir beruhigend eine Hand auf den Unterarm.
»Sie sollten eigentlich wissen, dass das so nicht funktioniert«, beharrt der Cop.
»Ruf deinen Köter zurück oder ich werde es tun«, blafft Amara das Mädchen an, das sichtlich amüsiert zuschaut.
Der Captain grinst. »Keine Angst, Sie kommen auch noch dran. In mir steckt genug Kampfeslust für alle, aber Sie werden warten müssen, bis ich mit diesem Bürschchen hier fertig bin.«
Ich muss akzeptieren, dass es wirklich keinen anderen Weg gibt, und schlüpfe aus meinem Anzug. »Ich hab auch einiges drauf.«
Er mag mir an Größe überlegen sein, aber ich habe in letzter Zeit eine Menge Kampftraining absolviert und mache seine Erfahrung mit meiner Beweglichkeit wett.
»Halt«, faucht Amara.
»Zurück«, befehle ich ihr, während das Adrenalin in mir hochkocht. »Sofort.«
Obwohl sie die Augen missbilligend zusammenkneift, rückt sie respektvoll von mir ab.
»Ihr aus der alten Welt bringt euren Alphas aber nicht so viel Respekt entgegen, wie ich in Erinnerung habe«, bemerkt der Captain, bevor er ein grimmiges Knurren ausstößt und sich verwandelt.
Ich tue es ihm gleich, und zwar gerade noch rechtzeitig. Mit gesenktem Kopf, angelegten Ohren und gebleckten Zähnen stürmt er auf mich zu, noch während sich die Stoppeln meiner Schnurrhaare aufstellen. Seine Pfote streift meine Schnauze, ich spüre das Brennen seiner Krallen und greife ebenfalls an. Wir erheben uns auf die Hinterbeine, ringen und lassen die Reißzähne blitzen. Er hat mich in eine Haltung gezwungen, die meine Schnelligkeit nutzlos macht. Beide versuchen wir, den anderen zu beißen, doch ohne Erfolg, bis seine Zähne sich schließlich in das empfindliche Fleisch meines rechten Ohres bohren. Ich stoße ein unwillkürliches Jaulen aus, als er mich auf dem bleichen Parkett auf den Rücken rollt und die Oberhand gewinnt. Das Gewicht seiner Muskeln drückt mich nieder. Mit allen vier Pfoten stemme ich mich gegen ihn und versuche, mich zu befreien, aber es hat keinen Sinn. Amara erkennt ihre Chance, macht einen großen Bogen um uns herum und bewegt sich auf das Mädchen zu. Der Captain schätzt diese Bedrohung als die größere ein und lässt von mir ab, um Amara den Weg abzuschneiden. Ich schnelle herum auf alle viere und stürme auf ihn zu, setze zum Sprung an und schließe noch im Flug meine Krallen um seinen dicken Hals. Er bellt überrascht auf, während ich meine Reißzähne in seinem Nacken versenke. Trotz meines festen Griffs versucht er, mich wie ein Bulle abzuschütteln, wodurch aber nur noch mehr von seinem Blut fließt. Sein Knurren vermengt sich mit meinem zu einem Summen, das durch meinen Kiefer vibriert.
Dann steht das Mädchen auf, hebt zu einem halbherzigen Applaus an und gibt damit eindeutig zu verstehen, dass der Kampf vorüber ist. Das lässt die anderen beiden Wölfe aufmerken, allerdings ohne dass sie ihre Ruheposition auf den Sofas aufgeben würden. Amara bleibt argwöhnisch stehen angesichts der plötzlichen Unterbrechung des Kampfes. Das Mädchen ist von zerbrechlicher, spindeldürrer Gestalt, welche durch das eng anliegende graue Spitzenkleid noch betont wird. Auf ihren Riemchenstilettos steht sie hoch aufgerichtet da wie eine todschicke, zum Leben erweckte Bratz-Puppe. Mein Gegner und ich sind mitten in der Bewegung erstarrt, bis ich plötzlich ein gequältes Heulen vernehme, als er versucht, sich zurückzuziehen. Ich halte ihn immer noch mit den Zähnen fest. Das Mädchen bleibt vollkommen ungerührt, und ihre Gleichgültigkeit ist verwirrend und seltsam beruhigend zugleich. Das Letzte, was ich momentan gebrauchen kann, ist eine weitere Eskalation der Situation.
»Bitte, das ist so langweilig«, sagt sie gedehnt. »Was um alles in der Welt soll das ganze Theater überhaupt?«
Ich muss die Antwort Amara überlassen, da ich mich, wenn ich selbst antwortete, in eine angreifbare Position bringen würde. Mein Gegner kämpft immer noch gegen meinen Kiefer an ohne irgendwelche erkennbaren Ambitionen, sich geschlagen zu geben.
»Ruf ihn zurück, Esrin«, verlangt Amara ruhig. »Wir sind nicht hier, um zu kämpfen.«
»Also wirklich, Amara, etwas weniger Drama täte es auch.«
Meine Konzentration gilt zu hundert Prozent diesem Gespräch statt meinem Gefangenen, der sich in diesem Moment leicht losreißen könnte. Aber mir schwirrt der Kopf, während ich versuche mitzukommen. Sie kennen einander? Das Mädchen schaut zu mir herüber – zu uns –, und ich spüre, wie der Captain sich beruhigt und langsam in seine menschliche Gestalt zurückkehrt. Ich lasse ihn los, ziehe mich schnell zurück und bringe so viel Abstand wie möglich zwischen uns, um das Gleiche zu tun. Ich wische mir das Blutrinnsal vom Mund. Mir tut alles weh. Meine linke Wange schwillt an, und ich verspüre ein feuchtes Brennen an meinem Ohrläppchen, wo er mich gebissen hat. Alles in allem war der Kampf ziemlich ausgewogen. Das Mädchen mustert mich ohne eine Spur von Verlegenheit, als ich nach der Verwandlung nackt vor ihr stehe. Schnell schlüpfe ich in Hose und Hemd, dann erinnere ich mich an das Taschentuch in meinem Jackett, ziehe es aus der Brusttasche und presse den Stoff an mein Ohr, um die Blutung zu stillen. Jetzt, da die Atmosphäre sich abgekühlt hat, wirft Amara dem Captain anstandshalber seine Hosen hinüber.
»Würde mir bitte mal jemand erklären, was diese … Mätzchen sollen?«, fragt das Mädchen in die Runde.
»Ein ganz gewöhnlicher Kampf«, antwortet Amara. »Einer, den dein Hund begonnen hat.«
»Ach ja?«, erwidert der Mann schroff, während er den Reißverschluss seiner Hosen hochzieht. »Und was machen Sie dann hier?«
»Moment mal«, werfe ich ein. Ich bin offenbar der Einzige, der da nicht mitkommt. »Wer zur Hölle sind Sie?«
»Ich bin Lyall Marrock«, erwidert der Captain. »Und dies ist Esrin Beyazkurt.«
Das Mädchen fügt gelassen hinzu: »Sie haben nach den Gründern gesucht? Wir sind die Gründer.«
»Außer Ihren Namen wissen wir nichts über die Gründer«, eröffne ich ihnen. »Aber ganz ehrlich: Ich habe mehr erwartet als das. Kann es sein, dass wir hier unsere Zeit verschwenden? Denn das Ganze hier kommt mir ziemlich dilettantisch vor.«
Mit einem herausfordernden Lächeln tritt Esrin lässig vor Amara. Sie starren einander wortlos an und weichen weder zurück, noch zucken sie auch nur mit einer Wimper. »Erklär du es unseren Gästen, ja, Captain?«
Während er sich bückt, um den Rest seiner Kleider aufzusammeln, bringt Marrock uns auf den Stand der Dinge. »Ich habe vier Scharfschützen auf der anderen Straßenseite postiert. Zwei auf dem Dach, zwei an diesem Fenster dort unten und ein Dutzend weitere Cops im Foyer. Hier hat niemals irgendwelche Gefahr gedroht, jedenfalls nicht uns. Klingt das immer noch dilettantisch?«
Mein Selbstbewusstsein gerät ins Wanken, denn meine letzte Erinnerung an einen Scharfschützen ist immer noch ziemlich frisch. Eine einzige Geste seiner Hand bewirkt, dass zwei rote Laserpunkte auf Amaras Körper auftauchen – auf der Stirn und auf dem Herzen. Ich brauche nicht hinabzuschauen, um zu wissen, dass sie das Gleiche bei mir sieht. Okay. Ich lächele innerlich. Also doch keine Dilettanten.