Das Chaos sei willkommen, denn die Ordnung hat versagt.

Karl Kraus

Prolog

Nein, ich bin keine Heldin.

Ich bin nicht mal der Typ Mensch – ich meine natürlich, der Typ Übernatürliche –, der ältere Damen gern über die Straße begleitet oder einem Kleinkind wieder auf die Beine hilft, wenn es hingefallen ist. Ehrlich gesagt finde ich Letzteres sogar super lustig. Doch damit hört es ja nicht auf: Bei jeder Wohltätigkeitsveranstaltung der Schule hatte ich mich bisher krankgemeldet, obwohl ich als Hexe nicht einmal einen leichten Schnupfen bekommen konnte. Während meine Mitschüler also brav von Haus zu Haus gegangen sind, um überteuerte Süßigkeiten oder unnütze Dinge wie Kerzen zu verkaufen, hatte ich entweder lange ausgeschlafen oder mir im Bett liegend Serien angeschaut und mich insgeheim über meine Mitschüler lustig gemacht.

Man sieht: Ich vollbringe nicht einmal die kleinen Heldentaten des Alltags.

Warum liegt dann ausgerechnet das Schicksal der Welt in meinen Händen?

Um euch meine missliche Lage zu erklären, muss ich leider ganz von vorne anfangen. Also wirklich ganz von vorne: bei der Entstehung des Lebens.

Seit Anbeginn der Zeit existieren Götter. Zeus, Anubis, Thor – sie alle gibt es wirklich. Und diese Götter taten Dinge, die man überall nachlesen oder sich in verschiedensten Blockbustern ansehen kann. Sie stritten sich, verbreiteten Unheil, terrorisierten und verführten Menschen. Natürlich gab es auch einige Helden, die nur das Beste für die Menschheit wollten, aber diese Langweiler sind nicht wichtig für diese Geschichte.

Die Götter lebten also unter den Menschen, aber dann geschah etwas, das noch nie zuvor passiert war: Ein Gott tötete einen anderen Gott. Der ägyptische Chaosgott Seth tötete seinen Bruder Osiris, um Herrscher über ganz Ägypten zu werden. Zunächst blieb sein Vergehen ziemlich folgenlos. Er war nun König von Ägypten und regierte sein Land gar nicht einmal so schlecht. Als Kriegsgott schaffte er es leicht, die Gegner von Ägypten zu vernichten. So wurde er in zahlreichen Tempeln verehrt und hatte eine ganze Dienerschar an Priestern und Priesterinnen, welche er in Hexer und Hexen verwandelt hatte.

Aber dann geschah das, was Seth wohl am wenigsten erwartet hatte: Osiris' und Isis' Sohn Horus beanspruchte den ägyptischen Thron für sich. Isis, welche eine mächtige Göttin war, hatte ihren Mann Osiris nach Seths Todesstoß nämlich wiederbelebt und einen Sohn mit ihm gezeugt, bevor sie für immer voneinander getrennt wurden. Osiris wurde zum Herrscher der Unterwelt. Somit fiel der Anspruch auf die Doppelkrone Ägyptens seinem Sohn Horus zu.

Es kam, wie es kommen musste: nämlich zu einem lang anhaltenden Kampf zwischen Seth und Horus. Die beiden Götter stellten sich als gleich stark heraus, sodass am Ende ein Göttergericht entschied, dass Seth und seine Gefolgschaft für immer aus Ägypten verbannt werden mussten.

Und was tat der exilierte Gott des Chaos? Das, was er nun mal am besten konnte: Er verbreitete weiter sein Unheil. So half er einigen Göttern dabei, andere ihrer Art auszuschalten.

Es wurden immer weniger Götter und diejenigen, die noch am Leben waren, wurden immer schwächer und schwächer – bis sie schließlich in einen gut 3000-jährigen Schlaf fielen. Alle. Alle, bis auf Seth, der wegen seiner Verbannung und dem Ausschluss aus der Göttergemeinschaft nicht das Schicksal der anderen Götter teilte.

Was dieses Götterchaos nun mit mir zu tun hat?

Um es ausnahmsweise einmal kurz zu machen: Ich bin Seths Tochter und damit der Grund, warum die schlafenden Götter wieder aufgewacht sind. Zwar bin ich keine richtige Göttin, sondern mehr so etwas wie eine Chaoshexe, aber meine Geburt hatte trotzdem ausgereicht, um die Götter der Reihe nach aufzuwecken. Die Morde an ihresgleichen hatten sie einschlafen und die Geburt einer neuen Göttin hatte sie aufwachen lassen. – Na ja, eigentlich nicht ganz … Eigentlich hätte mein Tod – das Vergießen meines Blutes – dies bewirken sollen, aber ich war nicht gestorben – nur fast eben … Ja, ich weiß: Lange Geschichte!

Okay, ich habe nachgedacht und die lange Geschichte ist doch wichtig für das Gesamtpaket. Meine eigene Tante Charity wollte mich – unter Horus' Einfluss – in einem besonderen Ritual für Horus, Isis und Osiris opfern und meinen Körper den Göttern als Hülle darbieten. Dafür hatte sie sogar zwei meiner Mitschüler getötet: Noah, ein Mensch, der mich auf einer Halloweenparty geküsst und das nicht lange überlebt hatte, sondern stattdessen zu einem ruhelosen Geist geworden war (nein, es lag nicht an meinem Kuss!), und Eric, ein Vampir.

Ich hatte Eric nie besonders gemocht, aber meine Tante hatte ihn so weit getrieben, den unschuldigen Noah zu töten und mich in eine hinterlistige Falle zu locken.

Noah hatte dafür dann meine Tante getötet.

Ach ja, Noah, in den ich mich übrigens verliebt hatte, als er noch ein Geist war, hatte ich aus Versehen einen neuen Körper und magische Kräfte als Hexer geschenkt. Das wollte ich eigentlich nicht, aber hey: Das war die Lösung für all meine Probleme gewesen, auf die ich selbst wohl nie gekommen wäre. Ich habe nämlich lieber einen Freund mit einem Körper zum Rummachen, als ein körperloses Etwas, das sich jeden Moment in einen aggressiven Poltergeist verwandeln könnte.

Am Anfang hat Noah seine Verwandlung nicht so gut weggesteckt, aber jetzt es geht ihm prima. Er hat abgefahrene Kräfte und die beste Freundin der Welt. – Nein, nicht Jennifer Lawrence, sondern mich. Ich bin doch viel cooler!

Huhu? Seid ihr noch da?

Kommen wir wieder an die Stelle zurück, als die Götter aufwachten. Ihr Schlaf war durch meinen Beinahe-Tod beendet worden. Es hatte nur wenige Monate gedauert, bevor sie alle wiedererwacht waren – allen voran mein durchgeknallter Psycho-Cousin Horus.

Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber wenn ich lange ausschlafe, bin ich immer megagut gelaunt. Vielleicht ein wenig hungrig, ja, aber im Prinzip echt gut drauf. Horus hingegen empfindet nach seinen langen Schläfchen nur pure Mordlust. Er will endlich den Krieg gegen das Chaos gewinnen; der Krieg, der seinen Vater das Leben gekostet hat. Da ich leider aus Blut und Chaos geboren wurde, heißt das, dass er insbesondere mich umbringen will.

Dabei habe ich in meinem Leben noch nie etwas wirklich Böses getan! Einmal hatte ich jemandem Herpes angehext, ja, aber dabei handelte es sich um die arrogante Larissa, die ganz zufällig auch noch Noahs Ex-Freundin war. Jetzt vertrug … Ich mochte … Wir akzeptierten gefühlsneutral die Existenz der jeweils anderen.

Und da wären wir also: Ich muss meinen Cousin Horus töten, bevor er mich umbringt oder in seinem Wahn noch etwas Schlimmeres als die Apokalypse auslöst.

Ich weiß nicht, ob ich eine Heldin bin, wenn ich Horus töte, und ich weiß nicht, ob ich der Welt mit seinem Tod und meinem Weiterleben einen Gefallen tue.

Aber ich bin die Chaoshexe Mayhem und ich tue das, was ich für richtig empfinde. Daher hole ich mir erst mal eine Tafel Schokolade, um meine angespannten Nerven zu beruhigen …

1. Kapitel

An einem warmen Frühlingstag im April stand auf einmal eine mysteriöse Göttin in unserem Garten.

Gerade noch hatte ich auf meinem aufblasbaren Einhorn im Pool entspannt, als die hübsche Frau urplötzlich neben einer antiken Statue eines Satyrs aufgetaucht war.

Götter und Göttinnen konnte man auf den ersten Blick nicht wirklich von Menschen unterscheiden. Das war der Grund, warum mein Vater, der Chaosgott, trotzdem als Uniprofessor oder Schulpsychologe arbeiten konnte. Die meisten von ihnen verbargen sogar die mächtige Aura, die sie wie ein langanhaltendes Deo stets umgab, mit einem Zauberspruch. Allerdings hatten sie meist etwas Übermenschliches an sich: Entweder sie waren zu schön, um wahr zu sein, oder in ihren Augen spiegelte sich etwas überaus Mächtiges wider.

Ich war nur ungefähr zur Hälfte ein Gott und selbst meine Augen waren ungewöhnlich sturmgrau. Wenn ich wütend wurde, wurden sie sogar noch dunkler. Ich war nun mal eine kleine Unheilsgöttin; Stürme und Streitereien gehörten zu meinem Repertoire.

Auch diese Göttin hier sah auf den ersten Blick aus wie ein normaler Mensch. Sie war vermutlich asiatischer Abstammung, hatte helle Haut, lange, glatte schwarze Haare und dunkelbraune Augen. Dazu trug sie unauffällige Klamotten: ein hellrosa Shirt und einen schwarzen Tellerrock.

»Was willst du hier?«, knurrte ich die fremde Göttin an.

Ich versuchte gerade angestrengt aus unserem Pool zu klettern. Warum tauchten diese unsterblichen Arschlöcher auch immer dann auf, wenn man nicht dazu bereit war?

Als ich das erste Mal Athene – ja, die bekannte griechische Kriegs- und Weisheitsgöttin kennengelernt hatte, saß ich rittlings auf meinem Freund Noah und er hatte gerade den Verschluss meines BHs gelöst, sodass ich mich barbusig zu ihr umgedreht hatte.

Bevor ich mich also noch weiter vor einer Göttin blamierte, nutzte ich meine Fähigkeit, das Element Wasser zu beeinflussen und hob mich damit über den Beckenrand.

Mit nichts als einem knappen schwarzen Bikini bekleidet, trat ich der Unbekannten gegenüber. Wenn ich mich in Kampfmontur schmiss, könnte sie meine kurze Unaufmerksamkeit nutzen und mich angreifen. Sollte sie nur denken, dass ich wehrlos war – während mein Freund Noah bereits mit einer riesigen Hellebarde bewaffnet unsichtbar hinter ihr stand. Er nickte mir kampfbereit zu.

»Bist du etwa Mayhem?«, fragte sie.

Sie redete Englisch. Götter sprachen und verstanden alle Sprachen der Welt.

»Wer will das wissen?«

Ich blickte kurz zu Boden, wo sich schwarze Schlingen um meine Füße wanden. Zwar konnte ich meine Chaosmagie nicht wirklich gut kontrollieren, aber ich würde sie, wenn es denn sein musste, auf jeden Fall gegen diese Göttin einsetzen.

Auf einmal stand jemand neben der asiatischen Gottheit und hielt ihr ein langes Schwert an den Hals. »Sie hat dich nach deinem Namen gefragt! Antworte ihr!«

Bastet – die ich allerdings immer »Tante Bastet« nennen musste – war nun also auch wieder aufgetaucht. Sie trug ein rotes Handtuch um den Hals, ihre dunklen Haare tropften allerdings noch vor Nässe. Man konnte Bastet keine Minute vom Wasser fernhalten – für eine Katzengöttin eher ungewöhnlich.

»Mein Name ist Amaterasu-o-mi-kami.« Sie vollführte trotz Schwert am Hals einen leichten Knicks. »In eurer Sprache bedeutet das, die am Himmel scheinende, große erlauchte Göttin.«

Ich rümpfte die Nase. Gegen Sonnengötter war ich praktisch allergisch. Sie waren Götter des Lichts und der Ordnung, während ich der Dunkelheit und dem Chaos angehörte.

»Okay, Ametasu … Amarasu …«

»Amaterasu«, verbesserte sie mich mit kühler Stimme. Trotzdem lächelte sie mich kurz an – ihr Lächeln erreichte aber nicht ihre göttlichen Augen. »Wenn es dir zu schwerfällt, kannst du mich auch Amy nennen.«

»Was willst du von mir, o große Himmelsgöttin?«

War es dumm von mir, so schnippisch zu ihr zu sein? – O ja! Wenn sich jemand noch tiefer in die Scheiße reinreiten konnte, als er ohnehin schon drinsteckte, dann war das ich.

»Mayhem! Bastet! Noah!«

Ein bisschen zu spät stürmte mein Vater Seth aus dem Haus. Er schmiss beim Herannahen einfach den Wäschekorb in seinen Händen zu Boden. Wie es aussah, hatte ihn Mom wieder einmal zum Wäschewaschen verdonnert.

Deutlich gemächlicher folgte ihm der Himmelsgott Re.

Seth richtete sein Chepesch gegen Amy. »Zuerst angreifen, dann fragen! Habt ihr alles vergessen, was ich euch beigebracht habe?«

Er wollte gerade sein Schwert zum Schlag erheben, als ihn der andere Gott mit einer Handbewegung innehalten ließ.

»Stoppt alle!«, fuhr Re mit seiner autoritären Stimme dazwischen. »Vor euch steht die oberste Shinto-Gottheit Amaterasu. Begegnet ihr gefälligst mit Respekt!«

Da ich höflich erscheinen wollte, hielt ich ausnahmsweise die Klappe. Was kümmerte mich schon eine japanische Gottheit? Ich, Seth, Re und der Rest unserer Truppe waren ägyptische Götter, die in Amerika lebten.

»Pah!« Bastet hielt sich allerdings nicht zurück – und sprach das aus, was ich dachte: »Was interessieren uns die Shinto-Gottheiten? Je mehr Götter noch leben, desto mehr Feinde haben wir. Lasst sie uns töten. Wir sind nie wieder in so einem klaren Vorteil wie jetzt.«

»Bastet!« Nun war Re nicht mehr so entspannt. »Hör auf, so einen Blödsinn zu reden, und lass die Waffe sinken. Amaterasu ist auf unserer Seite.«

Das machte mich hellhörig. »Wirklich?«

»Wäre ich eure Gegnerin, dann hätte ich euch schon längst ausgeschaltet.«

Ohne Vorwarnung fing die Göttin an zu leuchten. Zuerst nur ein wenig, aber dann war es so, als hätte mir jemand mit einem Scheinwerfer direkt ins Gesicht gestrahlt. Ich war so geblendet, dass ich rückwärts in den Pool stolperte.

Als ich wieder an die Oberfläche trieb, spuckte ich mindestens einen Liter Wasser. Reiche Menschen hätten mich als Springbrunnenfigur in den Garten stellen können. »Musste das sein?«

Bastet lag am Boden, ebenso wie Noah. Er war sogar wieder sichtbar geworden. Seth war auf die Knie gefallen, hielt sich die Hände vors Gesicht und fluchte wie wild vor sich hin. Ich hörte Worte, die nur jemand kannte, der schon Jahrtausende lebte. Einzig und allein Re schien das Ganze nichts ausgemacht zu haben.

»Es tut mir leid, aber ich wollte nicht, dass ihr denkt, dass ich eine schwache Göttin sei.« Amaterasu schritt in Richtung des anderen Sonnengottes. »Ich schlage mich nur auf die Seite des Chaos, weil ich gehört habe, dass Re felsenfest hinter euch steht. Und natürlich auch, weil ich Interesse an der neuen Götterordnung habe.«

Re deutete auf die Terrassentür. »Wollen wir das im Haus besprechen?«

»Sehr gerne.«

Somit verschwanden die zwei Götter in meinem Haus.

Ich sah ihnen mit zusammengekniffenen Augen nach. Blöde Sonnengötter! Ich wusste doch, warum ich sie nicht ausstehen konnte! Die hielten sich immer für was Besseres.

Mein Freund hatte sich zum Rand des Pools geschleppt. »Man kann in diesem Haus echt keine einzige Minute entspannen.«

Ich sah kurz zu Bastet, die immer noch ausgeknockt war. »Vöglein, Vöglein, …«, murmelte sie immer wieder vor sich hin.

»Warum sind alle Götter so arrogant?«, beklagte ich mich bei Noah. »Die da«, ich deutete auf die lallende Katzengöttin, »ist echt die einzige, die in Ordnung ist.«

Meinen Vater zählte ich nicht wirklich dazu. Ich meine, ich liebte ihn, aber er war auch nervig und vor allem unverschämt und narzisstisch. Wenn er nicht mein Dad wäre, würde er mich auch so herablassend behandeln. Ich bekam ja mit, wie er mit Noah und meinen Freunden umsprang.

»Mayhem?«, rief der Gott des Chaos. »Könntest du mir vielleicht helfen?«

»Was ist denn?«

Er sah auf und blinzelte. »Ach nichts! Meine Netzhäute haben sich gerade regeneriert. Ich kann wieder sehen.« Er rappelte sich auf und deutete mit seinem Schwert auf mich und besonders lange auf Noah. »Wir sollten reingehen und uns anhören, was Amaterasu zu sagen hat.«

»Muss das sein?«, fragte ich patzig. »Ich mag sie nicht.«

Seth seufzte. »Ich mag auch keine Göttinnen, die mir gleich bei der ersten Begegnung die Augäpfel grillen, aber sie scheint auf unserer Seite zu sein und wir können jede Unterstützung gebrauchen.«

Bis jetzt waren Re, Sachmet, Bastet und Athene unsere engsten Verbündeten. Thot, einer von Res Abkömmlingen und Gott der Weisheit, hielt sich hingegen ganz heraus. Er hatte sich seit Wochen bei niemandem mehr gemeldet und war auch sonst unauffindbar.

Wir wussten nicht, welche Götter sich auf Horus' Seite geschlagen hatten, aber es waren mit Sicherheit die restlichen noch lebenden ägyptischen Gottheiten Isis, Nephthys und Anubis. Mein Vater vermutete überdies Loki darunter, weil auch er ein Chaosgott war und ihn deshalb ausschalten wollte.

Es war irgendwie total verwirrend: Zwar wollte Horus das Chaos erledigen, schreckte aber nicht davor zurück, sich mit anderen Chaosgöttern zu verbünden – und ihnen danach wohl in den Rücken zu fallen. Aber das war den Göttern des Chaos egal, denn schließlich hatten auch sie die Absicht, Horus zu erledigen und damit das Licht auszulöschen. Verzwickt, konnte ich da nur sagen.

Die ganzen Bündnisse waren sehr brüchig. Ich hoffte inständig, dass jemand den falkengesichtigen Gott verriet und ihn bald zur Strecke brachte. Dann würde diese lästige Aufgabe nicht an mir hängen bleiben.

Mein Vater vertraute Re, der scheinbar sein bester Freund war, aber ich konnte ihm absolut nichts abgewinnen.

»Na gut!«, lenkte ich dennoch ein. »Dann plauschen wir etwas mit der japanischen Göttin. Ich hoffe, sie hat Pocky und Sake dabei!«

Mithilfe von Noah schaffte ich es dieses Mal ohne Probleme aus dem Wasser. Ich grinste ihn dankbar an. Wie froh war ich, ihn an meiner Seite zu haben! Obwohl ich mir nun eigentlich sicher war, dass bei seiner Verwandlung ordentlich was schief gegangen war. Ich war böse, war ständig in Lebensgefahr und ich konnte verdammt anstrengend sein – und trotzdem war er immer noch mit mir zusammen. Jeder andere Kerl hätte sich schon längst von mir getrennt oder wäre bestimmt abgehauen, aber er nicht. Dafür liebte ich ihn jeden Tag ein bisschen mehr.

Ich fischte meinen Flughund Kurt, der in aller Seelenruhe Bahn um Bahn im chlorhaltigen Wasser gedreht hatte, nun heraus. Ja, Flughunde konnten auch schwimmen. Sie sahen dabei wie eine Mischung aus schwarzem Waschlappen und kleinem Mantarochen aus.

Ich zauberte Kurt ein Mini-Handtuch her und verpackte ihn wie eine Frühlingrolle. Sofort fielen ihm seine großen runden Augen zu. Der Glückliche konnte die Sitzung mit den Göttern ja verschlafen.

Noah und ich wechselten unsere Badesachen mit einem einfachen Fingerschnipsen. Wir beide hatten einen ziemlich unterschiedlichen Modegeschmack. Noah lief immer noch wie der beliebteste Sportler der Schule rum. Das hieß, irgendeine blaue Marken-Jeans, kombiniert mit irgendeinem einfarbigen Marken-Shirt und weißen Sneakers, die wohl auch irgendein großer und bekannter Hersteller produziert hatte.

Seien wir ehrlich: Er sah ein bisschen langweilig aus.

Ich legte da schon einen ausgefalleneren Auftritt hin. Zu meinen Plateau-Schuhen trug ich ein kurzes schwarzes Kleid mit raffinierten Einschnitten an der Seite und am Bauch, darüber eine abgewetzte Lederjacke mit zahlreichen Reißverschlüssen und Nieten. Manchmal fragte ich mich, ob ich den Grunge-Style so liebte, weil ich eine Chaoshexe war. Denn hey: Mein Vater hatte in den 90ern viel Zeit mit Kurt Cobain verbracht; das war weniger eine Vater-Tochter-Sache als ein Chaosding.

In der Küche warteten bereits alle auf uns. Und mit alle, meinte ich wirklich alle: Sogar meine Großmutter und meine Tante waren anwesend. Die beiden nickten mir aufmunternd zu, wobei Gran noch einen Blick obendrauf legte, der mich daran erinnern sollte, ja keinen Blödsinn anzustellen.

Nur Re und Amaterasu saßen am Küchentisch. Na gut, die fremde Göttin hockte eher auf ihrem Sessel.

In Japan hockte man ja vor dem Tisch. Hm, das wusste ich ganz genau, weil ich eine gebildete junge Göttin war – und mir oft Animes reinzog.

Die größte Überraschung war allerdings meine Mom, die den beiden Tee servierte.

»Ich habe keine Ahnung, wie man Tee macht«, sagte sie und knallte ihnen – freundlich wie immer – ein Tablett hin. »Ich habe hier heißes Wasser, Tee und Zucker. Braucht man noch was für das Zeug?«

Als Halbvampirin, deren Geschmacksknospen nur bei Blut reagierten, war es eine dumme Idee, ihr die Aufgabe zu überlassen, etwas zu kochen. Und sei es nur Tee.

»Ist schon gut, Destiny.« Mein Dad berührte sie ganz leicht an der Schulter. »Danke.«

Für den Bruchteil einer Millisekunde lächelte meine Mom ihn an. Meine Eltern hatten vor ein paar Wochen mit einer Verlobung das Comeback ihrer Liebe gefeiert. Einerseits freute ich mich, da ich mich immer nach einer »richtigen« Familie gesehnt hatte, andererseits war ich mir auch im Klaren, dass das nur Chaos, Chaos und noch mehr Chaos bedeuten würde. Als meine Eltern das erste Mal zusammengekommen waren, hatten sie kurz darauf mich bekommen. Und ich war nichts anderes als das pure Chaos. Ich war die hübsche Verpackung der drohenden Apokalypse.

»Mir geht's wieder gut!« Bastet hatte es nun auch zu uns geschafft. »Habt ihr mich vermisst?«

Dabei schlang sie ihre schlanken, aber dennoch muskulösen, Arme um mich und drückte mich ganz fest an ihren Körper. Die ganze Zeit über schnurrte sie glücklich wie eine fette Hauskatze.

Ich sagte nichts, weil ich wusste, dass sie mich ohnehin wieder loslassen würde, wenn sie genug von der Kuschelei hatte. Wie eine Katze eben.

Re sah uns beide an. Wahrscheinlich wollte er missbilligend die Stirn runzeln, aber so eine hohe Gottheit, wie er nun mal war, tat so etwas nicht.

Stattdessen wandte er sich unserem Gast Amy zu. »Nun, da wir alle da sind, will ich dich herzlich willkommen heißen, Amaterasu-o-mi-kami. Ich entschuldige mich für die ruppige Begrüßung, aber du kannst dir denken, dass wir, trotz zahlreicher magischer Barrieren um das Haus, vorsichtig sind. Wir können nicht ausschließen, dass eine mächtige, aber feindliche Gottheit die Bannkreise übertritt.«

Die japanische Göttin nickte. »Ich verstehe das durchaus. Es ist aber auch meine Schuld. Ich hätte meinen Besuch ankündigen sollen.«

Mir entschlüpfte ein leises Gähnen. O Mann, war das langweilig.

»Wir befinden uns hier im Anwesen des Setek-Coven, der Hexen von Seth, auch genannt Setech, Sutech oder Wedja – ägyptischer Gott des Chaos, des Krieges und der Wüste.«

Ich verdrehte die Augen, da Re wieder einmal die ganze Vorstellung runterbetete. Es ging ja auch kürzer: Hallo, das ist das Irrenhaus und wir sind die billige Version des Suicide Squads.

»Zum Coven gehören die Oberhexe Myrna Setek, ihre Töchter Harmony und Destiny, welche Seths Frau –«

»Verlobte!«, fuhr meine Mom dazwischen. Sie fuchtelte sogar mit dem Verlobungsring an ihrer Hand herum. »Ich bin Seths Verlobte.«

»Seths Verlobte ist«, machte Re wenig gerührt weiter. »Sowie Destinys und Seths Tochter Mayhem und ihr Freund und Hexer Noah Simons. Die Göttinnen Bastet und Sachmet sind meine Abkömmlinge.«

Warum stellte er nicht auch noch unsere Familiaren Kurt und Mister Mittens vor? Nur weil sie Tiere waren, konnte man sie doch ruhig in diese ewiglange Vorstellung reinquetschen. Oh, und man könnte doch auch noch meine Funkos vorstellen: Jon Snow, Gerard Way, Grinsekatze …

Amaterasu nickte in die Runde. »Es freut mich, euch alle kennenzulernen.«

»Nun, was führt –«

»Was willst du hier?«, fiel Seth Re ins Wort.

Mein Vater war auch kein Freund langer Reden.

»Ich bin erst seit kurzer Zeit wach«, erzählte Amaterasu. Sie schenkte sich Tee ein. Es sah wahnsinnig elegant aus. »Ich habe etwas gebraucht, um mich an diese Zeit zu gewöhnen. Japan ist ja sehr fortschrittlich, obwohl es auch noch sehr viele ländliche Gegenden mit Schreinen gibt. Ich habe mich dort verschanzt, um nachzudenken, mich an die neue Zeit zu gewöhnen und wieder Kraft zu schöpfen. Derweil …«

»Hm?«

Ich sah auf, weil Amaterasu seit einigen Sekunden schwieg. Die Göttin hatte den Kopf vorgebeugt und … Weinte sie etwa?! »Die sieben Glücksgötter …« Sie schüttelte den Kopf. »Sie wurden in meiner Abwesenheit ermordet.«

»Also Ebisu, Daikoku, Bishamonten … die sind alle tot?«, krächzte ich entgeistert.

Die Anwesenden sahen mich erstaunt an. »Woher kennst du die japanischen Götter?«, fragte Sachmet.

»Allgemeinbildung.« Ich reckte stolz das Kinn in die Höhe. »Die auf Netflix streamen nämlich auch Animes.«

Was denn? Den Großteil meines Allgemeinwissens hatte ich durch stundenlanges Fernsehen erworben. Wenn die in der Schule weniger auf Gedichtanalyse und Spanisch für Anfänger fixiert wären, dann hätte ich vielleicht auch mal etwas wirklich Brauchbares lernen können.

»Ja.« Amaterasus Stimme war heiser. »Horus hat zuerst Bishamon getötet, weil er ein Kriegsgott ist und Horus wohl annahm, dass er sich auf Seths Seite schlagen könnte. Die anderen Götter standen Horus danach im Weg. Sie hätten sich wegen des Mordes an einem ihrer Brüder auch gegen Horus gestellt – und so mussten sie beseitigt werden.«

»Wir alle sind keine Fans von Horus, aber bist du sicher, dass er das deinen Gefährten angetan hat?«, fragte Re. »Da wir alle wach sind und uns auch frei in der Welt bewegen können, könnte jeder Gott der Mörder sein.«

»Was?«, fragte ich verwirrt.

»Früher, mein kleiner Schatten, vor Tausenden von Jahren«, begann Bastet, »waren wir an den Ort unserer Geburt oder unserer Entstehung gebunden. Nur exilierte Götter, wie dein Vater, konnten frei umherstreifen. Dafür hat er auch einen Teil seiner Kraft eingebüßt. Unser Geburtsland verleiht uns zusätzliche Macht. Wir entstanden alle aus einem ganz bestimmten Grund dort.«

»Welcher Grund?«

»Ist das nicht klar?« Bastet zog eine Augenbraue hoch. »Dein Vater zum Beispiel sollte Dunkelheit bringen, als Ausgleich zum Licht. Den Krieg gegen den Frieden. Meine Existenz hat zum Glück nicht so eine tragende Rolle. Die Menschen sollen lachen, tanzen und sich verlieben! Egal, ob Chaos oder Ordnung: Ich brachte den Menschen Spaß am Leben!«

Und dann knuddelte sie mich wieder wie eine Stoffpuppe. Mir brachte sie keinen Spaß am Leben, sondern gestauchte Rippen und Atemnot.

»Es war nicht Horus selbst«, erwiderte Amaterasu. »Es waren Loki und Astarte.«

»Oh verdammt!«, fluchte Seth. »Astarte?«

»Und wer ist das?«, fragte mich mein Freund.

Ich zuckte mit den Schultern. »Alles weiß ich auch nicht!«

»Astarte ist eine Schlampe«, sagte Bastet nur. »Die Himmelsgöttin der alten syrischen Völker.«

»Vielleicht hat Horus sie nicht eigenhändig getötet, aber Astarte und Loki stehen hinter dem wahnsinnigen Himmelsgott. Somit sind sie alle meine Feinde«, sagte Amy kalt. »Und darum will ich euch meine Unterstützung anbieten. Horus ist wie ich ein Sonnengott. Er will momentan das Chaos auslöschen, aber was, wenn er in seinem Wahn auch der einzige Gott des Lichts sein will?« Amaterasu schüttelte den Kopf. »Es gibt nicht mehr viele Shinto-Gottheiten. Japan braucht mich. Ohne mich wird das Land nie wieder eine aufgehende Sonne sehen.«

Meine Stimme hatte sie schon. Wir mussten Japan unbedingt retten! Was würde ich ohne meine Instant-Nudeln machen? Ohne Animes und Mangas? Kein Nintendo. Kein Pokémon. O mein Gott. Kein Sushi mehr. Ich ernährte mich an einem Tag der Woche nur von Sushi! O Götter, Horus konnte nicht eins meiner Lieblingsgerichte aus der Welt verbannen!

»Ich will auf eurer Seite kämpfen«, fuhr Amaterasu ein bisschen zu leidenschaftlich fort. »Auch wenn ich nie gedacht hätte, dass ich mich jemals dem Chaos zuwenden würde, so ist mir die Entscheidung dann doch sehr leicht gefallen. Insbesondere, als ich von Mayhem erfahren hatte.«

Ich hatte das nicht so ganz mitbekommen, weil ich gegoogelt hatte, ob die Auslöschung der Glücksgötter Japan bereits viel Pech gebracht hatte. Dem Anschein nach waren seit Tagen alle Nintendo-Server offline und ein paar Leute waren deswegen schon durchgedreht. Verdammt, Horus war echt solch ein Monster!

Noah stupste mich mit dem Ellbogen an. »Hä? Was ist wegen mir?«, fragte ich deshalb ein bisschen verspätet.

»Ich bin eine Mutter. Die meisten Shinto-Gottheiten sind meine Kinder und ich will meine Kinder vor Horus beschützen – so wie Seth und Destiny es tun. Ich bin eine Muttergottheit und kann es nicht mit ansehen, wenn so etwas passiert.«

Gut, dass Amaterasu scheinbar vergessen hatte, das Seth vor all den Jahren der Auslöser dafür war, dass Horus uns jetzt alle aus dem Weg räumen wollte.

Seth hatte aus Horus ein Monster gemacht, das unbedingt gestoppt werden musste. Er war kein guter Gott, vielleicht war er mal gütig und tugendhaft gewesen, aber das war längst vorbei. So wie Seth ein wenig zum spießigen Familienvater mutiert war – aber das durfte man nicht laut sagen, weil er dann gleich ausflippte.

»Jedoch möchte ich auch einen Platz in der neuen Götterordnung«, fing Amaterasu wieder an. »Es geht mir vor allem darum, dass, wenn wir all das getan haben, was wir tun müssen«, – sie sagte nicht, dass wir Horus töten mussten –, »irgendwann wieder Ordnung in unser aller Leben einkehrt. Für mich bedeutet das auch, dass keine anderen Götter meine Kinder oder mich angreifen.«

Re nickte.

Ich konnte die Vorstellung seiner neuen Ordnung schon auswendig aufsagen. In den letzten Wochen hatte er sie wirklich jedem näher gebracht:

»Zwölf Götter – angelehnt an den griechischen Olymp. Jeder verkörpert ein anderes Element und jeder stammt aus einer anderen Religion. Sechs Göttinnen und sechs Götter, sechs Götter des Lichts und sechs Götter der Dunkelheit. – Nur sind manche Plätze der Ordnung schon vergeben«, endete Re.

Seth grinste.

Es war klar, dass der Obergott ihm den Platz als Chaos- oder Kriegsgott zugedacht hatte. Meinem Vater schien es allerdings sowas von egal zu sein, dass Re ihm diesen Posten nur überlassen hatte, weil er genau wusste, dass er ihn beeinflussen konnte.

Ich hatte den Sonnengott oft beobachtet und dadurch mitbekommen, dass er Seth reinredete – und mein Vater nahm diese »Ratschläge« auch noch einfach hin! Ein weiterer Grund, warum ich Re nicht vertrauen konnte.

»So, das war jetzt eine sehr nette Unterhaltung«, mischte sich mein Dad ein. »Aber es ist jetzt fünf Uhr und Mayhem und Noah haben heute noch Kampftraining vor sich.«

»Was?«, fragte Noah verdutzt.

»Wir hatten kaum Zeit, nach der Schule zu entspannen«, regte ich mich auf. »Weil die da«, ja es war vielleicht blöd, mit dem Finger auf eine mächtige Sonnengottheit zu zeigen, »aufgetaucht ist. Ich hatte heute eine echt schwere Literaturklausur.«

Es musste ja niemand wissen, dass sich Noah unsichtbar gemacht und mir die Lösungen aus dem Internet verraten hatte. Aber wann hätte ich denn lernen sollen? Etwa am Sonntag, nachdem mir Horus den Arm gebrochen hatte? Oder am Freitagabend, als Bastet mir helfen wollte, meine Chaosmagie zu kontrollieren, und es daraufhin einen furchtbaren Schneesturm in Maryland gegeben hatte? Im März, wohlgemerkt.

Vielleicht wäre mein Vater jetzt eingeknickt und hätte das Training verschoben, hätte meine eigene schwurgebundene Walküre nicht alles versaut.

Ja, ich hatte eine eigene Walküre. Die Schildjungfern konnten nämlich Göttern ihre Treue schwören. Ich hatte das Pech – äh, natürlich das Glück – gehabt, dass meine Freundin Ingrid total scharf darauf war, ihr Leben für mich aufs Spiel zu setzen. Jetzt hatte ich nicht nur einen schwarzen Ring am Finger, der ihre Treue symbolisierte, sondern auch eine übermotivierte Kampfpartnerin an der Backe.

»Hallo!«, trällerte Ingrids glockenhelle Stimme durchs ganze Haus. »Ich bin wieder da! Seid ihr bereit? Ich bin's – wie immer!«

Grinsend schlenderte die Walküre in die Küche. Unter ihrem Arm hielt sie ihren Helm aus magischem Stahl.

»Oh, veranstaltet ihr etwa eine Party?«, fragte sie uns.

Seth machte eine Handbewegung: »Zieht euch um und haltet euch gefälligst bereit.«

Noah und ich stöhnten, während Ingrid fröhlich rumbrüllte: »Kampftraining! Juhu!«

***

Bei mir war irgendetwas schrecklich schiefgelaufen. Vielleicht dachte ich so, weil ich mitten in der Pubertät steckte und mich teilweise selbst nicht ausstehen konnte. Oder aber, weil ich absolut kein Talent für den Kampf besaß – und dass, obwohl mein Vater ein mächtiger Kriegsgott war.

Ich war sogar schwächer als mein Freund Noah, der vor wenigen Monaten noch ein stinknormaler Mensch gewesen war. Noah und ich waren nämlich nicht nur ein Paar. – Nein, wir waren keine Seelengefährten, ich bezweifelte, dass es so etwas überhaupt gab. Aber wir liebten uns, wir waren gute Freunde und wir kämpften oft miteinander. Ich hätte an dieser Stelle jetzt gern gesagt, dass wir auch richtige Kampfpartner waren, aber das bekamen wir nicht wirklich auf die Reihe. Gemeinsame Übungen endeten meist damit, dass der einen dem anderen beinahe irgendein Weichteil ausstach.

Nur mit Mühe und Not schaffte ich es, einem Hieb von Noahs Hellebarde auszuweichen und gleichzeitig einen Schlag von Ingrids Breitschwert zu parieren.

Ich manipulierte das Element Erde, um ein kleines Beben zu beschwören, dass sie ablenken sollte. Tatsächlich waren sie einen Moment unaufmerksam und ich war in der Lage, den beiden für ein paar Sekunden zu entkommen. Schwer atmend sprang ich auf einen Baum und hüllte mich in die rettenden Schatten.

Ich fand es doof, dass ich gegen meinen Freund und eine meiner Freundinnen kämpfen musste. Die beiden würden mich in einem ernsthaften Kampf immer unterstützen. Aber Seth meinte, dass ich mich auf niemanden verlassen sollte. Er war bei so etwas echt paranoid.

Meine Mom würde schließlich auch für ihn kämpfen – und ich ebenfalls, wie ich schon mehrmals bewiesen hatte.

Wenn wir schon von meinem Vater redeten … Seth stand mit meiner Mutter und der Göttin Amaterasu auf der Terrasse. Ein wenig abseits sonnte sich Kurt, der seine Flügel um eine Kokosnuss gelegt hatte. Schlürfte er da etwa meinen selbstgemixten Bahama Mama aus einer Schale? Und ich Idiotin hatte ihm heute mal freigegeben!

Während meine Mutter lediglich die wärmenden Sonnenstrahlen genoss, starrte mein Vater mit grimmigem Blick zu mir. Ich erwiderte seinen finsteren Gesichtsausdruck mit allergrößter Freude.

Was tust du da?!, blaffte er mich telepathisch an.

Oh, ich versuche mich zu verpuppen, damit ich zu einem wunderschönen Schmetterling der Zerstörung werde, erwiderte ich schroff. Nach was sieht es denn aus? Ich mache eine kleine Verschnaufpause!

Willst du uns vor unserem Gast etwa blamieren?

Ich verdrehte die Augen. Ich blamiere hier niemanden.

Unten kreuzten Ingrid und Noah die Klingen. Die Walküre nahm das Training einfach viel zu ernst. Würde Horus alleine angreifen, hätten wir vielleicht zu dritt eine Chance gehabt, aber wenn seine Verbündeten mit von der Partie waren, würden wir alle draufgehen. Seth hatte es lediglich geschafft, Horus einmal ein Auge auszureißen, wie sollte ich es dann schaffen, ihn zu töten?

Die anderen sagten zwar immer, dass ich es nicht alleine bewerkstelligen musste, aber ich wusste, dass diese Aufgabe schlussendlich auf mich zurückfallen würde. Ich spürte, dass ich als Einzige in der Lage war, Horus den Garaus zu machen. Mein Blut hatte ihn erweckt und deshalb musste auch ich ihn erledigen.

Geh jetzt von dem verdammten Baum runter und kämpfe!, befahl mein Vater.

Ich umarmte die Rinde des Baumes. Nein!

Plötzlich kam ein starker Wind auf. Mayhem! Sei nicht so ein Sturkopf!

Meine Mutter verpasste meinem Dad einen Schlag auf den Hinterkopf. »Jetzt führ dich nicht so auf!«

Trotzdem fegte mich noch ein Windstoß vom Baum. Ich klatschte bäuchlings auf den Boden.

So, das war zu viel. Viel zu viel.

Wenn ich sauer war, wurde ich mächtiger. Der Hulk wurde grün, wenn er wütend wurde, ich konnte meine Chaoskräfte dadurch ein Stück besser unter Kontrolle bringen. Was letztlich nur hieß, dass ich die Kontrolle über mich selbst verlor.

Lächelnd kam ich auf die Beine. »Oh, ich soll zeigen, was ich kann?« In meiner Hand erschien mein Schwert, ein Chepesch. Es war nicht nur eine Waffe, sondern auch eine königliche Insignie. Genau das Richtige für eine knallharte Prinzessin wie mich.

Ich wirbelte das Schwert um mich herum. »Seht her!«

Ingrid und Noah unterbrachen ihren Kampf. Blitzschnell rannte ich auf die beiden zu, schwang erst mein Schwert nach Ingrid und dann nach meinem Freund. Ich schaffte es, Noah zu entwaffnen; Ingrid geriet nur ein wenig ins Straucheln. Deshalb stürzte ich mich auch mit Gebrüll auf die Walküre. Sie wehrte den Hieb mit ihren Armschienen ab.

»Noaaah! Mach deine Freundin von mir weg!«, schrie Ingrid panisch. »Sie ist schon wieder im Chaos-Modus!«

Sie versuchte mir einen Schlag zu verpassen, aber ich war viel geschickter als sie. Ihre Rüstung war zwar verzaubert, aber meine anschmiegsame Kampfuniform war von den Hexen der Athene – einer anderen kriegsaffinen Göttin – angefertigt worden.

Als Ingrid schließlich eine kleine Verschnaufpause einlegen musste, nutzte ich meine Magie. Die Erde formte sich zu einer Hand und packte die Walküre. Sie versuchte sich zu befreien, aber ich hielt sie mit ganzer Kraft fest.

Es war nun an der Zeit, sich um meinen geliebten Noah zu kümmern …

Ich drehte mich langsam im Kreis und lauschte aufmerksam, aber weder sah ich Noah, noch hörte ich ihn.

Verdammt! Er bewegte sich in seiner Geister-Gestalt fort. Nicht einmal ein Gott konnte so seine Anwesenheit spüren.

»Komm raus!«, rief ich und wedelte mit meinem Schwert herum. »Komm schon, Noah! Lass uns kämpfen! Wir müssen schließlich eine gute Show abliefern!«

Über uns braute sich ein Gewitter zusammen. Der Donner grollte wie ein mächtiger Drache.

»Blitz!« Ich deutete auf die Erde und ein Blitz schlug genau da ein. »Blitz! Blitzi-Blitzi! Blitz!«

»Du bist super!«, rief Ingrid. »Du kannst das echt gut mit den Blitzen. Super, May, super! Lässt du mich gehen? Ich glaube, ich habe zu Hause mein Glätteisen angelassen.«

Ich ignorierte die Walküre. Stattdessen stach ich blind auf alles um mich herum ein.

Wo war dieser Mistkerl nur abgeblieben?

Nun fing es auch noch an wie aus Kübeln zu schütten. Ich stampfte im Matsch umher, bis sich irgendetwas um meine Fußknöchel legte. Erneut knallte ich mit dem Gesicht voran in den Dreck. Gerade, als ich mich aufrichten wollte, legte sich ein Gewicht auf meinen Rücken. Saß Noah etwa auf mir?!

»Hexchen! Lass dich von deinem Vater nicht immer gleich auf die Palme bringen!«

Ich fauchte und kreischte wild.

»Ich gehe in fünf Sekunden von dir runter«, kündigte Noah laut an. »Also versuch dich zu fassen. Drei, zwei, eins!«

Natürlich griff ich Noah sofort wieder an. Wie ein Berserker schwang ich mein Schwert umher.

Ich hätte erwartet, dass mein Freund sich aufregen würde, stattdessen stöhnte er nur und wurde unsichtbar. Kaum eine Sekunde später wurde ich wieder festgehalten. Nun allerdings vertikal.

»Hexchen, jetzt beruhige dich!« Dieses Mal hielt mich Noah mit seinen bloßen Armen fest. Er presste unsere Oberkörper aneinander, während er mich umarmte. Nun ja, Umarmung hörte sich viel zu zärtlich an. Er hatte mich dadurch ganz schön in der Mangel. Ich konnte meine Arme kein Stück mehr bewegen.

Verdammt, wann war er nur so stark geworden?

»Lass mich los! Ich muss kämpfen!«

»Sch, sch.« Noahs Griff wurde noch fester. »Du musst nicht mehr kämpfen, Hexchen.«

Ich strampelte, aber er gab keinen Deut nach. Erst als er mich so festhielt, fiel mir auf, wie schnell mein Herz doch schlug. Seins war völlig ruhig. Bumm. Bumm. Bumm. Ein langsamer, aber gleichmäßiger Rhythmus.

Wie wäre es, wenn ich es ihm rausreißen würde? Wie würde es sich anfühlen, ein schlagendes Herz in den Händen zu halten und dann ganz langsam zuzudrücken? Ein Leben durch die ureigene Kraft auszulöschen?

Meine abartige Fantasie wurde dadurch unterbrochen, dass Noah seine Lippen auf meine drückte. Noah … küsste … mich?

Da er seinen Klammergriff ein wenig gelockert hatte, war ich endlich imstande, ihn wegzudrücken.

»Bei den Göttern! Wie dumm muss man sein, mich in so einer Situation zu küssen? Ich hätte dir den Arm abtrennen oder dich gar töten können!«, herrschte ich ihn beleidigt an. »Echt, du bist so blöd! Ich bin gefährlich!«

Noah winkte grinsend ab. »Du bist mein Hexchen. Du könntest mir niemals wehtun. Na ja, zumindest nicht ernsthaft. Ich bin es gewohnt, dass du nur zu gern mal zuschlägst.«

»Gut, Gut. Sehr schön.« Mein Vater Seth schob Noah mit Gewalt von mir weg. Er sah es gar nicht gerne, wenn mein eigener Freund mich knutschte. »Wie du siehst, Amaterasu«, Seth deutete dabei auf mich, »ist meine Mayhem eine richtig gute Kämpferin. Das Chepesch hat sie erwählt.«

Damit meinte er den Spruch, der sich auf meine Waffe eingraviert hatte: Tod oder Leben – der Sieg sei dir sicher. Als wäre das nicht schon genug, hatte mein Dad vor Jahrtausenden mit genauso einem Schwert seinen Bruder zerstückelt.

»Was ich gesehen habe, ist ein schier unkontrollierbares Wesen«, merkte Amy kühl an. »Genau darum sollte die Mischung von Göttern mit Übernatürlichen oder sogar Menschen verboten werden. Sie kommen mit dem Gottsein nicht zurecht.«

Meine Mom räusperte sich. Okay, sie räusperte sich nicht auf die normale Art, sondern schrie »ÄHEM!«: »May ist ein Wunder. Punkt. Weder ich noch ihr Vater hätten je daran gedacht, selbst Kinder zu bekommen. May ist ein Geschenk. Kein Geschenk des Himmels, aber dennoch ein Geschenk.«

»Und Wesen des Chaos sind immer unkontrolliert!«, wandte mein Vater ein. »Chaos. Das sagt doch alles. Wir leben – und wir kämpfen erst recht – nicht nach irgendwelchen Regeln.«

Auch Noah stürzte sich mit Freuden in die Diskussion: »Schlimmer als ihr PMS ist es nicht.«

Als Letzte versuchte ich mich noch selbst zu retten: »Ich bin als Hexe noch nicht erwachsen. Meine Kräfte spielen mir ab und zu eben Streiche. Meine beste Freundin hat mal aus Versehen eine Hecke abgefackelt. Das wird alles wieder.«

Das hoffte ich zumindest …

Ich wusste nicht wirklich, ob sich meine Chaoskräfte einpendeln würden, wenn ich in das richtige Alter kam. Es könnte jede Woche oder jeden Tag so weit sein. Ende August würde ich achtzehn Jahre alt werden und davor würde ich meine vollständigen Kräfte erlangen – wie jede Hexe.

Amaterasu kniff nur die dunklen Augen zusammen. »Hm.«

Sie sagte nichts mehr, aber ich wusste genau, was ihr eigentlich auf der Zunge lag: Sie ist unkontrollierbar. Sie wird Horus nie besiegen. Sie kann nichts.

»Ich werde mich von Re verabschieden und mich dann wieder auf den Weg machen.«

Damit wandte sich die japanische Sonnengöttin ab.

Seth fluchte. »Diese eingebildete Kuh!«

»Mein armes Baby!«

Ich erschreckte mich fast zu Tode, als mich meine Mutter in eine liebevolle Umarmung zog. Diesen Kuschelkurs war ich von ihr nicht gewohnt.

»Wo sind die Götter, die die … nun ja … böse sind?«, fragte meine Mom Seth. »Hast du da keine Bekannten, die sich auf unsere Seite schlagen würden und sich nicht so … so abgehoben aufführen?«

Er zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich weiß nicht, wo Kali steckt. Oder Hel. Vielleicht ist es besser, wenn sie nicht zu uns kommen. Sie könnten sich auch gegen uns stellen. Kali hat mal aus Wut ihren Mann getötet und Hel hält sich am besten auch von allen Menschen fern.«

»Du hast scheinbar viele Göttinnen als Freundinnen. Wie kommt denn das?«

Oh. Oh. Mom hatte mich losgelassen und die Arme nun in die Hüfte gestemmt. Sie war eifersüchtig. Das war keine Frage.

»Wir gehen rein«, sagte ich und zupfte an Noahs Mantel. »Ich muss dringend duschen.«

Meine Klamotten würde ich mit Magie reinigen, aber ich brauchte jetzt unbedingt eine entspannende heiße Dusche und danach würde ich einfach halbtot ins Bett fallen.

Seth, der sich gerade um Kopf und Kragen redete, wandte sich kurz an mich. »Gut. Wir sind ohnehin fertig. Und Mayhem?«

»Hm?«

»Sorry. Ich wollte dir nicht weh tun.« Als er sich entschuldigte, sah er mich nicht direkt an. Ihm war es scheinbar peinlich, dass er sich als großer Kriegsgott entschuldigen musste. »Auch wenn Amaterasu unsere Verbündete ist, darfst du niemals deine Schwächen zeigen. Das kann tödlich sein.«

Paranoid. Sagte ich doch.

Trotzdem nickte ich. »Okay.«

Als Noah und ich uns abwandten, bemerkten wir erst, dass Ingrid sich noch in ihrem Gefängnis aus Erde befand. Ihr Kopf war leicht nach vorne geneigt, ihre Glieder entspannt. Die Walküre war längst eingeschlafen.

***

Ich blieb so lange unter der Dusche, bis meine Körpertemperatur bei gefühlten fünfzig Grad lag. Das ganze Badezimmer hatte sich in eine Sauna verwandelt. Selbst Kurt war es zu viel geworden. Nachdem er sich das Fell vollgeschwitzt hatte, hatte er sich zum Relaxen nach draußen aufs Dach verzogen.

Das war mir nur recht, da ich momentan weder ihn noch Noah oder irgendjemanden aus meiner Familie sehen wollte. Zum Glück waren meine Eltern ohnehin nicht mehr im Haus. Seit sie wieder zusammengekommen waren, verbrachten sie die meisten Nächte außerhalb unseres Anwesens.

Meine Mom war moralisch ziemlich flexibel, weshalb sie Seth sicher gern bei der Verbreitung von Chaos und Verderben half.

An andere Dinge, die sie möglicherweise tun könnten, wollte ich gar nicht denken. Schließlich war es schon schlimm genug, dass meine Mom literweise Seths Blut abzapfte. Es war zwar recht toll für sie, weil sie sich nur deshalb im Sonnenlicht aufhalten konnte, ohne Verbrennungen davonzutragen, aber Vampire in einer Partnerschaft »speisten« am liebsten im Bett.

O Götter, mir wurde übel …

Anstatt nach dem Duschen das Badezimmer zu verlassen, legte ich mich auf den Teppich und starrte an die Decke.

Was ich gerade tat? Ich schämte mich.

Meine Kräfte hatten schon öfters dafür gesorgt, dass ich die Beherrschung über meinen Körper und meinen Geist verlor. Bei den ersten Malen war es allerdings nie so schlimm gewesen: Ich hatte hin und wieder am Wetter rumgepfuscht, für Gewitter, Hagel und Stürme gesorgt. Als ich hingegen rausbekommen hatte, dass mich Noah – ja, genau dieser Noah, der nun mein Freund war – nur geküsst hatte, um seiner Ex Larissa eins auszuwischen, da hätte ich sicherlich mehr als nur ein heftiges Unwetter heraufbeschwört, wäre mein Vater Seth nicht eingeschritten. Am schlimmsten hatte ich mich jedoch an dem Tag aufgeführt, als ich gedacht hatte, dass Noah wieder mit seiner Ex ins Bett sprang, obwohl da zwischen uns eindeutig etwas war. Ich war in den totalen Chaos-Modus abgedriftet und hatte meine Mitschüler und auch die Lehrer dazu aufgefordert, sich zu prügeln. Einige hatten sogar riesige Blutergüsse und Knochenbrüche davongetragen. Na ja, und dann bin ich nur einmal noch völlig ausgetickt, an Weihnachten nämlich. Aber ging das da nicht allen so? Noah hatte schlimmes Heimweh verspürt und sich als Geist in sein früheres Zuhause geschlichen. Ich war ihm also gefolgt und hatte mit ansehen müssen, was für ein riesengroßes Arschloch sein Vater war. Eigentlich hätte ich ihm daraufhin nur einen kleinen Schrecken einjagen wollen, damit er Noahs Mom verließ und sie dadurch ein sorgenfreieres Leben führen konnte. Schließlich hatte die arme Frau nur wenige Monate zuvor ihren einzigen Sohn verloren. Sie wusste ja nicht, dass er immer noch herumspukte. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Ich hatte ihr also auf meine eigene Art helfen wollen, hatte aber bei dem Streich von meiner eigenen Chaosmagie gekostet. Um es mal endlich abzukürzen: Ich hatte mich total sexgeil auf Noah gestürzt. Zum Glück war er ein Gentleman gewesen und hatte die Situation nur dafür ausgenutzt, um mich gewaltsam unter die Dusche zu zerren. Dadurch hatte ich die Besinnung wiedererlangt.

Man musste mich stoppen, weil ich mich selbst nicht aufhalten konnte. Es war wie ein Rausch, der meine Sinne vernebelte, und wie bei einer Sucht wollte ich immer mehr.

Ich hatte die Kraft, Kriege auszulösen, aber ich konnte das Chaos in mir nicht kontrollieren. Stattdessen beherrschte es mich. Ich hatte, wenn überhaupt, nur Einfluss darauf, wann ich die Selbstbeherrschung verlor.

Was, wenn ich zwar meine Kräfte zwar irgendwann kontrollieren konnte, aber ich mich dadurch selbst verlor? Was, wenn ich mich in … in ein wahrhaftiges Monster verwandelte?

Nach einer gefühlten Ewigkeit – als all der Dampf sich längst verflüchtigt hatte – stand ich wieder auf. Ich hatte gehofft, dass es mir besser gehen würde, wenn ich mal alles in Ruhe im Kopf durchkaute, aber eigentlich war es dadurch nur schlimmer geworden. Meine Kräfte jagten mir immer noch eine Heidenangst ein.

Meine Kräfte, Horus und die anderen Götter – mir wuchs das langsam alles über den Kopf.

Vor einem Jahr war ich noch eine ganz normale Hexe gewesen. Mein einziges Problem war damals gewesen, dass die Beziehung zu Ephraim – das war mein dämonischer Ex-Freund – doch nicht das war, das ich mir erhofft hatte. Jetzt lief liebestechnisch alles super bei mir, aber alles andere war dafür katastrophal.

»So, May.« Ich klatschte mir noch mal kaltes Wasser ins Gesicht. »Du gehst jetzt einfach ins Bett und schläfst eine Runde. Morgen ist zwar immer noch alles gleich, aber vielleicht lenkt dich eine andere Katastrophe von der eigentlichen Misere ab.«

Ich schnappte mir ein großes Handtuch und wickelte es mir um meinen schnell abkühlenden Körper.

Als ich in mein Zimmer kam, lag Noah schon im Bett und las gerade Das Lied von Eis und Feuer. Er steckte schon seit Wochen im ersten Band fest. Ich hingegen hatte dieses Meisterwerk in nicht einmal zwei Tagen verschlungen …

»Du hast aber lange gebraucht«, stellte Noah fest. Er musterte mich, statt endlich mal in seinem Buch weiterzulesen. »Ist was?«

»Alles supi!«

Stöhnend legte Noah das Buch weg. »Hexchen, was ist los? Ich weiß, dass nichts ›okay‹ ist und erst recht nicht ›supi‹.« Mein Freund sah mich weiterhin ungeduldig an.

Ich fuchtelte nach einem kurzen Starrduell mit den Händen herum. »Na, da fragst du noch?«, platzte es aus mir heraus. »Das heute war ja wieder mal eine Glanzleistung von mir!«

Noah klopfte auf meine Seite des Bettes. »Komm her, Hexchen.«

Da meine Beine ohnehin nach der Matratze lechzten, legte ich mich zu Noah ins Bett. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und starrte geradeaus.

»Also, was genau belastet dich?«

»Bist du mein Therapeut, oder was?«, pampte ich ihn unbeabsichtigt scharf an.

Mein Freund war es allerdings schon gewöhnt, dass ich manchmal richtig zickig werden konnte.