2.
»Und dann hat er mich gefragt, ob ich am Wochenende mit ihm nach Stralsund fahren möchte. Er hat da anscheinend eine Datsche. Stell dir das mal vor! Der Typ ist über fünfzig! Das ist doch echt … Claudia? Hörst du mir überhaupt zu?«
Claudia Morani blickte von ihrer halb leeren Cappuccinotasse auf. »Wie bitte? Entschuldige, ich war in Gedanken.«
Adrienne sah sie skeptisch an. »Das glaub ich jetzt nicht! Ich erzähl dir hier im Vertrauen, wie ich von meinem Abteilungsleiter angebaggert werde, und das interessiert dich überhaupt nicht?«
»Doch, schon.«
»Erzähl mir keinen Quatsch! Ich langweile dich!«
»Tust du nicht, Adrienne, ehrlich. Ich bin froh, mal rauszukommen.«
»Aber du bist nicht wirklich hier!«
»Doch, bin ich. Also, was hast du ihm geantwortet?«
Adrienne grinste schief. »Ach komm, tu doch nicht so, als ob du das wirklich wissen willst!«
Claudia seufzte. »Tut mir leid. Es fällt mir nun mal schwer, einfach so zu plaudern.«
»Klar, weil es nichts gibt, worüber du plaudern könntest. Du lebst nur für deine Arbeit und für deine Mutter. Was dir fehlt, Claudia, ist ein Mann in deinem Leben.«
Claudia unterdrückte ein Schnauben. Das Letzte, was sie brauchte, waren noch mehr Komplikationen.
»Danke, aber ich bin ganz zufrieden, so wie es ist.«
»Zufrieden vielleicht, aber bist du glücklich?«
»Bist du es denn?«
»Herrgott, nein! Ich hab dir doch vorhin erzählt, dass Timo … ist ja auch egal. Ich war jedenfalls schon glücklich. Schon oft. Wenn man glücklich ist, wird man auch mal wieder unglücklich, das ist eben so. Aber wenn man nichts riskiert, verpasst man eine Menge im Leben.«
Claudia zuckte nur mit den Schultern. Verglichen mit ihrer eigenen Vorstellung von einem erfüllten Leben hätte Adriennes Sicht unterschiedlicher nicht sein können. Ihre Freundin suchte immer noch ihren Märchenprinzen, fand aber an jedem, den sie nach zwei Drinks ins Bett zerrte, schon am nächsten Morgen irgendetwas auszusetzen. Sie stürzte sich von einem Abenteuer ins nächste, lachte viel, weinte ebenso oft. Es war offensichtlich, dass sie im Grunde ihres Herzens zutiefst einsam war – und es auch immer bleiben würde, wenn sie nicht bereit war, ihre romantischen Fantasien über Bord zu werfen und sich wirklich auf eine Beziehung einzulassen. Aber Claudia war nicht hier, um Adrienne zu therapieren. Sie hatte Psychologie studiert, doch die Schwierigkeiten, derentwegen Menschen wie Adrienne zum Psychologen gingen, erschienen ihr trivial. Sie wollte der Gesellschaft auf andere Weise helfen – indem sie die wahren Problemfälle identifizierte, Menschen, die echten Schaden anrichteten, die niemals von selbst zu einem Psychologen oder Psychiater gehen würden, obwohl sie es dringend nötig hatten. Deswegen war sie Profilerin bei der Polizei geworden.
Es gab so viele Menschen mit unentdeckten psychischen Problemen. Die meisten kämpften im Stillen mit ihren Schwierigkeiten, verloren ihren Job, landeten irgendwann auf der Straße, nahmen Drogen oder wurden Alkoholiker. Einige rissen Menschen aus ihrem Umfeld mit in den Abgrund, die ihnen vertrauten oder von ihnen abhängig waren. Andere wurden kriminell, einige wenige gar zu Mördern – so wie der, den Claudias Einheit beim Landeskriminalamt, die Sonderermittlungsgruppe Internet, vor ein paar Monaten in einer nervenaufreibenden Jagd gestellt hatte. Nur in der Minderheit der Fälle wurde die Krankheit rechtzeitig erkannt, so dass die Abwärtsspirale gestoppt und die Betroffenen wieder stabilisiert werden konnten. Zwar waren die meisten psychischen Leiden nicht heilbar, aber man konnte die Symptome mit Medikamenten bekämpfen und so vielen Menschen ein halbwegs normales Leben ermöglichen. Menschen wie ihrer Mutter.
Obwohl sie nun seit sieben Jahren in Berlin lebten und es in dieser Zeit nur ein paar harmlose Aussetzer, aber keinen einzigen echten Anfall von Paranoia mehr gegeben hatte, fühlte sich Claudia immer noch nicht wohl dabei, ihre Mutter allein zu lassen. Natürlich war es nicht anders machbar, wenn sie zur Arbeit ging. Aber die Wochenenden verbrachte Claudia normalerweise zu Hause. Ihre Mutter ging nicht gern aus dem Haus, also unterhielten sie sich, spielten Gesellschaftsspiele oder sahen fern. Es waren langweilige Wochenenden, jedenfalls nach Adriennes Maßstäben. Aber nach all den Jahren der Angst, die Claudia als Kind erlebt hatte, ständig auf der Flucht vor unbekannten Gefahren, erschien ihr diese beschauliche, ereignislose Normalität immer noch wie ein Segen. Daher hatte sie nur zögerlich zugestimmt, als Adrienne sie überreden wollte, mit ihr am Samstag shoppen zu gehen.
»So, wie du rumläufst, wirst du nie einen Mann kriegen!«, hatte ihre Freundin gesagt, die bei der Spurensicherung des Landeskriminalamts arbeitete. »Du brauchst dringend was Neues zum Anziehen!«
Aus irgendeinem Grund, den sie selbst nicht genau verstand, hatte Claudia diese Bemerkung verletzt. Es stimmte, sie zog sich gern klassisch an: dunkle Farben, die gut zu ihren langen, schwarzen Haaren passten, enge, schnörkellose Schnitte. Sie hatte immer gedacht, ihr Stil sei elegant. Adrienne allerdings nannte ihn unscheinbar und langweilig.
»Probier’s doch wenigstens mal aus!«, hatte ihre Freundin gefordert, und Claudia hatte schließlich zugestimmt, halb, um ihr einen Gefallen zu tun, halb aus Neugier. Vielleicht fand sie ja tatsächlich etwas, das ihr gefiel und ein bisschen mehr Farbe in ihr Leben brachte.
Nun saßen sie hier in einem Café in der Friedrichstraße, umgeben von Einkaufstüten, die mit Adriennes Beute gefüllt waren. Claudia hatte sich nur einen dunkelgrauen Cashmerepullover gekauft, ein Sonderangebot, worüber Adrienne die Augen gerollt hatte.
»Sag mal, weißt du eigentlich, dass du verdammt gut aussiehst?«, sagte Adrienne nach einem Moment des Schweigens. »Ich wünschte, ich hätte dein glattes Haar und deine langen Wimpern. Und dann erst diese Lippen! Nur ein bisschen Lidschatten und Lippenstift, und die Männer liegen dir zu Füßen. Ich dagegen hab diese Strubbelhaare, mit denen ich selbst nach dem Frisör aussehe, als käme ich gerade aus einem Unwetter. Und meine Lippen hab ich mir schon zweimal machen lassen. Nach dem ersten Mal sah ich aus wie Daisy Duck, das zweite Mal war für die Schadensbegrenzung.«
Claudia lächelte. »Wenn du so hässlich wärst, wie du behauptest, würde dich doch wohl kaum ein Kriminaldirektor übers Wochenende nach Stralsund einladen!«
»Das ist es ja, ich krieg immer nur die alten Säcke und Loser ab!«
»Timo war keins von beiden.«
»Ach, hör mir auf mit Timo!« Adriennes Blick verdüsterte sich, und Claudia tat es augenblicklich leid, das Thema ihres Verflossenen angesprochen zu haben.
»Entschuldige, Adrienne. Ich wollte nicht …«
»Schon gut. Ich bin froh, dass ich den Idioten los bin.« Adrienne musterte ihre Freundin über den Rand ihrer Sonnenbrille hinweg. »Sag mal, wie lange ist es eigentlich her, dass du zum letzten Mal Sex hattest?«
Claudia verschluckte sich fast an ihrem Kaffee.
»Ich wüsste wirklich nicht, was dich das angeht!«
»Dachte ich’s mir doch!« Sie runzelte die Stirn. »Aber du hast doch schon mal …? Oder bist du etwa immer noch Jungfrau?«
Jetzt war es aber genug!
»Nicht ich bin es, die hier ein Problem hat, Adrienne!«
Claudia bereute den Satz in dem Moment, in dem sie ihn aussprach. Adrienne starrte sie erschrocken an.
»Was willst du damit sagen?«
»Ach, nichts. Vergiss es! Ich hab nur keine Lust, hier in aller Öffentlichkeit mit dir über mein Sexleben zu diskutieren.«
»Da gibt es ja offensichtlich auch nicht viel, worüber man diskutieren könnte.«
Claudia sah auf die Uhr.
»Ich glaube, ich muss langsam los.«
»Entschuldige!« Adrienne wirkte zerknirscht. »Ich bin zu weit gegangen. Tut mir leid.«
Anstatt etwas zu erwidern, sah sich Claudia abrupt um.
»Was ist denn?«, fragte ihre Freundin.
»Ich weiß nicht. Irgendwas ist passiert.«
»Was soll denn passiert sein?«
Sie konnte es nicht genau bestimmen, aber sie spürte, dass sich in ihrer Umgebung etwas verändert hatte. Es war wie eine Erschütterung, nur nicht körperlich. War der Tonfall der Gespräche an den Nachbartischen auf einmal anders? War der Fluss des Verkehrs langsamer geworden? Eine seltsame Unruhe befiel Claudia. Dann durchzuckte sie ein schrecklicher Gedanke: War dieses seltsame Gefühl die erste Vorstufe einer aufkeimenden Paranoia? Hatte sie das defekte Gen ihrer Mutter geerbt? Brach die Krankheit in diesem Augenblick zum ersten Mal aus?
»Lass uns reingehen und zahlen!«, bat sie.
»Okay.«
Im Inneren des Cafés war es ungewöhnlich düster. Der Mann hinter der Kasse zuckte nur mit den Schultern.
»Tut mir leid, aber der Strom ist ausgefallen. Die Kasse funktioniert gerade nicht.«
Erleichterung durchflutete Claudia. Das also war es, was sie unbewusst wahrgenommen hatte. Es war nicht bloß Einbildung gewesen, dass sich etwas verändert hatte.
»Heißt das, wir müssen nicht bezahlen?«, fragte Adrienne.
So etwas wie Panik trat in die Augen des sichtlich mit der Situation überforderten Mannes.
»Doch, doch, natürlich. Was hatten Sie denn?«
»Zwei Cappuccino und ein Stück Zitronenkuchen.«
Der Mann kritzelte eine Weile auf einem Zettel herum.
»Das macht dann zwölf fünfzig, bitte«, sagte er, als sei er sich seiner Sache nicht ganz sicher.
Claudia holte ihr Portemonnaie hervor, doch Adrienne winkte ab. »Ich mach das. Als kleine Entschuldigung für meine Bemerkung gerade.«
Claudia protestierte nicht. Sie wusste, wie wichtig solche kleinen Gesten der Großzügigkeit für eine Freundschaft sein konnten.
Als sie wieder auf die sonnendurchflutete Straße hinaustraten, hatte sich die Stimmung deutlich spürbar verändert. Autos hupten, Menschen diskutierten oder tippten hilflos auf ihren Smartphones herum. Erschrocken holte Claudia ihr eigenes Handy hervor. Kein Empfang. Dabei hatte sie ihrer Mutter versprochen, jederzeit erreichbar zu sein! Ihr Puls beschleunigte sich.
»Ich bin wirklich spät dran«, sagte sie. »Vielen Dank für den Cappuccino!«
»Gern geschehen. War schön, mit dir zu shoppen.«
»Ja, fand ich auch. Können wir ja mal wieder machen.«
»Das klingt nicht so, als hättest du wirklich Lust.«
»Tut mir leid, aber ich bin ein bisschen nervös. Meine Mutter … mein Handy geht nicht, und …«
»Deine Mutter ist erwachsen. Die kommt schon klar, auch wenn mal der Strom ausfällt.«
Claudia zuckte innerlich zusammen.
»Meinst du etwa, das ganze Stadtgebiet ist betroffen?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Egal. Also, Tschüss!«
»Hey, warte! Vergiss die Tüte mit deinem mausgrauen Pullover nicht!« Sie grinste.
Claudia bemühte sich um ein Lächeln. Sie schnappte sich die Tüte, winkte noch einmal zum Abschied und hastete zur U-Bahn. Doch die Station war nur von einer Notbeleuchtung erhellt, die Anzeigetafeln schwarz.
Also ein Taxi. Mit zunehmender Verzweiflung sah sie sich um. Immer mehr Leute kamen aus den Häusern auf die Straße. Der Verkehr auf der Friedrichstraße war weitgehend zum Erliegen gekommen. Autos hupten, Fahrer gestikulieren. Ein Taxi war weit und breit nicht in Sicht.
Kalter Schweiß brach aus ihren Poren. Was, wenn tatsächlich auch im Süden der Stadt der Strom ausgefallen war? Durchaus denkbar, dass ein solches Ereignis bei ihrer Mutter Verunsicherung und Angst auslöste, vielleicht sogar einen Anfall. Und ausgerechnet jetzt war Claudia nicht erreichbar! Sie musste so schnell wie möglich nach Hause. Aber wie?
Sie zwang sich, die Lage nüchtern zu betrachten. Wenn der Strom auch im Süden ausgefallen war, konnte sie die öffentlichen Verkehrsmittel vergessen, und ein freies Taxi zu bekommen, wäre wie ein Sechser im Lotto. Also blieb ihr nur, abzuwarten, bis der Strom wieder funktionierte, oder die ungefähr fünfzehn Kilometer bis zur Wohnung ihrer Mutter zu Fuß zu gehen. Es sei denn …
Sie rannte zurück zum Café und blickte sich um. Keine Spur von Adrienne. Doch gerade als sie sich abwenden und den Fußmarsch Richtung Süden antreten wollte, kam ihre Freundin aus einem Modegeschäft. Typisch Adrienne: Während alle Welt über den Stromausfall debattierte, ging sie shoppen.
»Adrienne!«
»Claudia! Ich dachte, du musst unbedingt sofort nach Hause?«
»Muss ich auch. Aber die U-Bahn ist ausgefallen, und ein Taxi ist nicht zu kriegen. Ich dachte, vielleicht …«
»… könnte ich dich nach Hause fahren?«
»Ich weiß, es ist nicht deine Strecke, aber du würdest mir wirklich einen großen Gefallen tun. Ich mache mir Sorgen. Wenn der Strom auch bei uns zu Hause weg ist, weiß ich nicht, was meine Mutter macht.«
»Was soll sie schon machen? Wenn der Fernseher nicht mehr geht, liest sie eben ein Buch.«
»So einfach ist das nicht. Du kennst sie nicht. Sie wird glauben, jemand hat den Strom sabotiert, nur ihretwegen.«
»Echt?«
»Sie ist paranoid-schizophren. Das bedeutet, für sie verschwimmt die Grenze zwischen dem Ich und der Umwelt. Deshalb hören Schizophrene ihre eigenen Gedanken manchmal als Stimmen, denken, zufällige Ereignisse passierten aus einem bestimmten Grund, der nur mit ihnen zu tun hat, und fühlen sich verfolgt.«
»Ich dachte, sie nimmt Medikamente dagegen?«
»Das tut sie auch. Aber ich habe in den letzten Jahren die Dosis immer weiter reduziert. Die Neuroleptika, die sie nimmt, haben nämlich starke Nebenwirkungen. Ich wollte versuchen, ihr ein möglichst normales Leben zu ermöglichen. Ist bisher auch gut gegangen, aber so ein Stromausfall könnte sie komplett aus dem Gleichgewicht bringen!«
»Hey, du weinst ja! Mach dir keine Sorgen, Claudia. So schlimm, wie du denkst, ist es bestimmt nicht. Wir wissen ja nicht mal, ob der Strom bei euch überhaupt weg ist. Komm, ich parke da hinten.«
»Danke, Adrienne!«
Der Smart ihrer Freundin stand halb auf dem Bürgersteig einer Nebenstraße. Adrienne entfernte schulterzuckend den Strafzettel unter dem Scheibenwischer. Sie drängelte sich in den Verkehr, der nur im Schritttempo voranging.
»So ein Mist! Ich weiß ja nicht, ob du zu Fuß nicht schneller bist«, kommentierte sie.
»Mach mal bitte das Radio an«, erwiderte Claudia.
Auf den meisten Kanälen kam nur Rauschen, was ihre Befürchtungen nur verschlimmerte. Schließlich bestätigte ein Nachrichtensprecher, dass der Strom im gesamten Stadtgebiet ausgefallen war. Über die Ursache wisse man noch nichts, der Energieversorger arbeite mit Hochdruck an der Lösung. Man solle am besten zu Hause bleiben, da die öffentlichen Verkehrsmittel ausfielen und die Straßen verstopft seien.
»Erzähl mir was Neues!«, rief Adrienne. Die Kreuzung vor ihnen war durch einen Unfall blockiert. In einem abenteuerlichen Manöver fuhr sie mit ihrem Kleinwagen über den Bürgersteig, an der Unfallstelle vorbei und in eine Seitenstraße. Doch auf der nächsten Straße Richtung Süden war die Situation nicht besser.
Adrienne ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie drängelte und quetschte sich durch Lücken. Einmal überholte sie auf dem Bürgersteig sogar einen Polizeiwagen, der mit Blaulicht im Verkehrschaos feststeckte. Die Beamten starrten sie entgeistert an. Adrienne grinste nur.
»Meinst du nicht, das gibt Ärger?«, fragte Claudia besorgt. »Ich bin sehr dankbar, dass du mir hilfst, aber du musst dafür nicht deinen Führerschein aufs Spiel setzen!«
»Ach was, die Bullen haben doch jetzt Wichtigeres zu tun. Wer weiß, vielleicht gibt es schon Plünderungen.«
»Wegen eines Stromausfalls?«
»Hast du Blackout von Marc Elsberg gelesen?«
»Nein.«
»Darin erzählt der Autor ziemlich anschaulich, wie Deutschland nach ein paar Tagen Stromausfall in Anarchie und Chaos versinkt.«
»Ist das nicht ein bisschen übertrieben?«
»Weiß nicht. Bei ihm klingt es jedenfalls plausibel. Aber ist ja auch egal, der Strom wird sicher nicht tagelang wegbleiben. Du wirst sehen, wenn wir bei deiner Mutter sind, sitzt sie bestimmt schon wieder vor dem Fernseher.«
Gut möglich, dass wir ein paar Tage brauchen, bis wir dort sind, dachte Claudia.
Tatsächlich brauchten sie fast zwei Stunden. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Immer wieder starrte sie auf ihr Handy, doch es gab nirgendwo Empfang. Als sie endlich vor dem Mehrfamilienhaus in der Scheelestraße hielten, war sie schweißgebadet. Sie sprang aus dem Auto und rannte zur Haustür. Adrienne folgte ihr. Claudia schaffte es kaum, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Die Treppe zum zweiten Stock flog sie geradezu hinauf. Die Wohnung war dunkel und unnatürlich still. Sie spürte ihren Herzschlag in der Kehle, als sie das Wohnzimmer betrat.
»Mami?«
Keine Antwort.
In Panik durchsuchte sie jeden Raum, doch ihre Mutter war nicht da.
»Ich hab’s geahnt!«, schluchzte Claudia. »Jetzt irrt sie irgendwo da draußen rum. Bestimmt ist sie auf der Flucht vor irgendwelchen bösen Mächten. Vielleicht … vielleicht hab ich sie für immer verloren!«
Adrienne nahm sie in den Arm.
»Ganz ruhig! Jetzt fragen wir erst mal bei den Nachbarn, vielleicht wissen die was. Und dann gehen wir zur Polizei. Die finden sie bestimmt. Sie kann sich ja schließlich nicht in Luft auflösen.«
Claudias Kehle war wie zugeschnürt. Sie wusste, Adrienne wollte sie nur beruhigen. In Wirklichkeit aber war es sehr gut möglich, dass sie ihre Mutter nie wiedersah. Wenn die Paranoia sie im Griff hatte, konnte sie sehr geschickt darin sein, ihre Identität zu verschleiern und sich vor ihren imaginären Verfolgern zu verstecken. Es war möglich, dass sie ihre eigene Tochter verdächtigte, mit den dunklen Mächten unter einer Decke zu stecken – es wäre nicht das erste Mal. Die Polizei würde sie so schnell jedenfalls nicht finden, und ohnehin hatten die zurzeit sicher anderes zu tun, wie Adrienne vorhin selbst festgestellt hatte. Dennoch war sie froh, dass ihre Freundin da war, deren ruhige, selbstsichere Art ihr Halt gab.
Adrienne klopfte an der Tür der Kranzmanns, einer vierköpfigen Familien mit zwei lärmenden Kindern im Grundschulalter. Herr Kranzmann, ein hagerer Mann mit Halbglatze, der irgendwo bei der Stadtverwaltung arbeitete, öffnete nach einer langen Minute.
»Frau Morani! Sind Sie trotz des Stromausfalls gut hergekommen? Sagen Sie, Sie wissen nicht zufällig, wie die Hertha gespielt hat, oder?«
»Was? Nein. Herr Kranzmann, wissen Sie vielleicht, wo meine Mutter ist?«
»Und ob ich das weiß! Kommen Sie doch herein!«
Er führte sie durch einen dunklen Flur ins Wohnzimmer. Überall standen Kerzen, die dem Raum einen warmen Glanz verliehen, obwohl es draußen noch hell war. Leere Kuchenteller und Limonadengläser bedeckten den Couchtisch. Frau Kranzmann und die Kinder hatten es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht. Gegenüber, auf einem der beiden Sessel, saß Claudias Mutter, ein Buch auf dem Schoß.
»Mami! Hier bist du!«
»Wie schön, dass du da bist, Liebes. Setz dich doch! Und Sie auch, Adrienne! Ich lese den Kindern gerade aus der Unendlichen Geschichte vor. So ein Stromausfall ist doch was richtig Gemütliches, oder?«