Mathilda Grace
NEBEL DER ERINNERUNG
Nebel der Erinnerung
2. Auflage, Dezember 2018
Impressum
© 2018 Mathilda Grace
Am Chursbusch 12, 44879 Bochum
Text: Mathilda Grace 2013/2014
Foto: Bru-nO; Pixabay
Coverdesign: Mathilda Grace
Web: www.mathilda-grace.de
Alle Rechte vorbehalten. Auszug und Nachdruck, auch einzelner Teile, nur mit Genehmigung der Autorin.
Sämtliche Personen und Handlungen sind frei erfunden.
Drama & Romance
Liebe Leserin, Lieber Leser,
ohne deine Unterstützung und Wertschätzung meiner Arbeit könnte ich nicht in meinem Traumberuf arbeiten.
Mit deinem Kauf dieses E-Books schaffst du die Grundlage für viele weitere Geschichten aus meiner Feder, die dir in Zukunft hoffentlich wundervolle Lesestunden bescheren werden.
Dankeschön.
Liebe Grüße
Mathilda Grace
Ein Jahr auf der Flucht. Vor der Vergangenheit, dem Leben – sich selbst. Geholfen hat es nicht, und so kehrt Noah Kendall nach Hause zurück. Ohne einen Plan, was er mit seiner Zukunft anfangen soll. Aus einem spontanen Entschluss heraus entscheidet sich Noah für einen Neuanfang in New York City, wo er am Tag seiner Ankunft auf zwei Männer trifft, die sein Leben völlig verändern werden.
Für meine Leser.
Ohne euch gäbe es diese Buchreihe nicht.
Ich danke euch für alles.
Prolog
Aus den Tagebüchern von Noah Kendall
09. September 2034
Keine Ahnung, wie viele Untersuchungen sie an mir durchgeführt haben, seit ich wach bin, aber mittlerweile sind sie sich einig, dass ich verdammtes Glück hatte, als die Kugel meine Schädelplatte durchschlug, mich aber nicht umbrachte.
Ich wünschte, sie hätte es getan.
Das wäre einfacher.
PS: Sie haben mir gleich am Tag meines Erwachens erzählt, wer ich bin. Ich kenne meinen Namen und weiß nun, dass ich ein Adoptivkind bin, zwei Väter und einen Bruder habe.
PPS: Ich kann mich nicht an sie erinnern.
14. September 2034
Sie haben mir jetzt ganz offiziell gesagt, ich soll keine Wunder erwarten, was meine Erinnerungen angeht.
Keine Wunder? Die sind lustig.
Ich weiß nichts mehr. Gar nichts.
Ich habe kein Leben mehr, nur noch ein Nichts in meinem Kopf.
Ich wünschte, ich könnte weinen, so wie die Männer, die angeblich meine Väter sind.
So wie der Mann, der oft an meinem Bett sitzt. Mein Zwillingsbruder, den ich auch nicht kenne, obwohl wir uns gleichen wie ein Ei dem anderen.
Vielleicht kann ich es irgendwann.
Weinen, meine ich.
Aber nicht jetzt. Ich will es nicht.
Ich will nur, dass dieser Albtraum aufhört.
Ich schätze, ich stehe unter Schock.
PS: Wer, zum Teufel, ist dieser Mann, der mir jeden Tag im Spiegel entgegen starrt?
PPS: Gott sei Dank weiß ich noch, wie man schreibt. Ich wäre durchgedreht, hätte ich nicht einmal mehr das gekonnt.
15. September 2034
Mein Bruder Liam ist gestern ausgeflippt, haben sie mir erzählt. Ich sollte vermutlich Mitgefühl zeigen, aber eigentlich will ich viel lieber mit ihm tauschen. Ich kann nicht ausflippen, obwohl ich es gerne würde.
PS: Ich will aus diesem verdammten Bett raus.
19. September 2034
So viele Gesichter, so viele Namen.
Ich habe eine riesige Familie und ich erkenne keinen einzigen von ihnen. Hätten sie mir nicht erzählt, wer sie sind und wie sie zu mir stehen, ich würde in der Stadt an ihnen vorbeigehen, als wären sie Fremde.
Nick und Tristan haben mir Videos gezeigt und viele Fotoalben. Sie bemühen sich um Normalität, wie meine Ärzte sie gebeten haben, aber es hilft nicht. Ich schätze, sie sind genauso fertig mit den Nerven wie ich.
01. Oktober 2034
Ich werde verlegt.
Rehabilitation.
Endlich raus aus dem Bett und diesem Zimmer.
Endlich weg von diesen ganzen Menschen.
05. Oktober 2034
Liam hat mich gefragt, ob ich nach der Reha wieder mit ihm zusammenwohnen werde.
Ich habe nein gesagt.
Ich glaube, das war ein Fehler. Irgendwas stimmt nicht mit ihm. Er benimmt sich ganz merkwürdig. Ist in sich gekehrt und dann wieder total launisch.
Ich weiß nicht, wie ich mit ihm umgehen soll, wenn er so ist.
Vielleicht sollte ich Nick und Tristan Bescheid sagen.
11. Dezember 2034
Liam nimmt Drogen.
Tristan hat es mir heute am Telefon gesagt.
Er hat versucht, es vor mir zu verbergen, aber ich weiß, dass er geweint hat.
Ich wusste nicht, was ich sagen oder tun soll.
Kann ich das überhaupt?
Etwas tun, meine ich.
Scheiße!
PS: Ich hasse mein zweites Leben, das nichts Halbes und nichts Ganzes ist.
20. Mai 2035
Endlich raus aus der Reha.
Ich bin offiziell entlassen und bereit neu anzufangen. Keine Ahnung, wie dieser Neuanfang aussehen soll. Ich weiß nur, dass ich ihn nicht in Baltimore starten will.
Meine Entscheidung steht fest. Ich werde weggehen und mir die Welt ansehen. Für ein Jahr oder so, und falls das nicht reicht, suche ich mir irgendwo einen Job und hänge noch ein paar Monate dran.
Das restliche Geld auf dem Sparbuch reicht für einen Anfang. Wenn ich haushalte, vielleicht sogar fürs ganze Jahr. Mal sehen, was dann ist.
Jetzt stellt sich nur noch die Frage, wie ich das Nick und Tristan beibringen soll.
PS: Aber nicht sofort. Für eine Weile werde ich noch bleiben, um an Liams Seite zu sein.
PPS: Liam geht es besser. Dieser Jake Porter scheint ganz okay zu sein. Ich weiß noch nicht, ob ich ihn mag, aber er ist in Ordnung.
14. Juni 2035
Ich war mit Liam spazieren.
Gezwungenermaßen, damit Jake Tristan und Nick die Leviten lesen kann. Eigentlich wollte ich ihnen heute erzählen, dass ich weggehe, aber damit warte ich jetzt wohl besser ein paar Wochen.
Ich will nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen.
Feige, ich weiß, aber ich kann nicht anders.
Irgendwie drehen momentan alle durch. Zumindest kommt es mir so vor.
PS: Der Spaziergang mit Liam … Er hat gelächelt … Ich kann mich nicht erinnern, ihn je lächeln gesehen zu haben. So langsam fange ich an zu glauben, was alle sagen. Nämlich, dass wir wie Pech und Schwefel waren.
PPS: Ich wünschte, ich könnte mich erinnern.
09. August 2035
Ich mache einen Fehler, irgendwie weiß ich das, aber ich will es wenigstens versuchen. Dieser Vorschlag von Adrian, mit der Wohngemeinschaft, könnte tatsächlich funktionieren.
Zudem scheint Magnus, mein neuer Mitbewohner, in Ordnung zu sein. Ruhig und zurückhaltend, aber nett.
Ist es falsch, es wenigstens auszuprobieren?
02. Januar 2036
Das Ganze war ein Fehler, aber ich habe es versucht.
Magnus hat es schon gewusst, als ich ihm sagte, dass ich ausziehe bzw. meine Sachen packe und Baltimore verlasse. Wohin ich will, hat er gefragt, aber ich konnte nur mit den Schultern zucken.
Noch habe ich kein Ziel.
Mir war es wichtiger, das Gespräch mit Tristan und Nick zu überleben. Wir haben uns angeschrien, wie ich befürchtet hatte. Nick kommt nicht damit klar, dass ich ihn nicht länger als meinen Vater sehe. Er versteht auch nicht, dass ich weggehen muss.
Er wollte es mir sogar verbieten und hat versucht, die 'Du bist mein Sohn'-Karte einzusetzen. Es hat nicht geholfen. Der Trumpf zieht nicht mehr, das ist vorbei.
Kein Mensch bestimmt über mich, nicht einmal mein Vater. Ich kenne ihn doch gar nicht.
Vielleicht hätte ich nicht einfach so gehen sollen. Das absichtliche Zuknallen der Haustür war ziemlich kindisch, ich weiß.
Aber ich hatte keine Lust mehr mit ihm zu reden.
10. Januar 2036
Ich habe Tristan eine SMS geschickt.
Ehrlich geschrieben, dass es mir nicht leidtut. Dass es so nicht weitergehen kann. Dass ich weggehen muss, bevor ich ihn und Nick am Ende hasse, weil sie mich nicht loslassen können.
Er hat noch nicht geantwortet.
Hoffentlich versteht er, dass ich mir irgendwie ein neues Leben suchen muss.
11. Januar 2036
Tristan hat sich gemeldet.
Es geht ihm nicht gut. Nick auch nicht. Aber sie lassen mich ziehen, bitten mich nur, mich ab und an zu melden, ob es mir gut geht.
Ich denke, das kann ich tun.
29. Januar 2036
Liam ist glücklich mit Jake. Sie haben mich gestern zum Flughafen gebracht.
Es war richtig schön, sie zu umarmen und mit ihnen zu lachen. Sie tun sich gut und ich bin froh, dass Jake Liam von den Drogen weggebracht hat.
Magnus wird das Apartment hüten, solange ich weg bin. Er ist immer noch okay und er liebt seine zwei Jobs in der Bäckerei und in Jakes Haus.
Keine Ahnung, ob wir eines Tages Freunde werden, aber zumindest habe ich ein Dach über dem Kopf, falls ich zurückkomme.
Erstes Ziel meiner Selbstfindungsreise: London.
1. Kapitel
Manchmal war die Welt nicht groß genug.
Diese Feststellung hatte Noah Kendall im letzten Jahr wieder und wieder gemacht. Er hatte gesucht. Eine neue Heimat, ein neues Leben, aber vor allem sich selbst. Von Europa, über Asien, bis hoch nach Alaska. Er war überall und nirgendwo gewesen. Immer unruhig und getrieben. Auf einer Suche, die unendlich schien.
Er war nicht fündig geworden. Europa war zu schrill, Asien zu voll, Alaska zu still. Noah hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte, aber nach einem langen Jahr auf Achse waren ihm die Privatunterkünfte, Hostels und Hotelzimmer, das Reisen allgemein, so leid, dass er die kleine Ortschaft St. Michael in Alaska in einer spontanen Nacht- und Nebelaktion hinter sich gelassen hatte und am nächsten Morgen von Fairbanks aus nach Baltimore geflogen war.
Nach der Landung hatte Noah eine Weile überlegt, ob er seine Väter oder seinen Zwilling anrufen sollte, doch am Ende war er ins nächste Taxi gestiegen, um sich eines der so verhassten Hotelzimmer zu nehmen und dort sein Tagebuch auf den neuesten Stand zu bringen. Seit er das erledigt hatte, starrte er grübelnd die Wand an.
Die Idee, auf seiner Reise weiter Tagebuch zu führen, wie er es im Krankenhaus und auch in der Reha getan hatte, um nicht durchzudrehen, war von Daniel Hanson gekommen. Seinem Onkel, der in Cumberland wohnte, und als junger Mann selbst auf der Flucht gewesen war. Noah hatte den Vorschlag anfangs abgelehnt, bis ihm in einem kleinen Pariser Schreibwarenladen ein Notizbuch mit echtem Ledereinband aufgefallen war.
Mittlerweile trug Noah mehrere Notizbücher mit sich herum. Voller Gedanken und Erinnerungen aus der Zeit im Krankenhaus und den Tagen danach.
Vor drei Monaten hatte er Daniel mit einem knappen Brief 'Danke' gesagt. Noah wusste nicht, was ihn dazu getrieben hatte, es war ihm einfach richtig erschienen. Die Antwort war per Handy gekommen. Mit den beiden schlichten Worten 'Gern geschehen' hatte Daniel Noah erneut vor Augen geführt, dass er nicht allein war. Dass es Menschen gab, denen er etwas bedeutete, auch wenn er diese Gefühle nicht mehr in derselben Art und Weise zurückgeben konnte.
Noah seufzte. Er war ein Jahr fort gewesen, um einen Neuanfang zu machen, den er leider immer noch suchte, da er sich auf keinem Kontinent der Erde wohlgefühlt hatte. Noah wollte ein Zuhause. Mit einer Wohnung und einem Job. Irgendetwas, das ihm gehörte. Er war es leid, vom Geld seiner Väter zu leben, seit seines alle war und sie darauf bestanden hatten, ab sofort seine Rechnungen zu bezahlen.
Was zu Beginn praktisch gewesen war, weil er sich so komplett auf sich selbst hatte konzentrieren können und nicht gezwungen gewesen war, auf dem Bau oder sonst wo zu arbeiten, um Geld zu verdienen, wurde für ihn mehr und mehr zu einem Bumerang, denn er kam sich wie ein Schmarotzer vor.
Nur was sollte er machen? Wie sollte er ausreichend Geld verdienen, damit es für ein sicheres Leben reichte? Außer seinem abgeschlossenen Kunststudium, an das er sich nicht mehr erinnerte, hatte er nichts vorzuweisen, und die Vorstellung Tag für Tag am Fließband zu stehen oder in einem Büro eingesperrt zu sein, ließ ihn frösteln. Er brauchte Luft zum Atmen und einen Job, bei dem er sich bewegen konnte.
Kreativ sein, das wollte er. Bloß wie?
Sein Handy piepte und Noah schaute es lustlos an. Es war wahrscheinlich Nick. Außer der Familie hatte niemand seine Nummer und abgesehen von Nick ließ man ihn in Ruhe. Sein Vater gehörte allerdings zu einem anderen Kaliber. Ihr früheres Verhältnis war der Grund dafür. Noah erinnerte sich nicht daran, aber man hatte ihm erzählt, dass Nick und er in seiner Kindheit und Jugendzeit unzertrennlich gewesen waren, während sein Zwilling mehr zu ihrem zweiten Vater, Tristan, tendiert hatte.
Es piepte erneut und Noah seufzte. Nick würde nicht aufgeben, also konnte er sich genauso gut zurückmelden. Er nahm das Handy, rief die Nachricht auf und verdrehte die Augen, bevor er entschied, sofort Tristan anzurufen. Als wäre Nick nicht schlimm genug, nervte ihn jetzt auch noch dieser sture Anwalt für alle Fälle. Langsam ging das echt zu weit.
»Kannst du ihm bitte sagen, dass er das lassen soll?«, nörgelte Noah, nachdem abgenommen worden war. »Ich bin doch kein Knacki mit einer Fußfessel.«
»Ich habe zwar keine Ahnung, wovon du redest, mein Sohn, aber könnte vielleicht Adrian der Grund für deinen Anruf sein?«, antwortete Tristan und klang amüsiert.
Noah schnaubte. »Er hat mir schon wieder hinterher spioniert und gerade eine Nachricht geschickt, dass ich ...« Noah brach ab, als ihm einfiel, dass seine Väter noch gar nicht wussten, dass er in der Stadt war.
Mist.
»Dass du was?«, hakte Tristan ehrlich interessiert nach und Noah seufzte erneut.
»Ich bin vor ein paar Stunden gelandet.« Noah verzog beschämt das Gesicht, als Tristan auf diese Neuigkeit hin kein Wort sagte. Auf einmal kam er sich dumm vor, weil er ein Hotelzimmer gemietet hatte, anstatt zu seinen Vätern zu fahren. »Ich bin in einem Hotel abgestiegen.«
»Warum?«, fragte Tristan ruhig.
Noah dankte seinem Vater im Stillen dafür, denn er wusste, dass Nick nicht so locker geblieben wäre. »Keine Ahnung. Ich wollte nicht ohne Ankündigung bei Magnus reinplatzen. Vielleicht hat er ja Besuch oder so was.«
»Komm nach Hause, Noah.«
»Ich habe kein ...« Noah brach entsetzt ab. Wie konnte er nur? »Tut mir leid ... Das war nicht so gemeint.«
»Komm einfach nach Hause«, wiederholte Tristan und ging nicht auf seine Worte ein. Wie schaffte dieser Mann es nur, immer so geduldig zu sein? Noah wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken.
»Wie machst du das eigentlich?«
»Du meinst, ruhig bleiben? Keine Vorwürfe machen? Dich nicht anschreien?«
Noah zuckte zusammen. »Ja.«
»Eines Tages werde ich dir mal genauer erzählen, wie lange es dauerte, bis dein Vater Nick und ich uns damals gefunden haben. Dann wirst du verstehen, woher ich die Geduld habe, um die mich sogar unser Superanwalt beneidet. Also? Kommst du nach Hause? Wenigstens für ein paar Tage.«
Noah ließ seinen Blick durch das Hotelzimmer schweifen und verzog angewidert das Gesicht. Er konnte die alten, ausgeblichenen Tapeten und durchgetretenen Teppichböden wirklich nicht mehr sehen. Einige Tage in seinem alten Kinderzimmer waren vielleicht genau das, was er jetzt brauchte.
»Ich nehme mir ein Taxi.«
»Hast du Hunger?«
»Ich könnte schon was vertragen«, gab er zu, denn an Essen hatte er in der letzten Zeit nur sehr selten einen Gedanken verschwendet. Deshalb hing ihm seine Jeans im Augenblick verdammt tief auf den Hüften. »Essen war in den vergangenen Monaten ziemlich nebensächlich«, erklärte Noah leise, in der Hoffnung, dass Tristan ihn verstehen würde und nicht in Ohnmacht fiel, wenn er nachher aus dem Auto stieg.
»Wie viel hast du abgenommen?«
»Tristan ...«
»Muss ich dich damit erpressen, Nick anzurufen? Er ist in der Kanzlei. Irgendein wichtiger Fall.«
Das fehlte ihm gerade noch. Noah zog eine Grimasse. »Zwei Kleidergrößen«, flüsterte er, was Tristan scharf die Luft einziehen ließ. »Bitte sag nichts«, bat Noah, da er wusste, dass er dafür noch einen Anschiss bekommen würde. Wenn nicht von Tristan, dann aber mit Sicherheit von Nick.
»Wie wär's mit Milchreis?«
Milchreis? Noah leckte sich unwillkürlich die Lippen. Wann hatte er das letzte Mal selbst gekochten Milchreis gegessen? Es war eine gefühlte Ewigkeit her. Er hatte anfangs nicht einmal gewusst, dass er verrückt nach dem Zeug war, bis Tristan ihm eine Portion ins Krankenhaus geschmuggelt hatte.
»Mit Apfelmus?«
»Ich muss nachsehen, ob wir eine Packung da haben«, antwortete Tristan und Noah hörte ihn herumkramen. »Nein. Kannst du auf dem Weg schnell noch einkaufen? Der Zucker ist auch fast leer.«
Für Milchreis würde Noah alles tun. »Mache ich.«
Tristan lachte leise. »In Ordnung, dann gibt es heute Abend Milchreis. Wann bist du hier?«
»Gib mir eine Stunde.«
»Ich freue mich. Bis nachher, Noah.«
»Bye.«
Tristan schwieg, als Noah aus dem Taxi stieg. Dafür verriet ihm der besorgte Blick seines Vaters eine Menge, der langsam über ihn wanderte, während er zum Haus ging, wo Tristan an der offenen Tür stehend auf ihn wartete. Noah schulterte seine Reisetasche und brachte ein schiefes Grinsen zustande, das sein Vater mit einem resignierten Seufzen kommentierte, bevor er tadelnd den Kopf schüttelte.
»Kriege ich Ärger?«
»Nicht, wenn du in nächster Zeit vernünftig isst. Du bist zu dünn«, antwortete Tristan und nahm ihm die Reisetasche ab. »Komm rein.«
»Ist er schon da?«
»Falls du Nick meinst, nein. Aber er ist auf dem Weg und dürfte bald eintrudeln. Was übrigens auch für David und Adrian gelten würde, wenn ich es ihnen nicht ausgeredet hätte.« Tristan schob die Tür hinter ihm ins Schloss. »Ich dachte, es reicht aus, wenn du erst mal von Nick angemeckert wirst, weil du so sehr abgenommen hast.«
Noah verdrehte die Augen. »Ist ja schon gut, ich hab´s verstanden.«
Tristan nickte und deutete in Richtung Küche, aus der ihm schon ein verführerischer Duft in die Nase stieg. Der Milchreis war offenbar bereits fertig. Noah nahm seinen Rucksack ab, in dem er alle Tagebücher und persönliche Kleinigkeiten aufbewahrte, und legte ihn auf die Tasche, welche sein Vater auf die unterste Stufe der Treppe ins Obergeschoss gestellt hatte.
Sein Magen knurrte verräterisch und Tristan lachte, bevor er ihn zur Küche schob. »Das spart mir die Frage, ob du gleich essen willst.«
»Und Nick?«
Tristan winkte ab, während er Teller und zwei Gläser aus dem Küchenschrank nahm. »Er kommt ja bald, dann kann er sich zu uns setzen. Holst du das Besteck?«
Noah sah auf die Küchenzeile. Es gab drei Schubladen und sie hatten ihm auch gesagt, wo alles war, aber zwölf Monate waren lang. Er wusste es einfach nicht mehr und genierte sich trotzdem zu fragen.
»Zweite Schublade links«, sagte Tristan, der mit dem Rücken zu ihm am Herd stand und den großen Topf von der Platte zog. »Frag ruhig, Noah. Du warst ein Jahr fort. Selbst ich hätte es nach der Zeit vermutlich vergessen.«
»Tut mir leid.«
Tristan warf ihm über die Schulter ein Lächeln zu. »Es ist okay, hörst du? Wir freuen uns, dass du wieder da bist und vielleicht sogar ein bisschen bleibst.«
Die Vorstellung war schön, gestand sich Noah ein. Es war nur fraglich, ob er sie umsetzen konnte. Er hatte den letzten Streit mit Nick nicht vergessen und seither waren zwischen ihnen nur belanglose Nachrichten und Floskeln getauscht worden. Ernsthaft und vernünftig miteinander gesprochen hatten sie schon sehr lange nicht mehr. Noah seufzte innerlich auf. Ein Jahr war eine verdammt lange Zeit. Hoffentlich nicht zu lang.
»Tristan? Ich bin zu Hause«, rief Nick auf einmal und unterbrach damit die eingetretene Stille zwischen ihnen.
»Wir sind in der Küche«, rief Tristan zurück.
»Wir?« Nick schwieg kurz. »Ist Noah schon da?«
»Ja«, antwortete Noah automatisch und ließ fast die Cola fallen, die er aus dem Kühlschrank genommen hatte, als Nick in der Tür erschien. »Hey.«
Sein zweiter Vater schien gestresst und müde zu sein, aber er lächelte, bevor er seine Aktentasche auf einen der Stühle stellte und zu ihm trat. Normalerweise hätte Nick ihn jetzt umarmt, das wusste Noah aus Erzählungen von früher, doch sein Vater tat es nicht. Was allein an seiner Körpersprache lag, das war ihm ebenfalls klar, denn er hielt die Cola wie einen Schutzschild vor sich und trat anschließend sogar noch einen Schritt zurück. Er wollte es eigentlich nicht, aber Nick schüchterte ihn ein. Noah reagierte instinktiv und wusste sofort, dass es ein Fehler gewesen war, als sich Nicks dunkelblaue Augen sichtlich verärgert zusammenzogen.
»Darf ich dich jetzt nicht mal mehr begrüßen? So weit sind wir also schon gekommen, ja?«
»Nick!« Tristan drehte sich zu ihnen um. »Wir fangen jetzt nicht da an, wo wir im letzten Jahr aufgehört haben. Noah ist hier, um mit uns zu Abend zu essen.«
»Lass gut sein, Tristan«, murmelte Noah und drängte sich an Nick vorbei, um die Cola auf den Tisch zu stellen. »Ich denke, ich sollte lieber zu Magnus fahren.«
»Noah ...«, fing Tristan an, kam aber nicht weit.
»Bleibst du wenigstens eine Weile in der Stadt oder ist dein nächster Flug nach Europa schon gebucht?«, fragte Nick angesäuert und sah ihn von Kopf bis Fuß an. »Wann hast du eigentlich das letzte Mal etwas gegessen? Du bist viel zu dünn. Können die in Europa nicht kochen?«
»Ich komme aus Alaska, was dir offenbar entfallen ist. Und obwohl es dich überhaupt nichts angeht, die Leute können kochen. Sogar sehr gut.« Noah ballte die Hände zu Fäusten und warf Nick einen stinksauren Blick zu. »Aber wenn du es genau wissen willst ... Eigentlich hatte ich nur vor, bei euch meine dreckige Wäsche zu waschen und bei Sonnenaufgang wieder zu verschwinden. Vielleicht mache ich es ja wie Liam und beklaue Tristan vorher, damit es sich wenigstens lohnt.«
»Schluss damit!«, fluchte Tristan erbost und schlug mit der Faust so heftig auf die Arbeitsplatte, dass Nick und Noah zusammenzuckten. »Ich habe genug von euch. Was soll der Blödsinn eigentlich? Ihr seid Vater und Sohn, verflucht noch mal!«
»Tris, ich ...«
»Halt den Mund, Nicholas, ich bin noch nicht fertig. Und was dich angeht ...« Tristan blickte zu Noah, der den Kopf einzog, weil er wusste, was jetzt kam. »Wag es nicht noch mal deinen Bruder zu benutzen, um Nick damit zu verletzen, hast du verstanden? Das ist unterhalb jeder Gürtellinie und ich verbiete es dir. Ich weiß, dass die Situation nicht leicht ist, weder für dich noch für deinen Vater, Noah, aber eure anhaltenden Streitereien machen alles nur noch schlimmer.«
Noah schnaubte unwillkürlich. »Wir müssten uns gar nicht streiten, wenn er sich nicht immer ...«
»Einmischen und dich in eine Ecke drängen würde, ja, ich weiß«, unterbrach Tristan ihn, jetzt wieder bedeutend ruhiger, und Noah zog ein beleidigtes Gesicht. »Noah, wir hätten dich vor zwei Jahren fast verloren. Das ist keine Entschuldigung, das ist mir klar.« Tristan fuhr sich durchs Haar und sah auffordernd zu Nick. »Ich will mit unserem Sohn sprechen. Allein.«
Nick wollte nicht gehen, Noah sah es ihm deutlich an, aber sein Vater schluckte den Widerspruch hinunter, der ihm auf der Zunge lag, und verließ mit langen Schritten die Küche. Wenig später fiel im ersten Stock eine Tür zu und Tristan seufzte leise, ehe er sich an den Tisch setzte und den Stuhl neben sich zurückzog. Noah atmete tief durch, bevor er sich zu seinem Vater setzte.
»Versuch ihn zu verstehen, bitte … Du und Nick, ihr wart lange Zeit wie Pech und Schwefel. Dein Vater kann nicht damit umgehen, dass du ihn nicht mehr erkennst und ihn behandelst, als wäre er ein Fremder. Daran hat sich im vergangenen Jahr nichts geändert und das wird wahrscheinlich es auch nie. Ganz gleich, ob du wieder in der Stadt lebst oder weiterhin durch die Welt ziehst.«
»Ich mache das doch nicht mit Absicht.«
»Ich weiß.« Tristan nahm seine Hand und drückte sie liebevoll. »Hab Geduld. Mit Nick und auch mit dir selbst. Du darfst nichts erzwingen, was dein Leben betrifft. Dein Herumreisen, es hat nicht geholfen, oder?«
»Nein«, gab Noah zu.
»Das hatte ich schon vermutet. Ich habe nichts gesagt, weil ich wollte, dass du es selbst begreifst. Wir können nicht an früher anknüpfen, weil es diese Zeit nicht mehr gibt. Auch wenn dein Vater sich nichts sehnlicher wünscht. Und ich denke tief in dir drin hoffst selbst du, dass alles wieder so wird, wie es war. Ich tue es auch. Das ist normal, hilft uns aber leider nicht.«
Noah senkte den Blick auf die Tischplatte. »Es würde alles so einfach machen.«
»Das stimmt.« Tristan strich ihm über den Kopf. »Aber das ist schlicht unmöglich. Du, dein Vater und ich … wir alle müssen es akzeptieren. Irgendwie. Ansonsten werden wir nie einen Neuanfang finden.«
Das war sehr viel leichter gesagt als getan. Noah hob hilflos die Schultern. »Ich weiß einfach nicht, wie ich das tun soll. Was ich mit meinem Leben anfangen soll.«
Tristan schüttelte den Kopf. »Keine Ausflüchte, Noah, ich kenne dich. Du hast dir schon längst den einen oder anderen Gedanken in dieser Hinsicht gemacht.«
»Ich will nicht länger von eurem Geld leben.«
Sein Vater nickte verstehend. »Du brauchst also einen Job. Und weiter?«
»Eine eigene Wohnung. Keine Hotelzimmer mehr für die nächsten tausend Jahre.« Noah stockte kurz. »Und … na ja … um ehrlich zu sein ...«
»Keine Wohngemeinschaft mehr«, führte Tristan den Satz zu Ende und Noah sah überrascht zu ihm. Sein Vater lächelte verständnisvoll. »Magnus ist ein netter Kerl, aber ich kann gut nachvollziehen, dass du im Moment keine Gesellschaft willst. Und? Wo möchtest du wohnen? Hier oder woanders?«
Noah wich Tristans Blick aus. »Ich würde gern … äh …«
»Woanders«, zog sein Vater erneut die richtigen Schlüsse und Noah verzog verlegen das Gesicht. »Ich bin dir deswegen nicht böse. Im Gegenteil, ich verstehe dich, obwohl es mir als dein Vater natürlich viel lieber wäre, wenn du bei uns in Baltimore bleibst. Aber das ist deine Entscheidung, nicht meine.«
»Nick wird abkotzen.«
»Noah«, tadelte Tristan sanft und Noah zuckte hilflos mit den Schultern, als er seinen Vater ansah. »Du hast recht, aber das kläre ich mit ihm, sobald wir unter uns sind. Ich denke, es wäre das Beste, wenn du heute Nacht auswärts übernachtest.«
Noah war verblüfft. »Du wirfst mich raus?«
Sein Vater grinste schief. »Ja, das tue ich. Aber nicht auf die Straße oder ins nächste Hotel, sondern zu Adrian und David. Ich muss in Ruhe mit Nick reden und ich will nicht, dass du das hörst.«
»Du meinst, weil ihr euch anschreien werdet?«
»Ja, wahrscheinlich«, gab Tristan zu und Noah stützte sich frustriert stöhnend mit den Ellbogen auf dem Tisch ab.
»Das ist doch Scheiße.«
»Mag sein, aber es ist die beste Lösung, und das weißt du. Ich gebe zu, ich hatte gehofft, dass dein Herumreisen helfen würde, aber es hat Nick noch unruhiger gemacht, obwohl er immer wusste, wo du warst.«
»Wieso kann er nicht ...?«
»Er hat Angst«, unterbrach sein Vater ihn ernst. »Um dich, eure Beziehung, um unsere Familie. Wir haben erst dich fast verloren, danach Liam und jetzt bist du zurück, aber gleichzeitig bist du es nicht, verstehst du?«
»Ich wünschte, ich könnte mich wieder erinnern.«
»Ich weiß.« Tristan streichelte ihm über die Wange. »Aber das ist ein Wunschtraum, deswegen müssen wir das Beste aus dem machen, was uns bleibt. Noah? Wo möchtest du in Zukunft leben?«
Noah dachte sehr lange über die Frage nach, wog Vor- und Nachteile von einigen Städten ab, die ihm einfielen, und erinnerte sich schließlich an ein Telefonat mit Niko, der ihm dabei gesagt hatte, dass es nie falsch war auf sein Herz zu hören. Das hatte Noah getan, bevor er Alaska hinter sich gelassen hatte, und er würde es jetzt tun, denn er mochte Niko. Es war mit Sicherheit keine schlechte Idee, jemanden in der Nähe zu haben, der ihm im letzten Jahr des Öfteren zugehört hatte. Egal, welchen Unsinn er dabei von sich gegeben hatte.
»New York.« Noah blickte auf und zuckte bei Tristans interessiertem Blick die Schultern, um danach schief zu grinsen. »Ich mag Niko.«
Sein Vater fing an zu lächeln. »Ich würde mich freuen, wenn ihr wieder Freunde werdet.«
»Ich auch«, murmelte Noah kaum hörbar, weil er die Vorstellung, einen richtigen Freund zu haben, wirklich schön fand. Vielleicht gelang es ihm auf diese Weise, langsam wieder einen Weg zurück zu seiner Familie zu finden. Schritt für Schritt. So hatte es der Psychologe in der Reha damals zu ihm gesagt und einen Versuch war es allemal wert.
2. Kapitel
New York City war eine vollkommen andere Stadt als Baltimore. Laut, dreckig, verrückt. Aber gleichzeitig auch wunderschön, dachte Noah, als er Ende Februar seine prall gefüllte Reisetasche aus dem Kofferraum des Taxis nahm und sie schulterte, bevor er nach dem Koffer griff, um sich dem Haus zuzuwenden, in welchem seine neue Bleibe lag. Ein Haus mit mehreren Parteien und in einer davon lebten Niko und sein Freund Tyler, der mürrische Cop, gemeinsam mit dessen Halbschwester Grace. Nicht zu vergessen, ihr Kater Bounty.
Johnson, Maguire & Corvin
Das musste die Wohngemeinschaft des Trios sein. Er klingelte und sah auf die Uhr. Noch knapp zwei Stunden bis zum Vorstellungsgespräch. Das würde knapp werden, denn Noah wollte duschen, sich umziehen und noch eine Mappe für seine Bewerbungsunterlagen besorgen. Das hatte er in Baltimore vergessen. Er würde sich erneut ein Taxi nehmen müssen, um schnell einzukaufen und dann hoffentlich pünktlich vor dem Velvet einzutreffen. Sonst war der mögliche Job gleich wieder Geschichte und das konnte er sich nicht leisten.
Besser gesagt, das wollte Noah sich nicht leisten. Er brauchte Geld für die Unabhängigkeit von seinen Vätern und er würde sich einen guten Job nicht damit versauen, dass er durch seine eigene Schludrigkeit zu spät kam.
»Ja?«, fragte eine Stimme, die er als Nikos erkannte.
»Hey, hier ist Noah.«
»Hi, komm rauf. Fünfter Stock.«
»Gott sei Dank habt ihr einen Fahrstuhl.«
Noah grinste, als Niko lachend den Summer drückte und ihn ins Haus ließ. Wenig später trat er oben aus dem Fahrstuhl und erkannte Niko sofort von den unzähligen Fotos wieder, die ihm gezeigt worden waren. Der einzige Unterschied zu den Bildern war, dass Niko in natura fröhlicher und ausgeglichener schien. Nicht so verbittert und in sich gekehrt. Was Tylers Verdienst war, erinnerte sich Noah an die Geschichte des Paares, das sich lieben gelernt hatte, während er im Koma lag.
»Na? Bist du gut hergekommen?«, fragte Niko und zog ihm seinen Koffer aus der Hand. »Meine Güte, hast du in dem Ding Steine drin? Willst du dich erst mal kurz hinsetzen oder dir lieber gleich dein Reich ansehen?«
»Letzteres, um ehrlich zu sein«, antwortete Noah, weil er seine Sachen loswerden wollte. »Der Flug hierher war langweilig und die Taxifahrt … äh, schweigen wir drüber. Mich wundert jedenfalls nicht mehr, warum es heißt, die New Yorker Taxifahrer wären alle nicht ganz dicht.«
Niko lachte und Noah grinste, froh darüber, dass es ihm gelang, seine Mimik unter Kontrolle zu halten. Von wegen ein langweiliger Flug. Aber das musste Niko nicht wissen. Er würde diesen unheimlichen Kerl, der ihm auf der Herrentoilette im Flughafengebäude an die Wäsche gegangen war, ohnehin nicht wiedersehen, wozu also die Pferde scheu machen. Niko würde es bloß Tyler erzählen und der garantiert auf eine Anzeige gegen Unbekannt bestehen, immerhin war der Mann ein Polizist. Das war Noah zu viel Stress für den ersten Tag in seinem neuen Leben. Darauf hatte er keine Lust.
»Wie seid ihr eigentlich so schnell an die Wohnung gekommen?«, fragte er interessiert.
»Das war Zufall. Der Vormieter ist vor zwei Monaten gestorben. Herzinfarkt. Wir wollten zuerst selbst einziehen, um mehr Freiraum als Paar zu haben.« Niko schloss auf und winkte ihn in einen schmalen Flur. »Aber irgendwie konnten wir uns nicht einigen. Ich mag Grace und habe sie wirklich gerne um mich. Tyler geht es genauso und ihr sowieso.« Niko zuckte mit den Schultern. »Daher bleiben wir bis auf Weiteres eine Wohngemeinschaft und die Bude gehört ab sofort dir. Im Großen und Ganzen ist die Wohnung ähnlich wie unsere. Du hast zwar einen Raum weniger und dein Bad hat kein Fenster, aber dafür gibt es einen Balkon. Ach ja, und eine kleine Kammer, in die du vom Schlafzimmer aus kommst. Du kannst sie als Ankleidezimmer benutzen.«
»Ankleidezimmer?« Noah schaute Niko an, der blickte zurück, dann lachten beide.
»Na gut, kein Ankleidezimmer«, gluckste Niko, als sie sich beruhigt hatten, und schob die Tür rechts von ihnen auf. »Hier ist das Bad.«
Noah folgte Niko, während der ihn kurz herumführte. Abgesehen vom Bad, gab es geradezu ein Wohnzimmer mit Essecke und auf der linken Seite das Schlafzimmer, wo Noah sich in der Ecke einen Schreibtisch hinstellen konnte. Wohn- und Schlafzimmer führten auf den Balkon, der zwar nicht groß war, ihm aber einen freien Blick in den vom Schnee bedeckten Innenhof gewährte. Es gab sogar einen Platz mit Sitzgelegenheiten und einen derzeit trockengelegten Springbrunnen.
»Dürfen wir den Garten nutzen?«, fragte Noah, als sie nebeneinander an der Balkonbrüstung lehnten und nach unten schauten.
»Ja«, antwortete Niko. »Den hat der Besitzer erst im letzten Jahr eingerichtet. Er ist für alle Hausparteien … und wir halten ihn gemeinsam sauber. Im Frühjahr wird er wieder bepflanzt. Eine Oase der Großstadt, hat Grace es genannt. Mir gefällt es jedenfalls … Also?« Niko blickte ihn fragend an. »Nimmst du die Wohnung?«
Noah schmunzelte. »Unter einer Bedingung.«
»Die da lautet?«
»Du verrätst mir, wer die ganzen Möbel bezahlt hat.« Niko stöhnte und Noah lachte leise. »Hast du etwa geglaubt, es fällt mir nicht auf, dass sie neu sind? Du hast sie ausgesucht, oder?«
Niko stützte sich mit den Ellenbogen auf die Brüstung und zuckte mit den Schultern. »Ich habe deiner Familie von Anfang an gesagt, dass du es bemerken würdest. Aber er hat sich nicht davon abbringen lassen. Guck besser nicht in deinen Kleiderschrank.«
»Er?« Noah verdrehte die Augen gen Himmel. »Eines Tages erwürge ich Nick dafür.«
»Das Zeug kommt nicht von deinem Vater.«
»Was?«, fragte Noah überrascht. Er war sich so sicher gewesen. »Vom wem dann?«
»Wer wohnt sonst noch in Baltimore und hängt ständig bei euch herum?«
Noah runzelte die Stirn. »Wen mein…? Oh Mann, das war Adrian?«, fiel der Groschen und Niko nickte.
»Sieh es als Einweihungsgeschenk, soll ich dir sagen.« Niko grinste und sah auf die Uhr. »Äh … musst du nicht bald los? Es ist gleich drei.«
»Oh Scheiße, ich komme zu spät«, fluchte Noah und machte kehrt, um seinen Anzug aus dem Koffer zu holen. Hoffentlich war er faltenfrei geblieben. »Mist, ich muss noch einkaufen. Das schaffe ich nie.«
»Einkaufen?«, fragte Niko verwundert.
»Eine Mappe für meine Bewerbungsunterlagen. Ich habe in Baltimore nicht daran gedacht und ...«
»Ich leihe dir eine von uns.« Niko ging zur Tür. »Tyler hat Unmengen von den Dingern. Er klaut die immer von der Arbeit. Geh duschen und mach dich fertig. Ich hol dir eine und bring dir etwas zu essen mit. Ich wette, du hattest heute noch nichts.«
Noah hatte bislang tatsächlich nichts gegessen. Dafür war er viel zu nervös gewesen. Zuerst der Abschied von seiner Familie, danach der Flug nach New York City und überhaupt der ganze Stress der letzten Woche, nachdem er im Internet über das Angebot von Thomas und Eric Burrows gestolpert war, die für ihren Club Velvet einen Künstler für die neue Wandgestaltung suchten. Jemand, der sich mit Spraydosen auskannte, das war genau seine Richtung.
Laut seinen Vätern war Noahs Liebe zu Spraydosen einige Male der Grund für heftige Streitereien im Hause Kendall gewesen, vom Ärger mit der Polizei gar nicht zu reden. Daran erinnerte sich Noah zwar nicht, aber sein Interesse für Kunst und zu den besagten Spraydosen war geblieben. Aus diesem Grund wollte er den Job im Club. Ein Einstieg in die Berufswelt, der für ihn ein Neuanfang sein würde.
Als er aus der Dusche kam, hatte Niko ihm den Anzug fürs Vorstellungsgespräch von innen an die Tür gehängt. Noah war zwar unsicher, ob er damit nicht overdressed war, immerhin bewarb er sich als Künstler und nicht als Banker, aber in seinen Jeans wollte er auch nicht gehen. Die meisten waren ihm derzeit eh viel zu groß, weil er so dünn geworden war. Deswegen hatte er mit Tristan einen Anzug gekauft. Es war das einzige Kleidungsstück, was Noah momentan wirklich passte.
»Sieht gut aus«, erklärte Niko schmunzelnd, als Noah ins Wohnzimmer trat und mit seiner Krawatte kämpfte. »Setz dich und iss. Dein Taxi ist in zehn Minuten hier.«
»Danke.« Noah fluchte brüsk, als er den Knoten nicht hinbekam.
Niko lachte und stand vom Küchentresen auf, um auf ihn zuzutreten und ihm ein Sandwich zu reichen. »Hier. Die Krawatte übernehme ich. Wo bewirbst du dich eigentlich?«, hakte Niko nach und band ihm dabei den Schlips. »Das ist letzte Woche total untergegangen.«
»Das Velvet sucht einen Künstler … Na ja, eher einen Sprayer für die Wandgestaltung. Ich bin mit den beiden Besitzern verabredet. Eric und Thomas Burrows. Kennst du ihren Club?« Noah runzelte die Stirn, als Niko ihn auf einmal ganz seltsam ansah. »Ist was?«, fragte er und biss in das Sandwich.
Niko schüttelte den Kopf. »Nein, gar nicht. Ich war im ersten Moment nur überrascht. So, so, ein Club, also? … Gib zu, du willst dir jemanden aufreißen.«
»Niko!«
Niko lachte und trat einen Schritt zurück. »Fertig. Und jetzt ab mit dir, sonst kommst du wirklich noch zu spät.«
Eine halbe Stunde später runzelte Noah grübelnd die Stirn. Wollte er in diesem Laden tatsächlich arbeiten? Sehr einladend sah der Club mit den tiefschwarzen Türen und einigen potthässlichen Graffiti auf der Außenwand nicht gerade aus. Und vor allem entsprach er überhaupt nicht dem Bild, das er auf der spärlichen Internetseite vom Velvet gesehen hatte. Aber es war derselbe Club, er erkannte ihn an der Fassade. Merkwürdig. Andererseits, die zwei Eigentümer des Clubs suchten einen Künstler, der ihnen den Laden verschönerte. Möglicherweise war die Außenansicht damit ebenfalls gemeint.
Schaden würde es nicht, dachte Noah, während er die Außenfassade näher in Augenschein nahm. Er würde ein Gerüst brauchen. Für eine Leiter war der Laden zu hoch. Außerdem gab es im Obergeschoss ein paar Fenster, die darauf hindeuteten, dass dort jemand wohnte. Ob der so begeistert davon war, wenn ihm in der kommenden Zeit jemand andauernd vor der Nase herumlief? Falls der Club im Inneren ebenso trostlos aussah, wie hier draußen, kam er mit seiner bislang grob geplanten Arbeitszeit von zwei bis drei Wochen auf keinen Fall hin. Es würde wenigstens einen Monat dauern, wohl eher das Doppelte, je nachdem, was die Besitzer an ihren Wänden haben wollten. Und das war bitte nicht in der gleichen Art, wie diese abstrakten Gesichter und tanzenden Figuren, die jetzt an der Fassade zu sehen waren.
»Hast du dich verlaufen, Kleiner?«
Noah fuhr abrupt herum. »Was?«
Stahlblaue Augen blitzten vergnügt auf als der Mann, der ihn eben angesprochen hatte, auf ihn zukam. »Ob du dich verlaufen hast?«, wiederholte der die Frage und musterte ihn einmal von Kopf bis Fuß. »Das 'Kleiner' nehme ich allerdings zurück, du bist älter als du aussiehst. Der Club öffnet aber erst in ein paar Stunden.«
»Ja, ich weiß.«
Noah steckte den Zettel ein, auf dem er sich die Adresse notiert hatte, um sie nicht zu vergessen. Seit er niedergeschossen worden war, passierte es manchmal, dass er sich Ziffern, Namen, Bezeichnungen und Orte nicht merken konnte. Oder sie fielen ihm einfach nicht ein. Eine Spätfolge seiner Kopfverletzung, mit der er würde leben müssen, hatte sein Arzt erklärt.
»Ich habe einen Termin mit den Besitzern. Wer sind Sie eigentlich?«
Der Fremde lachte und streckte dabei seine Hand aus. »Besitzer Nummer eins, Thomas Burrows. Du bist Noah Kendall, oder? Freut mich. Und du bist zu früh.«
»Soll ich wieder gehen?« Noah ergriff die angebotene Hand mit einem Grinsen, als sein möglicher zukünftiger Chef lachte. »Freut mich ebenfalls.«
»Komm mit rein. Eric besorgt noch schnell ein spätes Mittagessen. Ach ja, nenn mich Tom. Das machen alle.«
Noah nickte. »Gern. Sag einfach Noah.«
Er folgte Tom in den Club, der von innen tatsächlich nicht besser aussah als von außen. Kopfschüttelnd betrachtete Noah die hässlichen Wandbilder und fragte sich, wie der Laden in den letzten Jahren so erfolgreich hatte sein können?
»Furchtbar, oder?«
Noah antwortete nicht. War das jetzt eine Fangfrage? Tom schien ihm seine Gedanken anzusehen.
»Sag´s ruhig. Ich fand die Bilder von Anfang an völlig daneben, aber die Leute standen drauf, als wir den Club übernahmen.«
»Warum sucht ihr dann einen Künstler?«
»Weil es Zeit für eine Veränderung ist. Willst du etwas trinken? Setz dich.«
»Wasser, danke.«
Noah nahm auf einem Barhocker Platz und Tom trat hinter die lange Theke, reichte ihm wenig später eine Flasche Wasser, bevor er wieder nach vorn kam und den Barhocker neben ihm in Beschlag nahm. Noah schraubte die Flasche auf und hielt inne, als er plötzlich überlegen musste, wie die Teile hießen, in die man das Wasser kippte, um daraus zu trinken. Ihm gegenüber standen gleich mehrere Reihen davon, aber der Begriff für sie wollte Noah partout nicht mehr einfallen. Er runzelte verärgert die Stirn.
»Ist alles okay?«, fragte Tom neben ihm und Noah sah zu ihm, resigniert und frustriert zugleich.
»Nein, ich … Hast du meinen Lebenslauf gelesen?«
»Ja.«
»Dann weißt du auch von der Schießerei.« Noah deutete zu den aufgereihten Gruppen durchsichtiger Gegenstände auf der Bar gegenüber. »Ich vergesse ab und zu Begriffe von Dingen. So wie die da.«
Tom folgte seinem Fingerzeig. »Du meinst die Gläser?«
»Ja, genau.« Noah lächelte verlegen. »Tut mir leid. Ich hätte gerne eines. Für das Wasser.«
»Kein Problem.« Tom streckte sich und langte über den Tresen und dabei nach unten. Wenig später stand ein sauberes Glas vor Noah. »Bitte.«
»Danke.«
»Ist das dauerhaft?«, fragte Tom und schüttelte gleich darauf den Kopf. »Entschuldige, ich will nicht neugierig sein. Du musst nicht antworten.«
Noah zuckte mit den Schultern. »Meine Ärzte wissen nicht, ob und was für Spätfolgen noch auftreten. Manchmal vergesse ich Sachen. Manchmal steige ich an einer falschen Adresse aus dem Taxi und bin mir sicher, richtig zu sein. Ich verdrehe Zahlen oder kann mich auf einmal nicht mehr an einen Namen erinnern. Es ist völlig willkürlich, daher habe ich damit angefangen, wichtige Sachen sicherheitshalber zu notieren. Auch wenn das im Notfall kaum helfen wird, aber ich fühle mich dadurch sicherer.« Noah trank einen Schluck Wasser. »Lass uns lieber über die, ich nenne es mal Kunst, an euren Wänden reden.«
Tom lachte, öffnete die Cola, die er sich mit dem Glas für Noah geholt hatte, und prostete ihm zu. »Du bist sehr höflich, aber ich weiß, dass die Dinger hässlich sind. Und weder Eric noch mir ist entgangen, dass unsere jüngeren Besucher mittlerweile die Nase darüber rümpfen. Daher wollten wir den Club für einen Monat dichtmachen, sobald wir einen guten Künstler gefunden haben, der uns etwas Besseres an die Wände sprayt. Könntest du dir vorstellen dieser Künstler zu sein?«
»Nein.«
Tom sah ihn verblüfft an. »Warum nicht?«
»Weil ich nicht zaubern kann«, antwortete Noah und deutete auf die Wände. »Das alles in einem Monat neu zu machen, ist unmöglich. Vor allem dann nicht, wenn die Außenwand mit inbegriffen ist, was ich hoffe. Normale Leute brauchen ab und zu auch mal Schlaf.«
»Du hoffst, dass wir …?« Tom brach ab und fing an zu grinsen. »Du bist ganz schön frech, das gefällt mir. Also gut, nehmen wir mal an, Eric und ich stimmen dir in allem zu, wie viele Wochen würdest du denn brauchen?«
»Gesetzt den Fall, die Wände werden vorher gesäubert und ich habe alles zum Arbeiten da, was nötig ist?«
Tom nickte. »Bekommst du.«
»Das ist schwer zu sagen. Auf jeden Fall länger als den von euch angesetzten Monat und ihr werdet euren Club kaum für unbestimmte Zeit dichtmachen wollen, oder?« Noah sah Tom fragend an, der wie erwartet den Kopf schüttelte. »Das bedeutet, ich muss in Etappen arbeiten. Während geschlossen ist, bei Ruhezeiten, wenn geputzt wird und so weiter. Und es kommt natürlich darauf an, was ihr für Bilder an den Wänden wollt. Schlicht oder detailliert? Farbig oder schwarz-weiß? Das kann ich dir erst genauer sagen, sobald ich mehr weiß. Wenn ihr alle Wände neu gemacht haben wollt, würde ich mindestens das Doppelte an Zeit dafür einplanen.«
Tom trank einen Schluck Cola. »Gehen wir davon aus, du kriegst den Job … Ob es nun einen Monat oder drei dauert, sei dahingestellt … Wer sagt uns, dass du dein Geld überhaupt wert bist? Dein Lebenslauf hat eine ziemliche Lücke.«
»Ich war das gesamte letzte Jahr überall auf der Welt unterwegs. Glaubst du ernsthaft, ich hätte in der Zeit nie eine Spraydose oder einen Pinsel in der Hand gehabt?«
Tom gluckste. »Gute Antwort.«
»Ich bin nur ehrlich.«
»Was dich sehr sympathisch macht«, meinte Tom und lehnte sich gegen den Tresen. »Allerdings kaufe ich nicht die Katze im Sack. Wie sieht es mit Entwürfen aus?«
»Eure Webseite gab nichts her, was gutes Bildmaterial aus dem Inneren des Clubs angeht, aber ich habe ein paar Skizzen dabei.« Noah holte seinen Zeichenblock aus der Mappe, die Niko ihm geliehen hatte, und reichte ihn an Tom, der nickte und ihn auf den Tresen legte.
»Ich sehe sie mir später mit Eric an. Du schlägst also mindestens zwei Monate vor ... Das dürfte machbar sein. Kommen wir zum wichtigsten Punkt. Was verlangst du?«
»Kommt drauf an, ob ihr pro Stunde bezahlt oder mit Festpreis arbeiten wollt.«
»Du bekommst bezahlt, was du arbeitest. Pro Stunde.« Tom ließ seinen Blick einmal durch den Club schweifen. »Nichts gegen Festpreise, aber wir wollen gute Qualität und wir sind bereit, dafür zu bezahlen. Also? Welcher Stundenlohn?«
Über die Frage hatte Noah bereits tagelang gegrübelt, ohne eine Antwort zu finden. Er hatte keinerlei Erfahrung. Nur sein Studium, an das er sich nicht erinnerte, und die unzähligen Ideen in seinem Kopf, die er umsetzen wollte. Aber er brauchte Geld, um seine Miete zahlen zu können, also würde Noah irgendeine Zahl nennen und sehen, was passierte.
»Hundert.«
Tom verschluckte sich an seiner Cola und fing heftig an zu husten. Noah klopfte ihm auf den Rücken, bis Tom sich beruhigt hatte und ihn kopfschüttelnd ansah.
»Zu hoch?«, fragte Noah verunsichert, was ihm einen verdutzten Blick einbrachte. »Zu niedrig?«
Tom lachte. »Viel zu niedrig für das, was Eric und mir vorschwebt. Hör zu, du hast ein Studium und ich denke in deinem Block werden gute Ideen sein. Du hast durch deinen Erinnerungsverlust keine Erfahrung mehr, aber du hättest dich kaum bei uns beworben, wenn du diesen Job nicht wolltest.«
»Ich muss Rechnungen bezahlen, deswegen habe ich mich beworben«, gab Noah zu und seufzte, als Tom ihn abwartend ansah. »Natürlich will ich den Job. Aber ich habe in den letzten Monate vom Geld meiner Väter gelebt … Ich denke, das solltest du wissen.«
»Wie gesagt, du bist ehrlich, das gefällt mir, und wenn du für uns arbeitest, bekommst du dreihundert Dollar pro Stunde. Außerdem sind Getränke und Essen im Club für dich frei. Und wir haben ein Gästezimmer, sofern du noch auf Wohnungssuche bist und ein Bett brauchst.«
Noah starrte Tom mit offenem Mund an und schloss ihn eilig wieder, als ihm aufging, wie dämlich er im Moment aussehen musste. »Dreihundert Dollar? Bist du noch ganz dicht?«
Tom schüttelte lachend den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste, aber danke. Einen Haken hat die Sache jedoch, denn wenn du die Bilder versaust, machst du sie umsonst ein zweites Mal.«
»Einverstanden.«
»In Ordnung, dann ...« Tom brach ab, als sein Handy piepte. »Moment.« Er las die Nachricht und nickte. »Eric ist da. Ich stelle euch vor, dann werfe ich dich raus.« Tom lächelte ihm entschuldigend zu. »Mein Schreibtisch quillt über vor Papierkram und in einer Stunde kommt unsere Putztruppe.«
Hinter ihnen klappte die Tür und Noah schaute über seine Schulter. Als er erkannte, wer gerade den Club betreten hatte, weiteten sich seine Augen. Das war derselbe Kerl, der ihn auf der Herrentoilette vom Flughafen in die Ecke gedrängt hatte. Noah ließ sich vom Barhocker gleiten.
»Ich denke, ich werde jetzt gehen«, sagte er und stellte das Glas auf den Tresen. »Suchen Sie sich einen anderen Künstler.«
»Noah?« Tom legte eine Hand über seine und hielt ihn zurück. »Deswegen wollte ich, dass du bleibst. Eric hat es mir erzählt. Ich will, dass du dafür eine Entschuldigung bekommst.«
»Gib du sie ihm. Von mir bekommt er sie nicht.« Eric Burrows lief mit einem düsteren Gesichtsausdruck und zwei Tüten, aus denen es verführerisch nach asiatischem Essen roch, an ihnen vorbei auf einen Fahrstuhl zu, der in die Wand eingebaut war.
Noah wusste nicht, ob er wütend sein oder besser aus dem Club flüchten sollte. Dieser Kerl war noch genauso gruselig wie in der Herrentoilette. Und er war offenbar mehr als sauer auf ihn, was ihn zu einem Mann machte, dem Noah auf keinen Fall im Dunkeln begegnen wollte. Er hatte schon am Flughafen Angst vor diesem Mistkerl gehabt, der ihm, ohne ein Wort zu sagen, an die Wäsche gegangen war. Noah hatte zuerst an eine Verwechslung geglaubt, bis er kräftige Finger gespürt hatte, die sich in seine Arme gebohrt hatten.