Kurze Zeit später kehrte Oberkommissar Strobel in den Verhörraum zurück. „Sagen Sie uns, was wir wissen wollen.“
Q schüttelte den Kopf und hob fragend die Hände. „Ich habe nichts Verbotenes getan. Sagen Sie mir, was Sie mir vorwerfen.“
„Stellen Sie sich nicht blöd. Sie sind ein sehr intelligenter Mann, wenn man Ihrem Lebenslauf Glauben schenken darf. Glauben Sie mir, Sie tun sich einen Gefallen, wenn Sie uns einfach die Wahrheit sagen.“
Q faltete seine zitternden Hände unter dem Tisch. „Ich habe nichts getan.“
Oberkommissar Strobel fluchte leise und verließ erneut das Zimmer. Qs Nervosität verwandelte sich in Ungeduld, während er da saß und wartete. Aus einer Stunde wurden zwei, dann drei. Je mehr Zeit verstrich, desto unruhiger wurde er. Sein Magen knurrte und erinnerte ihn schmerzhaft daran, dass es schon nach Mittag war und er seit mehr als zwölf Stunden nichts gegessen hatte. Wie meistens hatte er auch heute Morgen das Frühstück ausgelassen.
Die können mich hier nicht ewig festhalten. Die müssen Beweise vorlegen oder mich gehen lassen.
Er wollte gerade an die Tür klopfen und seine Freilassung verlangen, als diese sich öffnete und Oberkommissar Strobel mit einem weiteren Polizisten im Schlepptau herein kam.
Der zweite Beamte hielt ein Stück Papier in den Händen. Q erkannte das Papier; es war ein Artikel über Gasmasken, den er vor einiger Zeit geschrieben hatte.
Die müssen meine Wohnung nach Beweisen durchsucht haben, während ich hier eingesperrt war. Darum dauert das so lange.
Q schloss einen Moment die Augen, damit man seine Erleichterung nicht sehen konnte. Wenn dieser Artikel das Einzige war, was die Polizei gegen ihn in der Hand hatte, dann war er aus dem Schneider.
Der Polizist legte den Artikel auf den Tisch und schob ihn in Qs Richtung. „Erklären Sie das.“
Q zwang sich, ernst zu bleiben. Belustigung war hier fehl am Platz, und auch sein Gefühl der Überlegenheit behielt er besser für sich. Das würde sicherlich nicht gut ankommen. Nein, er bemühte sich darum, so zu wirken, als sei er von der Obrigkeit eingeschüchtert, aber kooperativ und ehrlich. Ein braver Bürger, immer bereit der Polizei zu helfen.
„Das ist ein Artikel über Gasmasken. Wo haben Sie den her?“, fragte Q.
„Aus Ihrer Wohnung. Inmitten von Tausenden nutzloser Zettel.“ Der Beamte rollte die Augen und wandte sich an seinen Vorgesetzten. „Herr Oberkommissar, Doktor Quedlins gesamter Schreibtisch ist knietief von Notizen, Papieren, Magazinen und Zeitungen übersät.“
Vor Qs innerem Auge erschien die sorgfältig gepflegte Unordnung auf seinem Schreibtisch und er stöhnte innerlich bei dem Gedanken, wie lange er brauchen würde, um alles wieder an seinen angestammten Platz zu räumen. „Für meine Forschung muss ich alle erdenklichen Informationen sammeln. Deshalb neige ich dazu, jedes Stück Papier aufzuheben, das nützlich sein könnte.“
„Das erklärt aber nicht, warum Sie gerade diesen Artikel aufbewahrt haben, nicht wahr?“
„Nein, Herr Oberkommissar. Diesen Artikel habe ich nicht irgendwo gefunden und aufbewahrt, sondern ich habe ihn selbst geschrieben.“ Q zeigte auf seinen Namen in der rechten oberen Ecke der Seite. „Sehen Sie? Das bin ich.“
„Warum haben Sie so einen Artikel geschrieben?“, fragte der Oberkommissar.
„Weil mein Arbeitgeber mich darum gebeten hat. Ich erhielt den Auftrag, nach alternativen und wirtschaftlicheren Möglichkeiten zur Herstellung von Gasmasken für die Bevölkerung zu forschen. Um sie erschwinglicher zu machen, damit sich alle Deutschen schützen können. Dieser Artikel wurde im regelmäßig erscheinenden technischen Magazin der Auer Gesellschaft veröffentlicht. Unsere Forschungseinheit stellt darin ihren Fortschritt und die neuesten Entwicklungen vor.“
Die Beamten sahen sich an und Q spürte, wie die Spannung im Raum abnahm. „Also dient Ihre Arbeit dem Schutz der deutschen Bevölkerung?“
Q nickte. „Ja.“
„Das ist eine sehr ehrenhafte und noble Aufgabe. Hatten Sie Erfolg?“, fragte der zweite Beamte, dessen anklagender Ton in Bewunderung umschlug.
„Ja, ich denke schon. Bei dem ganzen Gerede über unsere Feinde und einen bevorstehenden Krieg wollte die Auer Gesellschaft dem deutschen Volk ein Gefühl der Sicherheit vermitteln.“
Beide Beamten nickten. Seit chemische Kampfstoffe in Form von tödlichen Gasen das erste Mal im vergangenen Weltkrieg eingesetzt wurden, war die Bevölkerung fast manisch um ihre Sicherheit besorgt. Da die meisten Deutschen das Gefühl hatten, vom Rest der Welt gehasst zu werden, wurde der Besitz einer Gasmaske nicht nur als Sicherheitsvorkehrung empfohlen, sondern war inzwischen der letzte Schrei.
Der Oberkommissar lächelte und Q sackte vor Erleichterung in seinem Stuhl zusammen. „Warten Sie hier.“
Beide Beamten traten vor die Tür und Q lauschte ihrer gedämpften Unterhaltung.
„Haben Sie außer dem Artikel noch etwas in seiner Wohnung gefunden?“
„Nein.“
„Kein Beweis für Spionageaktivitäten oder Kommunikation mit unseren Feinden?“
„Nichts. Wir haben auch keine Anzeichen gefunden, dass er in irgendeiner Partei politisch aktiv wäre.“
„Nun gut, dann kann er gehen. Lassen Sie ihn laufen, aber erinnern Sie ihn daran, dass er die Stadt nicht verlassen darf, da er noch immer unter Verdacht steht.“
Als der zweite Beamte zurück ins Zimmer kam, versuchte Q so zu tun, als hätte er nichts mit angehört. „Haben Sie noch mehr Fragen?“
„Im Moment nicht. Sie können gehen, aber Sie müssen bis auf weiteres im Großraum Berlin bleiben. Wir fahren Sie nach Hause.“
Q konnte sich lebhaft das Gesicht seiner neugierigen alten Vermieterin vorstellen, wenn er mit dem Polizeiwagen vorgefahren käme. Er schüttelte den Kopf, stand auf und ging zur Tür. „Vielen Dank, aber ich laufe lieber.“
Der Beamte zuckte die Schultern. „Wie Sie wollen. Ihre Entscheidung. Aber denken Sie dran, nicht die Stadt zu verlassen.”
„Werde ich nicht.“ Q trat aus dem Polizeirevier hinaus in den bereits schwindenden Sonnenschein.
Seine Wohnung lag am anderen Ende der Stadt. Auf seinem dreißigminütigen Fußmarsch beobachtete er die Passanten. Er sah in jedes Gesicht und fragte sich, welche Gedanken sich dahinter verbargen. Wodurch hatte die Polizei Verdacht geschöpft? Hatte ihn jemand denunziert? Und wenn ja, wer? Er ging im Geiste alle Nachbarn und Kollegen durch und fragte sich, wer ihn verraten haben könnte. Wem konnte er noch trauen? Konnte er noch jemandem trauen?
Die Antwort war nein. Er konnte niemandem mehr trauen.
Es lag etwas Düsteres in der Luft und Q glaubte, dass Deutschland große Ereignisse bevorstanden. Die Stimmung in den Straßen war rastlos, als ob jeder nur auf ein Signal wartete, um loszustürmen. Seit den Wahlen im Juli hatte Hitler die Massen gegen die jetzige Regierung aufgehetzt und die Menschen wurden immer unruhiger. Q hatte bisher die Hoffnung gehabt, dass sich bald alles zum Besseren wenden würde, aber der Vorfall heute ließ ihn daran zweifeln.
Zu Hause angekommen fand er ein Schlachtfeld vor: Bücher und Papiere lagen überall verstreut. Ein tiefer Seufzer drang aus seiner Kehle, als er die leergefegten Regale, die umgekippten Schubladen und die auf dem Boden verteilte Wäsche sah. Sogar die Matratze hatten die Polizisten in ihrer vergeblichen Suche nach belastendem Material umgedreht.
Q hielt den Atem an, bevor er sein kleines Arbeitszimmer betrat, sein Heiligtum. Hier durfte niemand rein, aus Angst, sein ausgeklügeltes Ordnungssystem könnte durcheinander geraten.
Der Anblick traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube und er wollte vor Verzweiflung schreien, als er die Verwüstung in seinem Büro sah. Jeder der thematisch sortierten Papierstapel war auf den Kopf gestellt worden und hunderte, nein, tausende Blätter lagen am Boden verstreut.
Ich werde Wochen brauchen, um hier alles wieder in Ordnung zu bringen.
Seufzend ging er ins Schlafzimmer zurück und fing an, Dinge an ihren Platz zu räumen. Die nächsten Stunden faltete er Kleidung und legte sie zurück in die Schubladen. Er machte sein Bett und hängte seine Anzüge in den Schrank.
Als nächstes war die Küche dran und er war angenehm überrascht, dass nur ein Glas bei der Durchsuchung zerbrochen wurde. Er räumte alles auf und wandte sich dann wieder seinem Büro zu, wo er Papierstapel mit Formeln, Skizzen und Berechnungen in mehrere große Kisten zur späteren Sortierung legte. Dann stellte er die Bücher wieder ins Regal und legte seine Chemiezeitschriften auf einen Stapel.
Als das Zimmer wieder einigermaßen ordentlich aussah, öffnete er den Schrank im Flur und hob mit einem Brotmesser das hintere lose Brett an. Er nahm eine Handvoll Reichsmark heraus.
Sein Herz klopfte vor Erleichterung und er presste seine Hand an die Stirn. Gott sei Dank. Sie hatten sein Geheimversteck nicht gefunden. Hier hortete er Bargeld für den Notfall. Seit dem Bankenkollaps vor einigen Jahren traute er den Banken nicht mehr so ganz. Jede Woche legte er ein paar Mark mehr in sein Versteck. Er wusste noch nicht, worauf er sparte, aber er war sich sicher, dass der Tag kommen würde, an dem dieses Geld nicht nur willkommen war, sondern überlebensnotwendig. Auf diesen Tag wollte er vorbereitet sein.