Liebe und Widerstand im Dritten Reich

Trilogie — Sammelband

Marion Kummerow

Übersetzt von Annette Spratte

Inhalt

Band 1: Unnachgiebig

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Newsletter

Band 2: Unerbittlich

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Band 3: Unbeugsam

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Nachwort der Autorin

Danksagung

Brief von Ingeborg an ihre Mutter

Abschrift von Hansheinrichs Brief an seine Schwiegereltern

Bücher von Marion Kummerow

Kontaktinformationen

Liebe Leserin, lieber Leser,

UNACHGIEBIG ist der erste Teil meiner Trilogie, die im Zweiten Weltkrieg spielt. Die Geschichte liegt mir sehr am Herzen und ich wollte sie schon seit vielen Jahren schreiben. Aber ich habe nie die Zeit – oder den Mut – gefunden, so tief in der Vergangenheit zu graben und die Wahrheit ans Licht zu bringen.

Meine Großeltern Ingeborg und Hansheinrich Kummerow waren zwei erstaunliche Menschen, die ich leider nie kennengelernt habe, weil sie schon lange vor meiner Geburt starben. Aber ihre Geschichte – eine Geschichte geprägt von Mut und einem unnachgiebigen Willen – hat mich so lange nicht losgelassen, bis ich sie endlich niedergeschrieben habe.

Diese Trilogie ist ihnen gewidmet, um ihrer Opfer und der schwierigen Entscheidungen zu gedenken, die sie, wie so viele andere Menschen im kriegsgebeutelten Europa, treffen mussten. Meine Nachforschungen über den Zweiten Weltkrieg haben hervorgebracht, wie heldenhaft auch nur der leiseste Hauch von Widerstand in diesen dunklen Zeiten war. Meine Bewunderung für meine Großeltern und all die anderen mutigen Menschen im deutschen Widerstand ist dadurch ins Unermessliche gewachsen.

Aus einer Gefängniszelle schrieb mein Großvater in einem seiner vielen Briefe diesen Satz:

Ich lege durchaus Wert darauf, dass mein Andenken ehrenhaft ist.”

~Hansheinrich Kummerow

Mit diesem Buch möchte ich den Wunsch meines Großvaters ehren. Ich möchte seinen unnachgiebigen Willen sowie den meiner Großmutter anerkennen. Ihre Liebe. Ihr Vermächtnis.

Wenn Sie Hintergrundinformationen über die Geschichte meiner Großeltern haben wollen, oder wissen möchten, wann das nächste Buch erscheint, tragen Sie sich hier in meinen Newsletter ein:

https://marionkummerow.de


Vielen Dank,

Marion Kummerow

Kapitel 1

Dr. Wilhelm Quedlin wusste noch nichts davon, aber heute würde sich der Verlauf seines Lebens grundlegend ändern.

Q, wie seine Familie und Freunde ihn nannten, war an einem sonnigen Oktobermorgen 1932 auf dem Weg zur Arbeit. Oranienburg war wunderschön um diese Jahreszeit. Die Bäume entlang der Havel leuchteten in den herrlichsten Herbstfarben.

Nachdem er die Tore der Auer-Gesellschaft durchquert hatte, ging er zügig in sein Labor. Die Tür zu seinem Büro stand offen, was ungewöhnlich war, aber er betrat trotzdem den Raum. Kaum drinnen erstarrte er vor Überraschung. Zwei Polizisten warteten auf ihn. Er fing sich schnell wieder, nahm seinen Hut ab und nickte den Männern freundlich zu, während er den Hut an die Garderobe hängte.

„Guten Tag, die Herren. Was kann ich für Sie tun?“, fragte er und versuchte, seine Überraschung und auch seine Beunruhigung hinter einem höflichen Willkommen zu verbergen. Ein unangekündigter Besuch der Polizei verhieß fast nie etwas Gutes. Das politische Klima in Deutschland war zunehmend angespannt und jeder wusste, dass man in diesen Tagen besser den Ball flach hielt.

„Dr. Quedlin, Sie müssen uns zum Revier begleiten“, sagte der ältere Polizist, während er Q ungeniert mit dunklen, ausdruckslosen Augen musterte.

„Gibt es ein Problem?“, fragte Q und versuchte ruhig zu bleiben, obwohl seine Gedanken wie verrückt um die Frage kreisten, was er wohl falsch gemacht haben könnte. Und wer ihn verraten haben könnte. Seinen Nächsten auszuliefern war längst kein Tabu mehr wie früher, sondern wurde von der Regierung sogar gefördert.

„Sie müssen mit uns kommen“, wiederholte der ältere Polizist und machte einen Schritt vorwärts. Sein Gesichtsausdruck duldete keinen Widerspruch.

Q nickte und nahm den Hut wieder von der Garderobe. „Natürlich, Herr Wachtmeister.“ Er trat aus seinem Büro, die Augen geradeaus gerichtet und die Hände tief in den Taschen, während er das Gebäude in Begleitung der beiden Polizisten verließ. Jeder der Mitarbeiter beobachtete ihn auf dem Weg nach draußen. Natürlich wollten sie wissen, was los war, aber ohne dabei die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, für den Fall, dass den Polizisten einfiele, sie ebenfalls zu befragen.

Die Polizisten begleiteten ihn aus dem Gebäude, vorbei an einem verwirrten Pförtner, und setzten ihn auf den Rücksitz eines schwarzen DKW. Das Automobil fuhr sofort los, sobald alle drin waren. Q saß zwischen zwei Beamte eingezwängt, in einer sehr unbequemen Sitzposition, aber wann machte sich die Polizei schon Gedanken um Bequemlichkeit?

Er schaute geradeaus, sah Menschen die Straße entlang eilen und die Köpfe vom vorbeifahrenden Polizeiwagen abwenden. Niemand schien den schönen, sonnigen Herbsttag auch nur zu bemerken. Ihre Gedanken war auf ihr Ziel gerichtet und darauf, sich um die eigenen Belange zu kümmern. Trotz seiner schwierigen Lage, oder gerade deshalb, fand er es traurig, dass die meisten Leute sich noch nicht einmal zulächelten oder grüßten, wenn sie aneinander vorbei gingen.

Auf dem Weg zur Polizeiwache kamen sie am Schloss Oranienburg mit seinen weißen Stuckmauern und dem roten Dach vorbei. Zu dem Komplex gehörten auch noch einige gemauerte Gebäude, in denen Kirche und Schulen untergebracht waren. Als sie die letzte Kreuzung vor der Wache erreichten, bemerkte Q an der Straßenecke eine kleine Gruppe von Männern in Uniformen der SS Schutzstaffel.

Im Gegensatz zu den Polizisten, die mit ihm im Wagen fuhren, trugen diese Männer komplett schwarze Uniformen. Auf ihren Mützen prangte das Totenkopfsymbol – ein Zeichen, dass sie treue Anhänger der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei waren.

Nazis.

Bei den Wahlen Ende Juli waren viele Sitze im Parlament an die Nazis und die Kommunisten gegangen und die politische Unruhe wurde von Tag zu Tag stärker. Q seufzte innerlich, während er die Gründe für die zunehmende Spannung überdachte.

Durch den amerikanischen Börsenkrach drei Jahre zuvor und die enorme finanzielle Last, die den Deutschen durch den Versailler Vertrag in Form von Reparationen für den Weltkrieg auferlegt worden war, litten Wirtschaft und Bevölkerung gleichermaßen.

Banken waren zusammengebrochen, Fabriken und ganze Industriezweige standen vor dem Aus und die Menschen waren reif für eine Veränderung. Das zeigte sich deutlich, als Adolf Hitlers Nazi Partei bei den letzten Wahlen überwältigende 37% der Wählerstimmen einheimste.

Q sah den jüngeren Polizeibeamten neben sich an und fragte, „Können Sie mir sagen, wo das Problem liegt?“ Er verstand sehr gut, dass Leute nicht wegen einer Bagatelle aufs Revier geholt wurden und wollte wissen, was ihm bevorstand.

„Dr. Quedlin, wir -“

„Schweig!“, befahl der ältere Polizist vom Vordersitz. „Er wird es früh genug herausfinden.“

Q biss sich auf die Zunge, um keine spitze Bemerkung zu machen, die den unwirschen Beamten weiter reizen könnte. Das Quäntchen Angst, dass er empfand, seit er die Polizisten in seinem Büro vorgefunden hatte, war während der Autofahrt gewachsen. Jetzt kroch es ihm den Rücken hoch, dass sich ihm die Nackenhaare aufstellten.

Endlich hielt der Wagen vor dem dreistöckigen Gebäude und er wurde in die Wache begleitet, die eindeutig schon bessere Tage gesehen hatte. Die wenigen Holzmöbel waren abgenutzt. Nur zwei hölzerne Stühle standen an der hinteren Wand, als einzige Sitzgelegenheit für Besucher, die, da war Q sich ziemlich sicher, sehr selten waren. Das politische Klima war nicht dazu angetan, dass Leute auf die Polizeiwache gingen, es sei denn die Umstände waren verzweifelt und es gab keine andere Option.

Er senkte seinen Blick und nahm die dreckigen, geborstenen Fliesen auf dem Boden wahr, die perfekt zu der bedrohlich angespannten Atmosphäre der Wache passten. Qs Angst steigerte sich, aber er bemühte sich, gleichmäßig zu atmen und ruhig zu bleiben.

Lass sie deine Angst nicht spüren. Du hast nichts Falsches getan. Erinnere dich daran.

Sein Selbstgespräch half wenig, um seine Nervosität in Schach zu halten, als sich ein ranghoher Beamter näherte. „Dr. Quedlin?“

„Ja. Könnte mir bitte jemand erklären, warum ich hierher gebracht wurde?“

„Natürlich. Bringt ihn in den Verhörraum“, verlangte der Beamte, seine Stimme barsch und einschüchternd. Ein anderer Polizist griff nach Qs Ellenbogen und führte ihn den Flur entlang, bis er ihn in einen spärlich möblierten Raum schubste, der nichts enthielt außer einer großen, nackten Glühbirne über einem abgenutzten Holztisch und drei Stühlen.

„Setzen!“, bellte der Mann und drückte auf Qs Schulter, bis er gehorchte.

Der ranghöhere Beamte betrat den Raum und wartete, bis sein Untergebener wieder gegangen war, bevor er sich Q gegenüber an den Tisch setzte. Als die metallene Tür zuschlug, spürte Q einen plötzlichen Anflug von Panik. Er war gefangen und niemand konnte ihm zur Hilfe kommen. Der Polizist starrte ihm in die Augen. Q versuchte, seine Angst zu verbergen.

„Oberkommissar Strobel“, stellte sich der Polizist vor. „Sie wissen, warum Sie hier sind?“

„Nein, Herr Oberkommissar. Wenn Sie mir freundlicherweise erklären würden, worum es hier geht?“ Q hoffte, dass sein Gegenüber die Panik in seiner Stimme nicht hörte.

Oberkommissar Strobel warf ihm einen strengen Blick zu. „Sie sind Dr. Wilhelm Quedlin?“

„Ja.“

„Was haben Sie bei der Auer Gesellschaft gemacht?“

Q holte tief Luft. Die Polizei wusste das vermutlich bereits, aber er würde ihr kleines Spielchen mitspielen. „Ich arbeite als Ingenieur im Chemielabor und leite eine Gruppe von Wissenschaftlern.“

„Seit wann?“

„Ich habe vor vier Jahren bei der Auer Gesellschaft angefangen, nachdem ich meinen Doktortitel im Chemieingenieurswesen von der Technischen Universität Berlin zuerkannt bekam.“

„Woran genau haben Sie gearbeitet?“

Ein fragender Ausdruck huschte über Qs Gesicht. Er hatte nicht vor, Details seiner wissenschaftlichen Forschungen preiszugeben. Das war vertrauliches Material.

„Herr Oberkommissar, ich habe an einer Dissertation über den thermischen Zerfall von Stickstoffoxid gearbeitet. Bei der Auer Gesellschaft wurde dieses Wissen für weitere Forschungen benötigt. Wir wollten eine neue Methode finden zur Destabilisierung …“

Oberkommissar Strobel unterbrach ihn. „Genug.“ Er machte eine dramatische Pause bevor er hinzufügte, „Dr. Quedlin, Sie werden der Industriespionage beschuldigt.“

Kapitel 2

Q sah den Polizisten an, während er dessen Worte verarbeitete. Er konnte sein Lachen kaum verbergen. Industriespionage? Ich? Das ist lächerlich!

Er hatte schon an unzähligen wissenschaftlichen Projekten mit Kollegen zusammengearbeitet, aber er würde dieses Wissen niemals stehlen oder verkaufen. Nein, er wusste wie schwierig es war und wie viel Schweiß und Tränen es kostete, in der Forschung zu arbeiten. Seine innere Überzeugung würde es ihm niemals erlauben, auch nur darüber nachzudenken, das geistige Eigentum eines anderen Wissenschaftlers zu stehlen.

Oberkommissar Strobel hatte offensichtlich irgendetwas gegen ihn in der Hand und Q zerbrach sich den Kopf darüber, was er falsch gemacht haben könnte – ohne Erfolg. Am besten wartete er ab, bis der Oberkommissar ihn mit handfesten Anschuldigungen und gesammelten Beweisen konfrontierte.

Falls er tatsächlich welche hatte. Es war nicht unüblich, dass die Polizei auf Gerüchte und Anschuldigungen reagierte, ohne einen einzigen Beweis in der Hand zu haben. Nur der Hauch eines Verdachts reichte dieser Tage aus, um bestraft zu werden.

Er hielt dem Blick des Oberkommissars stand und sagte, „Industriespionage? Wovon?“

Der Beamte stand auf, knallte seine Handflächen auf die Tischplatte und lehnte sich so weit nach vorn, dass sein Atem Qs Gesicht streifte. „Was Sie getan haben, ist Hochverrat.“

Hochverrat? Das war lächerlich. Q verzog keine Miene und sagte mit ruhiger Stimme. „Haben Sie Beweise, um diese Anschuldigungen zu belegen?“

Q mochte Angst haben, aber er war noch immer ein Wissenschaftler, der täglich mit harten Fakten und Analysen arbeitete und nicht mit verallgemeinerten Annahmen. Wenn die Polizei keine Fakten auf den Tisch legte, dann hatten sie vermutlich nichts gegen ihn in der Hand.

Der Beamte sah ihn an. „Sie streiten diese Anschuldigungen ab?“

Soweit Q wusste, hatte er eine saubere Weste und dieses Wissen gab ihm die Stärke, der impliziten Drohung entgegenzutreten. Er sah dem Beamten in die Augen, Gleichgültigkeit vortäuschend. „Sie haben ja noch keine konkrete Anschuldigung vorgebracht. Ich warte immer noch darauf, dass Sie mir sagen, was genau ich denn nun angeblich falsch gemacht habe.“

„Wie wäre es mit Kollaboration?“

In diesem Moment ging Q ein Licht auf und er hatte insgeheim den Verdacht, dass sein einziges Fehlverhalten in seiner politischen Meinung lag. Seit der russischen Oktoberrevolution, als er noch ein Jugendlicher war, hatte Q nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er die Ideen der Bolschewisten und Vladimir Lenins Vorstellungen von Regierung sehr ansprechend fand. Als junger und idealistischer Student hatte er die Bewegung der Bauern- und Arbeiterklasse beklatscht, die 1917 erst die russische Zarenherrschaft und dann die provisorische Regierung gestürzt hatte.

Er erinnerte sich noch immer an die Begeisterung, die er mit dem sowjetischen Volk geteilt hatte, als die Bauern und Arbeiter gegen Unterdrückung und Willkür ankämpften und die Regierungskontrolle an sich rissen.

Kommunismus schien die perfekte Ideologie zu sein – alle Macht dem Volk. Unter dieser Herrschaft würde es freie und offene Wahlen geben, wo Vertreter der Arbeiter und Bauern gewählt wurden, um das Land zu regieren und keine selbstherrliche Monarchie, die nur den eigenen Interessen diente. Der Gedanke, dass alle Menschen gleich geschaffen waren und niemand mehr wert war als ein anderer, entsprach Qs ureigenem Sinn für Gerechtigkeit.

Viele seiner Landsleute dachten ähnlich und glaubten, dass der Kommunismus die einzige Möglichkeit war, um Kriege zwischen den Völkern zu verhindern, und die Menschen in Frieden miteinander leben zu lassen.

Q zog fragend eine Augenbraue hoch. „Haben Sie Beweise, um Ihre Anschuldigung zu untermauern?“

Anstatt zu antworten, machte Oberkommissar Strobel auf dem Absatz kehrt, verließ wortlos den Raum und knallte die Tür hinter sich zu. Das Geräusch von Metall auf Metall ließ Q zusammenzucken. Er wusste, dass Strobel ihn nur nervös machen wollte und es funktionierte, obwohl er sich vorgenommen hatte, ruhig zu bleiben.

Seine Gedanken wanderten zurück zu seiner Zeit an der Universität, als er mit einigen russischen Wissenschaftlern zusammen am thermischen Zerfall von Stickstoffoxid für seine Doktorarbeit geforscht hatte.

„Q, Deine Hypothese scheint plausibel“, hatte Vladimir, einer der russischen Doktoranden gesagt.

Q hatte genickt. „Meinen Berechnungen zufolge kann die unerwünschte Reaktion des Stickstoffoxids, sich in Stickstoffgas zurück zu verwandeln, dadurch minimiert werden, dass der Zeitraum, in dem die Gasgemische mit dem Katalysator in Kontakt kommen, reduziert wird.“

„Das kann sein, aber was ist mit der Temperatur als Kontrollfaktor?“

Q war in sein Labor zurückgekehrt, um zusätzliche Tests durchzuführen, während die anderen Wissenschaftler das Gleiche taten. Drei Wochen später hatten sie den heiß ersehnten Durchbruch erzielt. Sie waren der Herstellung von Nitraten durch industrielle Stickstoffverfestigungsverfahren einen Schritt näher gekommen.

Das Geräusch von Schritten, die draußen an der Tür vorbeigingen, brachte ihn zurück in die Gegenwart. War es möglich, dass diese Zusammenarbeit ihn in diesen Verhörraum gebracht hatte? Er und die russischen Forscher hatten viele Ideen ausgetauscht, hatten sich gegenseitig bei Rückschlägen geholfen, während sie alle davon besessen waren, die nächste große Entdeckung zu machen; das eine Detail, das den Lauf der Wissenschaft für immer verändern würde.

Sie alle wollten der Welt ein Vermächtnis hinterlassen. Wollten ein Teil der Geschichte werden. Wie Albert Einstein, ein Mann, den Q enorm bewunderte und der den Nobelpreis in Physik für seine umfangreiche Arbeit im Bereich der theoretischen Physik erhalten hatte.

Einstein war Professor an der Humboldtuniversität in Berlin und Q hatte die seltene Gelegenheit gehabt, mehrere Vorlesungen zu besuchen, in denen Einstein seinen neu entdeckten fotoelektrischen Effekt und die Quantentheorie diskutierte.

Jetzt, Jahre später, erinnerte Q sich immer noch gern an das Privileg, einen solch brillanten Mann gehört zu haben. Und er war vom Wunsch besessen, selber einen bleibenden Eindruck in der Wissenschaft zu hinterlassen. Zusammenarbeit und der Austausch von Ergebnissen war ein Teil der Forschung und solange das geteilte geistige Eigentum sein eigenes war, war es nicht illegal. Jedenfalls noch nicht.

Was also hatte die Polizei gegen ihn? Welche Beweise könnte sie haben, um ihre Anschuldigungen von Hochverrat und Industriespionage zu untermauern?

Er beschloss, dass es am besten war, nichts preiszugeben, was sie nicht sowieso schon wussten und stattdessen standhaft zu bleiben und auf Beweisen zu beharren. In diesen unsicheren Zeiten wusste man nie, wer gerade zuhörte und welche Informationen falsch interpretiert und aus dem Zusammenhang gerissen wurden.

Versehentlich oder absichtlich.

Kapitel 3

Kurze Zeit später kehrte Oberkommissar Strobel in den Verhörraum zurück. „Sagen Sie uns, was wir wissen wollen.“

Q schüttelte den Kopf und hob fragend die Hände. „Ich habe nichts Verbotenes getan. Sagen Sie mir, was Sie mir vorwerfen.“

„Stellen Sie sich nicht blöd. Sie sind ein sehr intelligenter Mann, wenn man Ihrem Lebenslauf Glauben schenken darf. Glauben Sie mir, Sie tun sich einen Gefallen, wenn Sie uns einfach die Wahrheit sagen.“

Q faltete seine zitternden Hände unter dem Tisch. „Ich habe nichts getan.“

Oberkommissar Strobel fluchte leise und verließ erneut das Zimmer. Qs Nervosität verwandelte sich in Ungeduld, während er da saß und wartete. Aus einer Stunde wurden zwei, dann drei. Je mehr Zeit verstrich, desto unruhiger wurde er. Sein Magen knurrte und erinnerte ihn schmerzhaft daran, dass es schon nach Mittag war und er seit mehr als zwölf Stunden nichts gegessen hatte. Wie meistens hatte er auch heute Morgen das Frühstück ausgelassen.

Die können mich hier nicht ewig festhalten. Die müssen Beweise vorlegen oder mich gehen lassen.

Er wollte gerade an die Tür klopfen und seine Freilassung verlangen, als diese sich öffnete und Oberkommissar Strobel mit einem weiteren Polizisten im Schlepptau herein kam.

Der zweite Beamte hielt ein Stück Papier in den Händen. Q erkannte das Papier; es war ein Artikel über Gasmasken, den er vor einiger Zeit geschrieben hatte.

Die müssen meine Wohnung nach Beweisen durchsucht haben, während ich hier eingesperrt war. Darum dauert das so lange.

Q schloss einen Moment die Augen, damit man seine Erleichterung nicht sehen konnte. Wenn dieser Artikel das Einzige war, was die Polizei gegen ihn in der Hand hatte, dann war er aus dem Schneider.

Der Polizist legte den Artikel auf den Tisch und schob ihn in Qs Richtung. „Erklären Sie das.“

Q zwang sich, ernst zu bleiben. Belustigung war hier fehl am Platz, und auch sein Gefühl der Überlegenheit behielt er besser für sich. Das würde sicherlich nicht gut ankommen. Nein, er bemühte sich darum, so zu wirken, als sei er von der Obrigkeit eingeschüchtert, aber kooperativ und ehrlich. Ein braver Bürger, immer bereit der Polizei zu helfen.

„Das ist ein Artikel über Gasmasken. Wo haben Sie den her?“, fragte Q.

„Aus Ihrer Wohnung. Inmitten von Tausenden nutzloser Zettel.“ Der Beamte rollte die Augen und wandte sich an seinen Vorgesetzten. „Herr Oberkommissar, Doktor Quedlins gesamter Schreibtisch ist knietief von Notizen, Papieren, Magazinen und Zeitungen übersät.“

Vor Qs innerem Auge erschien die sorgfältig gepflegte Unordnung auf seinem Schreibtisch und er stöhnte innerlich bei dem Gedanken, wie lange er brauchen würde, um alles wieder an seinen angestammten Platz zu räumen. „Für meine Forschung muss ich alle erdenklichen Informationen sammeln. Deshalb neige ich dazu, jedes Stück Papier aufzuheben, das nützlich sein könnte.“

„Das erklärt aber nicht, warum Sie gerade diesen Artikel aufbewahrt haben, nicht wahr?“

„Nein, Herr Oberkommissar. Diesen Artikel habe ich nicht irgendwo gefunden und aufbewahrt, sondern ich habe ihn selbst geschrieben.“ Q zeigte auf seinen Namen in der rechten oberen Ecke der Seite. „Sehen Sie? Das bin ich.“

„Warum haben Sie so einen Artikel geschrieben?“, fragte der Oberkommissar.

„Weil mein Arbeitgeber mich darum gebeten hat. Ich erhielt den Auftrag, nach alternativen und wirtschaftlicheren Möglichkeiten zur Herstellung von Gasmasken für die Bevölkerung zu forschen. Um sie erschwinglicher zu machen, damit sich alle Deutschen schützen können. Dieser Artikel wurde im regelmäßig erscheinenden technischen Magazin der Auer Gesellschaft veröffentlicht. Unsere Forschungseinheit stellt darin ihren Fortschritt und die neuesten Entwicklungen vor.“

Die Beamten sahen sich an und Q spürte, wie die Spannung im Raum abnahm. „Also dient Ihre Arbeit dem Schutz der deutschen Bevölkerung?“

Q nickte. „Ja.“

„Das ist eine sehr ehrenhafte und noble Aufgabe. Hatten Sie Erfolg?“, fragte der zweite Beamte, dessen anklagender Ton in Bewunderung umschlug.

„Ja, ich denke schon. Bei dem ganzen Gerede über unsere Feinde und einen bevorstehenden Krieg wollte die Auer Gesellschaft dem deutschen Volk ein Gefühl der Sicherheit vermitteln.“

Beide Beamten nickten. Seit chemische Kampfstoffe in Form von tödlichen Gasen das erste Mal im vergangenen Weltkrieg eingesetzt wurden, war die Bevölkerung fast manisch um ihre Sicherheit besorgt. Da die meisten Deutschen das Gefühl hatten, vom Rest der Welt gehasst zu werden, wurde der Besitz einer Gasmaske nicht nur als Sicherheitsvorkehrung empfohlen, sondern war inzwischen der letzte Schrei.

Der Oberkommissar lächelte und Q sackte vor Erleichterung in seinem Stuhl zusammen. „Warten Sie hier.“

Beide Beamten traten vor die Tür und Q lauschte ihrer gedämpften Unterhaltung.

„Haben Sie außer dem Artikel noch etwas in seiner Wohnung gefunden?“

„Nein.“

„Kein Beweis für Spionageaktivitäten oder Kommunikation mit unseren Feinden?“

„Nichts. Wir haben auch keine Anzeichen gefunden, dass er in irgendeiner Partei politisch aktiv wäre.“

„Nun gut, dann kann er gehen. Lassen Sie ihn laufen, aber erinnern Sie ihn daran, dass er die Stadt nicht verlassen darf, da er noch immer unter Verdacht steht.“

Als der zweite Beamte zurück ins Zimmer kam, versuchte Q so zu tun, als hätte er nichts mit angehört. „Haben Sie noch mehr Fragen?“

„Im Moment nicht. Sie können gehen, aber Sie müssen bis auf weiteres im Großraum Berlin bleiben. Wir fahren Sie nach Hause.“

Q konnte sich lebhaft das Gesicht seiner neugierigen alten Vermieterin vorstellen, wenn er mit dem Polizeiwagen vorgefahren käme. Er schüttelte den Kopf, stand auf und ging zur Tür. „Vielen Dank, aber ich laufe lieber.“

Der Beamte zuckte die Schultern. „Wie Sie wollen. Ihre Entscheidung. Aber denken Sie dran, nicht die Stadt zu verlassen.”

„Werde ich nicht.“ Q trat aus dem Polizeirevier hinaus in den bereits schwindenden Sonnenschein.

Seine Wohnung lag am anderen Ende der Stadt. Auf seinem dreißigminütigen Fußmarsch beobachtete er die Passanten. Er sah in jedes Gesicht und fragte sich, welche Gedanken sich dahinter verbargen. Wodurch hatte die Polizei Verdacht geschöpft? Hatte ihn jemand denunziert? Und wenn ja, wer? Er ging im Geiste alle Nachbarn und Kollegen durch und fragte sich, wer ihn verraten haben könnte. Wem konnte er noch trauen? Konnte er noch jemandem trauen?

Die Antwort war nein. Er konnte niemandem mehr trauen.

Es lag etwas Düsteres in der Luft und Q glaubte, dass Deutschland große Ereignisse bevorstanden. Die Stimmung in den Straßen war rastlos, als ob jeder nur auf ein Signal wartete, um loszustürmen. Seit den Wahlen im Juli hatte Hitler die Massen gegen die jetzige Regierung aufgehetzt und die Menschen wurden immer unruhiger. Q hatte bisher die Hoffnung gehabt, dass sich bald alles zum Besseren wenden würde, aber der Vorfall heute ließ ihn daran zweifeln.

Zu Hause angekommen fand er ein Schlachtfeld vor: Bücher und Papiere lagen überall verstreut. Ein tiefer Seufzer drang aus seiner Kehle, als er die leergefegten Regale, die umgekippten Schubladen und die auf dem Boden verteilte Wäsche sah. Sogar die Matratze hatten die Polizisten in ihrer vergeblichen Suche nach belastendem Material umgedreht.

Q hielt den Atem an, bevor er sein kleines Arbeitszimmer betrat, sein Heiligtum. Hier durfte niemand rein, aus Angst, sein ausgeklügeltes Ordnungssystem könnte durcheinander geraten.

Der Anblick traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube und er wollte vor Verzweiflung schreien, als er die Verwüstung in seinem Büro sah. Jeder der thematisch sortierten Papierstapel war auf den Kopf gestellt worden und hunderte, nein, tausende Blätter lagen am Boden verstreut.

Ich werde Wochen brauchen, um hier alles wieder in Ordnung zu bringen.

Seufzend ging er ins Schlafzimmer zurück und fing an, Dinge an ihren Platz zu räumen. Die nächsten Stunden faltete er Kleidung und legte sie zurück in die Schubladen. Er machte sein Bett und hängte seine Anzüge in den Schrank.

Als nächstes war die Küche dran und er war angenehm überrascht, dass nur ein Glas bei der Durchsuchung zerbrochen wurde. Er räumte alles auf und wandte sich dann wieder seinem Büro zu, wo er Papierstapel mit Formeln, Skizzen und Berechnungen in mehrere große Kisten zur späteren Sortierung legte. Dann stellte er die Bücher wieder ins Regal und legte seine Chemiezeitschriften auf einen Stapel.

Als das Zimmer wieder einigermaßen ordentlich aussah, öffnete er den Schrank im Flur und hob mit einem Brotmesser das hintere lose Brett an. Er nahm eine Handvoll Reichsmark heraus.

Sein Herz klopfte vor Erleichterung und er presste seine Hand an die Stirn. Gott sei Dank. Sie hatten sein Geheimversteck nicht gefunden. Hier hortete er Bargeld für den Notfall. Seit dem Bankenkollaps vor einigen Jahren traute er den Banken nicht mehr so ganz. Jede Woche legte er ein paar Mark mehr in sein Versteck. Er wusste noch nicht, worauf er sparte, aber er war sich sicher, dass der Tag kommen würde, an dem dieses Geld nicht nur willkommen war, sondern überlebensnotwendig. Auf diesen Tag wollte er vorbereitet sein.

Kapitel 4

Hilde Dremmer warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und stöhnte. Noch zwei Stunden. Heute war mal wieder ein langweiliger und mühsamer Arbeitstag in der Versicherungsgesellschaft, in der sie Schadensfälle bearbeitete.

Sie stand auf und ging hinüber in die kleine Kaffeeküche, wo zwei ihrer befreundeten Kolleginnen Kaffee kochten und Pläne für das Wochenende schmiedeten.

„Hey Hilde, bist du dir sicher, dass du nicht mitkommen willst?“, fragte Erika mit bettelndem Unterton. Die hübsche, wohlgeformte Brünette machte einen Schmollmund.

Hilde zog die Nase kraus. „Ich bin nach Berlin gezogen, um Spaß zu haben und nicht, um mir irgendwelche langweiligen politischen Diskussionen anzuhören.“

„Es wird nicht langweilig“, versprach Gertrud mit einem Nicken, das ihren Pferdeschwanz zum Wippen brachte. Gertrud war das sprichwörtliche deutsche Mädel mit ihren strohblonden Haaren, blauen Augen und rosigen Wangen. Hilde hatte zwar auch blaue Augen, aber ihr Haar war dunkler. Sie trug die langen, hellbraunen Strähnen normalerweise in einem Dutt.

„Wenn du es sagst. Ich habe wirklich kein Interesse an Politik“, antwortete Hilde. Ihr Vater hatte ihr das schon als junges Mädchen eingebläut und sie war dabei geblieben.

Politik ist nichts für Frauen, das solltest du dir merken. Halte dich so weit wie möglich von der Politik fern, dann kommst du gut zurecht.

„Willst du denn gar nicht wissen, was die Leute reden?“, fragte Erika und legte den Kopf schief.

„Nicht wirklich. Es gibt doch viel aufregendere Dinge, die Zwanzigjährige wie wir unternehmen können, findet ihr nicht? Lasst uns lieber ins Filmtheater gehen.“

„Da waren wir doch erst letztes Wochenende“, erinnerte Gertrud sie und runzelte die Stirn. „Vielleicht treffen wir ein paar nette junge Männer bei der Debatte“, fügte sie hinzu, als ob das ein ausreichender Grund wäre, sich stundenlang zu langweilen.

„Einige der Politiker sehen richtig gut aus“, sagte Erika mit einem flehenden Ausdruck in den Augen.

„Gutaussehend? Wer denn?”, fragte Hilde, die jetzt doch etwas neugierig wurde.

Ihre Freundinnen tauschten einen verstohlenen Blick aus, bevor Erika antwortete, „Na, Adolf Hitler und einige seiner Parteifreunde.“

Hilde hatte den Namen schon mal gehört. „Ist das nicht der Politiker von der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei?“

„Ja, die Nazis“, sagte Gertrud. „Den solltest du dir wirklich anhören. Er hat so viele großartige Pläne für Deutschland.“

„Und er sieht gut aus“, ergänzte Erika.

Hilde schnaubte bei der Erinnerung an ein Bild, das sie von ihm in der Zeitung gesehen hatte. „Der ist nun überhaupt nicht mein Typ. Und dieser alberne Schnurrbart. Kommt schon, Mädels, es gibt doch wirklich Besseres als ihn.“

Sie erwähnte nicht, dass sie etwas über Hitlers Ideen gelesen hatte und von seinen rassischen Ideen entsetzt war. Wie konnte man auch nur darüber nachdenken, jemanden wegen seiner Volkszugehörigkeit oder Herkunft zu bestrafen? Sollte nicht jede Person aufgrund ihres Charakters beurteilt werden und nicht aufgrund ihrer Vorfahren?

Um das Thema zu wechseln, fragte sie, „Es gibt so viel Unterhaltsames und Aufregendes, was man hier unternehmen kann, ganz anders als in dem langweiligen Vorort von Hamburg, wo ich aufgewachsen bin. Warum gehen wir nicht aus und amüsieren uns?“

„Da ist ein neuer Film herausgekommen, den könnten wir uns ansehen“, bot Gertrud als Alternative an.

„Hört sich gut an“, stimmte Hilde zu. Die Idee gefiel ihr. „Und danach können wir noch tanzen gehen?”

„Wäre toll“, pflichtete Erika ihr bei, während sie sich auf die Unterlippe biss. „Ich kann mir Hitler auch ein anderes Mal anhören. Aber ich muss erst meine Eltern fragen.“

Hilde war zwischen Erleichterung und Bedauern hin und her gerissen bei dem Gedanken, dass ihre Freundinnen um Erlaubnis fragen mussten. Sie selbst musste sich nicht mehr mit ihrem überfürsorglichen Vater und ihrer Stiefmutter herumärgern, seit sie vor zwei Jahren nach Berlin zu ihrer Mutter gezogen war. Ohne die beiden und ihre zwei Halbschwestern.

Ihre leibliche Mutter, Marianne „Annie“ Klein, kümmerte sich wenig darum, was ihre Tochter machte oder wie lange sie abends aus blieb. Sie fragte nie nach Hildes Freunden, wohin sie ging oder was sie tat, wenn sie dort ankam.

„Mach das gleich heute Abend“, schlug Hilde vor.

„Das werde ich.”

„Wenn sie nicht einverstanden sind, können wir immer noch was Anderes machen. Hier in Berlin ist so viel los. Kultur, Konzerte, Museen …“

Erika und Gertrud schüttelten die Köpfe. „Ja, aber es ist nicht mehr so wie früher“, sagte Getrud mit gedämpfter Stimme. „Vor ein paar Jahren war alles ganz ungezwungen, aber jetzt sind die Leute so angespannt. Fast depressiv.“ Ihre Stimme wurde noch leiser. „Und die Polizei ist überall.”

„Mein Vater sagt, Berlin füllt sich immer mehr mit Gesindel“, ergänzte Erika ebenso leise. „Jeder muss jeden im Blick behalten.“

Gertrud nickte. „Ich kann mich noch dran erinnern, dass politische Treffen verpönt waren. Jetzt gibt es fast jeden Abend solche Treffen.“

„Das liegt daran, dass die Menschen Angst haben. Keine Arbeit. Kein Geld. Und die demokratischen Regierungsparteien scheinen auch nichts zu bewirken.” Erikas Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Die Nazis und die Kommunisten bringen uns neue Hoffnung. Eine neue Regierung, die sich nicht scheut, sich für unsere Nation stark zu machen und die Wirtschaft herumzureißen.“

Die drei Frauen wurden still, während sie an ihrem Kaffee nippten und über die Veränderungen in Deutschland im vergangenen Jahr nachdachten. Es hatte bereits zwei Machtwechsel in der Regierung gegeben, aber die Arbeitslosigkeit stieg weiter. Unglaubliche sechs Millionen Menschen oder dreißig Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung hatten keine Arbeit. Demzufolge war Armut überall präsent und sogar für diejenigen, die Arbeit hatten, war es schwierig, in dieser schrumpfenden Wirtschaft ein Auskommen zu finden.

„Ach, genug von diesem deprimierenden Gerede. Ich muss wieder an die Arbeit, genauso wie ihr beiden“, sagte Hilde. Sie grinsten und kehrten an ihre Schreibtische zurück. Hilde hatte kein Verlangen danach, sich der ständig wachsenden Armee von arbeitslosen, verzweifelten Menschen anzuschließen, über die sie gerade gesprochen hatten und machte sich daran, den nächsten Schadensfall zu bearbeiten.