Werwölfe in Aremsrath
Ein Schauerroman von
Tanja Hanika
Impressum
Weitere Bücher der Autorin:
Redthorne Castle
Das Grab im Schnee
Zwietracht – Mörderische Freundschaft
Arbeitsbuch für Schriftsteller
2. Auflage November 2018
Copyright © 2018 by Tanja Hanika
www.tanja-hanika.de
kontakt@tanja-hanika.de
Gartenstr. 12, D-54595 Weinsheim
Korrektorat:
Doris Eichhorn-Zeller, www.perfekte-texte-coburg.de/
Unter Verwendung von:
© Covergestaltung: Cathy Strefford (Foto zur Erstellung der Wolfillustration von Shanice De Bie)
© Autorenfoto: D. Pfingstmann
© Coverdesign »Zwietracht« by Rob Allen @n23art
© Coverdesign »Der Angstfresser« Christian Eickmanns
© Coverdesign »Redthorne Castle« javarman / Fotolia.com
© Coverdesign »Das Grab im Schnee« Aleksey Stemmer / Fotolia.com
Alle Rechte in jeglicher Form vorbehalten. Sowohl Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme als auch mechanische, elektronische sowie fotografische Vervielfältigung – auch auszugsweise – nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. Figuren, Namen und Handlung sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen oder Institutionen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Tanja Hanika wurde 1988 in Speyer geboren. Ab 2008 studierte sie erfolgreich an der Universität Trier Germanistik und Philosophie. Nun lebt sie mit Mann, Sohn und Katze in der Eifel.
Mit acht Jahren entdeckte Tanja Hanika durch eine Kinderversion von Bram Stokers »Dracula« nicht nur ihre Liebe zu Büchern, sondern wollte fortan auch selbst solche Geschichten schreiben.
Für meine Mum.
Danke, dass du stets das Beste in mir siehst,
immer hinter mir stehst
und mit mir für meine Träume kämpfst.
Niemand sonst sprudelt so vor Ideen
und Begeisterung über,
wenn ich von einem Projekt erzähle.
Mein Werwolf ist ganz für dich!
Inhaltsverzeichnis
1. Kapitel 5
2. Kapitel 13
3. Kapitel 28
4. Kapitel 34
5. Kapitel 41
6. Kapitel 46
7. Kapitel 55
8. Kapitel 66
9. Kapitel 72
10. Kapitel 84
11. Kapitel 87
12. Kapitel 93
13. Kapitel 100
14. Kapitel 104
15. Kapitel 111
16. Kapitel 114
17. Kapitel 119
18. Kapitel 125
19. Kapitel 134
Ein Reisender im Wald
Frühling 1873
Seit Stunden bin ich schon in diesem Verschlag gefangen. Jeder Stoß bebt durch meinen Körper, jedes Ruckeln bringt mich näher an den Punkt heran, an dem ich mich doch werde übergeben müssen. Eigentlich sitze ich nur in einer Kutsche, und wäre mir das Ziel nicht so verhasst, würde mich auch die Fahrt nicht so sehr plagen.
Draußen ist es längst Nacht geworden. Ich kann kaum mehr als schemenhafte Bäume erkennen, die ihre Äste zur Kutsche hin ausstrecken, als wollten sie diese festhalten. Mein Ziel hätte ich noch vor Einsetzen der Dämmerung erreichen sollen, aber vor meinem Aufbruch gab es eine Verzögerung mit dem Kutscher. Volltrunken wie er war, konnte ihn über Stunden hinweg niemand wecken. Als er letztendlich halbwegs gerade auf dem Kutschbock saß, wurden die Pferde und ich ihm anvertraut. Aus der Not heraus, niemand anderen zu haben, der mich zu meinem Ziel bringen würde, übersahen alle geflissentlich seinen wankenden Gang, als er ein letztes Mal um die Kutsche herumlief. Er wirkte eher wie ein vom Sturm geplagter Matrose auf einem schlingernden Schiff. Ich hatte leider vergebens darauf gehofft, mein Aufbruch würde sich um einen Tag verzögern. Oder eventuell ganz ausfallen.
»Selbstmitleid ist ein niederträchtiger Begleiter.« Das hat mir meine Mutter allzu oft mit einem bitteren Zug um den Mund herum vorgeworfen. Manchmal gönne ich mir gerne einen solchen bittersüßen Moment und bemitleide mich selbst, bevor ich eine lästige Situation anpacke. Meine Stirn lehne ich gegen die Glasscheibe des Kutschenfensters. Die Kälte weckt mich aus meinem Kummer, indem sie mir einen Schauer über den Körper jagt.
Es ist nicht nur das Ziel meiner Reise, das mich schreckt. Der Gedanke daran, mit der Kutsche in einer Vollmondnacht durch den Wald zu fahren, lässt mein Herz wild pochen. Zwar war es zuletzt eher ruhig in diesem Landstrich, aber die Reise hätte ich lieber tagsüber hinter mich gebracht. Letzte Nacht schon war ich unruhig lauschend in meinem Bett gelegen und ich werde wohl auch in der nächsten Nacht keine Ruhe finden. Auf dem Markt habe ich zwei alte Männer darüber sprechen hören, dass angeblich besonders starke und alte Exemplare der Bestien, die uns seit einigen Jahren plagen, auch in den Nächten direkt vor und nach dem Vollmond auf Jagd gehen können.
Der Nebel draußen schleicht langsam näher an die Kutsche heran, verschluckt das Mondlicht und nimmt mir die Sicht auf den Wald. Er wabert heran. Ich hasse das Wort »wabern«, aber das trifft es nun einmal am besten. Er wabert, er kriecht über die Felder und Waldstücke, die die Kutsche passiert, und er umhüllt schließlich den gesamten Rest der Welt, bis ich mich wie schiffbrüchig auf einer einsamen Insel im Meer gestrandet fühle. Wie der Kutscher es noch schafft, den Weg zu finden, ist mit rätselhaft. Vielleicht schläft er ja längst seinen Rausch aus und überlässt es den beiden Pferden, einen Weg durch die nebelgefüllte Finsternis zu wählen.
Mir ist es einerlei, wo ich ankommen werde. Wenn es nicht der Ort ist, an dem ich erwartet werde, wäre es mir umso lieber. Ich will gar nicht daran denken, was in den nächsten Wochen auf mich zukommen wird. Für mich könnten sich die Felder ewig lang hinziehen, solange sie mich von meiner Ankunft abhalten. Dass ich gerade heute noch aufbrechen musste, liegt an einer sehr bald bevorstehenden Niederkunft, zu der ich Glückwünsche und Geschenke bringen soll.
Der Nebel wirkt schwerer als der, den ich von zu Hause kenne. Er ist nicht wolkig und wattig, sondern scheint mir dicht, schier undurchdringlich. Unheilbringend. Unheil. Das klingt so biblisch, obwohl mir andere Bücher bedeutend lieber sind. Schrecken. Verderben. Angst. Welches Wort ich wähle, spielt keine Rolle. Für mich fühlt es sich wie ein undefinierbares Unheil an, ein leises Grauen im Inneren, das wir Menschen gerne ignorieren und als Unsinn abtun, sobald wir den Kinderschuhen entwachsen sind.
Die Kutsche verlangsamt ihre Fahrt, kommt aber nicht zum Stehen. Es wird holpriger und der Weg beschreibt mehrere Kurven. Wir fahren erneut in ein Waldstück hinein, in dem es zwar dunkler ist als auf den Feldern, aber der Nebel ist noch nicht zur Gänze hier eingedrungen. Rings um den Pfad, der für das Pferdefuhrwerk zu schmal wirkt, kann ich Buschwerk und einige Baumstämme erkennen. Allein, dass es die Welt außerhalb des Nebels noch gibt, beruhigt mich ein wenig, ehe mir im nächsten Augenblick das Herz schwer in die Magengrube hinabsinkt.
Der Kutscher brüllt markerschütternd. Es ist kein Schrei, wie ich ihn jemals zuvor gehört hätte. Ich habe Menschen vor Schmerzen schreien hören, auch aus Wut oder aus Angst. Aber der Schrei des Kutschers klingt kehliger, panischer. Nach Todesangst.
So plötzlich, wie der Schrei erklang, verstummt er wieder. Dennoch ist es gewiss, dass ich mit großen Problemen konfrontiert bin. Ich höre nichts mehr vom Kutscher. Die Baumstämme vor dem Fenster sausen nun schneller an mir vorbei und es ruckelt heftiger in der Kutsche.
Wovor flieht er, frage ich mich. Vor Strauchdieben? Meine Knie werden weich, aber ich taste mit ruhiger Hand nach dem Dolch, den ich unter meiner Kleidung verborgen trage. Diese eine andere Möglichkeit, die durch den Vollmond begünstigt wird, möchte ich mir nicht eingestehen.
Ehe ich merke, was geschieht, rumpelt es heftig und die Welt steht auf dem Kopf. Statt auf der Bank zu sitzen, liege ich auf der Tür, durch die ich die Kutsche vor unzähligen Stunden betreten habe. Mein gesamter Körper schmerzt, aber ich weiß, dass ich hier nicht liegen bleiben kann, um darauf zu warten, dass etwas geschieht. Beim Aufsetzen fährt ein stechender Schmerz meine Wirbelsäule hinauf, der mir die Luft raubt. Mit einem Stöhnen, das wie das einer alten Frau klingt, rapple ich mich auf, um aus der Kutsche zu klettern. Bei dem Gedanken daran, was wohl die Kutsche umgestoßen haben könnte und wie ich nun irgendwohin gelangen soll, fange ich unvermittelt an zu lachen.
Dieses Mal muss ich mich wenigstens nicht dafür schämen, in einer unpassenden Situation in Gelächter auszubrechen. Mein Lachen verebbt prompt, als ich daran denke, wie ich meiner Mutter ins Gesicht gelacht hatte, als sie mir mitteilte, dass meine Großmutter gestorben war. Mit harter Hand hatte sie mich geohrfeigt, doch der Schmerz war viel zu gering, um mich vom Schmerz in meinem Herzen über diesen Verlust abzulenken.
Von Rückenschmerzen gepeinigt, klettere ich ungelenk aus der Kutsche. Ein wenig erleichtert stelle ich fest, dass der Dolch noch dort ist, wo ich ihn soeben ertastet habe. Sofort ziehe ich ihn unter meiner Kleidung hervor. Der Kutscher ist nirgendwo zu sehen, ebenso fehlt das zweite Pferd. Das eine, das noch vor der Kutsche angespannt ist, liegt auf der Seite und zerrt im Versuch, sich loszumachen, mit strampelnden Beinen an seinem Geschirr. Mit erhobener Hand gehe ich auf es zu und versuche es zu beruhigen, was mir kaum gelingt. Es zuckt mit dem Kopf hin und her, kämpft mit der Panik, aber immerhin beschleunigt sich seine Atmung nicht weiter.
Im Unterholz knackt es. Kaum Mondlicht fällt durch die Wipfel und nur eine der vier Lampen, die außen an der Kutsche angebracht sind, leuchtet noch. Ich höre Laub rascheln und das Pferd empört schnauben, ansonsten bleibt es still im Wald.
»Hallo?«, rufe ich und hoffe, dass der Kutscher dazu in der Lage ist, auf sich aufmerksam zu machen, damit ich ihn leichter finden kann. Da keine Antwort kommt, muss er schwer verletzt, ohnmächtig oder tot sein. »Hallo?« Meine Worte verhallen in der Stille des Waldes. Die Geräuschlosigkeit meiner Umgebung, die lediglich vom Schnauben des Pferdes untermalt wird, nehme ich erst jetzt wahr, da ich sie durchbrochen habe. Mir kommt es vor, als wollte mich die Dunkelheit verschlucken. Ich gehe hinter die Kutsche, aber der Waldboden wirkt bis auf flache Furchen und kleinere Steine einigermaßen eben. Er ist befahrbar und mehr als zuvor stelle ich mir die Frage, wie es geschehen konnte, dass die Kutsche umgefallen ist. Erneut schaue ich mich nach einer großen, hervorstehenden Wurzel um, finde aber keine. Auch die Räder der Kutsche wirken unversehrt, den Zustand der beiden Achsen hingegen kann ich nicht beurteilen.
Ein weiterer Ast knackt, dieses Mal kann ich die grobe Richtung ausmachen, aus der das Geräusch zu mir gedrungen ist. Dichte Brombeerbüsche und Farne wachsen zwischen den Bäumen, sodass ich dort nur schwer hingelangen könnte, doch das ist nicht das Problem, das mich innehalten lässt. Wenn der Kutscher mitsamt der Kutsche umgefallen wäre, hätte er auf der anderen Seite des Weges landen müssen.
»Hallo?«, frage ich und halte den Dolch fester umklammert.
Wie kann es sein, dass der Kutscher verschwunden ist? Ich müsste ihn doch irgendwo liegen sehen.
Das Pferd wiehert. Erneut versucht es hektisch, sich aufzurichten. Da ich den Kutscher im Unterholz nicht entdecke, beschließe ich zum nächsten Dorf zu reiten, um mich dort nach Hilfe umzusehen. Mein Herz schlägt wie verrückt in meiner Brust und mit weichen Knien und tauben Füßen stapfe ich zum Pferd, als würde Schnee den Waldboden vor mir bedecken.
»Alles ist gut«, flüstere ich dem Tier ins Ohr, doch es glaubt mir ebenso wenig, wie ich mir selbst glaube. »Lass uns wegreiten.« Den Dolch stecke ich in meine Manteltasche, aus der der Griff mindestens zur Hälfte herausragt. Mit klammen Fingern ziehe, zerre und wickle ich, bis alle Knoten, die das Bauchgeschirr des Pferdes mit der Kutsche verbinden, gelöst sind. Während ich die Zügel festhalte, erhebt sich das Pferd ruckartig und lässt sich kaum davon abhalten, loszupreschen.
Trotz einiger Schmerzen steige ich mit einer fließenden Bewegung auf den Rücken des Pferdes, wo ich mich sogleich besser fühle. Ich übe mit meinen Schenkeln einen sanften Druck auf das Pferd aus. Auf mein Kommando hin trabt es los und beschleunigt in den Galopp. Ich lehne mich nach vorne und wir verschmelzen im Lauf. Bäume und Schatten rauschen an mir vorbei, doch mein Augenmerk richtet sich nur auf den Weg, dem ich in der Hoffnung folge, bald den Rand des Waldes zu erreichen. Meine Atmung beschleunigt sich. Meine Zweifel daran, dass der Wald mich tatsächlich freigeben wird, sind immens.
Kurz dreht sich alles, dann schlage ich hart auf dem Waldboden auf. Ehe ich begreifen kann, was geschehen ist, jagen Schmerzen durch meinen Körper, wie ich sie nicht kenne. Ich meine, mich niemals wieder bewegen zu können, aber nach und nach ebben die tausend Dolchstöße, die ich zu fühlen glaube, ab. Das schmerzhafte Pochen, das meinen Körper durchzieht, wird beinahe erträglich. Wenige Meter vor mir rappelt sich das Pferd auf und läuft ohne mich davon, bis es in der Finsternis verschwindet.
Ich mache nicht den geringsten Versuch, mich zu erheben, geschweige denn, das Pferd einzufangen. Dann höre ich ein tiefes Knurren ganz in meiner Nähe und ich fühle, wie die Kraft in meine Muskeln zurückströmt. Bären gibt es hier schon seit Jahrhunderten nicht mehr, das wurde mir zumindest als Kind versichert, wenn ich meinte, einen Schatten vor dem Haus zu sehen. Dennoch fällt mir kein anderes Tier ein, das solch einen Ton zustande bringen könnte. Meine tiefste Befürchtung verleugne ich, so lange ich kann, aber letzten Endes muss ich es mir wohl doch eingestehen.
Beim erneuten Knurren überläuft mich eine heftige Gänsehaut und alles in mir schreit, dass ich weglaufen sollte. Ich bleibe aber so still liegen, dass ich es mir nicht einmal erlaube, zu atmen. Lediglich mit meiner Hand fahre ich über meine bedauernswerterweise leere Manteltasche und taste anschließend den Waldboden neben mir nach einem Stein oder einer anderen Waffe ab. Die Illusion, meinen Dolch zu finden, mache ich mir nicht. Ich strecke den Arm Stück für Stück von mir weg, bis meine Fingerspitzen endlich gegen einen handtellergroßen und spitzen Stein stoßen. Mit äußerster Konzentration wackle ich ein wenig daran, um zu prüfen, ob er sich aus dem Waldboden lösen lässt, wenn ich es gleich versuchen werde.
Mit einem Stein gegen einen Werwolf zu kämpfen ist Wahnsinn. Lauf weg. Lauf um dein Leben.
Obwohl ich meiner inneren Stimme recht geben muss, huscht ein Lächeln über mein Gesicht, als sich der Stein endlich von Erdboden lösen lässt. Die Bestie tritt aus dem Unterholz hervor. Ihre gefletschten Zähne sind von Geifer überzogen und glänzen ein wenig im Mondlicht. Mit jedem Schritt, den sich die Kreatur mir nähert, wird das Knurren ungeduldiger, erwartungsvoller. An den Vorderläufen kann ich erkennen, dass sie gleich losspringen wird. In genau dem richtigen Moment schaffe ich es, meine Hand mit dem spitzen Stein dem Werwolf entgegenzuschlagen. Ich treffe ihn an der Nase.
Winselnd streicht er sich mit der Pfote über Schnauze und Nase. Ich laufe los. Die Schmerzen in meinem Körper lassen mich zunächst straucheln, aber der Gedanke daran, hier im Wald zu sterben, dämpft sie. Niemals in meinem Leben bin ich schneller gerannt. Ich laufe über den Boden und nehme dabei keine Unebenheiten wahr, fast so, als würde ich fliegen. Ich merke nicht, ob sich meine Kleidung an irgendwelchen Ästen verfängt, denn ich eile den Weg entlang, als gäbe es eine Rettung für mich.
Mit ungeheurer Wucht prallt die Bestie gegen meinen Rücken und reißt mich nieder. Der Aufprall auf dem Boden drückt jegliche Luft aus meiner Lunge. Während sich eine ihrer Pfoten in meinen Rücken bohrt, tropft Speichel aus ihrem Maul auf meine Wange. Ich spüre, wie ihre Klauen die Haut an meinen Schultern zerreißt. Ich werde so fest zu Boden gedrückt, dass ich nicht einatmen kann. Ihr Knurren vibriert durch meinen Körper, das vermeintlich letzte Geräusch, das ich in meinem Leben hören werde. Mit zusammengepressten Lippen wappne ich mich für die weiteren Schmerzen, die mir die Bestie gleich mit ihren Zähnen bereiten wird, wenn sie meine Haut zerfetzt.
Ehe ich in die Dunkelheit der Bewusstlosigkeit gleite, höre ich einen Schuss.
Ich liege in einem Bett. Zwar bin ich noch nicht richtig wach, aber diese Erkenntnis bringt mein müdes Gehirn immerhin zustande. Vorsichtig blinzle ich und versuche herauszufinden, wo ich bin.
Sanftes Morgengrauen schmiegt sich an die Fensterscheiben. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist ein schwerer Druck auf meinem Rücken und die schmerzhafte Verletzung an der Schulter, wo mir Krallen die Haut aufgerissen haben. Die Erinnerungen erwecken die Panik erneut, die daraufhin heiß wie Lava durch meinen Körper fließt. Viel zu schnell setze ich mich im Bett auf.
Die beinahe unerträglichen Kopfschmerzen machen mich schwindelig, aber ich möchte nicht wieder ohnmächtig werden, sondern muss zwei Dinge in Erfahrung bringen: Ist die Bestie weg? Und: Wo bin ich? Die Morgensonne überzeugt mich zumindest davon, dass es keinen Werwolf in meiner Nähe geben kann. Aber der Raum, in dem ich mich befinde, ist mir gänzlich fremd. Teure Möbel, feine Stofftapeten und ein polierter Boden geben mir einen Hinweis darauf, dass ich es wohl entgegen aller Wahrscheinlichkeit irgendwie zum Ziel meiner Reise geschafft habe. Ansonsten hätte man mich sicher nicht in einem dermaßen luxuriösen Haushalt untergebracht.
Mir fällt auf, dass meine Schulter bandagiert ist. Beim geringsten Druck auf die Verbände rast eine Feuerwelle durch meine Glieder. »Hallo?«, versuche ich zu rufen, aber ich bringe lediglich ein Krächzen zustande. Ich räuspere mich und strecke meine Hand vorsichtig zum Wasserglas aus, das auf der Truhe neben dem Bett steht. Die kühle Flüssigkeit schmeckt so gut, dass ich am liebsten die gesamte Karaffe leer trinken würde. Mit Bedauern versage ich mir diesen Genuss, denn zunächst muss ich jemanden finden, der mir meine Fragen beantworten kann. Zwar entdecke ich an der Wand einen Seilzug, mit dem ich nach Personal läuten könnte, aber durch meine Verletzung wäre es schwieriger, ihn zu erreichen, als meine Stimme zu benutzen.
»Hallo, ist jemand da?«, rufe ich und sofort höre ich Schritte, die sich dem Raum nähern, in dem ich liege.
Die junge Frau, die in der hastig geöffneten Tür stehen bleibt und mich skeptisch mit ihren überwältigend ebenen Gesichtszügen anschaut, ist mir unbekannt. Ihre schlichte, aber ordentlich in Weiß und Schwarz gehaltene Kleidung weist sie als Dienstmädchen in diesem Haus aus.
»Wie geht es Ihnen? Alle waren in Sorge wegen Ihres … Überfalls.« Langsam kommt sie nun doch näher. Mit einem fragenden Blick versichert sie sich, ob ich es ihr gestatte, dass sie mir die Hand auf die Stirn legt, und prompt wird mir beim Kontakt mit ihrer kühlen Haut schwindelig. »Das Fieber sinkt. Ihr Erwachen wurde ungeduldig erwartet. Sie waren zwei Tage und Nächte nicht bei Bewusstsein. Ich gehe Bescheid sagen.«
»Warten Sie bitte!«
Sie dreht sich erneut zu mir um.
»Können Sie mir sagen, wo ich bin? Und wie ich hierhergekommen bin?«
Der Gesichtsausdruck des Dienstmädchens bleibt höflich, nimmt aber eine Spur Besorgnis an. »Die Herrschaften haben Ihnen Reiter entgegengeschickt, nachdem Sie sich so verspätet haben. In Anbetracht der Vollmondnacht war das riskant, wohl aber die richtige Entscheidung. Die beiden Herren fanden Sie gerade noch rechtzeitig und haben Sie hergebracht.«
Nun weiß ich auch, dass ich mein Ziel entgegen meiner Hoffnungen doch irgendwie erreicht habe. Ich lehne mich verzagt zurück und denke an all das, was mich in den nächsten Tagen und Wochen erwartet.
Die Bedienstete will gerade die Tür hinter sich schließen, doch meine Frage lässt sie innehalten und mich mit großen Augen anstarren. »Was meinen Sie damit, was mit dem Werwolf geschehen sei?«, fragt sie und erklärt mit gerunzelter Stirn: »Die Reiter berichteten von einem Kutschenunfall.«
Unwissentlich habe ich also ein Geheimnis verraten. Zunächst möchte ich sie bitten, es niemandem zu verraten, doch ich kann nicht einschätzen, ob sie vertrauenswürdig ist. »Es gab keine Bestie?«, frage ich nach und lege möglichst viel Erleichterung in meine Stimme. »Als die Kutsche umgekippt ist, war natürlich meine größte Befürchtung, dass es sich in einer Nacht wie der gestrigen um einen Werwolf handeln müsste, der die Kutsche angriff.«
»Davon ist mir nichts bekannt.« Ein kühles Schulterzucken, dann schließt die Bedienstete die Tür hinter sich.
Unzählige neue Fragen prasseln auf mich nieder wie kalter Regen. Trotz der dicken Daunendecke fröstelt es mich.
Wer kennt die Wahrheit?