Inhalt

  1. Cover
  2. Über das Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Widmung
  7. Zitate
  8. EINS
    1. 1 Der letzte Sommer
    2. 2 Zagt nicht
    3. 3 Der Traum von eh und je
    4. 4 Golden liegt die Welt
    5. 5 Der Stein
    6. 6 Menschen ohne Schatten
    7. 7 Komm und nimm und gib
    8. 8 Rosa
  9. Das kleine Mädchen und die Gans
  10. ZWEI
    1. 9 Alles andere mündlich
    2. 10 Beth Hamishpath
    3. 11 Maggia
    4. 12 Weltraumhunde
    5. 13 O mein Papa
    6. 14 Kiwitt, kommt alle mit
    7. 15 Zündhölzli
    8. 16 Leviathan an der Leine
    9. 17 Was wir sind und scheinen
    10. 18 Guter Gott
    11. 19 Alte Liebe rostet nicht
    12. 20 Eichhörnchen
  11. Das kleine Mädchen und die Gans
  12. DREI
    1. 21 Danke, Herr Pegasus
    2. 22 Rien de rien
    3. 23 Odysseus und das Herz
    4. 24 Bin ich’s, so ist’s ein jeder
    5. 25 Freedom
    6. 26 Amor mundi
    7. 27 Dann wird dieses Leben erzählt sein
    8. Rechtliches
    9. Quellen
    10. Dank

Über das Buch

Im Sommer 1975 reist Hannah Arendt ein letztes Mal von New York in die Schweiz, in das Tessiner Dorf Tegna. Von dort fliegen ihre Gedanken zurück nach Berlin und Paris, New York, Israel und Rom. Und sie erinnert sich an den Eichmannprozess im Jahr 1961. Die Kontroverse um ihr Buch Eichmann in Jerusalem forderte einen Preis, über den sie öffentlich nie gesprochen hat.

Mit profunder Kenntnis von Leben, Werk und Zeit gelingt Hildegard Keller ein intimes Porträt, ein faszinierend neues Bild einer der bedeutendsten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts.

Über die Autorin

Hildegard E. Keller veröffentlichte Theaterstücke, Hörspiele und Filme, die Frauen und ihre Werke ins Leben zurückholen. Sie war Jurorin beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt (2009–2019) und Mitglied im Literaturclub des Schweizer Fernsehens (2012–2019). Bereits während ihres Studiums der Literaturwissenschaften und Soziologie begann sie zu schreiben, Theater und Druckgrafik zu machen. Seit 2001 ist sie Professorin für Literatur. Zehn Jahre lang lehrte sie in den USA an der Indiana University in Bloomington, heute lehrt sie Multimedia-Storytelling an der Universität Zürich (zurichstories.org). Was wir scheinen ist ihr erster Roman (Eichborn 2021).

HILDEGARD E. KELLER

WAS WIR SCHEINEN

ROMAN

Für Christof
&
Für Barbara und unsere Brüder,
Thomas, Dominik und Mathias
&
Für Anny und Bernhard

Sehen Sie, wie traurig ich bin!
Ich weine auch und sage das Meiste nicht,
niemals. Und doch sehe ich auch dies so ganz
anders an und kann es wie ein Glück betrachten.
Ich bin so unendlich frei in meinem Innern,
wie nicht verpflichtet der Erde.

Rahel Varnhagen

– Oh Meister und Freund –
Haben doch viele vergessen
Dich als Menschen zu zeichnen
Weil sie distanzvoll
Und immer ein wenig gehemmt
Beter und Anbeter
Freundliche Priester
Ihrem verehrten Idol
Dankopfer bringen.

Hannah Arendt

EINS

1 Der letzte Sommer

Auf der Reise nach Tegna, 25. Juli 1975

»Gentili signori, siamo in arrivo a Bellinzona. Per Lugano binario due.«

Wie lange hatte sie geschlafen? Lag der Gotthard schon hinter ihnen? Die Stimme des Schaffners hatte sie geweckt. Es war stickig im Raucherabteil, das nun fast leer war. Ein Zug noch immer ohne Klimaanlage, absolut undenkbar in Amerika, dachte sie und wandte den Kopf zum Fenster.

Ihre Augen suchten die Landschaft nach einem Anhaltspunkt ab, an dem sie sich orientieren konnte. Vergeblich. Das Grün vor dem Fenster zerfloss im Regen, der ans Zugfenster prasselte. Es roch metallisch. Sie erinnerte sich, dass die Lokomotive hart gearbeitet hatte, härter als bei der Abfahrt aus Zürich, wie von Zeit zu Zeit die Scheiben gezittert hatten, wenn ein Zug vorbeidonnerte. Dann war sie wohl eingenickt.

Als sie das Quietschen der Bremsbeläge hörte, wusste sie, dass der Zug talwärts fuhr. Sie kannte die Strecke. Diesmal konnte sie bis Locarno sitzen bleiben. Diese Durchsage war für sie also bedeutungslos. Was aber hatte sie im Traum gehört?

Kiwitt kiwitt, kommt mit mir mit, kommt mit.

Der Traum vom Glaskasten war ihr vertraut, besonders auf Reisen begleitete er sie. Weiß Gott, warum ihn das Unterwegssein anlockte. Wie ein verspielter kleiner Hund riss er Satzfetzen aus ihrem Werk und legte sie ihr vor die Füße, als spielte er sein Spiel. Der Traum als ihr wildester Leser. Ganz schön bunt treibt er’s heute, dachte sie und fuhr mit dem Zeigefinger unter die Brille, das Augenlid juckte. Kiwitt kiwitt, kommt mit mir mit, kommt mit – und das aus dem Glaskasten, aber was hatte der Satz denn bei Eichmann verloren?

Im Sommer 1961 hatte sie den Traum zum ersten Mal gehabt und das Gefühl beim Aufwachen nie mehr vergessen können. Das Erste, was sie gesehen hatte, waren ihre Hände, nah beieinander auf der Bettdecke, und das Morgenlicht, das auf ihnen tanzte. Jerusalem. Sie hatte das kleine Zimmer in der Pension Reich in Beit Hakerem gemocht, zwar lag es ziemlich weit weg vom Stadtzentrum, dafür in der Nähe der Hebrew University, ruhig und so erholsam wie in den Bergen. Vorher war sie für zwei Nächte im Stadtzentrum gewesen, unweit der King George Street in einem Hotel in Rechavia, aber sie hatte es scheußlich gefunden, und überhaupt gab es zu viel Gewimmel.

Alle Reporter hatten in dieses Grunewald im Orient gewollt, der Stadtteil war in den Zwanzigerjahren von deutschen Emigranten erbaut worden, eigentlich für ein Häuflein Intellektueller und Künstler, das richtig groß wurde, als die Deutschen den Deutschen Deutschland wegnahmen.

Bald danach war sie zum zweiten und letzten Mal aus Jerusalem abgereist, wie die allermeisten Journalisten lange vor der Verkündung des Todesurteils, und direkt nach Zürich geflogen. Seither folgte ihr der Traum, treu wie ein Hund. So fühlte es sich an, obwohl sie nie einen Hund gehabt hatte. Sie blickte aus dem Fenster.

Mein Hund hat mich nur im Schlaf an der Leine, sonst bin ich unleashed.

Als der Zug stillstand, sah sie, wie der Regen ans Fenster peitschte. In Bellinzona war niemand aus- oder zugestiegen. Noch eine knappe Stunde bis Locarno, da geht noch ein Keks, sagte sie zu sich und holte die Waffeln aus der Handtasche, die sie jedes Mal im Kiosk am Flughafen kaufte, schälte die Alufolie um den Stängel herunter und biss genüsslich hinein. Lecker, die hauchdünne Schokolade, mit der die Waffel überzogen war.

Diesmal hatte der Traum sie in den Presseraum geführt, einer dieser fensterlosen Räume im Gerichtsgebäude, meistens überfüllt und laut. Sie hatte im Traum auch sich selbst an einem der Journalistentische sitzen sehen, ihre Augen über Aktenberge hinweg auf einen der Bildschirme gerichtet, auf den das Geschehen im Gerichtssaal übertragen wurde. Männerstimmen, Schreibmaschinengeklapper, Telefongeklingel und babylonisches Sprachengewirr. Was die Richter und der Staatsanwalt im Gerichtssaal auf Hebräisch sagten, vermischte sich mit den Simultanübersetzungen, die nur über Kopfhörer kamen.

Ach, diese Übersetzungen, die waren nun wirklich kein rühmliches Kapitel der Prozessführung gewesen! Erbärmlich, was man als deutsche Übersetzung zu verkaufen gewagt hatte. Zum Glück mutete der Traum ihr das Deutsch der Dolmetscher nicht zu! Alles, wirklich alles dreht sich um Sprache.

Immer wieder apportierte der Traum Satzfetzen. Welcher Instinkt leitete ihn? Wie schon so oft hatte sie die Stimme mit dem rollenden R gehört, die Stimme aus dem Glaskasten oder auch vom Tonband. Man hatte das Vorverhör aufgezeichnet und in der Verhandlung immer wieder abgespielt, und jetzt erinnerte sie sich auch wieder, dass Eichmanns Stimme auf Band anders geklungen hatte, irgendwie sonorer, auch hatte er sehr viel seltener Jawoll gesagt als vor den Richtern.

Aber zwei Dinge fand sie nun doch ziemlich abstrus an dem Traum. Erstens, dass die Zigaretten fehlten. Zum Rauchen war sie fast immer ins Pressebüro gegangen, denn im Saal hatte man kurioserweise nicht rauchen dürfen. Nur gut, dass das Rauchverbot auf den Gerichtssaal beschränkt gewesen war. Wo käme man hin, wenn man in Hörsälen und Fernsehstudios, in Zügen und Flugzeugen nicht mehr rauchen dürfte.

Und zweitens war merkwürdig, dass sie im Traum selbst mit im Bild gewesen war, als hätte man sie gefilmt. Nie im Leben hätte sie das zugelassen, aber andere hatten die Chance eifrig genutzt und in den Pausen und nach Ende der Gerichtssitzungen vor den laufenden Kameras der Amerikaner Interviews gegeben, als hätte sich das Publikum eine kleine Auflockerung verdient. Sogar der Staatsanwalt und der Verteidiger hatten sich zu Kommentaren über den Angeklagten hinreißen lassen.

Nicht mal ein Minimum an Respekt, besonders in ihrer Rolle wäre das doch zu erwarten gewesen. Justiz, was denn sonst. Aber Generalstaatsanwalt Hausner war seiner eigenen Eitelkeit auf den Leim gegangen, und Servatius, Eichmanns Verteidiger, hatte ihn darum beneidet. Zum Kotzen das alles. Heinrich hatte sie so was immer schreiben können. Manchmal hatte ein Wort genügt, den Rest malte er sich ja aus. Wie sehr er ihr doch immer noch fehlte.

Sie biss ein kleines Stückchen von der Waffel ab, schob es mit der Zunge hin und her. In Locarno war alles gut vorbereitet, sie hatte einen Fahrer bestellt, der sie nach Tegna bringen würde. Sie nahm den Waffelrest aus der Folie und blickte auf die Tropfen am Zugfenster. Der Mensch allein ist wie eine abgehauene Hand, dachte sie und steckte die Verpackung in den Müllbehälter.

Auf der Fensterablage lagen die Zigaretten und das Feuerzeug, ein Geschenk von Heinrich zum Sechzigsten. Es funktionierte noch immer tadellos, nur dass die Flamme etwas zu groß war. Ganz Monsieur. Sie zündete sich eine Zigarette an, den Kopf leicht schräg gelegt, und machte zwei tiefe Züge. Sie nahm ihre schwere Hornbrille von der Nase, rieb sich kurz die Augen und setzte die Brille wieder auf, aber das bleierne Gefühl in den Schläfen war immer noch da.

Früher schlug ich mir auf Transatlantikflügen locker zwei Nächte um die Ohren, aber jetzt?

Nachdem der Zug Zürich verlassen hatte, hatte sie eine Weile gelesen und dann bei heruntergezogenem Fenster mit geschlossenen Augen das Geräusch des im Wind flatternden Sonnenschutzes in sich aufgenommen. Der Fahrtwind war warm über ihr Gesicht gestrichen. Wie ein Segel, hatte sie noch gedacht, bevor sie eingeschlafen war.

Sie drückte die zur Hälfte gerauchte Zigarette in den Aschenbecher, stand auf und öffnete das Fenster, aber nur einen Spalt breit, damit es nicht auf ihre Bücher regnete. Sie blieb stehen und hielt sich an den Knopfgriffen des Fensters fest. Dann ging sie ein paar Schritte den Gang auf und ab, hier konnte sie sich etwas die Beine vertreten. Ihre Gelenke schmerzten.

Zwölf Stunden in der unterkühlten Boeing B-747 vom J.F. Kennedy Airport bis nach Zürich, kein Pappenstiel, auch wenn sie beide Flughäfen aus dem Effeff kannte. Möglich, ja, vielleicht könnte es etwas viel gewesen sein. Wie besorgt hatten ihre Freundinnen geblickt, nachdem sie letztes Jahr aus Schottland heimgekommen war und ihr Leben wieder aufgenommen hatte. Die Worte waren eindringlich gewesen. Hannah, nach dem Herzinfarkt solltest du jetzt wirklich kürzertreten.

Mit beiden Händen stützte sie sich auf die Rückenlehne ihrer Sitzbank. Ein Mann im Nachbarabteil blickte von seiner Zeitung auf und grüßte mit einem Nicken. So freundlich, wie der dreinschaut, dachte sie, fragen kostet ja nichts.

»Könnte der Herr mir in Locarno vielleicht mit den Koffern helfen, falls mein Fahrer nicht auf dem Bahnsteig steht?«

»Selbstverständlich, gern.«

Erleichtert ging sie in ihr Abteil zurück und setzte sich. Ihre Augen folgten dem flirrenden Nass. Fäden überzogen das Zugfenster. Das war nun ihr siebter Sommer im Tessin. Sie konnte sich so gut erholen in Tegna. Schon im letzten Jahr hatte sie zu Ena Jenny gesagt: Die Casa Barbatè ist ein Paradies, aber mein Speisekarten-Italienisch werde ich nicht mehr aufpolieren. Sie mochte die Pensionsbesitzerin, eine gebürtige Irin, die in drei Sprachen zu Hause war.

»Certo, Hannah, du bist nicht die einzige Amerikanerin im Tessin. Übrigens soll drüben in Berzona noch ein deutscher Dichter zugezogen sein.«

Auf Italienisch konnte sie verzichten, aber nicht auf Französisch. Nie im Leben hätte sie ihr Französisch verlieren wollen. Die Pariser Jahre, die Freunde, was sie miteinander erlebt und nach dem Einmarsch der Deutschen gemeinsam durchgemacht hatten, und, merkwürdig genug, auch ihre nur knapp gelungene Flucht und der Neuanfang in Amerika. All das war Paris für sie.

Natürlich auch Benjamin! Nicht in Berlin, nicht irgendwo sonst in Deutschland, sondern ausgerechnet in Paris hatte sie ihn kennengelernt. All die Abende in der Rue Dombasle bei Benji und mit all den anderen, die nach Paris geflüchtet waren! In Paris, ja, ganz besonders dort, hatte ihr Leben noch mal richtig neu angefangen. La vie et l’amour.

Mit Günther hatte sie in Paris noch eine kurze Zeit lang Tisch und Bett geteilt, aber es war keine Ehe mehr gewesen. Günther, der sich bereits in Deutschland Anders genannt hatte, während sie in Paris noch immer seinen Namen trug, hatte es dann als Erster nach drüben geschafft. Und sie hieß noch Stern, als sie mit Heinrich in den Urlaub fuhr. Heinrich, ja, wirklich das Allerbeste aus Paris.

Sie erinnerte sich, wie sie ihre Unterschrift auf die Postkarte gesetzt hatte, die sie ganz frisch verliebt an Benji schrieben, Günthers Cousin. Der erste Urlaub mit Heinrich, überirdisch schön, auf der Insel Porquerolles. Hatte sie nicht sogar Adam und Eva auf die Karte geschmuggelt?

Wie froh war sie gewesen, als sie wieder Arendt hieß und die Scheidungspapiere in Händen hielt, obwohl da was von »ehelichem Verkehr« drinstand, aber die Behörden leisteten sich damals noch ganz andere Anmaßungen. Mit Heinrich war Paris wirklich Paris geworden – und er für immer ihr Monsieur.

Wenn sie an Paris dachte, kamen ihr alle wieder in den Sinn. Sogar Fritz Fränkel. Sie erinnerte sich an den scharfen Geruch, der von seiner Arbeit, vielleicht aber auch von ihm selbst ausgegangen war, so genau hatte sie das gar nie wissen wollen. Warum um Himmels willen war der Geruch dieses Schocktherapeuten, bei dem Heinrich in Berlin gearbeitet hatte, noch in ihrem Gedächtnis?

Da erinnerte sie sich doch lieber an den klugen Polen Chanan Klenbort, den sie meistens nur bei seinem Spitznamen nannte, ja, auch Chonne war Paris. Sie verdankte ihm ihr Hebräisch, aber eine Schülerin wie sie konnte einen Hebräischlehrer ja nicht wirklich stolz machen. So schön sie fluchen konnte, auch auf Französisch, es hatte alles nichts genutzt. Kläglich war’s geblieben, ihr Hebräisch war wirklich nicht der Rede wert. Und noch jetzt fand sie diese Sprache unlernbar, aber ihre Erinnerungen an Chonne verströmten Wärme in ihr.

Ich will mein Volk kennenlernen. Was für ein breites Gesicht er bekommen hatte, als diese Worte aus ihrem Mund gekommen waren, damals, als sie in seiner kleinen Pariser Küche neben dem Kohleherd gesessen und ihre Hände vor die Glut im offen stehenden Türchen gehalten hatte. Und als sie dann auch noch gesagt hatte, sie wolle bei ihm, Chonne, Hebräisch- und Jiddischunterricht nehmen, wurde sein Gesicht ein einziges Lachen.

Paris, das war natürlich seine Lotte. Die kluge Sempell hatte sich in Chonne verliebt und war auch die Drahtzieherin ihrer Gruppe geworden, genau wie sie auf der Flucht. Wäre Mutt ohne Lottes Hilfe denn aus Königsberg rausgekommen? Und Heinrich aus dem ersten Internierungslager? Und sie selbst?

Nach der Flucht aus Gurs war sie schnurstracks nach Montauban gegangen, wo Lotte ein Haus gemietet hatte. Dort war sie untergekommen und hatte dann, mitten auf der Straße, unglaublich, aber so wahr, ja, dort hatte sie Heinrich wiedergefunden. Im ganzen Chaos, als die Deutschen Paris besetzten, hatte man ihren Stups laufen lassen, und sie, im selben Chaos, war einfach aus Gurs abgehauen. Und beiden hatte Lotte geholfen. So viele Und. Gibt es denn je einen Grund, nicht dankbar zu sein?

Sie drehte sich erneut zum Fenster, konnte aber noch immer nichts erkennen. Eigentlich kann es nicht mehr weit sein bis Locarno. Sie öffnete mit dem Daumen das Zigarettenetui und blickte prüfend hinein.

»Noch eine«, sagte sie und achtete auf die Flamme.

Wie lange das alles her war, und doch hatte sie nichts davon vergessen. Die Fortune, die sie und Heinrich damals gehabt hatten! Er war kein Jude gewesen, sondern Kommunist, sie war längst ausgebürgert, und auch Benji hatte man die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. Verzweifelt waren sie geflohen, es war eine einzige Bewegung, die sie auseinandergerissen hatte. Heinrich und sie und ihre Mutter und Benji, Lotte und Chonne und die Cohn-Bendits, alle. Nur Benji hatte das Unglück nicht abschütteln können.

Sie machte einen tiefen Zug und legte beim Ausatmen den Kopf an die Lehne zurück. Ja, sie war sich nun sicher, dass sie auf jener Postkarte von Adam und Eva geschrieben hatte.

Im allerersten Urlaub mit Heinrich war ihr klar geworden, dass er ihr Mann fürs Leben war. Und auch er war zu allem entschlossen gewesen, praktisch von Anfang an. Kaum waren sie zusammengekommen, hatte er seine Briefe mit »Dein Mann« zu unterzeichnen begonnen, aber erst kurz, bevor die Deutschen einmarschiert waren, hatten sie den Trauschein wirklich in der Tasche gehabt.

Knapp, Frau Blücher, das war knapp jewesen, aber wen kümmert’s, Hannah, ick liebe dir, und bevor er seine Lippen auf ihre gepresst hatte, hatte sie noch leise sagen können: Je t’aime, Stups.

Und nun fuhr sie wieder nach Tegna. Dort hatten sie ihre letzten gemeinsamen Urlaube verbracht. Seit seinem Tod fuhr sie nun zum fünften Mal allein hin. Leere war nicht das richtige Wort für das Gefühl, das sie jetzt hatte.

Du verstehst, das Harte unterliegt.

In Frankreich hatten Heinrich und sie immer wieder Brechts Gedicht von Laotse und seinem Ochsen aufgesagt, auswendig natürlich. Benji hatte das Gedicht von Brecht bekommen, und sie alle hatten sich an dem kleinen Zettel wie an einem Floß festgehalten. Wie überhaupt an so vielen Gedichten.

Brechts Gedicht erzählt eine Geschichte, wie sie nur Dichter der Welt schenken können. Ein Zöllner sieht den weisen Laotse auf den Grenzbaum zureiten, fragt den Jungen, der den Alten begleitet, wer sie seien, und der antwortet was von Wasser und wer wen besiege. Nichts kapiert und doch genug gehört, um zu wissen, was nottut. Der Zöllner heißt den Weisen absteigen, lädt ihn unter sein Dach ein und verlangt ihm alles ab, was er in sich trägt, aber es reicht bis ans Ende der Zeit.

Typisch Brecht. Der Zöllner, so einfach er ist, hat gesunden Menschenverstand. Brecht erzählt seine Geschichte auf die für sie schönste Art, mit Reim und Rhythmus. So prägen es Dichter ins Gedächtnis der Menschheit ein. Wie glücklich hatten sie diese wunderbaren Verse auf der Flucht gemacht.

Poetry is closest to thought.

Dieser Satz war ihr damals, als sie ihn geschrieben hatte, gültig und zu Ende gedacht erschienen. Erst ein paar Jahre später, in Jerusalem, hatte sie dann erkannt, wie lebensnotwendig er ist. Ja, so ist es. Kein Ort der Welt hat ihr klarer vor Augen geführt, wie wahr dieser Satz ist.

Ein langes Stück Asche, das sie abzuklopfen vergessen hatte, fiel ihr in den Schoß. Kein Malheur. Sie schüttelte sacht den Rock, prüfte, ob alles wieder in Ordnung war, und strich mit den Händen über das Karomuster.

Sie mochte es sehr. Schwarze und weiße Felder, wie in den letzten Tagen mit Benji in Lourdes. Wenn sie lange genug auf den Stoff schaute, konnte sie wieder seine kleinen Hände über dem schwarz-weißen Brett sehen. Für einen kurzen Moment war ihr, als fühlte sie die Zettel in Händen, die Walter ihr damals gegeben hatte, bevor er zu seiner Reise aufgebrochen war, die kürzer werden sollte, als er gehofft hatte. Sie legte die Hände in ihrem Schoß zusammen. Da lagen sie, in der schwarz-weißen Mulde der Zeit, mit Benji und seinem Engel der Geschichte.

»Siamo in arrivo a Locarno, ultima fermata. Preghiamo tutti i passaggieri di scendere.«

Sie drückte die Zigarette aus. Der Aschenbecher war fast so klein wie der im Flugzeug, dann packte sie ihre Zeitschriften und Papiere zusammen, steckte Etui und Feuerzeug in die Handtasche und nahm den Blazer vom Haken. Langsam ging sie in den Korridor, wo sie die beiden großen Koffer gelassen hatte. Ihr Abteilnachbar stand schon beim Ausgang und stemmte den Türhebel nach unten, als der Zug mit einem kleinen Ruck zum Stillstand kam. Ein kleiner Kraftakt, dachte sie und sah, dass er ihr den Vortritt lassen wollte. Mit beiden Händen und schmerzenden Knien schob sie umständlich die beiden Koffer zur Tür und fluchte leise vor sich hin.

»Ich bin weiß Gott nie ohne Bücher gereist, auch wenn sie mir auf dieser verdammten Treppe noch das Genick brechen.«

»Scusi, signora.«

Mit einer Geste deutete er an, dass das doch nun seine Sache sei, wuchtete ihre Koffer auf den Bahnsteig und trug sie durch den Regen unter das Dach des Bahnhofsgebäudes. Als er sich noch einmal zu ihr umdrehte, winkte sie ihm kurz zu.

Für eine ältere Dame mit Gepäck ist das Reisen ohne Gepäckträger kein Honigschlecken. Sie stieg, die Handtasche am Arm, vorsichtig die steilen Stufen hinunter, hielt sich am Geländer fest, setzte erst den einen, dann den anderen Fuß auf den Bahnsteig und ging so schnell sie konnte zu ihren Koffern hinüber. Es regnete, wie sie es bislang nur vom Tessin kannte. Da stand sie nun und spähte nach dem Wagen. Wo bleibt mein Fahrer? So ein sauteures Telefonat und weit und breit keiner, der auf mich wartet.

Kurz vor dem Abflug hatte sie die Pension in Tegna telefonisch beauftragt, ihr einen Wagen nach Locarno zu schicken. Aber warum sparte sie eigentlich noch und hatte nicht gleich am Flughafen ein Taxi genommen? Erstens hatte sie Geld und zweitens gab es für amerikanische Touristen in der Schweiz absolut keinen Grund zum Sparen, auch wenn der Dollar nicht mehr so stark war wie 1969, als sie mit Heinrich hier zum ersten Mal in den Ferien gewesen war. Damals hatten sie für einen Dollar noch vier Franken dreißig bekommen. Die Preise in der Schweiz sind sowieso ein Pappenstiel, dachte sie, kein Wunder, dass alle in die Alpen wollen und nicht nach Israel, wo alles so irrsinnig teuer ist.

»Das hört ja nicht auf zu pladdern, ach, wenn ich jetzt nur ein Cab heranwinken könnte!«, murmelte sie in den Regen hinein. Es war fast dunkel geworden, und nur ganz wenige Autos fuhren vorbei. Auf der anderen Straßenseite, vielleicht hundert Meter weit weg, stand eine Telefonkabine, sie hatte sogar Kleingeld. Sollte sie Ena anrufen und fragen, wo der Fahrer blieb? Dummerweise fehlte nur ein Schirm, und bei dem Regen war gar nicht daran zu denken, dass sie es bis dahin schaffte, ohne völlig durchnässt zu sein.

Sie zündete sich eine Zigarette an, inhalierte tief und stieß den Rauch aus. Kurt hatte sie immer wieder nach Israel gelockt, auch damals, als die Nachricht von Eichmanns Kidnapping um die Welt ging. Ach, Kurti. Sie vermisste ihn sehr, den großen Blumenfeld, Zionist mit Feuer und Flamme, der so herrliche Dinge hatte sagen können.

»Hannah, die Geheimnisse des Lebens sind viel offenbarer, als die Menschen denken.«

Der Prozess gegen Eichmann ist ein Glücksfall, hatte sie damals gedacht. Kurt und sie hatten jede Gelegenheit beim Schopf gepackt, einander zu sehen. Auch das Gespenst im Glaskasten war eine gewesen. Sie erinnerte sich noch genau an den Jubel, als der israelische Ministerpräsident Ben Gurion im Mai 1960 die Öffentlichkeit überrascht hatte. Der Coup des Geheimdienstes sei geglückt, man habe Adolf Eichmann gefasst und werde ihn vor das Höchste Gericht in Jerusalem stellen. Da hatte sie sofort gewusst: In diesem Gerichtssaal will ich sitzen.

Heinrich hatte schon seine feste Stelle am Bard College gehabt, aber Langstreckenflüge waren noch unerschwinglich, und zudem hatte sie das Gefühl, knapp bei Kasse zu sein, nie wirklich verlassen. Hätte sie Shawn sonst gefragt, ob sie für den New Yorker als Gerichtsreporterin nach Jerusalem reisen könnte?

Der Chefredakteur hatte ihr keinen schlechten Deal angeboten, ihr jede Freiheit gelassen, sich selbst aber auch jede genommen, man entscheide dann selbst, ob ihre Reportage erscheinen würde. Der New Yorker hatte Flug und Hotel bezahlt. Auch nach all den Jahren fand sie ihre Entscheidung pragmatisch, fast preußisch. In hohem Bogen warf sie die Kippe in die Pfütze vor dem Bahnhofsdach.

Heinrich hatte gestaunt, wie wahnsinnig pragmatisch sie sein konnte. Natürlich auch in Haushaltsdingen, Kleidung, Essen, alles halt, worum eine Ehefrau sich zu kümmern hatte. Seine Augen hatten immer so keck gefunkelt, wenn er zu einem Scherz ansetzte. Unvergesslich, die Anekdote mit den Wollsachen.

Einmal hatte sie in England eine Weste für sich selbst und eine Jacke für ihn gekauft. Sie wollte sich die Schnäppchen nicht entgehen lassen, Wollsachen waren in England unverschämt günstig gewesen und sogar frei von Sales Tax, wenn man sie per Post schickte. Das Dumme war dann nur, dass die Pakete mitten in eine Hitzewelle an der Ostküste geplatzt waren.

Wundere Dich bitte nicht – sondern motte ein!

Heinrich wäre es nie in den Sinn gekommen, sich einem Vorsorgeanfall von ihr zu widersetzen, schließlich war sie so viel praktischer als er, aber er sei vor Lachen fast geplatzt, hatte er ihr später erzählt. Da war sie ganz beruhigt gewesen. Wer solche Späße macht, fühlt sich trotz finanzieller Engpässe frei, und das ist das Wichtigste.

In jenem Hitzesommer hatte sie ihn auch dazu gedrängt, sich Air-Condition zuzulegen. Brief um Brief hatte sie ihm das eingehämmert.

Wenn es zu heiß wird, lass Dir Dein Zimmer air-condition! Das kann man abstottern!

Und dann gleich nochmals.

Schimpf man nicht. Ich las über die Hitzewelle. Hoffentlich hast Du Dich zu Air-Conditioning entschlossen. Bitte, geh doch gleich aus New York raus, sobald der Kurs fertig ist. Warte nicht auf mich.

Bis sie zurück wäre, sollte Heinrich es sich so angenehm wie möglich machen. Gemeinsam würden sie aus dem schwülen Manhattan nach Palenville ziehen. So hatten sie sich das zurechtgelegt. Sommer für Sommer.

Leb wohl, Liebster, mach Dir Air-Conditioning!!!

Mann, wie hatte er stur sein können, fast so stur wie sie selbst. Die Erinnerung entlockte ihr ein kurzes, stilles Lachen.

Inzwischen waren die Lampen angegangen, sie schaute zu den glitzernden Fäden im Lichtkegel der Bahnhofslampe und spürte ihre schmerzenden Beine. Wie lange stand sie nun schon hier? Sie trat von einem Fuß auf den anderen, aber es half alles nichts, sie musste sich setzen. Ein paar Schritte weiter weg stand eine Sitzbank, halb nass, weil sie sich näher am Dachende befand. Mühselig klaubte sie im Halbdunkel ein Taschentuch aus der Handtasche, bückte sich und wischte die Sitzfläche ab.

Früher, als Jaspers noch lebte, war sie immer zuerst nach Basel in die Austraße gefahren. Das war die einzig richtige Akklimatisation gewesen, bei ihm und Gertrud und auch bei Erna, ihrer tüchtigen Haushälterin. Aber mit Karls Tod war ihre Schweiz so viel leerer geworden, und letztes Jahr war ihm auch Gertrud gefolgt.

Diese Ehe war eine der rührendsten, die ich kenne. Sie schnäuzte sich in das nasse Taschentuch und starrte auf die Pfütze. Die Regentropfen sind wie Gedanken.

Sie wusste, warum sie noch einmal ins Tessin gekommen war. Tegna war sehr weit weg von allem. Einen Sommer lang faulenzen und träumen, aber sie würde auch an ihrer Trilogie weiterarbeiten. The Life of the Mind.

Einen passenden Buchtitel zu finden war immer eine Plackerei, aber dieser Titel schien ihr nach Eichmann der einzig mögliche! Dafür hatte sie all die Bücher mitgebracht, obwohl die Mühsal des Denkens nicht geringer wurde, nur weil man mehr mit sich herumschleppte. Bücher, Jahre, Narben, you name it. Sie schwor sich, nur noch mit dem Notwendigsten zurückzureisen.

Wie früher würde sie ihre Runden um den frei stehenden Turm der Dorfkirche drehen, oben im Glockenstuhl die Schwalben, und sich zwischendurch auf der Steinbank unten am Turm ausruhen. Sie nahm das Feuerzeug und das Zigarettenetui zur Hand und begann wieder, vor sich hinzufluchen.

»Verflixt, keine Zigaretten mehr, aber hier auf dem Bahnhofsplatz kann ich doch nicht den Koffer aufklappen. Weiß der Teufel, wo dieser Fahrer geblieben ist!«

Aus Erfahrung wusste sie, dass er wie alle Taxifahrer eine ganz unglaubliche Geschichte auftischen würde, sofern er dann doch noch auftauchte – was sie natürlich hoffte. Wie sonst sollte sie nach Tegna kommen?

Dort wollte sie nur noch Menschen begegnen, die ihr angenehm waren. Mit Golo Mann war nicht zu rechnen. Ob er sein Haus in Berzona noch hatte? Egal. Seit er ihr kurz vor Erscheinen der deutschen Ausgabe des Eichmann-Buchs in den Rücken gefallen war, wollte sie nichts mehr mit ihm zu tun haben. Auch Jaspers, der nicht nur ihr, sondern ja auch sein Doktorvater gewesen war, hatte mit ihm gebrochen. Dass Karl sie in dieser unsäglichen Kampagne verteidigt hatte, die damals gegen sie angezettelt worden war, war mehr als nur Freundschaft gewesen, a labor of love!

Ein Quietschen holte sie aus ihren Gedanken. Auf der nassen Fahrbahn hatte ein Auto abgebremst, bog in den Bahnhofsplatz ein und tauchte sie ins Scheinwerferlicht.

Na endlich! Ich hätte den Kerl sonst zur Hölle geschickt. Warum fuhr er so gemächlich? Sie war doch die einzige Touristin unter dem Vordach des Bahnhofs. Der Mann kam auf sie zu.

»Professoressa Arendt?«

Sie trat unter den Schirm, den er für sie aufgespannt hatte, sah seine rot unterlaufenen Augen und dachte beim Einsteigen, so ein Hornochs.

»Sagen Sie mal, haben Sie mich denn nicht erwartet? Ich hatte doch angerufen.«

»Si si signora, haben wir Sie gewartet natürlich … ma con questa pioggia, purtroppo, ci vuole pazienza.«

»Fantasie haben Sie auch keine!«

»Scusi, signora non ho capi–«

»Wer keine Ausrede hat, lässt sich eben was einfallen! Worauf warten Sie? Andiamo!«

Der Fahrer schloss ihre Tür, verstaute ihr Gepäck im Kofferraum, setzte sich hinter das Steuer und gab Gas. Sie ließ sich ins Polster des Rücksitzes sinken, mit dem Gesicht zum Fenster.

Noch immer goss es in Strömen, als wollte der Regen ihre Gedanken und Wörter wegspülen, ihre Erinnerungen an Menschen, die noch da, aber nicht mehr am Leben waren, all das Erlittene und Durchlebte, den Strom des Außerordentlichen und Wunderbaren, an dem sie entlanggestrichen war. An Wörtern hatte sie sich immer festhalten können. Und Wörter wollte sie auch in Tegna wieder aufs Papier bringen, wie früher nur einige wenige auf ein Blatt. Wie früher wollte sie hören, wie ein Wort das andere ruft, so wie es die Wörter in ihrer Erinnerung immer schon getan haben. Wörter spielen ihr ganz eigenes Liebesspiel.

Ich will, dass Du seiest, was Du bist.

Sie hob kurz den Kopf und beobachtete, wie das Wasser im Fahrtwind auf der Scheibe spielte. In den Tropfen, die sich im Fahrtwind bogen, zitterte die dunkelgrüne Nacht. Wenn das Auto in eine Kurve ging, jagte der Wind einzelne von ihnen quer über die ganze Windschutzscheibe, bis sie am anderen Ende wieder ineinanderflossen.

Auf dieser kleinen Reise war jeder Tropfen ganz allein. Manchmal blitzte einer im Licht einer Straßenlaterne auf oder im Scheinwerfer eines entgegenkommenden Fahrzeugs, aber am Rand der Scheibe verglühte er in dem Rinnsal, das in die Nacht hinausstob. Augustin und die stilla animi, oder war das gar nicht von Augustin? Und das mit dem farblosen Licht der Geschichte? Vielleicht in seiner Auslegung der Edelsteine im Himmlischen Jerusalem? Ach, diese lange Warterei war wirklich nicht gut gewesen. Das mit dem Licht war doch von ihr selbst, ja, für einen starken Charakter wie Rosa hatte sie sich das Bild ausgedacht. Oder war es doch auf den Roncalli gemünzt? Sie war zu müde, um wirklich klar denken zu können, aber die Satzfetzen und Bilder prasselten auf sie ein, wie sie das immer taten. Sie lehnte den Kopf an und schloss die Augen.

Was bleibt, ist das Schöne. Das Bild selbst war einfach schön. Bilder überhaupt, weil sie den Geist auf die andere, nicht mehr sinnlich wahrnehmbare Seite locken. Jede Menschenseele ein Tropfen, der nur scheinbar getrennt ist vom Ganzen. Der Mensch als Prisma, in dem sich das farblose Licht bricht und in seiner Buntheit aufleuchtet. So ein Bild ist eine Brücke zwischen dem Unsichtbaren und der Welt der Dinge.

Von Tegna aus schreibe ich Martin, so viel steht fest.

Ein Rumpeln. War der Wagen über das Bahngleis gefahren? Als sie den Kopf hob und aus dem Fenster auf der Fahrerseite blickte, sah sie erst das Bahnhofsschild von Ponte Brolla. Gleich kommt die Brücke über die Maggia, dachte sie, doch im Regen verfloss das Brückengeländer. Sie stellte sich den Abgrund vor und tief unten den Fluss.

Erde, du liebe, ich will.

So ein Bild sagt mehr als tausend Theologien.

Benji hatte auf einen seiner Zettel gekritzelt, die Theologie sei heute klein und hässlich, wahrscheinlich weil die Metaphern fehlten, die Gott und die Welt ins Denken holten. Auf Hunderten von Seiten akademischer Spekulation lässt Gott sich nicht ein einziges Mal blicken.

Ohne zu blinken bog der Wagen nach links ab, gleich linker Hand kommt der Kirchturm. Nur hab ich selbst schon so lange kein Gedicht mehr geschrieben. Warum eigentlich? Da rumpelte es noch einmal, das waren nun die Bahngleise, und dann kam der Wagen mit einem kleinen Ruck zum Stehen.

»Ecco, professoressa: siamo arrivati. Casa Barbatè è questa.«

So ein Dummkopf, wie der das nur sagt! Man könnte meinen, ich wäre zum ersten Mal hier.

Der Fahrer sprang um den Wagen herum, um ihre Tür zu öffnen. Langsam hob sie die Beine aus dem Auto, sah die nassen Kieselsteine in der Dunkelheit glänzen und stellte die Füße auf die kleinen Lichter. Wie war das noch mal mit der farblosen Zeit?

Sie wollte es hier wieder versuchen. Vielleicht würde ihr doch noch einmal ein Gedicht gelingen.

Wo, wenn nicht in diesem Sommer, hier in Tegna.