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1
Harro Albrecht, »Für ein bisschen Diktatur«, in: Die Zeit, 19. 3. 2009, S. 34.
2
Ilija Trojanow / Juli Zeh, Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und Abbau bürgerlicher Rechte, München 2009, S. 139.
3
Juli Zeh, Fragen zu »Corpus Delicti«, München 2020, S. 65.
4
Zeh (s. Anm. 3), S. 71.
5
Zeh (s. Anm. 3), S. 66.
6
Zeh (s. Anm. 3), S. 26.
7
Zeh (s. Anm. 3), S. 20.
8
Zeh (s. Anm. 3), S. 22.
9
Ebd., S. 25.
10
Søren Kierkegaard, Entweder – Oder, Teil I und II, München 21993, S. 125.
11
Zeh (s. Anm. 3), S. 190.
12
Volker Roloff, »Sartre contra Sartre. Überlegungen zur Sartre-Kritik von Sábato«, in: Jean Paul Sartre, hrsg. von Rainer E. Zimmermann, Cuxhaven 1989, S. 97.
13
Alle Zitate in diesem Absatz stammen aus: Zeh (s. Anm. 3), S. 72 f.
14
Friedrich Nietzsche, »Ecce homo«, in: Kritische Studienausgabe (KSA), hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 6, München, Berlin, New York 21988, S. 323.
15
Nietzsche (s. Anm. 14), Bd. 3, S. 628 f.
16
Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 21988, S. 337.
17
Immanuel Nover, »Der disziplinierte Körper – Ethik, Prävention und Terror in Juli Zehs Corpus Delicti. Ein Prozess«, in: Kritische Ausgabe. Zeitschrift für Germanistik & Literatur 24 (2013), S. 79.
18
Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, übers. von Eleonore Sckommodau und Martin Rang, hrsg. und komm. von Tim Zumhof, Stuttgart 2019, S. 16.
19
Heinz-Peter Preußer, »Juli Zeh«, in: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (KLG), hrsg. von Heinz Ludwig Arnold, München: Edition Text + Kritik 94, Neulieferung März 2010, S. 12.
20
John von Düffel, Ego, Köln 2001, S. 10.
21
Bertolt Brecht, Sport und geistiges Schaffen, in: B. B.: Schriften I, 1914−1933, hrsg. von Marianne Conrad / Werner Hecht [Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 21], Frankfurt a. M. 1992, S. 122 f.
22
Preußer (s. Anm. 19), S. 2.
23
Ebd.
24
Matthias Rüb, »Verkokste Roadshow«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. 10. 2001, Nr. 234, S. L21.
25
Preußer (s. Anm. 19), S. 6.
26
Zeh (s. Anm. 3), S. 10.
27
Zeh (s. Anm. 3), S. 170 f.
28
Preußer (s. Anm. 19) S. 2.
29
Zeh (s. Anm. 3), S. 188.
30
Rainer Moritz, »Unverträgliche Immunsysteme. Juli Zehs didaktischer Roman Corpus Delicti«, in: Neue Zürcher Zeitung, 18./19. 7. 2009, S. B4.
31
Ebd.
32
Ebd.
33
Juli Zeh, zit. ebd.
34
Wolfgang Höbel, »Hexe im Tiefkühlfach«, in: Der Spiegel, 21. 2. 2009, S. 150.
35
Höbel (s. Anm. 34), S. 150.
36
Evelyn Finger, »Das Buch der Stunde«, in: Die Zeit, 26. 2. 2009, S. 49.
37
Ebd.
38
Ebd.
39
Christian Geyer, »Geruchlos im Hygieneparadies«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. 2. 2009, S. Z5.
40
Ebd.
41
Ebd.
42
Albrecht (s. Anm. 1) S. 34.
43
Ebd.
44
Nover (s. Anm. 17), S. 79.
45
Christian Geyer / Patrick Bahners: »Was uns Juli Zehs Roman Corpus Delicti über die Corona-Krise lehrt«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. 4. 2020.
46
Ebd.
47
Ebd., zit. nach einem Interview von Jan Heidtmann: »Die Bestrafungstaktik ist bedenklich«, Süddeutsche Zeitung, 5. 4. 2020.
48
Zeh (s. Anm. 3), S. 76.
49
www.apple.com/de/ios/health/ (Stand: 9.11.2020).
50
Sigrid Harms, »Warum Tui seinen Mitarbeitern Mikrochips unter die Haut pflanzt«, in: Der Tagesspiegel (online), 1.11.2019.
Autorin |
Juli Zeh (geboren 1974)
|
Erstveröffentlichung |
2009 |
Gattung |
Dystopischer Roman (auch: Justizroman) – Er baut auf dem gleichnamigen Theaterstück Corpus Delicti (2007) auf. |
Epoche |
Gegenwartsliteratur: ein extrem uneinheitlicher Epochenbegriff, der zuweilen ab der Wende (1989), also seit dem Mauerfall zwischen DDR und BRD, datiert wird. |
Werkaufbau |
Der Roman besteht aus 50 Kapiteln, die Wort- oder Satzteile aus dem jeweiligen Kapitel als Titel tragen. |
Zeit der Handlung |
Mitte des 21. Jahrhunderts von Mai bis Ende Juli / Anfang August sowie Rückblenden in die Erzählvergangenheit |
Der Roman Corpus Delicti steht im Zeichen einer GesundheitsdiktaturGesundheitsdiktatur. Schon das »Vorwort« stellt das vermeintliche Wohl der Bürger ins Zentrum: »Gesundheit ist ein Zustand des vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens – und nicht die bloße Abwesenheit von Krankheit.« (S. 7) Medizinische Früherkennung, effektive und strenge Hygienegesetze und die Genforschung sollen jede Krankheit verhindern. Eine heile Welt? Sicherlich nicht, gleichwohl erinnert sie in Ansätzen an unsere Gegenwart. Der Journalist Harro Albrecht arbeitete in seiner Rezension »Für ein bisschen Diktatur« zu Zehs Roman Analogien heraus:
»Der Leser wird bei der Lektüre zustimmend nicken. Wer seinen Körper verlottern lässt, gilt mittlerweile als verdächtig, gar als Sozialschädling, der unser aller Krankenkassenbeitrag in die Höhe treibt. In den Kneipen ist das Rauchen verboten. Eltern werden gedrängt, ihre Kinder gegen Masern impfen zu lassen […].«1
Die Kostbare GesundheitswerteGesundheitswerte aller sind heute auch im Visier von Krankenkassen, Arbeitgebern und Versicherungen; sie profitieren, wenn die Bürger gesund leben: Ein kranker Mitarbeiter oder Versicherter ist schließlich teurer als ein gesunder. Durch den Einsatz von Fitness-Trackern, Smartwachtes und Gesundheits-Apps stellen wir unsere Werte sogar freiwillig ins Internet: Millionen Bürger verwandeln sich so zu gläsernen Menschen, die auf Schritt und Tritt beobachtet werden.
Die streitbare Autorin und Verfassungsrichterin Juli Zeh Politische Schriftstellerinwehrt sich seit über zehn Jahren gegen solch einen Überwachungsstaat. So reichte sie zusammen mit Frank Selbmann schon im Januar 2008 beim Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde gegen Fingerabdrücke in biometrischen Reisepässen ein. Die Richter in Karlsruhe lehnten zwar die Beschwerde wegen fehlender Angaben ab, betonten aber, dass die Speicherung biometrischer Daten eine schwierige Rechtsangelegenheit sei. Die Medien diskutierten die Beschwerde öffentlichkeitswirksam.
2009 verfasste Juli Zeh zusammen mit Ilija Trojanow die Kampfschrift für die FreiheitKampfschrift Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte. Beide warnen darin die Leser eindrücklich:
»Die gegenwärtige Gleichgültigkeit im Umgang mit der Privatsphäre lässt ahnen, wie Staat und Konzerne in Zukunft über uns verfügen werden, sollten wir ihnen erlauben, noch umfassendere Instrumente der Kontrolle einzuführen. Dann wird es allerdings zu spät sein zum Widerstand.«2
Zeh formuliert ihren »Widerstand« mit Corpus Delicti auch künstlerisch. Sie stellt mit ihrer DystopieDystopie ein Gegenbild zur positiven Utopie vor: Die Autorin entwirft ein pessimistisches Science-Fiction-Szenario, mit dem sie ihre Leser vor gefährlichen Tendenzen in unserer Gesellschaft warnen möchte. Ihr Roman zeigt, dass die Gesundheitsdiktatur, in der sich alles um den Körper dreht, zwangsläufig Schwachstellen besitzt. So unterminieren Moritz Holl – und später seine Schwester Mia – diesen vermeintlich besten aller Staaten.
Zu Beginn der Corona-PandemieCorona-Krise schränkte die deutsche Regierung die Freiheit seiner Bürger ein: Quarantäne, Kontaktverbote, Kita-, Schul- und Universitätsschließungen, Absperrungen ganzer Ortschaften sowie das Runterfahren der Wirtschaft wurden für Monate zum Alltag. Auch bei uns erhob der Staat die Gesundheit jedes Einzelnen zu einem hohen Gut; die Analogie zu Zehs Roman scheint auf den ersten Blick offensichtlich, aber es gibt auch erhebliche Unterschiede: So leben wir zum Beispiel in keiner Diktatur. Gleichwohl wehrten sich so manche Bürger gegen die staatliche Bevormundung – so wie Mia Holl: »Ich entziehe einem Staat das Vertrauen, der besser weiß, was gut für mich ist, als ich selbst.« (S. 187)
Juli Zehs Roman Corpus Delicti – Ein Prozess (2009), der aus 50 Kapiteln besteht, basiert auf ihrem gleichnamigen Theaterstück von 2007. Die Handlung ereignet sich Mitte des 21. Jahrhunderts. In Deutschland herrscht eine Gesundheitsdiktatur, die sich nach der » METHODEMethode« (S. 9), einem komplexen Kontrollsystem, ausrichtet. Im Mittelpunkt des Romans steht Mia Holl, die sich von einer treuen Staatsanhängerin in eine Freiheitskämpferin verwandelt.
Im keimfreien Deutschland hat Gesundheit die höchste Priorität. Die Menschen tragen einen Mundschutz in der Öffentlichkeit und einen implantierten Chip im Oberarm. Die Behörden speichern alle messbaren Körperwerte; ihre Übermittlung gehört, wie ein gewisses Sportpensum, zu den täglichen Aufgaben der Bürger. Schlechte Gesundheitswerte sowie der Konsum von Kaffee, Alkohol und Zigaretten sind strafbar. Küsse sind nicht romantisch, sondern eine »Verseuchung der Mundflora« (S. 65). Die ›freie‹ Liebe zwischen Menschen, deren Immunsysteme nicht zusammenpassen, ist kriminell.
Mias Bruder Moritz erkrankt mit sechs Jahren an Leukämie; eine Stammzellentransplantation heilt ihn. Diese existenzielle VorgeschichteErfahrung prägt den inzwischen 27-jährigen Philosophiestudenten.
Seit Kindertagen trifft er sich wöchentlich mit seiner Schwester Mia Holl zu offiziell verbotenen Spaziergängen in der Natur. Dort schwärmt er ihr von Sibylle Meiler vor, die er über Online-Dating kennengelernt hat. Bei der ersten persönlichen Begegnung am gleichen Abend unter der Südbrücke findet Moritz ihre Leiche. Er ruft die Polizei, wird auf der Wache verhört und wieder nach Hause geschickt.
Zwei Tage später kommt er wegen Mordverdachts in Isolationshaft, weil das Sperma im Opfer seine DNA aufweist. Nach den Vorgaben der METHODE wird er schnell zum Scheintod verurteilt. Im Besucherraum des Gefängnisses empfängt er seine Schwester, der er zum Abschied ein Produkt seiner Phantasie schenkt: die ideale Geliebte. Moritz erhält im Gegenzug von Mia eine Angelschnur, mit der er sich wenig später erhängt.
Vor diesem Hintergrund trauert Mia mehrere Wochen in einem sogenannten Wächterhaus, in dem sie mit ihren drei Nachbarinnen Lizzie, Pollsche und Driss wohnt. Knapp einen Monat lang geht sie nicht vor die Tür, treibt keinen Sport und unterlässt ihre obligatorischen Meldepflichten. Damit begeht sie eine Straftat. Ihr Fall landet deshalb zunächst als Güteverhandlung vor einem Amtsgericht. Die Richterin Sophie verzichtet auf eine Verwarnung und lädt Mia stattdessen zum Klärungsgespräch ein. Auf dieses Gespräch bereitet der Journalist und überzeugte ›Methodist‹ Heinrich Kramer Mia in ihrer Wohnung vor. Sie kennt ihn aus den Medien und hält ihn für den »Mörder« (S. 30) ihres Bruders, weil er als überzeugter Anhänger der METHODE ein System unterstützt, das Moritz nicht nur zutiefst unglücklich machte, sondern auch dessen Verurteilung forderte.