Mathilda Grace
PHILADELPHIA BLUES
Philadelphia Blues
2. Auflage, November 2018
Impressum
© 2018 Mathilda Grace
Am Chursbusch 12, 44879 Bochum
Text: Mathilda Grace 2011
Foto: Bennian; Pixabay
Coverdesign: Mathilda Grace
Web: www.mathilda-grace.de
Alle Rechte vorbehalten. Auszug und Nachdruck, auch einzelner Teile, nur mit Genehmigung der Autorin.
Sämtliche Personen und Handlungen sind frei erfunden.
Romance
Liebe Leserin, Lieber Leser,
ohne deine Unterstützung und Wertschätzung meiner Arbeit könnte ich nicht in meinem Traumberuf arbeiten.
Mit deinem Kauf dieses E-Books schaffst du die Grundlage für viele weitere Geschichten aus meiner Feder, die dir in Zukunft hoffentlich wundervolle Lesestunden bescheren werden.
Dankeschön.
Liebe Grüße
Mathilda Grace
Der Tod seiner Schwester Gwen wirft Colin McDermotts Leben von einem Tag auf den anderen vollkommen über den Haufen. Mit den Plänen für eine eigene Autowerkstatt beschäftigt, muss er sich neben der Trauer um Gwen plötzlich um seinen 15-jährigen Neffen Kilian kümmern, der mit dem Verlust seiner Mutter genauso wenig zurechtkommt wie Colin damit, auf einmal Vater eines Teenagers zu sein.
Für Mum.
Danke, dass du mich immer unterstützt hast.
Prolog
Es wäre möglich.
Er würde zwar die ersten Jahre am Hungertuch nagen, aber mit einem Kredit auf sein Haus und dem, was er in den letzten Jahren von der Arbeit gespart hatte, wäre der Traum einer eigenen Autowerkstatt realisierbar.
Colin überschlug im Kopf einige Zahlenreihen, während er dabei das Radio leise drehte, um nicht durcheinander zu kommen. Er würde eine Halle brauchen, in der er seine Werkstatt einrichten konnte. Material sowie Werkzeug zu besorgen, dürfte auch kein allzu großes Problem sein. Die anfallenden Kosten für Miete, Steuern, Versicherungen und was mit einer Werkstatt sonst noch alles auf ihn zukommen würde, schob er fürs Erste beiseite, weil es es noch nicht geschafft hatte, Dominic anzurufen, um sich die Telefonnummer von Adrian Quinlan geben zu lassen. Bevor er sich weiter in diese Idee stürzte, wollte er sich den Rat eines Anwalts holen, beziehungsweise Adrian fragen, ob der jemanden kannte, der ihm helfen konnte.
Der Wetterbericht lenkte ihn ab und Colin drehte das Radio wieder lauter. Seit Tagen herrschte in Philadelphia Dauerfrost, denn der Winter hatte noch mal so richtig zugeschlagen. Da erzählte der Moderator nichts Neues und auch die ausgefallenen Heizungen und Stromleitungen in einem Außenbezirk waren ihm nicht unbekannt. Das Stromnetz in diesem Land war wirklich ein Witz, deshalb hatte er in seinem Haus mit einem Generator für den Notfall vorgesorgt.
Seine Gegend war nicht die Beste, geschweige denn die Sicherste, aber damit konnte er leben. Er fand die Vorstellung, im Winter im Kalten zu sitzen, viel schlimmer, als die, möglicherweise in einen Überfall zu geraten. Dafür hatte er ja schließlich seine Fäuste und dass er sich mit denen vor einem Jahr gegen den Bruder seines besten Freundes Devin behauptet hatte, hatte seinem Selbstvertrauen einen gehörigen Schubs gegeben.
Colin gluckste und bog in die Straße zu seinem Haus ein, während er sich daran erinnerte, wie er sich mit Dominic in Tonys Schuppen geprügelt hatte. Ihm hatte noch eine Woche später jeder Finger und Knöchel in seinen Händen wehgetan, aber es war die Prügelei wert gewesen, denn in den letzten Monaten hatten Dominic und er es geschafft, Freunde zu werden. Das war weit mehr, als Colin sich jemals erhofft hatte.
»... und vergesst bloß eure Mützen, Schals und Handschuhe nicht. Es wird eisig heute Nacht.«
Colin nickte, bevor er das Radio ausschaltete und kurz darauf die Stirn runzelte, als er auf dem Gehweg vor seinem Haus jemanden entdeckte, der da garantiert nicht hingehörte. Jedenfalls nicht um die Uhrzeit und in den Klamotten. Er parkte seinen alten Mustang vor der Garage und warf beim Aussteigen einen misstrauischen Blick auf den Teenager, der mit einer viel zu dünnen Lederjacke, einer löchrigen Jeans und ziemlich mitgenommen aussehenden Turnschuhen bei Minusgraden mitten auf seinem Gehweg herumstand. Wer war das denn?
»Hi, Onkel Colin. Hast du mal 'ne Kippe?«
Colin wollte seinen Ohren nicht trauen. Die Stimme kannte er, und zwar sehr gut. Er schlug die Wagentür zu und trat auf den Gehweg, um sicherzugehen. Ja, das Gesicht passte zu der Stimme, obwohl er sein Gegenüber zuletzt vor fünf Jahren gesehen hatte und da war Kilian noch ein ganzes Stück kleiner gewesen. Jetzt war der Junge fast so groß wie er selbst und hatte das normale, typisch schlaksige Aussehen eines Teenagers.
Allerdings stimmte der traurige Ausdruck in Kilians blauen Augen nicht mit dem fröhlichen Kinderblick überein, den er in Erinnerung hatte. Sein Neffe war eindeutig nicht hier, um 'Hallo' zu sagen. Vor allem hätte Gwen ihn niemals grundlos allein von Irland nach Philadelphia geschickt. Seine Schwester war zwar eindeutig zu früh Mutter geworden, aber sie liebte Kilian mehr als alles andere und kümmerte sich gut um ihn. Irgendetwas war hier im Busch.
»Was ist passiert, Kilian?«, fragte er leise und trat auf Kilian zu, der die Schultern zuckte und seinem Blick auswich, ehe er in die Hocke ging und in einem Rucksack kramte, der zu seinen Füßen stand, um ihm im nächsten Augenblick einen Stapel Papiere zu reichen.
»Mum ist tot. Sie hat ein Testament hinterlassen, wo drinsteht, dass ich bei dir bleiben soll. Oma und Opa sind wütend deswegen und wollen mich nicht haben, darum bin ich hier.« Kilian sah wieder zu ihm auf, die Augen voller jugendlichem Trotz. »Also? Hast du jetzt 'ne Kippe für mich, oder nicht?«
1. Kapitel
»Du hast ihm die Zigarette verweigert, hoffe ich.«
Devin klang so entrüstet, dass Colin lachen musste, obwohl ihm eigentlich zum Heulen zumute war. Seine kleine Schwester war tot. Gestorben bei einem schweren Autounfall. Und sie hatte ihren Sohn, seinen Neffen, zu ihm in die USA geschickt, damit er sich um ihn kümmerte. Colin hatte es im ersten Moment nicht geglaubt. Er hatte gedacht, Kilian wäre von zu Hause abgehauen und würde ihm nur eine Lüge auftischen. Er hatte es solange geglaubt, bis ihm die unterdrückten Tränen in Kilians Augen aufgefallen waren. Das war jetzt knapp zwei Stunden her, die Colin gebraucht hatte, um den ersten Schock zu verdauen, Kilian in die Wanne zu stecken, ihm etwas zu essen zu machen und anschließend dafür zu sorgen, dass sein Neffe ins Bett kam.
»Das ist nicht witzig. Er ist erst fünfzehn.«
»Und damit alt genug, um zu rauchen, Alkohol zu trinken, Sex zu haben und Drogen zu nehmen«, konterte Colin trocken und fuhr sich mit der Hand durchs Haar, als Devin am anderen Ende der Telefonleitung abfällig schnaubte. »Ich sage doch nur, wie es ist.«
»Das solltest du lieber nicht gegenüber Mum erwähnen, du weißt, wie sie über Drogen jeglicher Art denkt.«
»Sie hasst das Zeug. Genauso wie du, seit du trocken bist«, sagte Colin lässig und fragte sich im nächsten Augenblick, woher er die Ruhe dafür nahm.
»Wie kannst du bei der Situation noch Witze reißen?«
Colin lehnte sich seufzend auf der Couch zurück. Witze? Er machte keine Witze. »Hörst du mich lachen, Dev? Habe ich in den dreißig Minuten, die wir jetzt miteinander reden, auch nur ein Anzeichen in der Richtung gemacht?
»Scheiße«, murmelte Devin und Colin nickte.
»Ja, so kann man es auch ausdrücken.«
»Aber ...« Devin hielt inne und räusperte sich. »Versteh das nicht falsch, aber das ist Wahnsinn. Deine Schwester kann dir doch nicht einfach ihren Sohn ver... Ich weiß gar nicht, wie ich das nennen soll.«
»Mir geht’s nicht anders«, gab Colin zu und starrte auf den Wust an Papieren vor sich auf dem Couchtisch. »Aber ich habe es schwarz auf weiß und die Papiere sind echt, soweit ich das als Laie beurteilen kann. Gwens Testament, das Schreiben vom zuständigen Jugendamt in Irland, die Abtrittserklärung meiner Eltern ... Ich habe es hier vor mir liegen. Ich brauche nur zu unterschreiben, dass ich Kilian bei mir aufnehme, und schon geht die Sache ans zuständige Jugendamt in Philadelphia, die dann prüfen, ob er wirklich bei mir leben kann.«
Und das war etwas, das er eindeutig nicht begriff. Da starb eine Frau, hinterließ ein minderjähriges Kind und niemanden kümmerte das? So schien es Colin momentan zumindest, denn wie sollte er sich sonst erklären, dass Kilian offenbar ohne Begleitung hierher geflogen war. Wie war so etwas möglich? Wofür gab es eigentlich in den meisten zivilisierten Ländern so etwas wie Kinderschutz? Auch Irland hatte Jugendämter, die für solche Fälle zuständig waren. Er war nicht mal angerufen worden, dass Kilian auf dem Weg war. Dass seine Eltern ihn nicht über Gwens Tod informiert hatten, wunderte ihn nicht sonderlich, aber das sich kein Behördenmitarbeiter für Kilian zuständig gefühlt hatte, entsetzte Colin.
»Mein Gott, er ist ihr Enkel. Wie können deine Eltern ihn einfach abschieben und aus seinem bisherigen Umfeld reißen? Schlimm genug, dass seine Mutter tot ist, aber jetzt auch noch das?« Devin war unüberhörbar verärgert. »Dass sie sich einen Dreck um dich kümmern, bin ich ja schon gewöhnt, aber Kilian ist noch ein Kind. Ich hätte zumindest in dieser Hinsicht etwas Anstand von ihnen erwartet.«
»Sie wissen wahrscheinlich nicht mal, wie man dieses Wort schreibt«, meinte Colin verbittert und schüttelte den Kopf. Das gehörte nicht hierher. Der Bruch mit seinen Eltern war lange her und er würde daran nicht rütteln. Er hatte sich damals freiwillig entschieden, das Land für immer zu verlassen, aber ihn wurmte, dass sie ihren eigenen Enkel zu ihm abschoben, warum auch immer. »Lassen wir das. Ist besser so.«
Devin schwieg kurz. »Es tut mir so leid wegen Gwen.«
Colin lächelte gequält. »Mir auch. Danke, Dev.«
»Wo ist der Junge jetzt?«
Colin lauschte kurz, aber über ihm war alles ruhig. »Oben im Gästezimmer und schläft hoffentlich. Ich habe nicht ein vernünftiges Wort aus ihm rausgekriegt, aber außer einer Tasche mit Klamotten und einem Rucksack scheint er komplett abgebrannt zu sein. Ich verstehe das einfach nicht.«
»Hm«, machte Devin überlegend. »Hatte Gwen Probleme? Ich meine, warum schickt sie Kilian zu dir? Warum schreibt sie sogar ein Testament, um sicher zu stellen, dass der Junge zu dir kommt? Vielleicht ging es um Geld oder sie hatte sich mittlerweile auch mit euren Eltern überworfen.«
»Ich weiß es nicht.« Colin seufzte und schämte sich sofort dafür, aber es war nun mal nicht daran zu rütteln, dass er aus dem Leben seiner kleinen Schwester nicht gerade viel wusste. So hatte er es damals gewollt und Gwen hatte ihm deswegen nie einen Vorwurf gemacht. »Hoffentlich kann Kilian mir morgen mehr dazu sagen.«
Colin hoffte das nicht nur, er betete förmlich darum. Nicht dass er sonderlich gläubig war, aber im Moment war die ganze Geschichte so voller Löcher, dass er in ihr keinen roten Faden fand. Es musste einen Grund geben, warum Gwen ausgerechnet ihn als den Vormund für Kilian haben wollte und er musste wissen, warum seine Eltern ihren eigenen Enkel mit einem verdammten Stück Papier aus ihrem Leben verbannt hatten.
»Was ist eigentlich mit seinem Vater?«, fragte Devin nachdenklich und riss ihn damit aus seinen Grübeleien.
Colin verdrehte schnaubend die Augen. »Der wollte schon vor fünfzehn Jahren nichts von Kilian wissen. Sie mit siebzehn zu schwängern, das hatte er drauf, aber sich um sein Kind zu kümmern nicht. Bei dem Arsch bleibt Kilian bestimmt nicht.«
»Unterhalt?«, wollte Devin wissen.
»Hat er nie gezahlt und Gwen hat auch nicht darauf bestanden. Wir haben uns deswegen gestritten, aber sie meinte, lieber hätte sie drei Jobs, als auf die Almosen eines Geschäftsmannes angewiesen zu sein, der als Vater ein totaler Versager wäre.«
»Okay, das kann ich verstehen«, gab Devin zu und seufzte am anderen Ende. »Das soll man begreifen. Die Behörden schicken einen Teenager über den großen Teich, in der Hoffnung, dass du ihn zu dir nimmst? Ich meine, Hallo? Warum hat niemand Kilian zu dir begleitet? Warum hat sich kein Schwein bei dir gemeldet? Gwen wird ja kaum erst gestern gestorben sein.« Devin schnaubte. »In was für einer Welt leben wir eigentlich, wenn ein fünfzehnjähriger Junge mir nichts dir nichts in ein Flugzeug gesteckt wird? Wer hat ihn da hineingesetzt? Er kann sich das Ticket schlecht selbst gekauft haben.«
Genau diese Fragen hatte sich Colin schon alle gestellt, aber der einzige, der sie beantworten konnte, lag derzeit ein Stockwerk höher im Bett. »Ich lasse ihn erst mal schlafen und versuche morgen früh, ein paar Informationen aus ihm rauszukriegen.« Colin sah auf die Uhr. »Heute bringt das nichts mehr. Ich schätze, ich muss mir einen guten Anwalt suchen. Das Jugendamt wird wahrscheinlich bald vor meiner Tür stehen. Weißt du Adrians Nummer?«
»Nein, aber Dom hat sie.« Devin raschelte kurz herum. »Ich schicke ihm eine SMS. Mal sehen, wann er sich meldet.«
Colin lächelte unwillkürlich. Auf Devin war einfach immer und zu jeder Zeit Verlass. »Danke.«
»Nicht dafür.« Devin lachte leise. »Hast du dir schon überlegt, wie das ablaufen wird, wenn du ihn bei dir behältst? Ein Teenager. Das grausamste Alter überhaupt, frag meine Mum. Und wenn Kilian genauso gern in die Schule geht wie du, hast du noch einiges vor dir.«
Colin musste lachen. »So schlimm war ich gar nicht.«
»Von wegen. Du erinnerst dich nur nicht mehr daran«, hielt Devin hörbar grinsend dagegen. »Reiner Selbstschutz.«
»Pfft«, machte Colin, obwohl Devin nicht unrecht hatte. Als er in Kilians Alter gewesen war, hatte er ständig irgendwelchen Blödsinn ausgeheckt oder Entschuldigungen gefälscht, sobald er keine Lust auf die Schule gehabt hatte.
»Colin? Willst du ihn überhaupt zu dir nehmen?«
Die Frage hatte kommen müssen und für Colin gab es darauf nur eine Antwort. »Er ist mein Neffe. Denkst du ernsthaft, ich sehe tatenlos dabei zu, wie er in ein Heim gesteckt wird?«
Dieses Schicksal würde er Kilian nie im Leben aufbürden. Ihm war zwar klar, dass es auch glückliche Heimkinder gab, Devin bewies es ihm schließlich jeden Tag, aber Devins Eltern waren ohnehin etwas Besonderes. Menschen wie sie gab es nur äußerst selten und Colin hatte nicht vor, in Bezug auf Kilian das Glück herauszufordern. Er würde seinen Neffen nicht einfach abschieben, wie seine ach so wunderbaren Eltern es getan hatten. Er hatte vielleicht keine Ahnung von Kindererziehung, aber er hatte das, was seiner Meinung nach viel wichtiger war, nämlich den Willen, Kilian ein Zuhause zu geben. Colin lächelte traurig. Gwen war tot und ab sofort würde es sein Job sein, sich um ihren Jungen zu kümmern.
»Irgendwie habe ich genau diese Antwort erwartet«, meinte Devin mit einem hörbaren Lächeln in der Stimme. »Weißt du, es ist ... Warte mal kurz, hier piept was.«
Colin hörte Devin laut fluchen, dann raschelte es im Hintergrund, bevor sein Freund wieder da war. »Mein Handy ... Gut, wir reden morgen weiter. Dom hat sich gemeldet. Er hat Adrian in der Leitung, der dich gleich anrufen wird.«
»Um die Uhrzeit?«, fragte Colin verwundert, immerhin war es fast Mitternacht und morgen war ein normaler Arbeitstag.
»Isabell ist unruhig, was David und ihn wachhält, also will er wegen Kilian gleich mit dir reden. Und das heißt, wir zwei legen jetzt auf.«
Colin grinste. Ja, Babys waren etwas Tolles, wenn sie quengelig waren. Das hatte er nach Kilians Geburt selbst einmal erleben dürfen. »Ist gut. Bis morgen, Dev.«
»Und wehe, du rufst nicht an«, drohte Devin gespielt, was Colin leise lachen ließ.
»Würde ich mich nie wagen, dich nicht über alles zu informieren«, erklärte er amüsiert und legte auf, um keine fünf Sekunden später schon wieder abzunehmen, da sein Telefon erneut klingelte. »Was macht Isabell?«
»Ihre armen, übermüdeten Väter in den Wahnsinn treiben«, antwortete Adrian Quinlan trocken. »Hi, Colin. Wie geht’s deinem Neffen?«
»Hi, Adrian.« Colin zog die Beine an und machte es sich auf der Couch gemütlicher. »Schläft hoffentlich.« Adrians folgende Frage, wie es ihm selbst ging, irritierte Colin. »Mir?« Er überlegte kurz. »Keine Ahnung. Ich schätze, bei mir ist Gwens Tod noch nicht wirklich angekommen.«
»Mein Beileid.«
»Danke«, antwortete er ironisch und verdrehte die Augen darüber. Adrian hatte ihm nichts getan und es außerdem ehrlich gemeint. Manchmal benahm er sich wirklich unmöglich. »Sorry. Hat Dominic dir erzählt, was los ist?«
»Soweit er es von Devin wusste. Also. Schieß los. Was kann ich für dich tun?«
Adrian und David hatten ein Baby adoptiert, wenn also jemand wusste, was er jetzt tun musste, um Kilian ein Zuhause zu geben, dann war es dieser Anwalt. Auch wenn ihm Adrian Quinlan in gewisser Weise suspekt und manchmal auch ein wenig unheimlich war, weil dieser Mann einfach alles zu wissen schien, wusste Colin, dass er auf ihn zählen konnte, solange er ehrlich blieb. Daher erzählte er Adrian, was hier vor ein paar Stunden passiert war und was Gwen in ihrem Testament geschrieben hatte. Auch Kilians Nichtsnutz von Vater und die Stellungnahme seiner Eltern ließ er nicht aus, was Adrian zu einem Schnauben veranlasste, dennoch unterbrach der Anwalt ihn nicht, bis Colin zu Ende gesprochen hatte.
»Colin, bevor wir weiter reden, will ich zuerst von dir wissen ... Was willst du?«, fragte Adrian und die Antwort darauf war einfach, obwohl sie ihn gleichzeitig in Panik versetzte. Er hatte keine Ahnung von Kindern, trotzdem kam es für Colin auf gar keinen Fall infrage, Kilian wegzugeben. Wenn sein Neffe bei ihm bleiben wollte, würde Colin alle Hebel in Bewegung setzen, um dafür zu sorgen.
»Wenn er das will, möchte ich Kilian bei mir behalten«, sagte er und ignorierte die einsetzende Gänsehaut. Die kommenden Wochen und Monate würde ein Abenteuer der ganz besonderen Art werden, so viel stand jetzt bereits fest.
»Verstehe«, sagte Adrian und Colin konnte ihn am anderen Ende der Leitung fast nicken sehen. »Adoption?«
Adoption? Colin schauderte. Vielleicht sollte er es langsam anfangen. Eine Vormundschaft, wie Gwen es sich gewünscht hatte, und dann, mit der Zeit und wenn Kilian wollte, konnte er über eine Adoption nachdenken. Falls das überhaupt ging, immerhin war er ja sowieso Kilians leiblicher Onkel. Egal. Darüber würde er sich Gedanken machen, sobald es soweit war. Nicht jetzt, nicht heute Nacht, und auch nicht morgen. Im Moment war allein die Vorstellung, ab sofort für einen Teenager verantwortlich zu sein, erschreckend genug für Colin.
»Dieses Wort macht mir Angst«, gab er daher zu.
»Also gut ... Lass mich kurz überlegen ...« Colin hörte Adrian mit Papier rascheln. »Kommst du an ein Faxgerät?«
»Ja«, antwortete Colin und war insgeheim froh, dass Adrian das Thema Adoption nicht weiter besprechen wollte. »Wir haben eins in der Werkstatt. Das kann ich benutzen.«
»Gut, dann sieh zu, dass du mir morgen den ganzen Kram rüberschickst, den Kilian dir an Unterlagen mitgebracht hast. Ich gebe dir meine Kanzleinummer und sehe mir alles an, um eine Vormundschaft für dich zu beantragen. Sobald ich mehr weiß, melde mich bei dir, okay?«
Wenn es weiter nichts war, das bekam er hin. »Danke.«
»Kein Thema. Ich schicke dir eine Rechnung«, konterte der Anwalt lässig und Colin lachte.
»Mach das.«
»Spinner«, war Adrians Kommentar dazu. »Aber schon mal zu deiner Beruhigung. Nach dem, was du mir gerade erzählt hast, dürfte es kein Problem sein, dass der Junge erst mal bei dir bleibt. Wenn sich wer vom Jugendamt meldet, sag mir Bescheid. Lass dich ohne Termin auf nichts ein, verweise einfach an mich. Die werden nachsehen wollen, ob Kilian bei dir leben kann, das ist klar, aber ich will nicht, dass die euch beide überrennen, kapiert? Oh, und ich werde mich mit den Behörden in Irland in Verbindung setzen, dafür brauche ich eine Vollmacht von dir.«
»Wozu das?«, wollte Colin verdutzt wissen.
»Um herauszufinden, wie es möglich ist, dass ein Teenager mitten in der Nacht vor deinem Haus auftaucht. Ich will genau wissen, was sich auf dieser Insel nach dem Tod deiner Schwester abgespielt hat.«
Colin runzelte die Stirn. »Das kann ich auch Kilian fragen.«
Adrian schwieg kurz. »Nimm es nicht persönlich, aber dein Neffe könnte dich belügen. Offizielle Akten tun das im Allgemeinen nicht.«
Adrian hätte ihm genauso gut die Faust in den Magen rammen können. Andererseits, nachdem Colin kurz nachgedacht hatte, musste er dem Anwalt leider recht geben. Mit fünfzehn hatte er selbst bei jeder sich anbietenden Gelegenheit gelogen. Das bedeutete zwar nicht, dass Kilian genauso war, aber Adrian war nun mal Anwalt und konnte sich kaum auf das Wort eines Teenagers verlassen, ob der nun sein Neffe war oder nicht. Noch dazu, wo Kilian gerade seine Mutter verloren hatte.
»Offizielle Akten kann man allerdings fälschen«, wandte er ein, immerhin wusste er nur zu gut genug, wie so etwas funktionierte.
»Mag sein«, gab Adrian zu. »Allerdings kann dafür jemand seinen Job verlieren, wenn ich ihn dabei erwische und ich habe noch jeden erwischt, Colin. Und falls du damit auf deine niedliche Spielerei mit eurem Schulcomputer anspielst, als du mit sechzehn Jahren ...«
»Fuck!«, unterbrach er den Anwalt entsetzt und sprang von der Couch auf. Genau das meinte er damit, dass dieser Mann unheimlich war. »Woher, zum Teufel, weißt du davon?«, fragte er herrisch und hatte im nächsten Augenblick, als Adrian lachte, plötzlich so ein ungutes Gefühl, dass er gleich noch eins auf die Mütze bekam. »Und was weißt du noch?«, setzte er deswegen hinterher und verfluchte sich gleich darauf dafür, denn das Lachen hörte auf und der Anwalt sagte kein Wort. »Ich schätze, ich will es nicht wissen.«
»Doch, willst du. Du musst es auch, denn wenn du die Vormundschaft für Kilian willst, solltest du die regelmäßigen Besuche bei deinem Loverboy fürs Erste besser einstellen.«
Ein ganzer Kübel Eiswasser über seinem Kopf hätte nicht wirkungsvoller sein können. Colin schnappte nach Luft. Woher wusste dieser Kerl das alles über ihn? Okay, die Sache mit dem Schulcomputer war kein Geheimnis, immerhin war er dabei erwischt worden, aber über Mikael wusste niemand Bescheid. Nicht mal Devin. Kein einziger Mensch wusste, was er seit fünf Jahren regelmäßig nach Feierabend machte, weil er und sein Loverboy, wie Adrian ihn so abfällig genannt hatte, viel zu viel zu verlieren hatten, als dass sie das Risiko eingehen konnten, ihr kleines Verhältnis publik zu machen.
Colin setzte sich wieder hin, die freie Hand zur Faust geballt. »Du mieses Arschloch hast mir hinterher spioniert.«
»Informationen sind das halbe Leben, hat dir das noch nie jemand gesagt?«, konterte Adrian hörbar amüsiert, was ihn vor Wut knurren ließ.
»Das ist nicht witzig, Adrian.«
»Nein, ist es nicht«, pflichtete der Anwalt ihm gelassen bei. »Und normalerweise hätte ich darüber auch kein Wort verlauten lassen, aber du willst einen Fünfzehnjährigen bei dir aufnehmen und hast seit über fünf Jahren eine geheime Affäre mit einem verheirateten Geschäftsmann.«
Colin sprang wutentbrannt wieder auf. »Verdammte Scheiße, Adrian. Du hattest kein Recht, in meinem Leben herumzuschnüffeln.«
»Bin ich dein Anwalt, oder nicht?«
Totschlagargument.
Und das Schlimme daran war, dass Adrian das erstens ganz genau wusste und zweitens wieder einmal recht hatte. Wenn er jetzt ablehnte, würde das Thema vom Tisch sein, nur hätte er dann auch keinen Anwalt mehr. Colin war frustriert, weil er in der sprichwörtlichen Falle saß und Adrian wusste das genauso wie er selbst.
»Scheiße.«
»Wohl wahr«, meinte Adrian trocken und das war vermutlich dieser Anwaltston, von dem Devin ihm erzählt hatte. »Jetzt setz dich wieder hin und hör mir zu.«
»Woher ...? Ach, was rede ich überhaupt?« Colin verdrehte die Augen und setzte wieder hin. »Ich sitze.«
»Wie gesagt, normalerweise wäre es mir egal, mit wem du ins Bett steigst. Aber dem Jugendamt wird das nicht egal sein. Was glaubst du wohl, wie das aussieht, wenn sie davon Wind kriegen? Sie werden dich überprüfen. Dein Haus, deine Finanzen, deine Vergangenheit. Und du kannst mir glauben, wenn ich dir sage, dass diese Leute eher damit klarkommen würden, wenn du ein Ex-Knacki wärst, als mit der Tatsache, dass du mit einem Mann ins Bett steigst, der verheiratet ist. Also gewöhne dich daran, fürs Erste enthaltsam zu leben oder schaff dir eine Freundin an, McDermott.«
»Falsches Geschlecht«, murrte er angesäuert, was Adrian nicht die Bohne kümmerte.
»Das weiß ich, Colin, ich habe dich überprüft, so wie ich jeden überprüfe, der längerfristig in mein Leben tritt, wenn auch nur um drei Ecken.«
»Hast du Devin ...?«
»Nein! Das habe ich nicht und werde es auch nicht tun. Hörst du mir eigentlich zu?«, unterbrach Adrian ihn wütend. »Ich hätte nie etwas verlauten lassen, wenn es nicht notwendig gewesen wäre. Außerdem ist es nicht meine Aufgabe, darüber zu entscheiden, wer was aus deinem Leben wissen sollte. Mich erstaunt eher, dass du Devin nichts davon gesagt hast, immerhin ist er dein bester Freund.«
Das änderte nichts. Jedenfalls nicht für ihn. Colin schüttelte den Kopf, bis ihm einfiel, dass Adrian das nicht sehen konnte. »Es geht ihn nichts an. Genauso wenig wie dich.«
»Die Tatsache, dass dein Typ eine Menge zu verlieren hat, dürfte wohl zusätzlich entscheidend sein.«
»Adrian!«, zischte Colin warnend.
»Ich werde nicht weiter nachhaken«, lenkte Adrian umgehend ein. »Wie gesagt, halte dich die nächste Zeit bedeckt. Ach ja, sieh zu, dass Kilian schnellstmöglich auf einer Schule angemeldet wird. Es kommt bei den Behörden immer gut an, wenn du dich selbst um solche Dinge kümmerst.«
Colin nickte verstehend. »Ich erledige das gleich morgen.«
»In Ordnung. Jetzt nimm dir Zettel und Stift, damit ich dir die Faxnummer durchgeben kann. Wann bist du morgen in der Werkstatt? Beziehungsweise, wo willst du Kilian den Tag über lassen?«
Eine sehr gute Frage. Ihm fiel spontan nur eine Lösung ein. »Frank und Sally. Ich fahre gleich am Morgen rüber, frage sie, und dann geht’s in die Werkstatt. Im Notfall nehme ich ihn mit. Ich werde mir einige Tage freinehmen und ...« Colin brach ab, als ihm ein Gedanke kam. »Oh Mann, ich weiß ja nicht mal, wo in dieser Gegend eine gute Schule ist.«
»Such dir im Internet welche raus und seht sie euch dann gemeinsam an. Kilian ist alt genug, um mitzuentscheiden, auf welche Schule er in Zukunft gehen soll. Außerdem dürfte das Streit vermeiden, den ihr mit Sicherheit habt, wenn du ihm einfach eine Schule aufs Auge drückst.« Der Anwalt schwieg kurz. »Hat er Zeugnisse dabei? Die dürfte er brauchen.«
Colin zuckte die Schultern. »Keine Ahnung.«
»Frag ihn. Wenn er keine hat, melde dich. An seiner alten Schule müssen sie welche haben.«
Colin konnte nicht anders als zu grinsen. »Man merkt, dass du seit zwei Monaten Vater bist.«
Adrian lachte leise. »Frag lieber nicht, wie viele Elternratgeber ich mittlerweile gelesen habe.«
Colin erwiderte das Lachen, bevor er sich räusperte. »Also gut, wie war das? Keine Zusagen ohne dein Okay und die Vollmacht und alles andere schicke ich morgen per Fax mit zu dir rüber. Sonst noch was?« Adrian verneinte. »Dann gib mir deine Faxnummer.«
»Weißt du, worauf du dich mit der Sache einlässt?«, wollte Adrian danach wissen und die Frage wunderte Colin nicht.
Natürlich wusste er es nicht, woher auch? Die paar Treffen mit Gwen in den vergangenen Jahren, um seine Schwester und Kilian zu sehen, konnte er kaum als Erfahrung in puncto Erziehung zählen. »Nein, und ich habe eine Scheißangst deswegen.«
»Gute Antwort«, meinte Adrian daraufhin schlicht und Colin hörte im Hintergrund eine Tür klappen. »Ich komme gleich ins Bett, Trey ...« Murmeln folgte seinen Worten. »David lässt dich grüßen.«
Colin lächelte unwillkürlich. »Grüß ihn zurück.«
»Mache ich. Willst du einen Rat bezüglich Kilian?«
Ein Rat von Adrian Quinlan? Laut Dominic war man wirklich dämlich, so ein Angebot auszuschlagen. »Welchen?«, fragte Colin daher.
»Versuch nicht, der coole Onkel zu sein. Dein Neffe braucht einen Vater.«
Colin runzelte die Stirn. Wie sollte er Kilian ein Vater sein? Er hatte nur den Vergleich mit seinem eigenen Vater, der ihn im Stich gelassen hatte, und so was brauchte Kilian ganz sicher nicht. »Ich habe keine Ahnung, was es bedeutet, Vater zu sein.«
»Ich auch nicht«, hielt Adrian mit einem Lächeln in seiner Stimme dagegen. »Aber das wird mich nicht davon abhalten, Isabell für den Rest meines Lebens über alles zu lieben.«
2. Kapitel
»Nicht.« Colin hielt die Hand auf, die an seinem Knie Richtung Oberschenkel strich. »Ich bin nicht im Stimmung.«
Ein heiseres Lachen folgte seinen Worten. »Oh Schreck, das wäre mir nie aufgefallen«, wurde er geneckt, was ihn seufzen ließ. »Komm schon, Colin. Was ist los, dass du mich mitten in der Nacht in dieses Hotelzimmer zitierst und dann ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter ziehst? Hast du Ärger?«
»So könnte man es auch nennen«, gestand er und ließ sich tiefer in die Wanne sinken, in der sie lagen, seit er vor einer Stunde die Tür hinter Mikael geschlossen hatte.
Für Abschiedssex.
So hatte Colin es wenigstens geplant gehabt, aber seine Libido war anderer Meinung, denn er verspürte weder Lust noch irgendetwas anderes. Dazu ging ihm einfach zu viel im Kopf herum, seit er sich davon überzeugt hatte, dass Kilian schlief, und danach wie ein Dieb aus seinem eigenen Haus geschlichen war. Er, Colin McDermott, war mitten in der Nacht aus seinen vier Wänden in ein Hotelzimmer geschlichen, um Sex zu haben. Das klang nicht nur erbärmlich, das war erbärmlich. Noch dazu, wenn er bedachte, dass sein Neffe jetzt allein zu Hause war. Du liebe Zeit, was hatte ihn bloß geritten, hierherzukommen? Ein Anruf hätte es auch getan.
»Wie groß ist der Ärger? Brauchst du Hilfe?«
Hilfe? Von Mikael? Ein wirklich guter Witz. Colin verkniff sich ein böses Lachen und schnaubte stattdessen. »Von dem Kerl, den ich seit fünf Jahren ficke oder umgekehrt?«
»Nein«, hielt Mikael trocken dagegen. »Aber vielleicht von dem Kerl, der morgen früh wieder Besitzer dreier Edelrestaurants sein wird.«
»Ein verheirateter Besitzer«, vervollständigte Colin Mikaels Worte und runzelte im nächsten Moment die Stirn. Das hatte ihn vorher auch nie gestört, wieso fing er also jetzt so an?
»Seit wann stört dich das?«
Gute Frage, gestand sich Colin ein. Andererseits lag die Antwort auf der Hand, immerhin hätte er mit Mikael zusammen sein können, gäbe es dessen Frau nicht. Nicht dass er auch nur einen Funken Interesse daran hatte, eine Beziehung zu führen. Es ging ums Prinzip. Mikaels Ehefrau verdarb ihm den Sex für die kommenden Monate. Nun, eigentlich verdarb ihm Kilian den Sex. Colin stöhnte innerlich auf. Was dachte er da für einen Blödsinn? Was konnte sein Neffe dafür, wie er sein Leben führte? Gar nichts. Erbärmlich traf es nicht mal im Ansatz, wenn es darum ging, wie Colin sein Verhalten beschreiben sollte.
»Es macht die Sache komplizierter«, meinte er daher nichtssagend und dachte an Adrians Worte. »Aber um die Frage zu beantworten, nein, ich brauche kein Geld von dir.«
»Ich habe von Hilfe gesprochen, nicht von Geld«, wies Mikael ihn zurecht, was Colin mit einem gleichgültigen Schulterzucken kommentierte.
»Wir können uns die nächste Zeit nicht sehen.«
Mikael seufzte leise. »Wie lange willst du noch um den heißen Brei herumreden, McDermott?«
Colin verdrehte frustriert die Augen. So kam er nicht weiter. Aber das hatte er auch nicht anders erwartet. Nach mehr als fünf Jahren regelmäßiger Treffen in diversen Hotelzimmern kannten sie einander gut genug, um zu wissen, dass er Mikael Corvin, dem Besitzer von drei Edelrestaurants in Philadelphia, sagen konnte, was passiert war, ohne Gefahr zu laufen, dass er es an jemanden weitererzählen würde. Sie hatten beide einiges zu verlieren, falls ihr Techtelmechtel ans Licht kam. Mikael sogar viel mehr als er.
»Meine Schwester ist tot und hat mir ihren fünfzehnjährigen Sohn vererbt«, antwortete er und danach herrschte Schweigen. Das hatte scheinbar gesessen. »Schockiert?«
»Wundert dich das etwa?«, fragte Mikael im Gegenzug und nahm das sanfte Streicheln an seinem Knie wieder auf. Dieses Mal ließ Colin es zu.
»Nein. Mir ging es nicht anders.«
»Verstehe ich. Beziehungsweise, ich verstehe es nicht, aber jetzt ist mir klar, warum wir uns nicht mehr sehen können.«
Colin nickte. »Du hast zu viel zu verlieren.«
»Du auch«, konterte Mikael lässig und legte einen Arm um ihn, bevor er nach dem Schwamm griff, der auf dem Wannenrand lag. »Zumindest, wenn du deinen Neffen bei dir behalten möchtest.«
Ja, das wollte er. Gleichzeitig wurmte es ihn, dass er dafür gezwungen war, sein Leben über den Haufen zu werfen. Keine Sextreffen mit Mikael mehr, kein Ausgehen in Bars oder Clubs, kein ruhigen Abende daheim auf der Couch. Colin hatte keine Ahnung, wie er das schaffen sollte. Ob er es überhaupt konnte, geschweige denn wollte. Er hatte sich sein Leben als Single eingerichtet und stand auf einmal mit der Erziehung eines Teenagers da. Aber wie hätte er Kilian abweisen können? Colin war zwar nicht begeistert von der Situation, aber was das anging, hatten Kilian und er mit Sicherheit eine Menge gemeinsam.
»Würdest du deine Halbbrüder in so einer Situation vor der Tür stehen lassen?«, fragte er schließlich und seufzte zufrieden, als Mikael mit dem Schwamm sanft über seinen Bauch zu fahren begann.
Kurzes Schweigen. »Das kann ich nicht beantworten.«
»Zumindest bist du ehrlich«, meinte Colin und runzelte die Stirn, als ihm auffiel, dass ihm Mikaels Antwort absolut nicht gefiel. Drehte er jetzt völlig durch, oder was?
Die Stimmung war jetzt jedenfalls endgültig ruiniert, denn Mikael schnaubte und legte den Schwamm auf den Rand, um ihn danach in eine aufrechte Position zu schieben, damit er aus der Wanne steigen konnte. Colin zog die Beine an und stützte sich mit den Ellbogen auf seinen Knien ab, um Mikael zuzusehen, wie der sich abtrocknete. Irgendetwas lief gerade mächtig schief, das wusste er, konnte sich aber nicht aufraffen, sich für seinen Kommentar zu entschuldigen. Stattdessen zog er den Stöpsel aus der Wanne und richtete seinen Blick auf das ablaufende Wasser, das leise gurgelnd im Abfluss verschwand. Im nächsten Gulli, genau wie sein schönes, ruhiges Leben.
»Du bist gerade ziemlich egoistisch, ist dir das klar?«
Mikaels Stimme riss ihn aus seinem Selbstmitleid und Colin sah auf, um zusammenzuzucken, als er ihn neben sich sitzend auf dem Wannenrand entdeckte. »Was meinst du damit?«
»Ich bin Geschäftsmann und ich liebe mein Leben, so wie es ist. Mit meinem Haus, dem BMW und mit dir. Dass mein Vater nach dem Tod meiner Mutter wieder geheiratet und mir zwei Brüder beschert hat, die ich kaum sehe, ändert daran nichts. Ich habe nie über eigene Kinder nachgedacht, das gebe ich zu, aber ich würde auch nie einen unschuldigen Fünfzehnjährigen dafür verurteilen, dass er mein ach so ruhiges und perfektes Leben durcheinander bringt und genau das tust du gerade.«
»Das ist doch gar nicht wahr«, empörte sich Colin und sah Mikael wütend an. Was bildete der sich eigentlich ein?
»Und ob das wahr ist«, bekräftigte Mikael seine vorherigen Worte jedoch umgehend. »Dein Neffe hat eben erst seine Mutter verloren. Deine Schwester ist tot, Colin, und du sitzt hier und fragst dich, womit du es verdient hast, dass dieser Junge ... Wie heißt er überhaupt?«
»Kilian«, antwortete er trotzig und ärgerte sich prompt darüber.
»Dass Kilian dein Leben komplett über den Haufen wirft.« Mikael schüttelte tadelnd den Kopf. »Du bist alles, was er noch hat, wenn ich bedenke, was du mir über deine Eltern erzählt hast. Also wirst du dein Leben neu planen müssen, sofern du nicht willst, dass er im Heim landet, so einfach ist das.«
Also das schlug ja wohl dem Fass den Boden aus. Colin sah Mikael wütend an. »Warum fährst du nicht nach Hause zu deiner süßen Frau und gehst ihr auf die Nerven?«, fragte er angesäuert und verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust.
Mikael sah ihn kurz verblüfft an, dann grinste er und beugte sich vor, um ihm mit dem Finger gegen die Nasenspitze zu tippen, was Colin hasste, weshalb er Mikaels Hand mit einem Fluch auf den Lippen wegschlug, woraufhin der lachte und ihn dann im Nacken packte, um ihn hart zu küssen, bevor er sagte: »Du bist wirklich niedlich, wenn du sauer bist.«
»Niedlich?« Colin blickte sich nach dem Schwamm um, um ihn Mikael ins Gesicht zu schleudern, kam aber nicht dazu, da der seine Arme festhielt. »Lass mich los, du Idiot!«
»Du bist mir wichtiger als sie, das weißt du auch verdammt gut. Und jetzt sieh zu, dass du nach Hause kommst, bevor dein Kleiner noch mitkriegt, dass du weg bist.«
Colin zog ein finsteres Gesicht, als Mikael aufstand, hielt aber lieber den Mund, weil er weder wusste, was er sagen sollte, noch auf weiteren Streit sonderlich scharf war. Dieser ganze Abend war eine komplette Katastrophe und obwohl Colin das wurmte, hatte er den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden. Kilian war ab sofort wichtiger, als sein bequemes Leben, da hatte Mikael nun mal recht. Nicht dass er das ihm gegenüber freiwillig zugegeben hätte.
»Ruf mich an, wenn du Hilfe brauchst.«
»Bei einem Fünfzehnjährigen?«, fragte Colin spöttisch und stöhnte im nächsten Moment auf. »Vergiss es wieder. Ich habe nichts gesagt.«
Mikael sah ihn nachdenklich an. »Ich glaube nicht, dass es mir in deiner Situation anders gehen würde, deshalb sagte ich auch, dass du anrufen kannst, wenn du Hilfe brauchst.« Mikael zuckte mit den Schultern. »Oder einfach nur, wenn du mal reden willst.«
Mikael war schon lange verschwunden, da starrte Colin immer noch total verdattert die offenstehende Badezimmertür an. Reden? Mikael und er redeten im Allgemeinen nicht, sie hatten Sex. Natürlich waren vor oder nach selbigem schon mal private Dinge zur Sprache gekommen, aber so ein Angebot hatte Mikael ihm noch nie gemacht und er umgekehrt auch nicht. Colin schüttelte irritiert den Kopf. Er hatte keine Ahnung, was er von der Sache halten sollte, und da er auch so schon genug andere Dinge im Kopf hatte, entschied er, während er aus der längst leeren Wanne stieg, Mikaels letzten Satz einfach zu ignorieren.
Es war besser so, ganz sicher.
»Du hättest mir wenigstens einen Zettel schreiben können«, wurde ihm vorgeworfen, da hatte er gerade erst das Haus betreten. Colin warf die Tür hinter sich zu und ging ins Wohnzimmer, von wo aus Kilians Stimme gekommen war. Sein Neffe saß auf der Couch und musterte ihn von oben bis unten, bevor er sich wieder dem Fernseher zuwandte, in dem eine wilde Verfolgungsjagd lief. »Mum hat immer einen Zettel geschrieben, wenn sie abends länger wegblieb.«
»Bin ich vielleicht deine Mum?«, fragte er angepisst, weil er immer noch auf Mikael sauer war. Und auf sich selbst, die Situation, einfach auf alles und jeden.
Kilians Blick blieb auf den Fernseher gerichtet. »Nein, denn dann wärst du genauso tot wie sie.«
Colin atmete tief durch und schluckte die hämische Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag, wieder runter. Es fehlte nur noch ein Wort, dann würden sie sich an die Gurgel springen, das spürte er, und nur die Tatsache, dass er es mit einem Teenager zu tun hatte, der sein Neffe war, hielt Colin davon ab, die Zügel aus der Hand zu geben. Hätte ihm jetzt Dominic gegenübergestanden, so wie in Tonys Boxring letztes Jahr, wären bereits die Fäuste geflogen.
»Komm in die Küche!«, befahl Colin, als er seiner Stimme wieder traute und ging in die Küche, um zwei Tassen aus dem Schrank zu nehmen und für Kilian und sich heiße Schokolade zu machen.
Laut Sally waren eine heiße Schokolade oder Kakao immer gut, um die Nerven zu beruhigen, und da Devins Mutter zwei nicht gerade einfache Kinder großgezogen hatte, war auf ihre Tipps Verlass. Das hatte er schon des Öfteren festgestellt, was auch mit ein Grund dafür war, dass es in seinem Haus immer Süßkram zu finden gab. Colin grinste, als er sich erinnerte, wie Devin mal seinen Schokoladenvorrat geplündert hatte. Warum, wusste er nicht mehr, aber er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er die Schublade nach einem missglückten Date leer vorgefunden hatte und dann mitten in der Nacht zu Devin gefahren war, um ihn deshalb anzubrüllen. Sehr zur Belustigung der Nachbarschaft, inklusive Devins Eltern Frank und Sally.
Colin sah auf, als Kilian schließlich in die Küche geschlurft kam. Der Junge hatte lange gebraucht, aber damit hatte er gerechnet. Um ehrlich zu sein, war er sogar davon ausgegangen, dass sein Neffe überhaupt nicht auf ihn hören würde. Er selbst hätte es jedenfalls nicht getan. Colin schüttelte die Vergangenheit ab und deutete auf den freien Stuhl ihm gegenüber, während er sich hinsetzte.
»Setz dich.« Kilian sah ihn misstrauisch an. »Bitte«, bat er und schob Kilian die Tasse mit der heißen Schokolade zu. Das funktionierte, denn der Junge setzte sich. »Ich weiß, wir kennen uns nicht, obwohl du mein Neffe bist, und dass ich daran eine Mitschuld trag, ist mir mehr als bewusst.« Colin trank einen Schluck, ehe er weitersprach. »Da dir wichtig ist, dass ich eine Nachricht hinterlasse, mache ich es in Zukunft, okay?«
»Ich dachte, du wärst abgehauen«, sagte Kilian und sah ihn vorwurfsvoll an.
»Wieso sollte ich?«, fragte er verblüfft. »Das ist mein Haus. Da haue ich kaum ...« Der Groschen fiel und er fiel laut. Sehr laut sogar. Colin stöhnte innerlich auf. »Um eines klarzustellen, Kilian, wenn ich dich nicht in meinem Haus haben wollte, hätte ich dich gestern Abend auch nicht reingelassen.«
»Wieso schiebst du mich nicht ans Jugendamt ab?«, fragte Kilian trotzig und dazu fiel Colin erst mal nichts ein. Sein Neffe war wirklich der Meinung, bei ihm komplett unerwünscht zu sein. Himmel noch mal.