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Inhaltsverzeichnis

Das Buch
Der Autor
Danksagung
Widmung
Vorbemerkung des Autors
I - Flüstern
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
II - Kryptogramm
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
III - Beute
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
IV - Kuss
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
V - Hilfe
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
VI - Enttarnung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
VII - Klartext
Kapitel 1
Kapitel 2
Copyright

Danksagung

Allen ehemaligen Angestellten von Bletchley Park, die mir von ihren Erfahrungen aus der Kriegszeit berichtet haben, schulde ich aufrichtigen Dank. Insbesondere danke ich Sir Harry Hinsley (Marineabteilung, Baracke 4), Margaret Macintyre und Jane Parkinson (Dechiffrierraum, Baracke 6), dem verstorbenen Sir Stuart Milner-Barry (ehemaliger Leiter von Baracke 6), Joan Murray (Baracke 8) und Alan Stripp (Japanische Chiffren).

Roger Bristow, Tony Sale und ihre Kollegen vom Bletchley-Park-Trust beantworteten meine Fragen und gestatteten mir jederzeit, das Gelände aufzusuchen.

Keiner dieser entgegenkommenden Leute trägt irgendeine Verantwortung für den Inhalt dieses Buches, das ein Werk der Phantasie, nicht der Befragung ist.

Allen Lesern, die sich für die Fakten interessieren, auf denen dieser Roman basiert, empfehle ich die folgenden Werke: Top Secret Ultra von Peter Calvocoressi (London, 1980), Codebreakers, Hrsg. F. H. Hinsley und Alan Stripp (Oxford, 1993), Seizing the Enigma von David Kahn (Boston, USA, 1991) The Enigma Symposium von Hugh Skillen (Middlesex, 2 Bände, 1992 und 1994) und The Hut 6 Story von Gordon Welchman (New York, 1982).

Details über die Aktionen im Nordatlantik stammen aus den entschlüsselten Originalfunksprüchen der U-Boote, die sich heute im Public Record Office in London befinden, und außerdem aus Convoy von Martin Middlebrook (London, 1976) und Critical Convoy Battles of March 1943 von Jürgen Rohwer (London, 1977).

Schließlich möchte ich meinen Lektoren, Sue Freestone und David Rosenthal, danken, denn sie haben ihren Glauben an Enigma nie verloren, auch dann nicht, wenn es dem Autor selbst ein Rätsel war.

Robert Harris
Juni 1995

Der Autor

Robert Harris, geboren 1957, studierte in Cambridge Geschichte. Nach dem Studium arbeitete er für die BBC als Reporter und für den Observer als politischer Redakteur. Nach drei veröffentlichten Sachbüchern gelang ihm mit seinem Roman Vaterland der große Durchbruch als Schriftsteller. Alle folgenden Romane wurden Weltbestseller. Robert Harris lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern in Berkshire.

1

Cambridge im vierten Kriegswinter: eine Geisterstadt.

Ein unaufhörlicher eisiger Wind, den über tausend Meilen hinweg nichts hatte aufhalten können, peitschte von der Nordsee herein und fegte über die flache Landschaft. Er ließ die Wegweiser zu den Luftschutzbunkern in Trinity New Court klappern und hämmerte gegen die mit Brettern vernagelten Fenster der King’s College Chapel. Er strich durch die Innenhöfe und Treppenhäuser und zwang die wenigen verbliebenen Lehrer und Studenten, in ihren Zimmern zu bleiben. Am Spätnachmittag waren die engen, mit Kopfstein gepflasterten Straßen menschenleer. Als die Nacht hereinbrach, lag die Universität, in der kein Licht zu sehen war, in völliger Dunkelheit, wie sie es seit dem Mittelalter nicht mehr erlebt hatte. Es hätte nur noch eine Prozession von Mönchen gefehlt, die auf ihrem Weg zur Abendandacht über die Magdalene Bridge zog.

In der kriegsbedingten Verdunkelung verlor man jedes Gefühl für die Zeit.

In diesen düsteren Flecken im Flachland Ostenglands kam Mitte Februar 1943 ein junger Mathematiker namens Thomas Jericho. Die Verwaltung seiner Schule, des King’s College, hatte nicht einmal einen Tag Zeit, sich auf seine Ankunft einzustellen. Es reichte gerade, um seine Zimmer wieder herzurichten, sein Bett zu beziehen und den Staub von mehr als drei Jahren von den Regalen und Teppichen zu kehren. Und sie hätten sich nicht einmal diese Mühe gemacht – schließlich war Krieg und Personal äußerst rar –, hätte nicht der Rektor höchstpersönlich in seinem Büro einen Anruf von einem ihm unbekannten, aber hochrangigen Beamten des Außenministeriums erhalten. Dieser äußerte die Bitte, man möge »sich um Mr. Jericho kümmern, bis er soweit wiederhergestellt ist, daß er seiner Arbeit nachgehen kann«.

»Natürlich«, hatte der Rektor erwidert, der mit dem Namen Jericho beim besten Willen kein Gesicht verbinden konnte. »Natürlich. Wir freuen uns, ihn wieder bei uns zu haben.«

Noch während des Gesprächs schlug er das College-Register auf und blätterte darin, bis er auf den Namen stieß: Jericho, T. R. G.; immatrikuliert 1935; Jahrgangsbester in Mathematik 1938; Junior Research Fellow mit einem Jahresgehalt von 200 Pfund; seit Ausbruch des Krieges nicht mehr an der Universität gesehen worden.

Jericho? Jericho? Für den Rektor war er bestenfalls eine vage Erinnerung, der verschwommene Fleck eines jungen Mannes auf einem Collegephoto. Früher hätte er sich vielleicht an den Namen erinnert, aber der Krieg hatte den gleichmäßigen Rhythmus von Immatrikulation und Abschlußprüfung durcheinandergebracht, und alles lag im Chaos – der Pitt Club war jetzt ein Britisches Restaurant, im Park von St. John wuchsen Kartoffeln und Zwiebeln ...

»Er hat in letzter Zeit an Dingen von größter nationaler Wichtigkeit gearbeitet«, fuhr der Anrufer fort. »Wir wären Ihnen sehr verbunden, wenn man ihn ungestört ließe.«

»Selbstverständlich«, sagte der Rektor. »Selbstverständlich. Ich werde veranlassen, daß er seine Ruhe hat.«

»Haben Sie vielen Dank.«

Der Beamte legte auf. Dinge von größter nationaler Wichtigkeit, bei Gott ... Der alte Mann wußte, was das bedeutete. Er legte den Hörer auf die Gabel und betrachtete ihn einen Augenblick lang nachdenklich, dann machte er sich auf die Suche nach dem Verwalter.

 

Ein College in Cambridge ist ein Dorf mit der Klatschsucht eines Dorfes, zumal dann, wenn dieses Dorf zu neun Zehnteln leersteht. Daher löste die Rückkehr von Jericho beim Personal des Colleges stundenlange Spekulationen aus.

Da waren als erstes die Umstände seiner Ankunft, nur wenige Stunden nach dem Anruf beim Rektor, spät an einem verschneiten Abend. Er saß, in eine Reisedecke gehüllt, auf dem Rücksitz eines höhlenartigen Dienst-Rovers, der von einer jungen Frau in der dunkelblauen Uniform der Marinehelferinnen gefahren wurde. Kite, der Pförtner, der sich erboten hatte, das Gepäck des Gastes in dessen Wohnung zu tragen, berichtete, Jericho habe seine beiden ramponierten Lederkoffer umklammert und sich geweigert, sie aus der Hand zu geben, und das, obwohl er so blaß und mitgenommen aussah, daß Kite bezweifelte, ob er es schaffen würde, ohne Hilfe die Wendeltreppe hinaufzukommen.

Dorothy Saxmundham, die Aufwartefrau, sah ihn als nächste, als sie am folgenden Tag zum Saubermachen erschien. Er lag gegen die Kissen gelehnt und starrte hinaus in den Schneeregen, der über den Fluß hinwegpeitschte, und er drehte nicht einmal den Kopf, sah sie nicht ein einziges Mal an, schien überhaupt nicht zu wissen, daß sie da war, der arme Mann. Dann war sie im Begriff, einen seiner Koffer beiseite zu schieben, und er fuhr hoch wie der Blitz – »Bitte, rühren Sie den nicht an, vielen Dank, Mrs. Sax, vielen Dank« – , und fünfzehn Sekunden später stand sie wieder draußen auf dem Flur.

Er hatte nur einen Besucher: den Collegearzt, der zweimal zu ihm kam, jeweils ungefähr eine Viertelstunde blieb und dann wortlos wieder verschwand.

In der ersten Woche nahm er sämtliche Mahlzeiten in seinem Zimmer ein – nicht, daß er viel aß, wie Oliver Bickerdyke, der in der Küche arbeitete, berichtete; er brachte ihm dreimal täglich ein Tablett hinauf, nur um es eine Stunde später nahezu unberührt wieder abzuholen. Bickerdykes großer Coup, der für mindestens eine Stunde Gesprächsstoff am Kohleofen in der Pförtnerloge lieferte, bestand darin, daß er den jungen Mann bei der Arbeit an seinem Schreibtisch überraschte, mit einem Mantel über dem Schlafanzug, einem Schal und Handschuhen. Normalerweise hielt Jericho die schwere äußere Eichentür seines Arbeitszimmers fest geschlossen  – er hatte höflich darum gebeten, sein Tablett draußen abzustellen. Aber an diesem speziellen Morgen, sechs Tage nach seiner dramatischen Ankunft, stand sie einen Spaltbreit offen. Bickerdyke klopfte ganz bewußt so leise an, daß kein lebendes Wesen, vielleicht mit Ausnahme einer grasenden Gazelle, es hätte hören können, und schon war er über die Schwelle und bis auf einen Meter an seine Beute heran, bevor Jericho sich umdrehte. Bickerdyke hatte gerade noch Zeit, Stapel von Papieren wahrzunehmen (»mit Zahlen und Schaltplänen und griechischen Buchstaben und so«), bevor die Arbeit hastig zugedeckt und er hinausgescheucht wurde. Von da an war die Tür immer verschlossen.

Als Dorothy Saxmundham am nächsten Nachmittag Bickerdykes Geschichte hörte, wollte sie sich nicht übertrumpfen lassen und fügte ein eigenes Detail hinzu. Mr. Jericho hatte eine kleine Gasheizung in seinem Wohnzimmer und einen Kamin in seinem Schlafzimmer. In diesem Kamin, den sie am Morgen saubergemacht hatte, war offensichtlich Papier verbrannt worden.

»Könnte die Times gewesen sein«, meinte Kite dazu. »Ich lege ihm jeden Morgen ein Exemplar vor die Tür.«

Nein, erklärte Mrs. Sax. Es war nicht die Times. Die Zeitungen lagen noch gestapelt neben dem Bett. »Er scheint sie nicht zu lesen, soweit ich sehen konnte. Er löst nur das Kreuzworträtsel.«

Bickerdyke meinte, er könnte Briefe verbrannt haben. »Vielleicht Liebesbriefe«, fügte er mit anzüglichem Grinsen hinzu.

»Liebesbriefe? Der? Kann ich mir nicht vorstellen.« Kite nahm seinen uralten Bowler ab, inspizierte die abgeschabte Krempe und setzte ihn bedächtig wieder auf seinen kahlen Kopf. »Außerdem hat er keine Briefe bekommen, keinen einzigen, seit er hier ist.«

Und so sahen sie sich zu dem Schluß gezwungen, daß das, was Jericho im Kamin verbrannt hatte, seine Arbeit war – so geheime Arbeit, daß niemand auch nur Bruchstücke ihres Abfalls sehen durfte. Mangels eindeutiger Fakten wurden nun endlose Vermutungen angestellt. Er war ein Wissenschaftler im Dienst der Regierung, entschieden sie. Nein, er arbeitete für den Geheimdienst. Nein, nein – er war ein Genie. Er hatte einen Nervenzusammenbruch. Seine Anwesenheit in Cambridge war ein Staatsgeheimnis. Er hatte Freunde in hohen Positionen. Er war von Mr. Churchill empfangen worden. Er war vom König empfangen worden ...

Und mit all diesen Spekulationen lagen sie absolut und vollkommen richtig, nur hatten sie nicht das Glück, es zu erfahren.

 

Drei Tage später, am Freitag morgen, dem 26. Februar, erhielt das Geheimnis neue Nahrung.

Kite sortierte die Morgenpost und verteilte einen kleinen Haufen von Briefen auf die wenigen Fächer, deren Besitzer noch im College wohnten, als er auf nicht nur einen, sondern drei Umschläge mit der Aufschrift T. R. G. Jericho Esq. stieß, die ursprünglich c/o The White Hart Inn, Shenley Church End, Buckinghamshire, adressiert und an das King’s College nachgesandt worden waren. Einen Augenblick lang war Kite verblüfft. War der merkwürdige junge Mann, für den sie sich eine so exotische Identität ausgedacht hatten, in Wirklichkeit der Geschäftsführer eines Lokals? Er schob sich die Brille auf die Stirn, hielt den Umschlag auf Armeslänge von sich und schaute blinzelnd auf den Poststempel.

Bletchley.

An der hinteren Wand der Pförtnerloge hing eine alte Karte des dicht besiedelten, von Cambridge, Oxford und London begrenzten Dreiecks von Südengland. Bletchley war ein Eisenbahnknotenpunkt genau in der Mitte zwischen den beiden Universitätsstädten, und Shenley Church End war ein winziges Nest ungefähr sechs Kilometer nordwestlich davon.

Kite betrachtete den interessantesten der drei Umschläge. Er hob ihn an seine knollige, von blauen Äderchen durchzogene Nase. Er roch daran. Er hatte mehr als vierzig Jahre lang Post sortiert und erkannte die Handschrift einer Frau auf dem ersten Brief: klarer und säuberlicher, schwungvoller und weniger kantig als die eines Mannes. Auf dem Gaskocher hinter dem Ofen dampfte ein Wasserkessel. Er sah sich um. Es war noch keine acht Uhr und draußen noch nicht richtig hell. Binnen Sekunden war er in dem Alkoven im hinteren Teil des Raums und hielt den Umschlag mit der zugeklebten Seite über den Dampf. Er war aus dünnem, schäbigem Kriegspapier, mit billigem Klebstoff verschlossen. Die Klappe wurde rasch feucht, wellte und öffnete sich, und Kite zog eine Karte heraus.

Er hatte sie gerade gelesen, als er hörte, wie die Tür zur Pförtnerloge geöffnet wurde. Ein Windstoß ließ die Fenster klappern. Er steckte die Karte hastig wieder in den Umschlag, tauchte den kleinen Finger in den Leimtopf, der neben dem Ofen stand, und drückte die Klappe an. Dann schaute er scheinbar gelassen um die Ecke, um zu sehen, wer hereingekommen war. Ihn hätte fast der Schlag getroffen.

»Großer Gott – Morgen – Mr. Jericho – Sir ...«

»Ist irgendwelche Post für mich gekommen, Mister Kite?« Jerichos Stimme klang halbwegs kräftig, aber er schien leicht zu schwanken und hielt sich am Tresen fest wie ein Matrose, der nach einer langen Reise gerade erst an Land gekommen war. Er war ein blasser junger Mann, ziemlich klein, mit dunklem Haar und dunklen Augen, die die Blässe seiner Haut noch zu unterstreichen schienen.

»Nicht daß ich wüßte, Sir. Ich sehe noch einmal nach ...«

Kite zog sich würdevoll in den Alkoven zurück und versuchte, den feuchten Umschlag mit dem Ärmel zu bügeln. Er war nur leicht gewellt. Er schob ihn zwischen einen Stapel von Briefen, kam wieder nach vorn und vollführte eine pantomimische Glanzleistung, wie er selbst befand, indem er so tat, als durchsuchte er ihn.

»Nein, nichts, nein. Oh ... doch, hier ist etwas. Tatsächlich. Und noch zwei.« Kite schob sie über den Tresen. »Ihr Geburtstag, Sir?«

»Gestern.« Jericho steckte die Briefe in die Innentasche seines Mantels, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen.

»Herzlichen Glückwunsch nachträglich, Sir.« Kite sah zu, wie die Briefe verschwanden, und seufzte innerlich vor Erleichterung. Er verschränkte die Arme und stützte sie auf den Tresen. »Darf ich mir eine Vermutung über Ihr Alter erlauben, Sir? Sie sind ’35 hergekommen, wenn ich mich recht erinnere. Bedeutet das, daß Sie sechsundzwanzig geworden sind?«

»Ist das meine Zeitung, Mr. Kite? Vielleicht kann ich sie gleich mitnehmen. Erspart Ihnen die Mühe.«

Kite grunzte, stemmte sich wieder hoch und langte nach der Zeitung. Als er sie ihm aushändigte, unternahm er einen letzten Versuch, sich mit ihm zu unterhalten, indem er sich über den befriedigenden Verlauf des Krieges in Rußland seit Stalingrad äußerte und daß Hitler bald am Ende wäre, wenn man ihn frage – aber er, Jericho, sei über diese Dinge bestimmt besser auf dem laufenden als er, Kite ... ?

Der jüngere Mann lächelte nur.

»Ich bezweifle, ob mein Wissen über irgend etwas so auf dem laufenden ist wie das Ihre, Mr. Kite, nicht einmal über mich selbst. In Anbetracht Ihrer Methoden.«

Einen Augenblick lang war Kite nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. Er starrte Jericho an, der seinen Blick erwiderte und ihm mit seinen dunkelblauen Augen standhielt, in denen unvermittelt ein Funke Leben aufgeglommen war. Dann, immer noch lächelnd, nickte Jericho ein »Guten Morgen«, klemmte sich seine Zeitung unter den Arm und war verschwunden. Kite schaute ihm durch das Sprossenfenster der Pförtnerloge nach – eine schlanke Gestalt im rotweißen Collegeschal, unsicher auf den Beinen, den Kopf gegen den Wind gesenkt. »Meine Methoden«, wiederholte er leise. »Meine Methoden?«

Als sich das Trio an diesem Nachmittag wie üblich zum Tee um den Ofen scharte, konnte er eine völlig neue Erklärung für Jerichos Anwesenheit in ihrer Mitte liefern. Natürlich durfte er nicht verraten, wie er an seine Information gekommen war, nur, daß sie aus sehr zuverlässiger Quelle stammte (er machte Andeutungen über ein Gespräch von Mann zu Mann). Kite vergaß seinen früheren Spott über Liebesbriefe und versicherte jetzt, daß der junge Mann ganz offensichtlich an gebrochenem Herzen litt.

2

Jericho öffnete seine Briefe nicht sofort. Statt dessen zog er die Schultern ein und stemmte sich gegen den Wind. Nach einer Woche in seinem Zimmer bewirkte die Menge von Sauerstoff, die ihm ins Gesicht geblasen wurde, daß er sich leicht benommen fühlte. Er bog am Versammlungsraum der Erstsemester nach rechts ab und folgte dem Plattenweg, der durch das College und über die kleine gewölbte Brücke zu den dahinterliegenden Rieselwiesen führte. Links von ihm lag die Aula des Colleges, zu seiner Rechten, jenseits einer ausgedehnten Rasenfläche , ragte die mächtige, zerklüftete Fassade der Chapel auf. Eine kleine Kolonne von Chorknaben zog mit flatternden Gewändern in ihrem grauen Windschatten entlang.

Er blieb stehen, und eine Bö versetzte ihm einen so heftigen Stoß, daß er einen halben Schritt zurücktreten mußte. Von einer Seite des Weges zweigte ein steinerner Durchgang ab, dessen Bogen von unbeschnittenem Efeu überwuchert war. Aus Gewohnheit sah er zu den Fenstern im zweiten Stock hinauf. Sie waren dunkel, die Läden geschlossen. Auch hier hatte der Efeu ungehindert wuchern können, so daß mehrere der kleinen, rautenförmigen Fenster hinter dichtem Laub verschwunden waren.

Er zögerte, dann verließ er den Weg und trat in die Dunkelheit unter dem Bogen.

Die Treppe sah noch genauso aus, wie er sie in Erinnerung hatte, nur daß dieser Flügel jetzt geschlossen war und der Wind tote Blätter in den Treppenschacht geweht hatte. Eine alte Zeitung wickelte sich um seine Beine wie eine hungrige Katze. Er drückte auf den Lichtschalter, es klickte, doch es kam kein Licht. Die Glühbirne fehlte. Trotzdem konnte er den Namen erkennen, einen von dreien, die in eleganten weißen Großbuchstaben auf eine Holztafel gemalt waren, die gesprungen und verblichen war.

TURING, A. M.

Wie nervös war er diese Stufen zum erstenmal hinaufgestiegen  – wann? Im Sommer ’38? Vor einer halben Ewigkeit –, um einen Mann aufzusuchen, der kaum fünf Jahre älter war als er, aber schüchtern wie ein Erstsemester. Der große Alan Turing, Autor des Werkes On Computable Numbers und Vordenker der universellen Rechenmaschine ...

Turing hatte ihn gefragt, welches Thema er sich für sein erstes Forschungsjahr ausgesucht habe.

»Riemanns Theorie der Primzahlen.«

»Aber ich arbeite selbst an Riemann.«

»Ich weiß«, war Jericho herausgeplatzt. »Deshalb habe ich mich ja für ihn entschieden.«

Und Turing hatte gelacht über diese unverhohlene Zurschaustellung von Heldenverehrung und sich bereit erklärt, Jericho bei seiner Arbeit zu unterstützen, obwohl er das Unterrichten haßte.

Jetzt stand Jericho auf dem Treppenabsatz und versuchte, Turings Tür zu öffnen. Sie war natürlich abgeschlossen. Seine Hand war voller Staub. Er versuchte sich zu erinnern, wie das Zimmer ausgesehen hatte. Ausgesprochen chaotisch. Der Fußboden war übersät mit Büchern, Notizen, Briefen, schmutzigen Kleidungsstücken, leeren Flaschen und Konservendosen. Auf dem Sims über der Gasheizung hatte ein Teddybär namens Porgy gesessen, und in einer Ecke lehnte eine ramponierte Geige, die Turing bei einem Trödler erstanden hatte.

Turing war zu schüchtern gewesen, als daß man ihn wirklich hätte kennenlernen können, und ab Weihnachten 1938 ließ er sich fast überhaupt nicht mehr sehen. Er sagte Verabredungen zu Besprechungen in letzter Minute mit der Begründung ab, er müsse nach London. Oder Jericho stieg diese Treppe hinauf und klopfte, doch es kam keine Antwort, obwohl Jericho genau spürte, daß er zu Hause war. Als die beiden Männer sich um Ostern 1939, nicht lange nach dem Einmarsch der Nazis in Prag, endlich doch einmal trafen, hatte Jericho seinen ganzen Mut zusammengenommen und gesagt: »Also, Sir, wenn Sie nicht mein Tutor sein möchten ...«

»Das ist es nicht.«

»Oder wenn Sie mit Riemanns Hypothese weitergekommen sind und das für sich behalten wollen ...«

Turing hatte gelächelt. »Ich versichere Ihnen, Tom, ich bin mit Riemann keinen Schritt weitergekommen.«

»Aber was ...«

»Es geht nicht um Riemann.« Und dann hatte er, sehr leise, hinzugefügt: »Wie Sie wissen, passieren in der Welt jetzt Dinge, die nichts mit Mathematik zu tun haben ...«

Zwei Tage später hatte Jericho in seinem Postfach eine Nachricht vorgefunden. »Bitte kommen Sie heute abend auf ein Glas Sherry in meine Wohnung. F. J. Atwood.«

Jericho drehte Turings Tür den Rücken zu. Er fühlte sich sehr schwach. Er hielt sich am Geländer fest und stieg wie ein alter Mann vorsichtig die Treppe hinab.

Atwood. Niemand lehnte eine Einladung von Atwood ab, Professor für Alte Geschichte, Dekan des Colleges, noch bevor Jericho überhaupt geboren war, ein Mann mit einem Netz von Verbindungen zu Whitehall. Es kam einer Vorladung durch Gott gleich.

»Sprechen Sie irgendwelche Fremdsprachen?« war Atwoods erste Frage gewesen, als er den Sherry einschenkte. Er war ein Mann in den Fünfzigern, Junggeselle, mit dem College verheiratet. In dem Regal hinter ihm standen unübersehbar seine Bücher. Die Kriegskunst der Griechen und Makedonier. Caesar als Schriftsteller. Thukydides und seine Geschichte.

»Nur Deutsch.« Jericho hatte es als Schüler gelernt, um die großen Mathematiker des neunzehnten Jahrhunderts, Gauß, Kummer, Hilbert, lesen zu können.

Atwood hatte genickt und ihm einen winzigen Schluck sehr trockenen Sherrys in einem Kristallglas gereicht. Er folgte Jerichos Blick auf seine Bücher. »Kennen Sie zufällig Herodot? Und die Geschichte von Histiaios?«

Es war eine rhetorische Frage; die meisten von Atwoods Fragen waren rhetorisch.

»Histiaios wollte vom persischen Hof aus seinem Schwiegersohn, dem Tyrannen Aristagoras in Milet, eine Nachricht zukommen lassen und ihn auffordern, einen Aufstand anzuzetteln. Aber er fürchtete, daß eine solche Botschaft abgefangen werden könnte. Seine Lösung bestand darin, daß er seinem treuesten Sklaven den Kopf scheren ließ, ihm die Botschaft auf den nackten Schädel tätowierte, wartete, bis das Haar nachgewachsen war, und ihn dann zu Aristagoras schickte mit der Anweisung, ihm die Haare zu schneiden. Unzuverlässig, aber in diesem Fall von Erfolg gekrönt. Auf Ihr Wohl.«

Jericho erfuhr später, daß Atwood diese Geschichte all seinen neuen Studenten erzählte. Auf Herodot und seinen kahlen Sklaven folgte Polybios mit seinem Zahlenquadrat, dann kam Caesars Brief an Cicero mit einem Alphabet, bei dem a als d chiffriert wurde, b als e, c als f und so weiter. Schließlich war die Lektion in Etymologie dran, die immer noch das Thema umkreiste, aber ihm schon näherkam.

»Das lateinische crypta, abgeleitet vom griechischen kryptein, was ›verbergen‹ heißt, bedeutet Gruft oder Grotte, und das Wort crypto steht für geheim. Kryptokommunist, Kryptofaschist. Sie sind doch hoffentlich keines von beidem?«

»Nein, ich bin weder eine Gruft noch eine Grotte.«

»Kryptogramm ...« Atwood hatte seinen Sherry ins Licht gehoben und in die blasse Flüssigkeit geblinzelt. Kryptoanalyse ... Turing hat gesagt, er glaubte, Sie könnten ziemlich gut sein ...«

 

Als Jericho wieder in seinem Zimmer angekommen war, hatte er Fieber. Er schloß die Tür ab und ließ sich mit dem Gesicht nach unten auf sein ungemachtes Bett fallen, immer noch in Mantel und Schal. Wenig später hörte er Schritte, und jemand klopfte an.

»Frühstück, Sir.«

»Stellen Sie es draußen ab. Danke.«

»Fehlt Ihnen etwas, Sir?«

»Nein, mir geht’s gut.«

Er hörte das Klappern des Tabletts, als es abgesetzt wurde, und dann sich entfernende Schritte. Das Zimmer schien zu schlingern und anzuschwellen, eine Ecke der Decke war plötzlich riesig und zum Greifen nahe. Er schloß die Augen, und in der Dunkelheit überfielen ihn die Bilder ...

Turing mit seiner schüchternen Andeutung eines Lächelns: »Ich versichere Ihnen, Tom, ich bin mit Riemann keinen Schritt weitergekommen ...«

Logie, der ihm in der Bombenbaracke die Hand schüttelt und schreit, um den Maschinenlärm zu übertönen: »Der Premierminister hat eben angerufen und uns gratuliert ...«

Claire, die seine Wange berührt und flüstert: »Du Ärmster, ich bin dir wirklich unter die Haut gegangen, nicht wahr? Du Ärmster...«

»Tretet zurück« – die Stimme eines Mannes. Logies Stimme: »Tretet zurück, damit er Luft bekommt ...«

Und dann nichts mehr.

 

Als er aufwachte, sah er als erstes auf die Uhr. Er war ungefähr eine Stunde bewußtlos gewesen. Er setzte sich auf und betastete seine Manteltaschen – irgendwo hatte er ein Notizbuch, in dem er Dauer und Symptome jedes Anfalls festhielt. Es war eine beängstigend lange Liste. Statt dessen fand er die drei Briefe.

Er legte sie aufs Bett und betrachtete sie eine Zeitlang. Dann öffnete er zwei von ihnen. Der eine enthielt eine Karte von seiner Mutter, der andere eine von seiner Tante. Beide gratulierten ihm zum Geburtstag. Keine der beiden Frauen hatte auch nur die leiseste Ahnung, was er tat, und er wußte, daß sie beide enttäuscht waren und sich schämten, daß er keine Uniform trug und auf sich schießen ließ wie die Söhne der meisten ihrer Bekannten.

»Aber was soll ich den Leuten sagen?« hatte seine Mutter ihn bei einem seiner kurzen Besuche zu Hause verzweifelt gefragt, nachdem er sich abermals geweigert hatte, ihr zu sagen, was er tat.

»Sag ihnen, ich arbeite beim Fernmeldewesen der Regierung«, hatte er erwidert und sich damit der Formel bedient, die er benutzen sollte, falls er beharrlichen Nachfragen ausgesetzt wäre.

»Aber vielleicht möchten sie ein bißchen mehr wissen als nur das.«

»Dann machen sie sich verdächtig, und du solltest die Polizei rufen.«

Seine Mutter hatte sich die gesellschaftliche Katastrophe vorgestellt, wenn ihr Bridge-Quartett von einem Inspektor vernommen würde, und war verstummt.

Und der dritte Brief? Genau wie Kite drehte er ihn um und roch daran. Bildete er es sich nur ein, oder war da wirklich ein Hauch von Parfüm? »Ashes of Roses« von Bourjois, ein winziges Fläschchen, das ihn für einen Monat fast bankrott gemacht hatte. Er benutzte seinen Rechenschieber als Brieföffner und schlitzte den Umschlag auf. Drinnen steckte eine billige Karte, gedankenlos ausgewählt – sie zeigte ausgerechnet eine Schale voll Obst –, mit einer den Umständen angemessenen Standardbotschaft, so nahm er jedenfalls an, da er sich bisher noch nie in dieser Situation befunden hatte. »Liebster T. ... Du wirst für mich immer ein Freund bleiben ... vielleicht später einmal ... tat mir leid, zu hören ... in Eile ... alles Gute ...« Er schloß die Augen.

 

Später, nachdem er das Kreuzworträtsel gelöst hatte, nachdem Mrs. Sax mit dem Putzen fertig war, nachdem Bickerdyke ein weiteres Tablett mit Essen abgestellt und unberührt wieder abgeholt hatte, ließ sich Jericho auf Hände und Knie nieder, zog einen Koffer unter dem Bett hervor und schloß ihn auf. Zwischen den Seiten seiner 1930 erschienenen Doubleday-Erstausgabe des Complete Sherlock Holmes lagen sechs mit seiner winzigen Handschrift bedeckte Blatt Papier. Er ging damit an den wackligen Schreibtisch am Fenster und strich sie glatt.

»Die Chiffriermaschine konvertiert die Eingabe (Klartext, K) in Chiffre (Z) mittels einer Funktion f. Deshalb ist Z = f (K, S), wobei S den Schlüssel bezeichnet ...«

Er spitzte seinen Bleistift an, blies die Späne weg und beugte sich über das Papier.

»Angenommen, S hat n mögliche Werte. Für jede der n angenommenen Möglichkeiten müssen wir sehen, ob f – 1 (Z, K) Klartext hervorbringt, wobei f – 1 die Dechriffierfunktion ist, die den Klartext liefert, sofern S korrekt ist...«

Der Wind kräuselte die Oberfläche des Cam. Ein Schwarm Enten ritt auf den Wellen, ohne sich zu bewegen, wie vor Anker liegende Schiffe. Er legte seinen Stift hin und las abermals ihre Karte, versuchte das Gefühl zu ermessen, den Sinn hinter den banalen Phrasen. Ob man, fragte er sich, eine entsprechende Formel für Briefe entwickeln konnte – für Liebesbriefe oder solche, die das Ende einer Liebe signalisierten?

»Die Eingabe (Gefühl, G) wird von der Frau mittels der Funktion w in eine Botschaft (B) konvertiert. Also ist B = w (G, V), wenn V das Vokabular bezeichnet. Angenommen, V hat n mögliche Werte ...«

Die mathematischen Symbole verschwammen vor seinen Augen. Er ging mit der Karte ins Schlafzimmer, zum Kamin, kniete nieder und zündete ein Streichholz an. Das Papier flammte auf, wellte sich in seiner Hand und verwandelte sich rasch in Asche.

 

Allmählich nahmen seine Tage eine gewisse Form an.

Er stand früh auf und arbeitete zwei oder drei Stunden. Nicht an Kryptoanalyse – er hatte alle Notizen am gleichen Tag verbrannt wie ihre Karte –, sondern an reiner Mathematik. Dann machte er ein Nickerchen. Vor dem Mittagessen löste er das Kreuzworträtsel in der Times. Dafür stoppte er die Zeit auf der alten Taschenuhr seines Vaters: Er brauchte nie länger als fünf Minuten, und einmal hatte er es in drei Minuten und vierzig Sekunden geschafft. Es gelang ihm, eine Reihe von komplizierten Schachproblemen zu lösen – »die Choräle der Mathematik« hatte Hardy sie genannt –, ohne Figuren oder ein Brett zu benutzen. All das bestätigte ihm, daß sein Verstand keinen dauernden Schaden davongetragen hatte.

Nach dem Kreuzworträtsel und dem Schach überflog er an seinem Schreibtisch die Kriegsnachrichten und versuchte dabei etwas zu essen. Es war ihm unmöglich, die Nachrichten über die Schlacht im Atlantik zu übergehen, obwohl er es sich immer wieder vornahm (TOTE MÄNNER AN DEN RIEMEN; U-BOOT-OPFER IN RETTUNGSBOOTEN ERFROREN ...). Er konzentrierte sich statt dessen auf die russische Front: Pawlograd, Demiansk, Rezow... Die Sowjets schienen alle paar Stunden eine weitere Stadt zurückzuerobern.

Nachmittags ging er spazieren, jedesmal ein wenig weiter. Zuerst beschränkte er sich auf das College-Gelände, dann wanderte er durch die leere Stadt, und schließlich wagte er sich hinaus aufs gefrorene Land, bevor er bei Anbruch der Dunkelheit zurückkehrte, um vor der Gasheizung zu sitzen und in seinem Sherlock Holmes zu lesen. Er begann, zum Abendessen in den Speisesaal hinunterzugehen, aber als der Rektor ihm einen Platz an der großen Tafel anbot, lehnte er höflich ab. Das Essen war ebenso schlecht wie in Bletchley aber die Umgebung war besser, das Kerzenlicht flackerte auf den Porträts in ihren schweren Rahmen und ließ die langen Tische aus polierter Eiche glänzen. Er lernte, die unverhohlen neugierigen Blicke des College-Personals zu ignorieren. Versuche, ihn in ein Gespräch zu ziehen, schnitt er mit einem Nicken ab. Einsamkeit machte ihm nichts aus. Er war zeit seines Lebens einsam gewesen. Ein Einzelkind, ein Stiefkind, ein »überdurchschnittlich begabtes« Kind – immer war da etwas gewesen, das ihn von anderen abgesondert hatte. Eine Zeitlang konnte er nicht über seine Arbeit sprechen, weil kaum jemand ihn verstanden hätte. Jetzt konnte er nicht über sie sprechen, weil sie geheim war. Es lief immer auf das gleiche hinaus.

Gegen Ende seiner zweiten Woche hatte er sogar angefangen, nachts durchzuschlafen, eine Wohltat, die er seit mehr als zwei Jahren nicht mehr genossen hatte.

Shark, Enigma, Kiss, Bomb, Break, Pinch, Drop, Crib – es gelang ihm, das ganze absurde Vokabular seines geheimen Lebens allmählich aus seinem Bewußtsein zu löschen. Zu seiner Verwunderung verschwamm sogar Claires Bild. Gelegentlich blitzten noch Erinnerungen auf, vor allem nachts – der Zitronenduft ihres frisch gewaschenen Haars, die großen, grauen Augen, so blaß wie Wasser, die weiche, halb belustigte, halb gelangweilte Stimme –, aber immer öfter blieben es Teile, die sich nicht mehr zusammenfügten. Das Ganze verschwand.

Er schrieb an seine Mutter und bat sie, ihn nicht zu besuchen.

»Krankenschwester Zeit«, hatte der Arzt gesagt und seine Tasche zuschnappen lassen, »wird dafür sorgen, daß Sie wieder gesund werden, Mister Jericho. Schwester Zeit.«

Jetzt hatte es den Anschein, als hätte der alte Knabe recht gehabt. Er würde wieder gesund werden. »Nervöse Erschöpfung« , oder wie immer sie es nannten, war eben doch nicht dasselbe wie Wahnsinn.

Und dann, am Freitag, dem 12. März, kamen sie ohne jede Vorwarnung, um ihn zu holen.

 

Am Abend, bevor das passierte, hatte er gehört, wie sich ein älterer Lehrer über einen neuen Luftwaffenstützpunkt beklagte, den die Amerikaner östlich der Stadt bauten.

»Ich habe gefragt, ob ihnen klar sei, daß sie auf einem Fossilienlager aus dem Pleistozän stehen, daß ich selbst an dieser Stelle die Überreste von Hörnern des Bos primigenius ausgegraben habe? Stellen Sie sich vor, der Mann hat nur gelacht ...«

Gut für die Amis, dachte Jericho und beschloß im selben Moment, daß dies ein geeignetes Ziel für seinen Nachmittagsspaziergang wäre. Weil er ihn mindestens drei Meilen weiter hinausführen würde als seine bisherigen Spaziergänge , brach er früher als gewöhnlich auf, gleich nach dem Mittagessen.

Er ging mit kräftigen Schritten voran, an den Backs entlang, vorbei an der Wren Library und den Puderzucker-Türmchen von St. John, vorbei an den Sportplätzen, auf denen zwei Dutzend kleine Jungen in roten Hemden Fußball spielten. Dann bog er nach links in die Madingley Road ab. Zehn Minuten später befand er sich auf freiem Feld.

Kite hatte mit trister Miene Schnee angekündigt, aber noch war es kalt und sonnig, und der Himmel war eine Pracht – eine Kuppel aus reinem Blau über der flachen Landschaft von East Anglia, meilenweit angefüllt mit silbrigen Flecken von Flugzeugen und weißen Kondensstreifen. Vor dem Krieg war er fast jede Woche mit dem Fahrrad durch diese stille Landschaft gefahren und hatte dabei kaum ein Auto gesehen. Jetzt rumpelte eine endlose Kolonne von großen amerikanischen Lastwagen an ihm vorbei und zwang ihn auf den Seitenstreifen. Sie waren ungestümer, schneller, moderner als die britischen Armeelaster. Ihre Ladeflächen waren mit Tarnplanen abgedeckt, und aus den Schatten spähten die weißen Gesichter von US-Fliegern hervor. Manchmal winkten die Männer und riefen ihm etwas zu, und er winkte zurück und kam sich dabei seltsam englisch und befangen vor.

Schließlich war er in Sichtweite des neuen Stützpunkts. Er stand am Straßenrand und sah zu, wie in einiger Entfernung drei Fliegende Festungen abhoben, eine nach der anderen. Riesige Flugzeuge, fast zu schwer, so kam es Jericho vor, um sich vom Boden zu lösen. Sie rollten über die neue Betonstartbahn, heulten auf in vergeblicher Anstrengung, krallten sich in die Luft, um hochzukommen, bis plötzlich unter ihnen ein Streifen Tageslicht erschien und sie abgehoben hatten.

Er stand fast eine halbe Stunde da, spürte, wie die Luft von den Vibrationen ihrer Triebwerke pulsierte, roch den schwachen, von der kalten Luft herbeigetragenen Geruch nach Flugtreibstoff. Er hatte noch nie eine derartige Demonstration von Stärke gesehen. Die Fossilien aus dem Pleistozän, dachte er mit grimmigem Vergnügen, waren inzwischen vermutlich zu Staub zerfallen. Wie lauteten die Worte von Cicero, die Atwood so gern zitierte? Nervus belli, pecunia infinita ... Die Sehnen des Krieges, unendlich viel Geld ...

Er sah auf die Uhr und kam zu dem Schluß, daß er sich auf den Heimweg machen mußte, wenn er noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder im College sein wollte.

Er war ungefähr eine Meile gelaufen, als er hinter sich ein Motorengeräusch hörte. Ein Jeep überholte ihn, fuhr an den Straßenrand und hielt an. Der Fahrer, in einen dicken Mantel gehüllt, stand auf und winkte ihn heran.

»Wollen Sie mitfahren?«

»Gern. Vielen Dank.«

»Steigen Sie ein.«

Der Amerikaner wollte sich nicht unterhalten, was Jericho nur recht war. Er umklammerte die Kanten seines Sitzes und starrte geradeaus, während sie mit ziemlicher Geschwindigkeit über die dunkler werdenden Straßen und in die Stadt hinein ratterten und rumpelten. Der Fahrer setzte ihn an der Rückseite des Colleges ab, winkte, gab Gas und war verschwunden. Jericho sah ihm nach, dann drehte er sich um und ging durch das Tor.

Vor dem Krieg war diese dreihundert Meter lange Strecke um diese Tages- und Jahreszeit Jerichos Lieblingsweg gewesen: der Fußweg, der durch einen Teppich von gelben und violetten Krokussen führte, die abgetretenen Steine, die von dekorativen Lampen aus der Viktorianischen Zeit erhellt wurden, links die Türme der Chapel, rechts die Lichter des Colleges. Aber die Krokusse waren spät dran dieses Jahr, die Laternen waren seit 1939 nicht mehr eingeschaltet worden, und ein riesiger Wassertank verunstaltete den berühmten Blick auf die Chapel. Im College glomm schwach nur ein einziges Licht, und als er darauf zuging, wurde ihm allmählich klar, daß es von seinem Fenster kam.

Er blieb stehen und runzelte die Stirn. Hatte er seine Schreibtischlampe nicht ausgeschaltet? Er war ganz sicher, daß er es getan hatte. Dann sah er einen Schatten, eine Bewegung, eine Gestalt in dem blaßgelben Viereck. Zwei Sekunden später wurde das Licht in seinem Schlafzimmer eingeschaltet.

Es war doch nicht möglich, oder?

Er begann zu laufen. Er legte die Strecke bis zu seiner Treppe in dreißig Sekunden zurück und rannte hinauf wie ein Spitzensportler. Seine Stiefel jagten über die ausgetretenen Stufen. »Claire?« rief er. »Claire?« Seine Tür stand offen.

»Immer mit der Ruhe, alter Junge«, sagte eine Männerstimme von drinnen. »Kein Grund zur Aufregung.«