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Für W. Jacob
Mit 27 Farbfotos, 28 schwarz-weiß Abbildungen, einer Karte und drei Stammtafeln.
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Originalausgabe
11. Auflage August 2009
ISBN 978-3-492-95631-4
© Piper Verlag GmbH, München 1991
erschienen im Verlagsprogramm Malik National Geographic
Fotos: Carmen Rohrbach
Redaktion: Rosemarie Altmann
Umschlaggestaltung: Dorkenwald Grafik-Design, München
Karte: Verlagsservice Dr. Neuberger/Schaumann, München
Satz: Sieveking GmbH, München
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Der Küster kommt gegen sieben Uhr morgens. Er betritt polternd die Kirche, stellt sich in die Mitte der Haupthalle und stößt plötzlich in alle vier Ecken Schreie aus. Ich sitze oben auf der Empore, unter der Orgel, und erschrecke sehr, glaube ich doch, dass er damit seinen Ärger über mein Eindringen in die Kirche kundtut. Was würde er als Nächstes machen, nachdem er bereits so gewaltig gestampft und gebrüllt hat? Mich die Treppe hinabstoßen, an den Haaren zur Kirchentür zerren und hinauswerfen? Doch welche Überraschung, der Mann schaut überhaupt nicht zu mir herauf. Er geht zum Altar, kniet nieder und betet. Offenbar hat er andere ungebetene Gäste mit seinem Schreiritual vertreiben wollen. Trotzdem fühle ich mich sehr unbehaglich. Nach dem Gebet hat der Küster vielerlei zu tun. Ich warte und warte, zuerst geduldig, dann immer dringlicher, denn meine Blase drückt unangenehm, und auch im Bauch rumort es mächtig. Der Mann ist nun in einem Nebenraum, aber ich höre ihn deutlich herumwirtschaften, und sicher würde er mich hören, wenn ich die knarrende Holztreppe hinabsteige. Doch ich muss raus! Der Küster ist mir nun gänzlich egal. Ich setze den Rucksack auf und – da hat er mich schon bemerkt. Flink hastet der alte Mann die schmale Treppe empor. Schon steht er vor mir, ein hagerer, leicht gebeugter Mann mit grauen Schläfen und buschigen, schwarzen Augenbrauen, unter denen mich seine dunklen Augen unwirsch mustern. Ein Schwall französischer Worte prasselt auf mich nieder. Wahrscheinlich glaubt er, ich sei eine Streunerin, die die Kirche verunreinige. Ich kann nur drei Wörter auf Französisch: merci, merde, je t’aime, aber damit werde ich mich wohl kaum verständlich machen können.
»Yo voy a Santiago de Compostela. Soy una peregrina. Ich gehe nach Santiago de Compostela. Ich bin eine Pilgerin«, sage ich auf Spanisch, das ich ganz gut beherrsche, in der Hoffnung, er werde wegen der Verwandtschaft der beiden Sprachen wenigstens den Sinn verstehen. Und dann zählte ich ihm die Hauptstationen meiner Reise auf: »St.-Jean-Pied-de-Port, Roncesvalles, Pamplona, Logroño, Burgos, Fromista, León, Astorga, El Cebreiro, Samos, Puertomarin«, und nach tiefem Durchatmen und mit meinem strahlendsten Lächeln: »Santiago de Compostela!« Er schaut mich verblüfft an, zuerst ratlos, doch dann huscht ein Verstehen über das strenge Gesicht. Er tritt zur Seite, gibt mir den Weg nach unten frei und – habe ich mich getäuscht oder hat er sich sogar leicht verbeugt vor einer Pilgerin, die allein zu Fuß nach Santiago de Compostela wandert, wie in früherer Zeit Millionen Menschen aus ganz Europa?
Damals im Mittelalter sind die Pilger von ihrer Haustür aus losgelaufen. Sie mussten, wenn sie unterwegs nicht umgekommen waren und endlich das lang ersehnte Ziel erreicht hatten, auch wieder zu Fuß heimwärts gehen. Ich stelle mir vor, dass dieser Rückweg auf schon bekanntem Pfad sehr mühselig und langweilig gewesen sein muss. Wahrscheinlich aber irre ich mich, denn die meisten Menschen sind vermutlich gerne wieder heimgekehrt. Mir fällt das Weggehen leicht, es ist mit Freude und Erwartungen verbunden. Immer ist es ein Aufbruch in eine ungewisse und deswegen aufregende Zukunft, für die es sich lohnt zu leben. Die Rückkehr dagegen erscheint mir jedes Mal so grau und unerquicklich, dass ich mich fragen muss, warum ich überhaupt heimfahre. Und ich habe dann keine andere Antwort parat als diese: Damit ich wieder losgehen kann.
Diese Menschen damals aber wagten eine Pilgerreise, die im Zeichen des Todes stand. Zu unsicher war in dieser Zeit das Reisen. Überall am Weg lauerten Gefahren. Viele kamen durch Entkräftung, Kälte und Schneestürme um. Andere wurden von Räubern getötet. Manche wurden Opfer von Seuchen und verdorbener Nahrung. Alte Gerichtsurteile zeigen, dass ein Menschenleben wenig galt. Wurde einer des Diebstahls überführt oder auch nur dringend verdächtigt, landete er unweigerlich am Galgen. Welcher Mut, welche Mühe und Entsagung gehörten dazu, sich auf den Weg nach Santiago zu machen? Ich nehme an, dass diese Menschen das alles auf sich nehmen konnten, weil sie einen starken Halt in sich trugen, nämlich ihren Glauben. Der Glaube war gleichzeitig die Triebfeder für ihre Entscheidung, das »Jakobsgrab« aufzusuchen, sei es, um Buße für eine schwere Sünde zu tun oder um Hilfe gegen Krankheit und Leiden zu erflehen. Andere hatten in einer schwierigen Lebenssituation ein Gelübde abgelegt, das erfüllt werden musste, nachdem ihr Flehen erhört worden war. Doch was mag mich in heutiger Zeit dazu bewegen, eine Fußwanderung zum heiligen Jakobus zu unternehmen? Ausgerechnet ich, die niemals beten gelernt hat, nicht mal getauft ist und Kirchen nur betritt, um sie zu besichtigen oder gegebenenfalls darin zu übernachten? Noch weiß ich es nicht. Während der Wanderung hoffe ich mehr Klarheit zu bekommen.
Ich bin aufgebrochen, um Antworten zu finden, Auskünfte über mich selbst. Was ich bin, was ich soll, wie ich weiterleben kann. Aber warum ausgerechnet eine Pilgerreise? Wenn ich Zeit zum Überlegen nötig hätte – und beim Gehen denkt es sich am besten –, könnte ich doch auch das Nordkap oder die südlichste Spitze von Europa zum Ziel wählen. Aber als ich von Santiago de Compostela hörte, stand für mich fest: Das solltest du tun, da musst du hin. Ich bin ziemlich Hals über Kopf aufgebrochen, es war schon eher eine Flucht. Am Morgen, als ich aufwachte, es war der 18. Mai, wusste ich noch nicht, dass ich gerade an diesem Tag losgehen würde. Da ahnte ich, es würde wieder einer jener schlimmen Tage werden, wie gestern und vorgestern, wie viele Tage eben. Ich würde mich tapfer an den Schreibtisch setzen und mich zum Arbeiten zwingen, aber ich würde mich nicht konzentrieren können und das, was ich dann geschrieben hätte, wäre nicht zu verwenden. Dann wieder dieses Lauern, ob das Telefon klingelt. Und wenn es tatsächlich läuten würde, dann würde ich nicht abheben aus Ärger über mich selbst, weil ich so sehr gewartet habe, und aus Furcht vor der Enttäuschung, dass es nicht der erwartete Anrufer ist. Oder ich würde selbst wählen, um – käme wirklich eine Verbindung zustande – schnell wieder aufzulegen, ohne mich gemeldet zu haben. Nein, aus diesem albernen, aber lähmenden Kreislauf musste ich raus! Ich packte meinen Rucksack, ohne dass ich mir richtig bewusst war, wozu ich mich entschlossen hatte. Im Rucksackpacken habe ich Routine. Das kann ich fast ich im Schlaf, so oft habe ich das schon gemacht. Entscheidend ist, so wenig wie möglich mitzunehmen – nur das Nötigste eben.
Früher war ich stolz, Riesenrucksäcke tragen zu können, die die Hälfte meines eigenen Gewichtes hatten. Doch inzwischen bin ich klüger geworden. Wandern macht einfach mehr Spaß, wenn man nicht wie ein Lastesel schleppen muss. Und es ist doch erstaunlich, mit wie wenigen Dingen man unterwegs auskommt.
Nachdem ich mit dem Packen fertig war, bin ich mit dem Rucksack eilig zum Bahnhof und habe mir dort erklären lassen, welche Fahrkarte ich lösen muss, um möglichst nahe an die Pyrenäen nach St.-Jean-Pied-de-Port zu gelangen. Von meiner Münchner Haustür aus wollte ich nicht loslaufen. Ich hatte keine Lust, so lange in Autoabgasen und Verkehrslärm zu wandern. Im Unterschied zu Frankreich und Spanien ist der »Jakobsweg« in Deutschland nicht erhalten geblieben. Wie Schnüre, die sich zu einem Seil vereinen, ziehen sich die Wege durch Frankreich konzentrisch auf die Pyrenäen zu. In Spanien endlich, ab Puente la Reina, vereinen sich alle Wege zu einem einzigen – dem »camino de Santiago«. Für Hin- und Rückreise braucht man zu Fuß von Deutschland aus etwa vier Monate. Doch früher waren viele Pilger ein halbes Jahr und länger unterwegs, wenn sie an manchen Stationen eine ausgedehnte Andacht hielten, Umwege zu berühmten Heiligtümern einschlugen oder sich in den Hospitälern gesund pflegen lassen mussten.
Ich konnte mich auch nicht entscheiden, die Wanderung in Frankreich schon zu beginnen, weil mir erstens nur drei französische Wörter geläufig sind und ich zweitens nicht wusste, welche der vielen möglichen Routen ich wählen sollte. Immer würde ich denken, die anderen Wege, die ich nicht ginge, wären viel schöner, aufschlussreicher und interessanter gewesen. Warum sollte ich einen auswählen und die anderen vernachlässigen? Da war es besser, dachte ich, gleich bei St.-Jean-Pied-de-Port am Fuß der Pyrenäen zu beginnen, mit einer Strecke von etwa 900 Kilometern bis Santiago de Compostela vor mir.
Zuerst musste ich mit dem Zug nach Paris fahren, da es leider keine Direktverbindung zu den Pyrenäen gab. Ich war nicht gerade begeistert, diese Strecke zu fahren, denn ich wollte möglichst bald mit einer Pilgerwanderung beginnen und hatte mich voll auf Spanien eingestellt.
Es war schon spät am Nachmittag, als ich in München losfuhr. Glücklicherweise fand ich ein Abteil für mich allein. Mitten in der Nacht schreckte ich aus tiefem Schlaf auf, geweckt von der lauten Stimme eines Schaffners. Einige Waggons – auch der, in dem ich mich befand – waren abgehängt worden. Schlaftrunken zog ich meinen Rucksack aus dem Gepäcknetz herab, hastete aus dem Abteil, öffnete die Waggontür und sprang auf den Bahnsteig hinab. Der Schaffner wies mir die Richtung und es gelang mir gerade noch, auf den bereits fahrenden Zug zu springen. Nun drängelten sich viele Leute um die wenigen Sitzplätze. Müde traf ich am Morgen in Paris auf dem Gare de l’Est ein. Für die Weiterfahrt musste ich zum Bahnhof d’Austerlitz wechseln. Ich war gezwungen, die Metro zu benutzen, doch hatte ich im Vertrauen darauf, dass ich in Frankreich nichts brauche, gar kein Geld getauscht. Schwarzfahren kam nicht in Frage, da sich die Sperren ohne Ticket nicht öffnen lassen. Die Gesichter der Menschen, wie wohl in allen großen Städten zu Arbeitsbeginn, schienen mir an diesem Morgen besonders grau und abweisend. Wahrscheinlich lag das aber mehr an meinem ziemlich desolaten Zustand nach der durchwachten nächtlichen Bahnfahrt. Die Leute hasteten an mir vorbei. Wie könnte ich nur durch die Sperre kommen? Da plötzlich drückte mir ein Mann einen Fahrschein in die Hand. Ich konnte mich weder bedanken, noch hatte ich sein Gesicht sehen können, so schnell war er in der Menge wieder untergetaucht.
Im Zug nach Bayonne hatte ich wieder ein Abteil ganz für mich allein. Ich holte den Schlaf nach und wachte erst wieder auf, als der Zug bereits durch Südfrankreich fuhr: grüne Wiesen und grüne Hügel, gesprenkelt mit elfenbeinfarbenen Rindern, ab und zu ein steingraues Dorf.
Als der Zug Bayonne erreichte, stand auf dem Nebengleis bereits der Anschlusszug nach St.-Jean-Pied-de-Port. Alle Abteile waren voller Menschen, irgendwo quetschte ich mich dazwischen. Mir fiel bald ein alter Mann auf. Er trug einen dunklen Anzug aus feinem Stoff, der aber an Armen und Knien schon schäbig und abgewetzt war. Unter der Baskenmütze hingen dünne graue Haare hervor. Er hatte ein mageres Gesicht mit einer auffallend spitzen Nase. Ich wurde auf ihn aufmerksam, weil er unruhig von einer Abteilseite auf die andere hinüberwechselte, aufgeregt die Fenster herabkurbelte und sich weit hinausbeugte. Der Fahrtwind wirbelte ihm die spärlichen Haare ins Gesicht und mit der Hand hielt er die Baskenmütze fest. Ich verfolgte seinen Blick, sah bewaldete Hügel und grün beweidete Hänge, einen kleinen sich schlängelnden Fluss, die Ufer mit Weiden bewachsen. Nichts Besonderes, eine ruhige, stille Landschaft. Doch gewiss sah der Mann etwas ganz anders als ich. Immerfort wendete er den Kopf, hierhin und dorthin, suchte etwas zu entdecken, etwas wieder zu finden, vielleicht wie jemand, der nach langer Zeit in seine Heimat zurückkehrt. Ich versuchte seine Aufgeregtheit nachzuempfinden, auch wenn ich persönlich nicht so fühlen kann. Für mich gibt es keine Heimat, die mein Herz beim Gedanken an sie in Aufregung versetzen könnte. Vielleicht hatte ich zeit meines Lebens sehnsuchtsvoll in die Ferne geblickt, meine ganze Phantasie auf das Erreichen meiner Ziele fixiert, sodass für den heimatlich vertrauten Ort keine Gefühle mehr übrig blieben? Dennoch erinnere ich mich, dass auch ich einmal eine Heimat geliebt und mich dort geborgen und zu Hause gefühlt hatte. Der erste mir vertraute Ort war ein verwilderter Garten, mit großen Bäumen, wucherndem Buschwerk, hohem Gras, in dem ich mich verstecken konnte, und summenden Insekten, die sich manchmal in meinen Haaren verirrten. Eine ganze Welt war dieser Garten für mich, in dem ich die meisten Tage meiner ersten fünf Jahre erlebte. Als ich viele Jahre später meine kindliche Glückswelt wiedersah, war sie bis zur Unkenntlichkeit verdorben. Die lebendige, summende und brummende Blumenwiese, die mir einmal über den Kopf wuchs, war zu einem kurz geschorenen Rasen verunstaltet worden. Die sich vielfach verästelnden Büsche waren verschwunden, ebenso die Obstbäume, auf denen ich dem Himmel entgegenklettert war. Stattdessen sah ich eine kümmerliche Thujahecke, so künstlich wie aus Plastik, und zu allem Schrecken noch eine Blautanne, einen Baum, der in einem Garten wie die verkörperte Unnatur wirkt. Meine erste kleine Heimat war zerstört worden, sie existierte nicht mehr. Ich kann an sie nur zurückdenken als an etwas Vergangenes, doch werde ich sie nie im Leben wiederfinden. Auch meine zweite Heimat ist zerstört worden. Es war das Weinstädtchen Freyburg. Abgeholzt sind die dichten Buchenwälder, die ich als Kind durchstreifte.
Das Wasser des Flusses Unstrut ist vergiftet. Ich konnte noch in der Unstrut schwimmen und bis auf den Flussgrund tauchen, um Kiesel heraufzuholen, immer mit der Erwartung, einmal einen Edelstein oder Goldklumpen in der Hand zu halten. Vielleicht ist jedes Wiedersehen mit der Heimat, von der man sich lange entfernt hat, eine bittere Enttäuschung.
Wenn man die Veränderungen nicht mitvollziehen konnte, bewahrt die Erinnerung ein schöneres, vielleicht auch verklärtes Bild.
Der Franzose, der immer noch von einer Fensterseite des Zuges zur anderen hin und her eilte und seinen Kopf hinausstreckte wie ein Huhn den seinen aus einem Gitterkäfig, machte auf mich keinen frohen Eindruck. Spitz stach die Nase aus dem blassen, ernsten Gesicht und die Augen bewegten sich unstet auf der Suche nach etwas, was sie nicht finden konnten. Ich wünschte ihm, dass er am Bahnhof von einem lieben Menschen abgeholt wird.
Ich stieg aus in St.-Jean-Pied-de-Port. Es regnete sachte. Ich lief durch die schmalen Straßen. Pflaster und Dächer glänzten regennass. Ich folgte einer Gasse, die bergauf führte. An einigen Türen sah ich das Pilgerzeichen, die Muschel: ins Holz geschnitzt, aus Metall gearbeitet oder die aus dem Meer, die richtige handtellergroße Pektenmuschel. Seit die Menschen zum Grab von Jakobus pilgern, ist sie der Beweis, dass man tatsächlich in Santiago war. Nur wenige Tagesmärsche von der Jakobstadt entfernt wird sie vom Atlantik an den Strand gespült. Legenden erzählen von der Entstehung der Muschel als Pilgerzeichen. So soll ein Ritter, der zum Grab gepilgert war, auf der Flucht vor Wegelagerern ins Meer gesprungen sein. Als er schließlich wieder rettendes Land erreichte, war er über und über mit Muscheln bedeckt. Das wurde als Zeichen gewertet, dass ihm der heilige Jakobus beigestanden hatte. Eine andere Geschichte geht noch weiter zurück in die Vergangenheit: Eine Barke näherte sich dem Land. Im Boot befand sich der Leichnam des Heiligen, den seine Jünger in Spanien bestatten wollten. Wieder kam ein Reiter ins Spiel. Der arme Mann erschrak mächtig, weil das Boot mitten in der Nacht von einem überirdischen Licht erstrahlte. Voller Angst sprang er samt Pferd von den Klippen hinab ins Meer. Er wurde gerettet, und abermals hafteten an seinem Körper unzählige Muscheln.
Der Stadtname St.-Jean-Pied-de-Port bedeutet: der heilige Johann am Fuß des Passes; gemeint ist der Pass von Roncesvalles oder auch Ibañeta-Pass genannt. Das Städtchen ist die letzte Ortschaft vor der französisch-spanischen Grenze und gehört zum französischen Departament Pyrénées-Atlantiques. Der Auszug der Pilgergruppen fand früher feierlich unter dem Geläute aller Glocken statt. Denn nun galt es, die Pyrenäen zu überschreiten. Eine harte, strapazenreiche Strecke lag vor ihnen. Viele trugen dazu noch schwere Kreuze bis zum Ibañetapass hinauf.
Die Altstadt von St.-Jean-Pied-de-Port ist von einer mächtigen Wehrmauer umschlossen. Die Bezeichnung »umschlossen« stimmt nicht mehr, denn Häuser und Straßen befinden sich inzwischen außerhalb der Mauer. Ich stieg die steilen Stufen zur Mauer hinauf. Oben war ein breiter Wehrgang. Ich schaute durch die Schießscharten hinab, sah Bistros mit tropfnassem Gestühl davor und von oben die Regenschirme, einige als bunte Scheiben, andere als große schwarze Pilze, die sich wie von selbst durch die Straßen zu bewegen schienen. In einem Gemüsegarten kläffte ein winziger schwarzer Hund zu mir herauf. Er war wütend, vielleicht weil ich, für ihn unerreichbar weit, hoch oben auf der Stadtmauer stand. Während meiner Wanderung sollten sich die Hunde mir gegenüber meist so erbost verhalten.
Es war inzwischen später Nachmittag geworden. Ich wollte mir kein Zimmer in der Stadt nehmen. Nach der langen Bahnfahrt verspürte ich große Lust zu laufen und Natur um mich zu haben, wollte Erde unter und Himmel über mir fühlen. Nur spielte das Wetter nicht mit, denn es regnete zwar leicht, aber ohne Unterlass. Wie würde es erst dort oben sein? Einen vollen Wandertag braucht man, bis der Pass überwunden ist. Da ich wegen des Gewichtes kein Zelt dabei hatte, war es mir zu unsicher, mich darauf zu verlassen, irgendwo einen Unterschlupf zu finden. Ich beschloss, erst am nächsten Tag mit dem Aufstieg zu beginnen. Für diese Nacht galt es, noch auf französischem Boden einen Schlafplatz ausfindig zu machen. Ich hatte keine konkrete Vorstellung, wusste nur, dass ich einen einsamen, ungestörten Ort suchte. Zuerst folgte ich dem Fluss Nive. Die dichte Vegetation am Ufer war tropfnass. Hier würde ich kein trockenes Plätzchen zum Schlafen entdecken. Es begann schon zu dämmern. Da schien es mir besser, eine kaum befahrene Landstraße als Wanderung zu wählen: Weideland, runde Kuppen, ein Wäldchen dazwischen; es hörte sogar auf zu regnen. Und sofort machten sich die Vögel in den Büschen und Bäumen beiderseits der schmalen Straße bemerkbar. Sie schüttelten die Regentropfen aus dem Gefieder und schmetterten aus vollen Kehlen. Es war ja Frühling. Da gab es die clownhaften Stieglitze mit ihren roten Kopfhauben und den quittengelben Flügeln, die zitronenfarbenen Girlitze, die in höchsten Tönen ihre Lieder sirrten, als würde eine dünne Schnur ganz schnell durch die Luft geschwungen, und sogar Schwarzkehlchen, die mit »wid wid, fit, kr-kr« lockten. Lauter Vögel, die bei uns in Deutschland sehr selten geworden sind, und hier hüpfen sie in Mengen im Straßengebüsch herum, selbst in der Nähe der Ortschaften. Dabei werden Singvögel in Südfrankreich sogar gejagt – in Deutschland dagegen sind sie geschützt. Aber kein Lebewesen hat etwas von der guten Absicht, unter Naturschutz zu stehen, wenn ihm andererseits der Raum zum Leben zerstört wird. Wie der Garten meiner Kindheit, der, von allen Pflanzen und Tieren gesäubert, in eine sterile Rasenfläche umgestaltet wurde.
Endlich erreichte ich doch noch eine Ortschaft. Sie sah neu gebaut aus: meistens Einfamilienhäuser im Einheitsstil. Alle Fensterläden und alle Türen waren weinrot gestrichen. Menschen sah ich keine.
So ging ich eben weiter und kam nach Lacarre. Zu regnen hatte es nicht wieder begonnen, aber die Erde war noch voll gesogen von all der Nässe. Ich verspürte immer noch keine Lust, Menschen zu begegnen und mich dem Lärm eines Gasthauses, einer Auberge, auszusetzen, wo ich um ein Nachtlager hätte fragen müssen. Außerdem besaß ich ja nur spanische Peseten. Es begann bereits dunkel zu werden. Da erblickte ich am Ortsrand eine Kirche. Ich drückte sachte die Klinke hinunter – mein Herz hüpfte vor Freude – offen! Ein warmer, stiller Raum. Ich fühlte mich sofort geborgen und aufgenommen, als wäre ich hier zu Hause, und lief die Treppe zur Orgel empor. Schöne glatte Holzdielen, Platz genug für meine Matte und den Schlafsack. Ich hatte gerade den Rucksack abgesetzt und den Regenponcho zum Trocknen ausgebreitet, da hörte ich ein lautes Knacken, und ein Schlüssel drehte sich knirschend im Schloss – eingeschlossen! Oh! Und ich hätte doch noch mal hinausgemusst. Vorsichtig schlich ich zur Tür, drückte behutsam die Klinke nieder – tatsächlich! Sie war zu! Na, trotzdem war ich froh über mein Glück, noch vor dem Zuschließen dagewesen zu sein.
In der Nacht wachte ich auf. Weiches Mondlicht fiel durch die hohen Fenster, streifte über die Holzbänke und legte sich auf das samtige Altartuch. Um wie viel schöner ist doch eine Kirche bei Nacht, dachte ich und wollte den Raum mit seiner stillen Ausstrahlung und seinem alles umfassenden Frieden noch lange genießen, doch da schlief ich wohl schon.
Gegen sieben Uhr kam der Küster und schloss die Tür auf.
Ohne zu säumen, laufe ich nach St.-Jean-Pied-de-Port, denn ich habe es eilig, die Strecke über den Pass zu schaffen. Dabei würde die Morgenstimmung zum Bleiben verlocken. Die Wiesen geben dampfend die Feuchtigkeit ab. In dicken Schwaden steigt der Nebel empor und wird von den Sonnenstrahlen vergoldet. Ein roter Milan kreist der Sonne entgegen, weit spreizt er den gegabelten Schwanz. Ein Bussardpärchen schraubt sich höher und höher. Das Männchen stößt schrille, lang gezogene Schreie aus. Es ist sein Balzruf. Er soll das Weibchen zur Paarung stimulieren und mögliche Rivalen abschrecken.
Mit einem Satz springt eine Rötelmaus aus der noch nassen Krautschicht auf den Asphalt. Sie hockt sich auf die Hinterbeine und beginnt in Seelenruhe, ihr etwas ramponiertes und feuchtes Fell mit dem Schnäuzchen zu lecken, mit den Vorderpfoten zu striegeln und zu kämmen. Es ist noch ein junges Tier, erst halb so groß wie eine erwachsene Rötelmaus, deshalb ist sie vielleicht so unvorsichtig, sich ohne Deckung auf die Straße zu setzen. Ich schleiche mich an, nur noch ein Meter, jetzt nur noch ein halber! Langsam nähern sich meine geöffneten Hände der Maus. Es ist doch gar zu verlockend, das Tierchen mit einem schnellen Zugriff zu fangen. Ich will es jedoch nicht zu sehr erschrecken oder ihm gar weh tun. Doch ich brauche überhaupt nicht zuzugreifen. Die junge Maus ist so zutraulich und wohl unerfahren, dass sie von selbst in meine Hände hüpft. Da sitzt sie nun – kann man sich so etwas vorstellen ? – und leckt und putzt und säubert ihr Fellchen. Die kleinen rosa Vorderpfoten striegeln eifrig das Köpfchen, blitzschnell fahren sie über die fast ganz im dichten Fell verborgenen Ohren und klappen die winzigen Ohrmuscheln emsig hin und her. Die Maus hat einen dicken Kopf – er ist halb so groß wie der rundliche, rötlichbraune Körper. Es ist ein wunderbares Gefühl, wie sich dieses kleine Wesen vertrauensvoll in die Hand kuschelt. Belustigt denke ich, ob das gar eines der vom heiligen Jakob bewirkten Wunder ist? Eine wild lebende Maus, die geradewegs in meine Hand springt und sich dort auch noch wie zu Hause fühlt – wer hat das schon mal erlebt? Mit beiden Händen forme ich für die junge Maus ein schützendes Gehäuse, wie eine Muschel. Ich fühle mich sehr verführt, das kleine Tierchen als Maskottchen auf meine Wanderung mitzunehmen. Aber ich weiß, dass sie das nicht überleben würde, und so bin ich vernünftig. Langsam, zögernd setze ich die Rötelmaus an den Straßenrand zurück. Und ich merke, wie sie sich kaum entschließen kann, wieder in die Freiheit zu gehen. Offenbar hat sie sich in der warmen Menschenhand geborgen gefühlt. Nun geht es aufwärts, den Pyrenäen entgegen. Eine abwechslungsreiche Wegstrecke führt mich zunächst einen Hang hinauf und ich komme an Zäunen mit dichten Brombeerhecken vorbei, hinter denen sich vereinzelt Bauernhäuser und Gärten verstecken. An einer Wegbiegung schaue ich nach unten, zurück auf den schon gegangenen Weg, und sehe zwei Wanderer mit knallroten Rucksäcken und bunter Wanderkleidung. Wenn sie auch über den Pass wollen, ist es bald vorbei mit dem schönen Gefühl, hier allein zu sein, befürchte ich. Der Mann holt mit zügigen Schritten schnell auf, seine Begleiterin hinkt hinterher, obwohl sie den kleineren Rucksack trägt. Wieder die übliche Konstellation eines Paares, denke ich. Und ich habe gar keine Lust, ihnen zu begegnen und meine einsame, ruhige Besinnlichkeit von ihnen stören zu lassen. Doch der Mann hat mich schnell entdeckt und ruft auf Deutsch laut zu mir herauf: »Hallo, Sie da! Warten Sie mal!« Nur unwillig bleibe ich stehen. Aber schon bald korrigiere ich meine Vorurteile. Denn durch bloße Äußerlichkeiten wie teure und überbunte Wanderausrüstung hatte ich mich zu einem vorschnellen Urteil verführen lassen. Jetzt erfahre ich von ihnen, warum sie mich so dringend sprechen wollten. Sie hatten unterwegs einen belichteten Film gefunden und wollten sich vergewissern, ob ich ihn vielleicht verloren hätte. Während wir zusammen weitergehen, erzählen sie mir, dass er Ingenieur und sie Lehrerin ist. Schon seit Jahren wandern sie jeden Urlaub und schlafen sogar im Zelt. Gestern dann, nach 25 Tage langer Wanderung durch Frankreich, hatten sie wegen des Regens zum ersten Mal in einer Auberge übernachtet. In weiteren 27 Tagen wollen sie ihr Ziel Santiago erreichen. Das wäre eine recht beachtliche Leistung, denke ich, will mir selbst aber viel mehr Zeit nehmen, denn ich möchte den Weg erfahren, erleben, begreifen, ihn ganz in mich aufnehmen. Deshalb erkläre ich den beiden, dass ich gern allein wandern würde, und gebe ihnen einen großen Vorsprung. Die Wartezeit nutze ich an einem kleinen Bachlauf, der hier dem Berghang entspringt, um meine Morgenwäsche nachzuholen und stille meinen Hunger mit der mitgebrachten Verpflegung. An solchen Stellen werden auch die Pilger des Mittelalters gerastet haben. Wasser, Brot und ein Stück Käse dienten ihnen als Wegzehrung. Damals zog man noch nicht mit prallen Rucksäcken durch die Gegend. Ein kleines Bündel, über die Schulter geworfen, eine Kalebasse für das Trinkwasser, mehr brauchte man nicht. Kleidung zum Wechseln? War es möglich, wurde sie gewaschen, während man nackt in der Sonne saß und wartete, bis die Wäsche trocken war. Wie unkompliziert und anspruchslos die Menschen in Europa bis vor kurzem noch waren! Von vielen Skulpturen, Reliefs, Fresken, Radierungen und Holzschnitten, die Pilgerszenen zeigen, wissen wir, wie man sich für die Pilgerschaft kleidete. Gegen Wetterunbilden schützte ein dicker Umhängemantel, die Pelerine, und auf dem Kopf ein breitkrempiger Filzhut, der mit der Pilgermuschel verziert war. Sie war vom Beweisstück sehr schnell zum Symbol geworden und man trug sie bereits beim Aufbruch. Der Beutel über der Schulter oder die Ledertasche mit langen Riemen war ebenfalls mit Muscheln besetzt. Wichtig war auch der Pilgerstab. Er diente als Stütze, zur Verteidigung, als Hilfe beim Überqueren von Bächen, zum Herabschlagen der Früchte von Bäumen, außerdem hing an ihm die Kalebasse als Trinkgefäß.
Ich will mich auf den Pilgerweg noch mehr einstimmen und hole aus dem Rucksack die Aufzeichnungen über Jakobus und die Entdeckung seines Grabes. Ich lese, wie Jakob der Ältere am See Genezareth in Galiläa als Sohn des Fischers Zebedäus und der Salome, einer Verwandten Marias, geboren wurde. Gemeinsam mit seinem Bruder Johannes wurde er später einer der zwölf Apostel von Jesus Christus. Schon bald nach dem Tod Christi soll er in Spanien, damals eine römische Provinz, missioniert haben. Sein Bemühen war erfolglos, deshalb kehrte er wieder nach Jerusalem zurück und nahm dort in der Gemeinde der Christen eine hohe Stellung ein. Wahrscheinlich stärkte er die Position der Christen so sehr, dass er für den jüdischen Hohenpriester Abjathar eine Gefahr war. Von Hass und Neid erfüllt, sann Abjathar, wie er den Christen unschädlich machen könnte. Schließlich gelang es dem Hohenpriester, einen Aufstand im Volk anzuzetteln. Nach Niederschlagung der Revolte beschuldigte er Jakob als Rädelsführer, ließ ihm einen Strick um den Hals legen und Herodes Agrippa, dem römischen Statthalter, vorführen. Herodes Agrippa fällte im Jahr 44 das Todesurteil, und Jakob wurde enthauptet. Soweit die historisch nachvollziehbaren Vorgänge. Nun beginnt das Feld der Legenden: Eine berichtet, der Leichnam sei in der Nacht von seinen Anhängern entwendet und ans Meer gebracht worden. Dort hätte schon ein Schiff gewartet. Als der Tote hineingelegt wurde, sei es losgefahren und von himmlischen Kräften an die spanische Küste geleitet worden. Eine andere erzählt, seine Jünger Theodorus und Athanasius hätten den Toten mit einem Boot von Jerusalem bis zum fernen Galicien gebracht. Damals war der Reiter ins Meer gesprungen und mit Muscheln überdeckt wieder aufgetaucht. Schwere Prüfungen mussten Theodorus und Athanasius über sich ergehen lassen, bis sie den Heiligenendlich bestatten konnten. Die heidnische Königin Lupa stellte ihnen unlösbare Aufgaben. Aber der tote Jakob stand den beiden Männern bei. Er half ihnen, einen Drachen zu töten, und zähmte wutschnaubende Stiere. Athanasius und Theodorus sollen treu das Grab bewacht und nach ihrem Tod neben dem Heiligen bestattet worden sein. Diesen Legenden kann man zwar keine beweiskräftigen Tatsachen entgegenhalten, dennoch gibt es Hinweise, Jakobus sei zuerst in Jerusalem begraben worden. Im 6. Jahrhundert wurde die Reliquie vermutlich auf der Halbinsel Sinai im Kloster Raithin aufbewahrt. Zuletzt soll sie im Menaskloster bei Alexandria gewesen sein, aus dem die Mönche im 7. Jahrhundert vor den Arabern flüchten mussten. Nirgendwo ist in den alten Schriften vermerkt, dass Jakob der Ältere in Spanien, der damaligen römischen Provinz, missioniert hätte. Erst im 8. Jahrhundert gibt es Schriftstücke mit dieser Darstellung, wobei man sich sehr geschickt auf ältere Autoren beruft, etwa auf den heiligen Hieronymus, der um 390 lebte, in dessen Originalschriften aber eine Missionstätigkeit des Apostels nicht erwähnt wird. Was auch immer die Wahrheit ist, fest steht, die wundersamen Legenden hatten mehr Einfluss auf das Denken des Mittelalters als die historischen Wahrheiten.
Ebenso sagenumwoben wie die Grablegung war auch die Entdeckung des Grabes selbst im 9. Jahrhundert: Einmal soll es ein Hirte gewesen sein, der Nacht für Nacht von seltsamen Lichterscheinungen, begleitet von betörender Musik, aufgeschreckt wurde. Schließlich ertrug der Hirt die merkwürdigen Vorgänge nicht mehr und berichtete dem Bischof davon. In einer anderen Legende sah der Eremit Pelagius nachts Lichtschein und hörte Engelschöre. Um das Jahr 825 erfuhr der Bischof Theodomir von Iria Flavia von den merkwürdigen Ereignissen. Iria Flavia ist heute eine kleine Küstenstadt der Provinz Galicien, die in Padron umbenannt wurde. Dort soll der Legende nach das Boot mit dem Leichnam und den zwei Jüngern angelegt haben. Vorsorglich ordnete Bischof Theodomir zunächst einmal drei Fastentage an. Das war sehr geschickt, denn Nahrungsentzug verstärkt immer die Einbildungskraft. Danach zog er an der Spitze der zahlreich herbeigeströmten und neugierigen Gläubigen zum Ort des überirdischen Ereignisses. Die Landschaft darf man sich nicht als freies, leicht zugängliches Gelände vorstellen. Es gab dichte Eichenwälder und üppige Vegetation. Der Bischof ließ zielgewiss eine Schneise durch das verwachsene Unterholz schlagen. Bald fanden sie eine Grabkammer, ein mit Marmorplatten verkleidetes Mausoleum, wie es die Römer für wichtige Persönlichkeiten errichtet hatten. Keine Überlieferung sagt, welche Relikte im Sarkophag lagen. War es ein Skelett mit abgeschlagenem Kopf ? Gab es Inschriften oder andere Hinweise, die auf den Apostel deuteten? Niemand weiß das bis heute. Vielleicht, weil alle Anwesenden von der zweifelsfreien Gewissheit gepackt waren, die Ruhestätte von Jakobus gefunden zu haben, suchten sie nicht nach Beweisen. War doch der Begräbnisplatz von himmlischem Licht und Engelsgesang angezeigt worden. Derart göttliche Zeichen wogen schwerer als irdische Beweise. Den kirchlichen Würdenträgern kam die Grabfindung sehr gelegen. Es war das Wunder, das lange erwartet, herbeigesehnt und dem vielleicht herbeigeholfen wurde. Denn der Islam bedrohte die Christenheit auf gefährliche Weise. Im Jahre 711 war es dem arabischen Heer gelungen, nach Spanien, das zu dieser Zeit von den Westgoten beherrscht wurde, einzudringen. Die Westgoten hatten auf ihrer langen Wanderung durch Europa das Christentum angenommen und zweihundert Jahre in Spanien geherrscht. Dann stritten sich zwei Sippen um die Königswürde. Diese Uneinigkeit ermöglichte den Arabern einen erfolgreichen Angriff. In kaum zehn Jahren besetzten sie das ganze Land. Nur im äußersten Norden, am Rand der Pyrenäen und im sich anschließenden kantabrischen Gebirge, hielten kleine Bergfürstentümer durch zähe Verteidigungskriege und listige Verhandlungen der Übermacht der Araber stand. Es war aber zu befürchten, dass die Araber bald so stark sein würden, über diese letzten Widerstandsnester hinwegzufegen, die Pyrenäen zu übersteigen und ... Nein, so weit durfte es gar nicht erst kommen! Deshalb musste der christliche Glaube wieder gestärkt und das Selbstbewusstsein der Gläubigen aufgerichtet werden. Die Menschen sollten nicht mehr in Angst vor dem krummsäbelschwingenden Halbmond zittern, sondern erkennen: Die »islamischen Teufel« sind besiegbar. Gab es Wirksameres, die Menschen aufzurichten, ihnen Mut zu machen und an ihrem Glauben festhalten zu lassen, als ein Zeichen von oben, von Gott selbst? Im rechten Augenblick hatte er ihnen das Grab des Apostels offenbart. Vom Glauben gestärkt, gewannen die Christen eine Schlacht nach der anderen. Das Land, in dem der Heilige höchstpersönlich missioniert hatte und begraben lag, durfte den Ungläubigen nicht überlassen werden. Und so hatte Jakob noch Jahrhunderte nach seinem Tod die Geschicke des Abendlandes entscheidend beeinflusst. Mir scheint möglich, dass ohne ihn die Geschichte in Europa ganz anders verlaufen wäre. So gesehen ist es egal, wessen Knochen im Marmormausoleum gelegen haben, ob es wirklich seine eigenen waren oder die eines uns unbekannten Westgoten oder Römers. Ausschlaggebend war, was die Menschen glaubten, denn im Glauben entwickeln Menschen ungeahnte Kräfte.
Nun muss ich endlich weitergehen; ein langer Weg liegt noch vor mir. Ich packe meine Aufzeichnungen zusammen und verstaue sie im Rucksack. Während des Laufens kann ich ja weiter nachdenken.
Zunächst lässt mich ein steiler Bergpfad nach Luft ringen. Laubbäume, meist Buchen mit weit ausladenden Kronen, bilden ein grünes Gewölbe. Es geht immer höher. Wind frischt auf. Ich trete hinaus auf eine baumlose, karstige Almlandschaft, die zugleich alle meine Sinne und Gedanken in Anspruch nimmt. Blaugrau, ineinander verschlungen, schwingen die weiterführenden Höhenzüge in die Ferne. Ich hatte mir die Pyrenäen anders vorgestellt – mit Schluchten, Steilwänden und Abgründen, schroffer, gewaltiger und ungezähmter. Stattdessen sehe ich gerundete Bergketten, wenngleich von enormer Ausdehnung. Der Wind bläst kräftig und kalt. Am Himmel, gehäuft und dann wieder wild zerrissen, dahineilende Wolken, die die Sonne einkreisen, sich in Formationen entschlossen vor sie schieben und dann wieder Durchschlupf freilassen, durch den die Sonne wutentbrannt gewaltige Strahlenbündel schießt.
Ein abgegrenzter Weg ist jetzt nicht mehr vorhanden. Eher ist es ein kaum sichtbarer Pfad über lockeres Kalkgeröll und festen Felsboden. Eine wie vom Wind verblasene Schafherde drängt sich zusammen, aneinander Schutz suchend. Die Pferde scheinen da weniger empfindlich zu sein. Sie stemmen ihre braunen und schwarzen Körper dem Wind entgegen, die hellen Mähnen und Schweife wehen auf wie Signale. Ein hohes Wiehern ertönt, dann galoppieren sie davon, und ich bin wieder allein in dieser vom Wind leer gefegten Welt. Am Himmel tobt noch immer der Kampf zwischen den Wolken und der Sonne, da entdeckte ich den ersten Bartgeier. Mit breiten Flügeln, so breit und starr wie Holzbalken, segelt er pfeilgeschwind über die Bergkuppen, schnell verliert er sich in der saphirblauen Ferne. Da taucht der zweite auf. Er gleitet ruhiger, majestätischer. Schließlich packt ihn eine Windböe und entführt auch ihn meinem Gesichtsfeld. Neue Geier erscheinen und verschwinden wieder. Ich vermute, es sind immer dieselben, die in weiten Kreisen die Pyrenäen nach Nahrung absuchen. Mit meiner Erscheinung sind sie inzwischen vertraut. Sie kommen weit herunter. Ich sehe das glänzende Auge, die Schönheit jeder einzelnen Feder und hörte, wie die Luft durch die kräftigen Schwingen pfeift. Ob der heilige Jakob ein zweites Wunder vorbereitet und einen Geier auf meiner Schulter landen lässt? Spaßeshalber streckte ich den Arm aus, wie ein Falkner, um dem Vogel einen Platz zum Aufbaumen anzubieten. Ach nein, schade, der Geier hat wohl sein Interesse an mir verloren und zieht wieder dem Himmel entgegen.
Ich möchte mich eigentlich ausruhen, doch es ist zu kalt zum Hinsetzen. Nach der Karte habe ich mehr als die Hälfte der Strecke noch von mir. Nicht verwunderlich, dass diese Etappe bei den Pilgern gefürchtet war. Es sind über 40 Kilometer, nicht zu vergessen die etwa 1000 Höhenmeter, die überwunden werden müssen.
Nach der Karte zu urteilen, führt die französisch-spanische Grenze über den Col de Bentartea. Ich versuche, mich zu orientieren. In dieser weit zu überblickenden Karstlandschaft ragt ein gerundeter Kalkhügel heraus. Das wird er wohl sein, der Col de Bentartea. Ich habe ihn überschritten, doch keine Hinweise auf eine Grenze gesehen, keine Schilder, keine Pfähle. So gehe ich vermutlich bereits auf spanischem Boden. Keine von Menschen markierte Trennungslinie und auch keine landschaftliche Änderung zeigen die Abgrenzung an, und doch befinde ich mich in einem anderen Land. Allein die Vorstellung genügt mir, jetzt in Spanien zu sein, um mir ein Gefühl von Ankunft zu vermitteln. Was verbindet mich ausgerechnet mit diesem Land? Warum weckt der Klang dieses Wortes »Spanien« Empfindungen in mir, als sei es mein Land? Ich komme nicht zum ersten Mal.
Bei meinen früheren Reisen merkte ich, dass die Identifikation aber nicht so weit geht, um hier zu bleiben. Vielleicht ist diese gefühlsmäßige Beziehung zu Spanien auch nur durch Einbildungen zu erklären, die sich mir in der Kindheit eingeprägt haben, Visionen von einer exotischen Ferne, in der die Sonne so heiß scheint, dass Apfelsinen auf Bäumen wachsen und reifen können, diese goldenen, aromatischen Früchte, die es nur an Weihnachten gab, gerade dann, wenn es bei uns besonders kalt war.
Der Wind hat sich gedreht und weht mir nun stark von rechts vorne entgegen. Die Wolken haben die Sonne besiegt und verhängen tief die Sicht. Graupelkörner lösen sich aus den schwarzgrauen Wolkenbäuchen und schlagen hart auf die Erde. Es tut weh, wenn die kleinen Eisklumpen auf Gesicht und Hände prasseln. Kein Baum, kein Felsvorsprung, wo ich mich unterstellen könnte. Stunden unterwegs. Ich würde nicht nur gern rasten, sondern überhaupt für diesen Tag die Wanderung beenden. Nach vielen Monaten Schreibtischarbeit bin ich an das Laufen noch nicht wieder gewöhnt. Meine Füße sind eingezwängt in feste Wanderschuhe. Von der Belastung sind sie geschwollen und brennen auch. Hoffentlich reibe ich mir keine Blasen. Auch die Schultern und Hüftknochen, auf denen der Rucksack lastet, schmerzen. Es ist sehr anstrengend, gleich am ersten Tag der Wanderung mit einer langen Gebirgsstrecke zu beginnen. Die Erschöpfung breitet sich in meinem Körper aus, ergreift von mir Besitz. Obwohl ich wünschte, mich einfach niedersinken zu lassen, zwinge ich mich zum Weitergehen, zwinge mich dazu, immer wieder einen Fuß vor den anderen zu setzen. Der felsige Boden ist feucht vom Schneegraupel. Der Wind peitscht mir jetzt Regen ins Gesicht. Mühselig schleppe ich mich weiter. Je schwächer mein Körper wird und sich gegen die Anstrengung sperrt, um so unerschütterlicher festigt sich mein Wille. Ich werde laufen, so lange, bis ich Roncesvalles erreiche, nehme ich mir vor. Es bereitet mir Freude, meinem Körper Leistung abzuringen. Ich empfinde Befriedigung, mich der eigenen Grenze anzunähern und zu spüren: Jetzt kann ich nicht mehr – und dann nicht aufzuhören, sondern immer weiterzugehen! Das ist Qual und Lust gleichzeitig. Diese Pyrenäenüberschreitung ist noch Spiel. Zur Not habe ich den Schlafsack gegen die Kälte, und die Biwakhülle schützt halbwegs gegen Nässe. Nur, sehr ungemütlich wäre es halt schon. Die lustvolle Qual entwickelt sich erst dann, wenn kein Netz zum Auffangen mehr da ist, wenn sich das spielerische Ausloten der Gefahr in tödlichen Ernst zu wandeln beginnt. Für mich ist das der Augenblick, wo ich beginne, wirklich zu leben. Erst auf diesem schmalen Grat zwischen Leben und Tod merke ich, wie mir das Leben plötzlich wertvoll wird, wert, es zu leben, wert es zu lieben. Um dieses intensive Lebensgefühl öfter zu haben, könnte ich mich auf vielerlei Weise Gefahren aussetzen, doch das fände ich albern. Ich kann die Gefahr nur dann genießen, wenn sie sich aus einer zufällig ausgelösten Auseinandersetzung mit der Natur ergibt. Als Kind war es mein Lieblingsspiel, mir Katastrophen auszumalen: riesige Überschwemmungen, Vulkanausbrüche, Erdbeben und Bergstürze, Waldbrände und Hungersnöte. Gegenüber diesen wilden Phantasien schien mir die Wirklichkeit fade und trostlos. Nicht nur, dass ich an keinen Schöpfer mehr glauben kann, ich sehe auch keinen übergeordneten Sinn im Leben. Das Leben kann schön sein, ich weiß. Ich denke an die kleine Rötelmaus, die sich vertrauensvoll in meine Hand kuschelte, oder an den Bartgeier, der wie eine Erscheinung über mir schwebte. Erlebnisse wie diese sind Augenblicke des Glücks, sie machen das Leben nicht sinnvoller, wohl aber erträglicher. Obwohl ich das Leben so gering achte, hält es sich an mir fest. Oder bin ich es selbst, die sich im letzten Moment doch immer noch festgehalten hat? Nun bin ich wieder an einem Ende angelangt. Vielleicht ist diese Pilgerwanderung ein Versuch des Festhaltens, eine Bitte, am Leben bleiben zu können, ein Suchen nach Sinn? Ich habe ein Ziel: Santiago. Es ist ein weiter Weg. Bis ich dort ankomme, kann viel passieren. Aber nicht die Ankunft in Santiago ist wichtig. Ich kann nicht wie die Menschen im Mittelalter darauf hoffen, dass mir dort ein Wunder begegnet. Was ich suche, muss ich unterwegs finden. Beschäftigt mit meinen Gedanken und erschöpft vom Laufen, habe ich kaum auf den Weg geachtet. Nun meine ich, zu weit nach links abgekommen zu sein. Mit Kompass und Karte stelle ich fest, dass ich mich auf der alten Römerstraße befinden müsste. Sie führt auch nach Roncesvalles, doch nicht über den Ibañetapass. Umzukehren kommt wegen der bald beginnenden Nacht nicht in Frage.
Die Römerstraße ist kein gepflasterter Fahrweg, wie damals vielleicht einmal, sondern ein grasbewachsener, schmaler Pfad. Steil führt er nach unten, in die mit Wäldern bedeckten Südhänge der Pyrenäen. Ich bleibe stehen und schaue zurück. Die jetzt tief hängende Sonne blitzt am Rande der Wolkenbänke hervor. Die Strahlenbündel treffen auf einen hohen Grat. In der dunkelgrauen Umgebung leuchtet er wie mystisch erhellt in goldener und smaragdgrüner Färbung. Und gerade in diesem Moment ziehen Schafe über den Grat, eins hinter dem anderen. Weiße Gestalten, umgeben von dem goldgrünen Leuchten, durchschreiten sie wie in einer schweigenden Prozession den Lichtkreis und verschwinden langsam in der einsamen Weite.
Ich folge der Römerstraße weiter abwärts und gelange in einen seltsamen Wald. Es sind Buchen mit braunen, vertrockneten Blättern. Gespenstisch ist dieser Anblick, überall nur Bäume, deren Blätter an den Ästen abgestorben sind, als hätte ein Drache seinen Glutatem ausgespien.
Jetzt wabert Nebel und umhüllt die Buchen und ihre toten Blätter. Schemenhaft nur kann ich die Stämme erkennen. Gleich Schattenbildern formen sie dunklere Strukturen im nebligen Grau. Nun verhüllen die Nebelschleier die verdorrten Laubkronen vollständig. Kein Ast stört die gerade Linie der Buchenstämme. Der Anblick erinnert mich an die Moschee Mezquita in Cordoba. Ich verspüre Ehrfurcht, friedfertige Eintracht, mystischen Gleichklang und Geborgensein in einem stillen Geheimnis.
Erst jetzt bemerke ich die Stille. Kein Vogelruf, nicht einmal ein Knistern und Rauschen. Der Nebel dämpft jeden Ton, selbst meine Schritte sind kaum hörbar.
Schlagartig verschwindet der Nebel, als ich an den Rand des toten Waldes gelange.
Mischwald schließt sich an. Weiche Moospolster laden zum Rasten ein. Ich lasse mich aber nicht verführen. Es beginnt zu dunkeln und da es nach Regen aussieht, will ich nicht im Wald übernachten. Der Weg fällt nun nicht mehr so steil ab. Die Blütenkerzen des Aphodill leuchten weiß im Dämmerlicht und schwarze Wegschnecken, länger als eine Handspanne, kriechen schleimig über den Waldboden. Plötzlich ein lautes Knacken und Rascheln im Unterholz. Ich erschrecke heftig. Bevor ich an Flucht denken kann, bricht ein großes Tier aus dem nachtdunklen Wald. Vor Schreck kann ich mich kaum rühren. Da ist der mächtige Körper nur noch eine Armlänge von mir entfernt. Erleichtert lache ich – es ist nur eine Kuh! Ein schönes Tier. Im Abendlicht glänzen die Spitzen ihrer weit geschwungenen Hörner elfenbeinfarben. Überrascht von der plötzlichen Gegenwart eines Menschen, ist die Kuh mitten auf dem Weg stehen geblieben. Sie schwingt ihren Kopf hin und her und schnauft verlegen. Beruhigend spreche ich auf sie ein. Da trollt sie sich langsam. Jetzt tritt sie leise und vorsichtig auf, kaum ein Zweig knackt.
Ich gehe weiter. Der Wald lichtet sich. Ich sehe Steinmauern und Gebäude – das ist Roncesvalles.
Der Pater redet viel und schnell. Ich muss mich erst wieder an die spanische Sprache gewöhnen und habe deshalb Mühe, ihn zu verstehen. Er ist ein kleiner, lebhafter Mann mit rundem, lebensfrohem Gesicht.
Ich habe in dem Restaurant neben dem Kloster gerade mein »Pilgeressen« bekommen, wie es in der Speisekarte bezeichnet wurde: Spiegeleier, Pommes frites, Tomatensoße und Rotwein, als Pater Sampedro eintritt und sofort auf mich zukommt.
»Usted es una peregrina, verdad«, sagt er zur Begrüßung, »Sie sind eine Pilgerin, nicht wahr? Ich erkenne Sie an Ihrem Rucksack. Bei mir bekommen Sie einen Pilgerausweis und wenn Sie wollen, können Sie auch in unserer Pilgerherberge übernachten. Ich muss jetzt die Messe lesen. Kommen Sie danach zu mir!« Und schon ist er wieder zur Tür hinaus. Ich bin überrascht: Pilgerausweis, Pilgerherberge? In welche Zeit habe ich mich denn da verirrt? Das gab es früher einmal. Aber heute? Im Mittelalter erhielten die aufbrechenden Pilger von ihrer Heimatgemeinde eine Urkunde mit dem Stempel des Bischofs, als Ausweis, wahre Pilger und keine Landstreicher zu sein. Unentgeltlich durften sie ein Lager für je eine Nacht in den Herbergen beanspruchen, außerdem bekamen sie mindestens ein Stück Brot als Wegzehrung, in den reichen Gemeinden auch Suppe, oft sogar noch Fleisch und Wein.
»Das Pilgerrecht verpflichtete jeden Bürger, ob arm oder reich, die Pilger zu beherbergen«, berichtet der Pater, als ich ihn nach der Messe aufsuche.