Petit Hector wird nicht belohnt
In seinem Schulleben lief es für Petit Hector inzwischen weniger gut. Er hatte nun immer ein wenig Angst vor Victor, und auf dem Pausenhof blieb er stets mit Orhan, Binh und Arthur zusammen. Wenn Victor von Weitem sah, dass sie schon wieder beieinanderstanden, musste er grinsen.
Binh hatte eine schwierige Mission übernommen: Er war zu Dezitonne – Pardon, Eugène – hinübergegangen, um ihm zu sagen, dass sich Petit Hector gar nicht über seine Mutter lustig gemacht hatte, aber Eugène hatte ihm nicht zuhören wollen, und Victor hatte gesagt, Schlitzauge solle die Flocke machen, ansonsten kriege er genauso seine Abreibung. Von Weitem hatten Petit Hector und die anderen den Eindruck gehabt, dass Binh sich gleich auf Victor stürzen würde, aber nein, er war zu ihnen zurückgekommen, schließlich war er ja ein Abgesandter und musste ihnen berichten, was Eugène gesagt hatte, statt sich zu prügeln.
Auf dem Pausenhof passierte eigentlich nicht viel, aber dafür nach dem Klingelzeichen, wenn die Schüler aus dem Klassenzimmer strömten oder zur nächsten Unterrichtsstunde einrückten. Victor versuchte dann immer in Petit Hectors Nähe zu sein, und wenn ihm das gelang, versetzte er ihm einen Tritt ans Schienbein, was niemandem auffiel, aber sehr schmerzhaft war, oder aber er versuchte, ihn die Treppe hinunterzuschubsen. Petit Hector musste immer mehr aufpassen, Victor nicht zu nahe zu kommen, und meistens gelang ihm das auch, aber nicht immer.
Wegen Victor begann er sich davor zu fürchten, in die Schule zu gehen.
Er hatte natürlich daran gedacht, alles seinen Eltern zu erzählen, aber was hätte das geändert? Seine Eltern hätten mit dem Lehrer gesprochen, alle hätten Wind von der Sache bekommen, er hätte als Petzer dagestanden, und Victor hätte es nicht daran gehindert, ihm weiterhin Fußtritte zu verpassen oder ihn zu schubsen, wenn gerade niemand zuschaute. Höchstens hätte man Victor für einen oder zwei Tage vom Unterricht ausgeschlossen, aber wenn er danach wieder zurückkam, was dann?
»Hast du Sorgen, Petit Hector?«, fragte seine Maman. Man sah es ihm offenbar an, dass er Kummer hatte. Auch sein Vater schaute ihn an. Es war ein Sonntagabend, und natürlich machte er sich Sorgen, denn morgen musste er wieder in die Schule.
Am Ende sagte er ihnen, dass es in seiner Klasse einen Großen gab, vor dem er sich fürchtete und der ihn pausenlos ärgerte.
»Aber warum denn?«, fragte seine Maman.
»Wegen nichts. Er kann mich nicht leiden, und das ist alles. Er ist so einer.«
Petit Hector hatte keine Lust, die Geschichte von Anfang an zu erzählen; wahrscheinlich hätten seine Eltern sonst wieder mit ihrem Streit zum Thema Verdienste angefangen.
Hector und Clara schauten einander an.
»Hast du schon mit dem Lehrer gesprochen?«, fragte Clara.
»Nein.«
»Dann werde ich mit ihm reden.«
»Nein!«, rief Petit Hector. »Dann wissen doch alle, dass ich es erzählt habe, und ich stehe als Petzer da!«
»Hast du dich schon mit ihm geprügelt?«, fragte sein Papa.
»Hector …«, sagte Clara.
»Nein«, entgegnete Petit Hector. »Er ist größer als ich.«
»Du hast doch gute Freunde?«
»Ja«, sagte Petit Hector.
»Und er?«
»Er hat bloß Dezitonne … äh … Eugène.«
»Sehr gut«, meinte sein Papa, »das wird funktionieren.«
»Hector …«, sagte Clara.
»Also gut, du gehst mit deinen Freunden zu ihm hin und sagst ihm: Wenn du mir das nächste Mal blöd kommst, dann werden wir fünf es dir doppelt heimzahlen!«
»Hector!«, sagte Clara.
»Und dabei musst du ganz ruhig bleiben«, sagte sein Papa. »Das wird ihm mehr Angst einjagen.«
»In Ordnung«, sagte Petit Hector.
»Wären deine Freunde einverstanden, mit dir zusammen zu ihm zu gehen?«
»Bestimmt.«
Petit Hector war sehr zufrieden. Er hatte schon selbst ungefähr die gleiche Idee gehabt wie sein Papa, aber weil man ihm ständig gesagt hatte, dass es sehr schlimm sei, sich zu prügeln, hatte er es nicht gewagt. Sein Papa war wirklich der beste der Welt!
Aber seine Maman schien alles andere als zufrieden zu sein. Sie sagte gar nichts mehr und schaute seinen Vater seltsam an.
»Das ist eine Geschichte unter Jungs«, sagte der in entschuldigendem Ton.
Seine Mama drehte sich zu ihrem Sohn hin und sagte: »Petit Hector, ich glaube, es wäre gut, wenn du jetzt in deinem Zimmer ein bisschen den Unterrichtsstoff wiederholen würdest.«
Und Petit Hector ging in sein Zimmer hoch, allerdings nicht so ganz; er blieb oben auf dem Treppenabsatz stehen und horchte.
»Du willst unserem Sohn beibringen, dass Gewalt eine Lösung für Probleme ist!«
»Nein, ich will ihm helfen, sich Respekt zu verschaffen.«
»Darf ich dich daran erinnern, dass sich das alles in einer Schule abspielt! Dort gibt es andere Wege, um so ein Problem zu lösen.«
»Egal ob in der Schule oder anderswo, es ist wichtig, sich Respekt zu verschaffen. Das hat vor mir schon Schopenhauer gesagt.«
»Schopenhauer?«
»Er hat gesagt, dass die Ehre eines Menschen in Hinblick auf die Gesellschaft dadurch bestimmt wird, wie die anderen ihn zu behandeln – und also auch zu misshandeln – wagen. Oder möchtest du, dass unser Sohn ein Märtyrer wird?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Na ja, dann muss er lernen, sich zu verteidigen.«
»Ich werde mit dem Lehrer sprechen.«
»Mach das bitte nicht. Petit Hector wird in seinem Leben nicht immer eine Maman und einen Lehrer haben, die ihn beschützen. Er muss lernen, sich selbst aus der Affäre zu ziehen.«
»Wie ein kleiner Schlägertyp!«
»Ganz und gar nicht, sondern wie ein Junge, der Bündnisse schmieden kann. Das ist im Leben sehr nützlich. Muss ich das ausgerechnet dir sagen?«
Danach wurde es ziemlich kompliziert; sein Papa erinnerte seine Maman daran, wie sie es Freunden, die wiederum Freunde von großen Chefs waren, zu verdanken hatte, dass sie von einem kleinen Chef, der sie nicht leiden konnte, nicht entlassen worden war – es war ein bisschen wie mit Victor und Petit Hector.
»Einverstanden«, sagte seine Maman, »aber glaubst du nicht, dass unser Sohn diese ganzen schmutzigen Winkelzüge ein bisschen früh lernt?«
»Meiner Ansicht nach ist es nie zu früh, und am Ende kommt sowieso keiner drum herum.«
»Du machst mich ganz traurig«, sagte Petit Hectors Mutter.
»Chérie, ich verstehe ja, dass du willst, dass unser Sohn ein guter Mensch wird und vorbildlich handelt, aber er muss sich im Leben auch zu verteidigen wissen. Ich erlebe das doch tagtäglich …«
»Was erlebst du tagtäglich?«
»Von früh bis spät kommen Leute in meine Sprechstunde, die supernett sind, aber auch deprimiert, weil sie von den anderen schlecht behandelt werden – bei der Arbeit, in der Familie … Sie haben es nie gelernt, sich richtig zu wehren.«
»Aber Petit Hector ist imstande, sich zu wehren!«
»Sicher, aber bei uns lernt er vor allem Freundlichkeit. Ich möchte, dass er den kompletten Satz Spielkarten in die Hand bekommt.«
»Du möchtest, dass er Gewalt mit Gewalt beantwortet!«
»Nein, aber er muss die Wahl haben. Wenn er größer ist, kann er immer noch beschließen, auch die andere Wange hinzuhalten, aber ich will, dass er die Wahl hat, entweder still zu leiden oder doppelt so hart zuzuschlagen wie der andere!«
Petit Hector gefiel dieser Satz außerordentlich. Er sagte sich, dass sein Papa ihm bestimmt beibringen würde, wie man den Fiesen ordentlich eins aufs Maul gibt – was würden die bald alle Schiss vor ihm haben!
»Ich verstehe das ja«, sagte seine Maman, »und trotzdem macht es mich traurig.«
»Aber überleg doch mal, ist es nicht dasselbe, wie wenn er am Sonntag mit dir in die Kirche geht? Am Ende wird er selbst entscheiden, ob er damit weitermacht, ob er sich seinen Glauben bewahrt. Du lässt ihm die Wahl, sich später selbst zu entscheiden.«
»Ist es denn eine Frage der Entscheidung, ob man glaubt oder nicht?«
»Nein, einverstanden, da ist natürlich die göttliche Gnade, aber zweifelst du denn niemals?«
»Doch«, sagte seine Maman, »wie alle Leute …«
»Mein Liebling«, sagte sein Papa.
Und dann sagten seine Eltern für eine Weile gar nichts mehr, und Petit Hector hörte seine Maman schniefen. Weinte sie etwa?
Das machte Petit Hector ein bisschen Angst, und so verzog er sich in sein Zimmer, ohne ein Geräusch zu machen.
Er schaltete seinen Computer ein und fand rasch ein Kampfspiel, bei dem es ihm gelang, einen muskelbepackten Bösen auf dem Bildschirm in ein Häufchen Fetzen zu verwandeln. Er stellte sich vor, dass es Victor war. Jedes Mal, wenn der Böse sich wieder aufrichtete, zertrümmerte er ihm mit einem Fußtritt den Kopf. Er sah mit großer Befriedigung, dass er seinen Rekord vom letzten Mal verbessert hatte.
Später, vor dem Schlafengehen, griff er nach seinem kleinen Heft.
Im Leben ist es wichtig, einen kompletten Satz Spielkarten zu haben.
Man kann den anderen mehr Angst machen, wenn man nicht in Zorn gerät.
Wenn man Freunde hat, kann man Bündnisse schmieden.
Wenn ich groß bin, kann ich entscheiden, nicht mehr in die Kirche zu gehen.
Petit Hector und die Fantastischen Fünf
Am nächsten Tag erzählte er Guillaume, Arthur, Binh und Orhan von der Idee seines Vaters, wobei er aber so tat, als wäre es seine eigene Idee gewesen. Sie hörten ihm zu und fanden, dass es ein guter Einfall war. Petit Hector hatte das bereits gewusst, ehe er zu reden begonnen hatte, denn sie waren wirklich sehr gute Freunde und hatten schon vorher versucht, ihn zu verteidigen.
Victor war zwar größer und kräftiger als sie, aber zu fünft waren sie von gewaltiger Schlagkraft, ein bisschen wie die Ritter der Tafelrunde, wenngleich es von denen ein paar mehr gegeben hatte.
Guillaume war der beste Fußballspieler und also sehr gewandt, wenn es um das Austeilen von Fußtritten ging. Binh konnte richtig hart zuschlagen, und alle wussten, dass man ihn nicht aufhalten konnte, wenn er erst mal losgelegt hatte. Orhan war groß und ein bisschen dick, und wenn sie im Spiel versucht hatten, sich gegenseitig zu Fall zu bringen, hatte nie jemand geschafft, ihn umzustoßen. Arthur hatte nichts Besonderes, aber er war furchtlos. Auch Petit Hector hatte keine Angst, und außerdem war die Idee sowieso von ihm gewesen.
Victor und Dezitonne unterhielten sich gerade in einer Hofecke miteinander, als sie die Fantastischen Fünf anrücken sahen.
»Hör zu«, sagte Petit Hector zu Victor, »von heute an wirst du mir nie wieder blöd kommen.« Er spürte, wie sein Herz heftig pochte, passte aber auf, dass er weder ängstlich wirkte noch in Wut geriet – ganz, wie sein Vater es ihm geraten hatte.
»Vielleicht«, sagte Victor. »Wenn ich will.«
»Ich hoffe sehr für dich, dass du willst«, sagte Petit Hector, »denn sonst werden meine Kumpels und ich dich jeden Tag verprügeln.«
»Genau«, sagte Guillaume.
»Exakt«, sagte Orhan.
»So ist es«, sagte Binh.
»Genau so«, sagte Arthur.
»Pfff, ihr Gartenzwerge«, sagte Victor, »ihr seht ja so was von zum Fürchten aus.«
Petit Hector spürte, dass Binh und Orhan kurz davor waren, sich auf Victor zu stürzen, aber er wollte das nicht, denn sonst hätte es eine große Schlägerei gegeben, und sein Papa und seine Maman hätten es erfahren.
»Sag, was du willst«, meinte Petit Hector, »aber von jetzt ab ist es so. Und Eugène – ich habe mich nie über deine Mutter lustig gemacht, da ist nichts dran.«
»Halt die Schnauze«, sagte Eugène.
Victor sagte diesmal nichts. Aber Petit Hector merkte, dass er ziemlich verdattert aussah, und das freute ihn unheimlich.
»Genug geredet«, sagte Petit Hector, »wir haben euch gewarnt.«
Und er gab seinen Freunden ein Zeichen, dass sie jetzt fortgehen konnten.
Um sie herum standen noch andere Schüler, die die Auseinandersetzung verfolgt hatten, und Petit Hector sagte sich, dass es auch besser war, wenn alle Bescheid wussten. Sogar einige Mädchen hatten zugeschaut, und Petit Hector hoffte inständig, unter ihnen Amandine zu entdecken, denn so hätte sie ihn als Häuptling erleben können, aber ach, sie spielte genau auf der anderen Hofseite.
Gerade in dem Moment, als sich die Fantastischen Fünf aus der Menge lösten, kam der Pausenaufseher herüber und fragte: »Was ist denn hier schon wieder los?«
»Nichts«, sagte Petit Hector, »wir haben nur miteinander geredet.«
Er fühlte sich sehr, sehr glücklich. Er hatte den Eindruck, etwas getan zu haben, das sehr wichtig war, wenn man das Leben mit dem ganz großen L lernen wollte.
Petit Hector ist stolz auf seinen Papa
Von Zeit zu Zeit durften ein Vater oder eine Mutter in den Unterricht kommen, um zu erklären, was sie im Leben so machten. Die Berufe der Leute zu verstehen, war eine gute Methode, um das Leben mit dem ganz großen L zu erlernen.
Es kamen aber nicht alle Eltern; manche hatten anscheinend zu viel Arbeit, oder vielleicht hatten sie auch keine Lust, etwas über ihren Beruf zu erzählen.
Einmal war zum Beispiel Guillaumes Vater gekommen, der als Koch arbeitete. Das war ein Beruf, den jeder gut verstehen konnte, und so stellten die Schüler ihm Fragen, und Guillaume war ziemlich stolz auf seinen Vater, besonders als der erklärte, dass Koch ein harter Job war: Man musste morgens sehr früh aufstehen, um Einkäufe zu machen, und dann stand man die ganze Zeit in der Küche, wo es heiß war. Immer musste man sich beeilen, und manchmal verlor man ziemlich schnell die Nerven.
Der lange Victor – und da waren alle erstaunt, denn Victor stellte im Unterricht sonst nie Fragen –, der lange Victor also sagte, dass Guillaumes Vater das Restaurant besser kaufen solle, denn so könne er Geld verdienen, ohne selbst arbeiten zu müssen, und sein großer Bruder mache es übrigens genau so und besitze schon mehrere Restaurants, oder na ja, eigentlich waren es Bars, denn mit warmer Küche war es einfach zu anstrengend, während sich Flaschen schnell bestellen ließen und Getränke überhaupt viel mehr Geld reinbrachten.
Aber da sagte Binh, dass es bald überall nur noch Bars geben würde, wenn es alle so machen würden – und wo könnte man dann noch zum Essen ins Restaurant gehen?
Das fanden alle ziemlich einleuchtend, aber Victor sah plötzlich nicht mehr so zufrieden aus und sagte bis zur Pause gar nichts mehr. Wenn Binhs Großeltern, die ein Restaurant führten, mit im Klassenzimmer gesessen hätten, wären sie gewiss stolz auf ihren Enkelsohn gewesen!
Schließlich war der große Tag gekommen, und Petit Hector war ganz aufgeregt, als er seinen Vater neben dem Klassenlehrer sitzen sah. Er freute sich und hatte trotzdem ein wenig Angst, weil er sich fragte, ob sein Papa womöglich wieder irgendetwas Seltsames sagen würde, denn manchmal passierte ihm das, und dann würden bestimmt alle zu lachen anfangen, und man konnte nicht wissen, wie er das aufnehmen würde.
Sein Vater erklärte, dass er zunächst Medizin studiert hatte, um ein richtiger Arzt zu werden. Dann hatte er sich für die Psychiatrie entschieden, weil man als Psychiater – wie ein anderer Arzt auch – den Menschen helfen konnte, damit es ihnen wieder besser ging.
»Sogar den Verrückten?«, fragte jemand aus den hinteren Sitzreihen.
Petit Hector drehte sich um. Es war Matthieu gewesen, ein sehr ruhiger Junge mit einer großen Brille, der in allem mittelprächtig war, selbst in Sachen Freunde; er kam mit allen gut zurecht, war aber von niemandem der beste Freund.
Petit Hector fand, dass es keine so gute Frage gewesen war, denn sein Vater hatte ihm schon erklärt, dass man nicht »die Verrückten« sagen sollte.
»In der Psychiatrie spricht man nicht von ›Verrückten‹«, sagte sein Papa. »Für uns sind das kranke Menschen, also ist es nicht sehr nett, wenn wir sie verrückt oder irre nennen.«
»Ja«, sagte Matthieu, »aber mein großer Bruder ist trotzdem verrückt.«
Alle waren überrascht, denn von Matthieus großem Bruder hatte noch nie jemand etwas gehört, aber Matthieu erzählte ja sowieso nicht viel. Eine Weile sagte niemand etwas, und gerade wollte der Lehrer zum Sprechen ansetzen, als Petit Hectors Vater sagte: »War dein Bruder schon einmal im Krankenhaus?«
»Ja«, antwortete Matthieu, »und da haben sie ihm jede Menge Medikamente gegeben, und hinterher war mit ihm überhaupt nichts mehr los.«
»Das kann am Anfang passieren«, sagte Petit Hectors Vater. »Manchmal findet man das richtige Medikament nicht gleich im ersten Anlauf.«
»Aber es war nicht der erste Anlauf«, sagte Matthieu, »er ist schon so oft im Krankenhaus gewesen, und es war immer dasselbe.«
»Hat er schon versucht, ohne die Medikamente zurechtzukommen?«
»Ja, aber das klappt auch nicht gerade gut … Dann beginnt er mit sich selbst zu reden und …«
Matthieu konnte nicht weitersprechen, und Petit Hector hatte das Gefühl, er würde gleich losweinen.
»Hört mal«, sagte sein Papa, »ich glaube, ich muss mit eurem Klassenkameraden hinterher extra reden. Das ist dann so, als wenn man mit seinem Arzt spricht, unter vier Augen.«
»In Ordnung, Matthieu?«, sagte der Lehrer. »Hectors Vater wird sich dann gleich mit dir unterhalten.«
Matthieu schniefte und sagte Ja.
»Matthieus Geschichte ist sehr wichtig«, sagte Petit Hectors Vater. »Es gibt nämlich in vielen Familien jemanden, der solche Probleme wie Matthieus Bruder hat. Dass er -darüber gesprochen hat, ist also sehr gut und auch sehr mutig. Bravo, Matthieu!«
»Beifall für Matthieu!«, sagte der Lehrer, und die ganze Klasse begann zu klatschen. Matthieu guckte ziemlich verlegen, aber gleichzeitig merkte man, dass es ihn freute.
Danach gab es noch andere Fragen.
»Können Sie sehen, was die Leute denken, indem Sie sie einfach nur beobachten?«
»Nein, viele Menschen glauben das, aber damit wir -wissen, was jemand denkt, muss er schon den Mund aufmachen.«
Petit Hector war enttäuscht – er wusste doch, dass sein Papa die Leute nur anzuschauen brauchte und gleich sehen konnte, was sie dachten! Aber vielleicht wollte er es nicht vor allen sagen, ein bisschen wie Clark Kent, der auch keinem sagt, dass er Superman ist.
»Und wenn alle Leute Medikamente nehmen würden, wäre dann jeder freundlich, und würde niemand mehr Unsinn machen?«
Der Lehrer und Petit Hectors Vater blickten einander an. Die Frage war von Aurélien gekommen, und Petit Hector begriff, dass Aurélien es sehr gern gesehen hätte, wenn alle Welt freundlich zu ihm gewesen wäre.
Sein Papa sagte, dass man Medikamente nur nehmen solle, wenn man krank ist, und überhaupt sei ein Medikament, das alle Leute nett und freundlich macht, noch nicht erfunden; da müsse man sich schon selber bemühen.
»Aber was ist mit denen, die keine Lust haben, sich zu bemühen?«, fragte Aurélien.
»Nun, denen wird es das Leben schon beibringen«, meinte der Lehrer.
Das erinnerte Petit Hector an das Gespräch mit seinen Eltern, als es darum gegangen war, weshalb man freundlich sein sollte, aber er sagte sich, dass jetzt nicht der richtige Moment war, um darüber zu reden. Inzwischen wusste er, dass die beste Strategie im Umgang mit nicht so netten Leuten war, sich Freunde zu suchen und stärker zu sein als die nicht so Netten. Er wollte versuchen, das auch Aurélien zu erklären, aber na ja, Aurélien hatte vor allem ein offenes Ohr für das, was der Lehrer sagte.
Und es gab noch andere Fragen: Konnte Hectors Papa einen anderen Papa daran hindern, zu viel zu trinken? Oder eine große Schwester davon abhalten, noch spät am Abend aus dem Haus zu gehen und Drogen zu nehmen? Oder eine Maman dazu bringen, zur Arbeit zu gehen, auch wenn es ihr schwerfiel, morgens aus dem Bett zu kommen, und sie schon seit einiger Zeit nichts mehr kochte? Oder konnte er die Leute daran hindern, sich umzubringen?
Und Petit Hectors Vater beantwortete jede Frage, indem er erklärte, wie ein Psychiater den Leuten helfen kann: Er hört ihnen zu, er spricht mit ihnen und verschreibt ihnen Medikamente, wobei er versucht, gleich im ersten Anlauf die richtigen zu finden.
Fast alle Schüler stellten ihm Fragen, und Petit Hector war sehr stolz, denn man konnte ja sehen, dass der Beruf seines Papas für jeden interessant war!
Als sie später im Auto saßen, fragte ihn sein Vater, ob er zufrieden war mit seinem Auftritt vor der Klasse.
»O ja! Fast alle haben dir Fragen gestellt!«
»Ja, das stimmt.«
»Und was hast du Matthieu gesagt?«
»Das ist ein Geheimnis, Petit Hector.«
»Na gut, aber es ist kein Geheimnis, dass du ihm etwas gesagt hast – das wissen jetzt doch alle.«
»Matthieu braucht einfach jemanden, mit dem er über die Sorgen sprechen kann, die er sich wegen seines Bruders macht.«
»Und wird er mit dir sprechen?«
»Nein, aber wir werden jemanden für ihn finden …«
»Unsere Frau Schulpsychologin!«, rief Petit Hector.
»Ähm …«, sagte sein Papa, »das ist ein Geheimnis.«
Petit Hector war stolz, dass er es herausgefunden hatte! Er sagte sich, dass jetzt auch er die Gedanken der Leute erraten konnte, indem er sie bloß anschaute.
Später fragte er seinen Papa: »Du kannst also allen Menschen helfen? Jedem, der Sorgen hat?«
»Nein. Zunächst einmal nur den Menschen, die zu mir in die Sprechstunde kommen. Und dann brauchen auch gar nicht alle Menschen Hilfe, Petit Hector – den meisten gelingt es, ganz allein mit ihren Sorgen fertig zu werden!«
»Na, ein Glück«, meinte Petit Hector, »sonst müsstest du Tag und Nacht arbeiten, und Maman und ich würden dich gar nicht mehr sehen!«
»Genau!«, sagte sein Papa. »Aber so weit wird es nie kommen.«
Das Licht des späten Nachmittags begann allmählich zu schwinden, aber noch war es hell; es war eine Stunde, die Petit Hector sehr gern hatte. Er fragte seinen Papa: »Fahren wir nach Hause?«
Sein Papa schaute auf die Uhr.
»Wir haben noch Zeit für einen kleinen Spaziergang.«
»Fahren wir in den Wald?«
»Na los!«
Und so sah das Glück aus, denn Petit Hector hatte eigentlich den ganzen Tag darauf gehofft, dass sein Papa mit ihm einen kleinen Waldspaziergang machen würde.
Am Abend schrieb er nur ein paar Worte in sein Notizbüchlein:
Ich habe den besten Papa der Welt.
Und er kann fast jedem helfen: den Verrückten den Leuten, die sehr krank sind, und auch solchen, die einfach bloß Sorgen haben.
Petit Hector und das Wort des Herrn
Am Sonntag lebte er sein Leben mit den Eltern, aber doch ein bisschen anders als an den übrigen Tagen.
Zuerst ging Petit Hector mit seiner Maman in die Kirche. Es war einer jener Augenblicke, die er mit ihr allein verbrachte, und es machte ihn stolz, wenn die Leute sie beide zusammen sahen.
Als er noch kleiner gewesen war, hatte er eines Tages sogar zu seinem Papa gesagt: »Ich möchte Maman später gern heiraten!« Kaum hatte er das ausgesprochen gehabt, war ihm auch schon klar geworden, dass er gerade etwas sehr Dummes gesagt hatte, aber sein Papa hatte gelacht und gesagt: »Wenigstens mal einer, der es nicht verdrängt!«, und Petit Hector hatte nicht verstanden, was das bedeuten sollte, aber zumindest hatte er begriffen, dass er in den Augen seines Papas keine große Dummheit gesagt hatte.
Jetzt fuhren sie also zur heiligen Messe, und Petit Hector saß im Auto hinter seiner Maman.
»Maman, warum kommt Papa nicht mit in die Messe?«
»Weil er so vielen Leuten geholfen hat und davon jetzt ganz müde ist.«
»Hat er ihnen beigebracht, die gute Seite der Dinge zu sehen?«
»Genau so ist es«, sagte seine Maman. »Und wenn dein Papa damit fertig ist, muss er sich erholen, damit er auch für sich selbst weiterhin die gute Seite der Dinge sehen kann.«
Petit Hector nickte, aber er sagte sich, dass auch seine Maman eine Menge arbeitete, und trotzdem ging sie in die Kirche.
»Und in die Kirche braucht man nur zu gehen, wenn es einen interessiert?«, fragte er.
»Äh … ja … natürlich.«
Danach sagte seine Maman eine Weile lang gar nichts, und schließlich fragte sie: »Wenn ich nicht dabei wäre, hättest du dann trotzdem Lust hinzugehen?«
»Ich weiß nicht.«
Das stimmte auch, er war nicht sicher. Er wusste, dass er seiner Maman und natürlich auch dem lieben Gott eine Freude machte, wenn er in die Messe mitkam, aber andererseits langweilte er sich dort sehr. Am liebsten mochte er den Moment, wo er den Priester sagen hörte: »Lamm Gottes«, denn er wusste, dass es danach nicht mehr lange dauerte. Manchmal nutzte er die Messe auch dazu, den lieben Gott darum zu bitten, dass seine Eltern und er immer glücklich sein würden oder dass Victor ihm keine Fußtritte mehr verpassen sollte, aber das war ja nun nicht mehr nötig, und er konnte seine Gebete für andere Dinge auf-sparen wie beispielsweise, dass er abends länger fernsehen durfte oder dass er in Mathe bessere Noten bekam als Arthur.
Von Zeit zu Zeit gab es auch sehr schöne Orgelmusik, und dann hatte Petit Hector den Eindruck, viel besser zu spüren, dass es einen lieben Gott gab.
»Maman – mit dir gehe ich immer in die Kirche!«
»Das ist lieb von dir, Petit Hector.«
Und Petit Hector spürte genau, dass seine Maman, hätte sie nicht gerade am Lenkrad gesessen, ihm ein Küsschen gegeben hätte.
Der Priester in dieser Kirche war ein ziemlich kleiner und dicker Herr und wirkte immer recht fröhlich. Er sang falsch, aber dafür sehr laut. Petit Hector sagte sich, dass er vielleicht mit Absicht so falsch sang, damit alle Kirchenbesucher, wenn er mal wieder loslegte, auch schnell zu singen anfingen, um ihn zu übertönen.
Das Interessante war, dass der allsonntägliche Priester diesmal einen anderen Priester eingeladen hatte, einen seiner Freunde, damit der die Predigt hielt. Der andere Priester war auch schon recht alt, aber sehr groß und ziemlich schön, und Petit Hector fand, dass er einem alten Filmschauspieler ähnlich sah. Und dieser Priester lebte die meiste Zeit in Afrika. Er begann zu erzählen, wie er vor langer Zeit, als er gerade in Afrika angekommen war, einem Krieger der Kikuyu begegnet war. (Petit Hector liebte dieses Wort, kaum dass er es gehört hatte.) Dieser Krieger kam von Zeit zu Zeit in die heilige Messe und blieb dann mit seiner Lanze ganz hinten in der Kirche stehen. Der Priester hatte ihn gefragt, weshalb er sich für die Religion unseres Herrn interessiere.
»Liegt es daran, dass unsere Gebote sagen, man solle nicht töten und nicht stehlen?«
»Nein, auch bei den Kikuyu verbietet es das Gesetz, unsere Kikuyu-Nachbarn zu töten oder zu bestehlen.«
»Liegt es daran, dass wir von einem Gott sprechen, der die Welt erschaffen hat?«
»Nein, auch in unserer Religion gibt es einen Gott, der die Welt erschuf.«
»Oder liegt es vielleicht daran, dass sich Jesus für unsere Sünden geopfert hat?«
»Nein, auch bei uns wird ein Mann, der sein Leben für die Rettung des Stammes opfert, als der beste von allen angesehen, und man wird ihm immer ein ehrendes Andenken bewahren.«
»Aber woran liegt es dann?«
»Na ja, deine Religion sagt doch Folgendes: Wenn ich am Wegesrand einen verletzten Kamba antreffe, der sich nicht mehr verteidigen kann – und die Kamba sind unsere Feinde, seit der Mond am Himmel hängt, sie sind schändliche Geschöpfe, die nicht an dieselben Dinge glauben wie wir –, dann muss ich, statt ihm den endgültigen Stoß zu geben, ihn versorgen und pflegen, denn er ist wie mein Bruder. Und da sage ich mir, dass deine Religion nicht so ist wie die anderen.«
Und der Priester sagte weiter, dass unser Herr Jesus Christus es wolle, dass alle Männer und Frauen, unsere Feinde inbegriffen, wie unsere Brüder und Schwestern sind. Und dass dies schon in der Religion der Vorväter unseres Herrn ausgesprochen worden sei, denn bereits ein gewisser Levitikus habe angemerkt, man solle freundlich zu den Fremden sein, weil man ja in einem anderen Land genauso ein Fremder wäre.
Das brachte Petit Hector zum Nachdenken: Vorher hatte er gedacht, dass einzig und allein sein Land kein Ausland wäre, und plötzlich begriff er, dass es für die anderen Länder ebenso Ausland war.
Diese Geschichten mit WirsindalleBrüder fand Petit Hector sehr hübsch, aber was sollte man machen, wenn einen solche Brüder wie Victor angriffen? Da musste man sich wohl oder übel verteidigen. Er stellte sich vor, wie er den verletzten Victor am Wegesrand antraf, und er fragte sich, ob er ihn versorgen und pflegen würde oder ihm einfach den Schädel zerträte wie in dem Videospiel. Nein, vielleicht würde er sich tatsächlich um ihn kümmern, aber vorher würde er ihm sicherheitshalber eine Narkose geben.
Die beiden Priester redeten noch eine Weile weiter; sie schienen sehr froh zu sein, sich wiedergetroffen zu haben, sie hatten sich in ihren jungen Jahren gekannt, denn der Allsonntagspriester war vor langer Zeit ebenfalls in Afrika gewesen. Petit Hector sagte sich, dass die beiden sicher getan hatten, was sie konnten, aber wenn er im Fernsehen manchmal so sah, was in Afrika passierte … Die Geschichte mit WirsindalleBrüder musste ziemlich schwer zu begreifen sein. Vielleicht lag es ja daran, dass die Schwarzen mehr Mühe hatten als die Weißen, Jesus zu verstehen, weil der ja ein Weißer gewesen war, aber später sagte ihm sein Vater, dies sei nicht das Problem und selbst in den Ländern der Weißen, wo man die Religion von Jesus gut kannte, seien ebenso schreckliche Dinge passiert wie in Afrika und man habe Gefangene getötet und sogar Babys.
Am Abend schrieb Petit Hector in sein kleines Notizheft:
Kikuyu
Jesus will, dass wir die anderen wie Brüder oder Schwester lieben, sogar unsere Feinde.
Wenn unsere Feinde verwundet sind, ist es einfacher, sie zu lieben.
Wir sind alle Brüder, aber das ist schwer zu begreifen, sogar für die Weißen.
Petit Hector spürt nicht einmal den Schmerz
Letztendlich hatte die Idee, auf die ihn sein Vater gebracht hatte, gut funktioniert.
Seit Petit Hector, Guillaume, Binh, Orhan und Arthur zusammen zu Victor gegangen waren, hatte der Petit Hector nicht mehr behelligt, und er passte jetzt sogar auf, ihm oder seinen Freunden niemals zu nahe zu kommen.
So ein Bündnis schien viel besser zu funktionieren als WirsindalleBrüder, und hatten das vor langer Zeit nicht auch schon die Ritter der Tafelrunde begriffen?
Und das Lustige daran war, dass es inzwischen die ganze Klasse wusste – wenn jemand einem von ihnen blöd kam, kriegte er es mit den vier anderen zu tun. Und das war so gekommen:
Eines Tages hatten sich zwei Mädchen an Petit Hector gewandt; Amandine war leider nicht dabei, aber nette Mädchen waren es trotzdem. Sie waren sauer, weil zwei Jungs ihnen den Ball geklaut hatten, um selbst damit zu spielen. Die Jungen waren aus einer anderen Klasse, aber Petit Hector kannte sie; es waren zwei Brüder, die man immer nur im Doppelpack sah, zwei richtige Idioten, und sie zogen immer diese Art von Hosen an, die weit über die Schuhe hängen und von denen Petit Hectors Mutter nicht wollte, dass er sie sich in den Geschäften aussuchte.
»Schauen wir doch mal«, sagte Petit Hector, und die Fantastischen Fünf gingen zu den beiden Brüdern hinüber, die in einer Ecke spielten und lachten.
»Die Mädchen brauchen ihren Ball zurück«, sagte Petit Hector.
»Hä? Geht dich das etwa was an?«
»Nicht nur mich. Es geht uns alle fünf an.«
»Ja«, sagte Guillaume, »das tut es.«
»Ja«, sagte Binh, »sie müssen ihren Ball zurückbekommen.«
»Ja«, sagte Orhan, »und zwar sofort.«
»Genau«, sagte Arthur.
Die beiden Brüder schienen ein bisschen erstaunt zu sein, hatten aber aufgehört zu spielen. Schließlich warf der eine den Ball in Richtung Petit Hector, aber so, dass er ihn mitten ins Gesicht traf. Und da verpasste Guillaume dem Werfer einen Fußtritt, Orhan brachte ihn zu Fall, und obwohl er schon rief: »Aufhören! Aufhören!«, drosch Binh weiter auf ihn ein. Arthur sagte den anderen, dass es genug sei, denn die Pausenaufsicht würde sonst gleich Wind von der Sache bekommen.
Petit Hector tat die Nase ein bisschen weh, aber ein Glück, er hatte den Ball trotzdem gefangen, und sie gingen gemeinsam zu den Mädchen hinüber, um ihn abzuliefern. Als er den Ball überreichte, schauten ihn die Mädchen mit großen Augen an und sagten: »Aber du blutest ja!«
Da merkte Petit Hector, dass ihm ein bisschen Blut aus der Nase lief. Er sah, wie ihn die Mädchen anschauten, wenn auch leider nicht Amandine, aber er fühlte sich trotzdem stolz und meinte: »Ach, das ist weiter nichts. Tut nicht mal weh.«