Aus dem Englischen
von Jürgen Bürger und Kathrin Bielfeldt
liebeskind
TEIL EINS
1876
Der Junge erschoss Wild Bills Pferd in der Abenddämmerung, während Bill in den Büschen war, um sich zu erleichtern. Bis auf das Pferd war es für alle ein Glück, dass es passierte, als es passierte, aber auch kein so großes Glück, als dass Gott dabei seine Hand im Spiel gehabt haben könnte. Bill brauchte in den Büschen immer eine Weile – als er losging, war es noch hell –, und alle Dinge haben ihre Zeit.
Der Junge hieß Malcolm Nash. Er war der jüngere Bruder von Charley Utters Frau und zusammen mit Charley und sechsunddreißig Maultieren von ihrem Heimatort in Empire, Colorado, aus hochgeritten gekommen, erst nach Cheyenne, wo sie Bill getroffen hatten, und dann nordöstlich weiter in Richtung der Black Hills.
Es bereitete Charley immer Schwierigkeiten, seiner Frau einen Wunsch abzuschlagen.
Der Junge versuchte, sich nützlich zu machen, aber alles, was er anfasste, verlor er oder machte es kaputt. Je eingehender Charley sein Handeln beobachtete, desto mehr wunderte er sich über die unzuverlässige Natur des menschlichen Samenergusses. Der Junge und Charleys Frau sahen einander überhaupt nicht ähnlich, noch nicht einmal die Hautfarbe war die gleiche, und der Junge sprach nur sehr selten. Das war etwas, womit sich Charley durchaus gerne näher beschäftigt hätte, die unterschiedlichen Ergebnisse vergossenen Samens. Allerdings hatte der Junge ein breites Kreuz und war sehr höflich. Er sprach Bill mit »Mr. Hickok« an und alle anderen Personen genauso, wie Bill es tat. In einer Schärpe um die Taille trug er eine alte Smith & Wesson mit sich herum, die einen gebrochenen Griff hatte, mit dem Lauf nach unten, so wie Bill seine Revolver trug.
Charley war von Anfang an dagegen gewesen, den Jungen mitzunehmen. In den Augen seiner Frau kam dies einem Eingeständnis von untreuem und halsbrecherischem Verhalten gleich, das er und Bill an den Tag legten, wenn sie unterwegs waren. Es war seltsam, wie sich ihre Gefühle gegenüber Bill geändert hatten. Bevor sie und Charley verheiratet waren, hatte sie immer eine hohe Meinung von Bill gehabt und Charley sogar einmal gesagt, die Hälfte seines Bekanntheitsgrades habe er dieser Freundschaft zu verdanken. Aber in der Zwischenzeit waren natürlich, was Bill anging, auch einige peinliche Sachen vorgefallen.
Der Junge hatte keine derartigen Vorbehalte. Bill war in den letzten zehn Jahren vier Mal nach Colorado gekommen, zu Charleys Hochzeit, um Bären zu jagen oder sich zu besaufen, und er war jedes Mal gut zu dem Jungen gewesen. Er hatte die Huren und den Whiskey aus seinen Schießereigeschichten rausgelassen, damit der Junge nicht verdorben wurde. Als sie sich in Cheyenne trafen, erkannte Bill den Jungen nicht wieder, erklärte aber, es läge daran, dass aus Malcolm ein Mann geworden sei.
Der Junge hätte eine Möhre am Hut getragen, wenn Bill es getan hätte.
Charley, Malcolm und die Maultiere hatten Colorado gegen Ende des Frühlings verlassen und sich in Cheyenne mit Bill getroffen, der dort einen Siedlertreck auf die Beine stellte. Am 22. Juni um sieben Uhr morgens erreichten sie Bills Herberge. Die Concierge berichtete, Bill hätte sich bereits gekämmt und das Haus Richtung Republican Hotel verlassen, um Cocktails zu trinken, was, so deutete sie an, eine morgendliche Angewohnheit von ihm sei. »Ich nehme an, er wird in einer halben Stunde wieder da sein, ein volles Glas Whiskey in der Hand, und seine Morgentoilette beenden«, sagte sie.
Charley überraschte das nicht. Es war ein alter Hut, dass Bill die Gastfreundschaft der Leute verschliss.
Als Charley sah, dass die Lady sie nicht einlud zu warten, gingen sie ebenfalls die Straße hinunter und fanden Bill am hinteren Ende der Theke des Republican Hotels. Er blinzelte ins Licht der sich öffnenden Tür und überlegte, ob das Ganze jetzt Ärger bedeutete.
Charley war im März in Cheyenne gewesen, als Bill die berühmte Zirkusartistin Agnes Lake heiratete, und selbst auf seiner Hochzeit hatte Bill eine bessere Laune gehabt als jetzt.
»Wusstest du, dass sie letzte Woche gewählt haben?« sagte er, als er Charley erkannte.
»Wo?« fragte Charley.
»Direkt hier. In Cheyenne.« Bill war ein guter Amerikaner, aber Wahlen konnte er nicht ausstehen. Sie waren wie die Eisenbahn, ein untrügliches Zeichen, dass alles ein böses Ende nehmen würde. »Die neue Stadtverwaltung hat eine Liste mit fünfzig Männern veröffentlicht, die der Landstreicherei beschuldigt werden«, sagte er. »Haben sie überall in der Stadt angepinnt und Haftbefehle erlassen.«
Charley wartete. Bill zog ein Blatt Papier aus seiner Schärpe und faltete es auf der Theke auseinander. Charley beugte sich darüber und las, während der Junge still danebenstand und alles beobachtete. Die Liste war alphabetisch und die meisten Namen darauf kannte Charley, alles Diebe und Mörder, auf die eine oder andere Art. Der siebenundzwanzigste Name war James Butler »Wild Bill« Hickok.
»Nun«, meinte Charley, »das ist der Preis des Ruhmes.«
»Schau mal nach unten, ans Ende«, sagte Bill.
Charleys Finger glitt ans Ende und wanderte dann nach oben. Der fünfte Name, den er berührte, war sein eigener, allerdings falsch geschrieben. Charles »Colorado Charley« Udder. Euter. Charley hasste es, wenn man seinen Namen so verunstaltete.
»Was für eine Form von Beleidigung soll das denn sein?« fragte er. »Ich bin ein ehrbarer Geschäftsmann aus Empire, Colorado.«
Bill nahm den Zettel, faltete ihn und steckte ihn wieder in seine Schärpe. »Keiner der Gesetzeshüter war bis jetzt da, um mich einzubuchten«, erklärte er. »Ich habe ihnen ein paar Tage Zeit gegeben, sich zu entscheiden, ob sie das tun wollen oder nicht.«
An jenem Abend legte Bill in der Hotelbar die Regeln seines Wagentrecks fest. Er würde höchstens siebzig Wagen mit nach Deadwood nehmen, keine Kranken, keine Brandstifter und keine Huren. Siebzig Wagen waren genug, um vor Indianern sicher zu sein, aber noch weitere und man war nicht mehr sicher vor sich selbst. Bill wollte keine schwarzen Schafe dabeihaben. Die Reise würde zwei Wochen dauern und jeder Mann, jede Frau und jedes Kind mussten eine Waffe tragen und ihm fünfzig Dollar zahlen.
Nichts davon entmutigte die in der Republican Bar versammelten Leute, die ihm applaudierten. Die Black Hills waren der wildeste und reichste Ort der Welt, und keiner der Besoffenen hätte zugegeben, dass es ihm bereits hier im Hotel schon mehr als wild genug war. Inzwischen waren bereits aus Kalifornien, wo das Gold langsam zur Neige ging, Wagen durch die Stadt gekommen, die in Richtung Hills unterwegs waren, und von überallher kamen Siedler. Ohio, Indiana, Illinois, Iowa – seit drei Jahren fielen die Heuschrecken in schwarzen Wolken über die Ernte her, und wenn sie wieder verschwanden, hatten sie alles mitgenommen. Bill hatte es mit eigenen Augen gesehen, als er Agnes Lake nach Hause gebracht hatte, nach St. Louis, damit sie dort auf ihn wartete, bis er wieder bei Kasse war.
So hatte es Bill Agnes Lake gegenüber natürlich nicht ausgedrückt, aber er war schon eine ganze Weile nicht mehr flüssig. Charley konnte sich gar nicht vorstellen, dass er auch nur ansatzweise mit ihr darüber gesprochen hatte. Zwischen den beiden herrschte Respekt, was nicht dazu einlud, den anderen genauer unter die Lupe zu nehmen.
Bill, Charley, Malcolm und die Maultiere warteten vier Tage, bis Bill zufrieden feststellte, dass niemand kommen und ihn festnehmen würde, und setzten dann das Abreisedatum fest. Am 27. Juni bei Tagesanbruch.
Um neun Uhr sah Bill ein, dass keiner von den Jungs aus der Republican Bar mehr auftauchen würde. Gekommen waren ein Jude, der einen Eisenwarenladen eröffnen wollte, und zwei Handelsreisende. Vier Wagen, wenn man den von Bill und Charley mitzählte. Bill sammelte von jedem fünfzig Dollar ein und gab das Signal zum Aufbruch. Charley lenkte den Wagen. Bill saß auf seinem Pferd, einem stattlichen alten Wallach namens Peerless, und trank Cocktails.
Der Junge ritt auf einem der Maultiere.
Jeder andere hätte an dieser Stelle die Sache noch einmal überdacht. Doch Bill hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass in den Hills etwas auf ihn wartete. Charley konnte nicht aus ihm herauskriegen, was genau es war, und nahm an, dass Bill es wahrscheinlich selbst nicht wusste.
In Fort Laramie, fünf Tagesritte hinter Cheyenne, trafen sie auf einen anderen Treck. Achtundzwanzig Wagen, die meisten voller Huren, chinesische und amerikanische. Es waren die schmutzigsten Huren, die Charley je gesehen hatte. Die Amerikanerinnen unter ihnen trugen Namen wie Dirty Emma, Tit Bit, Smooth Bones, Sizzling Kate. Die Chinesinnen hatten kleine Füße. Sie konnten kaum mehr als ein paar Schritte gehen und blieben immer dicht bei ihrem Hurentreiber.
Bill schloss sich dem Treck an. Nicht mit Begeisterung, aber die Indianer waren eine Tatsache. Als die Mädchen hörten, wer sich zu ihnen gesellt hatte, stellten sie Bill nach, Tag und Nacht. Bill würdigte sie keines Blickes, und schließlich ging er zu einem ihrer Wagen und sprach mit dem Zuhälter, einem Mann namens Al Swearingen, der eine frische Ladung Mädchen für seinen Laden in Deadwood mit sich führte. Danach hatte er Ruhe.
Der Junge begleitete ihn zu dem Wagen, die alte Smith & Wesson in seiner Schärpe, und kam mit einem neuen Lebenssinn wieder heraus. Charley fand nichts Schlimmes daran und hielt den Jungen nicht zurück, als er später, nach Sonnenuntergang, noch einmal zu dem Wagen ging. Er ging in dieser Nacht, in der folgenden und in der Nacht darauf. Und dort war er auch, bevor er Bills Pferd erschoss.
Sie hatten am frühen Nachmittag angehalten, in Sichtweite der Hills. An jenem Tag, in jenem Licht sahen die Hills so schwarz aus wie in den dunkelsten Träumen. Wenn man hineinritt, dachte Charley, sah man vielleicht nie wieder das Tageslicht. Er schob den Gedanken beiseite.
Der Junge band die Maultiere fest und fütterte sie, wusch sich sein Gesicht und ging hinüber zum Wagen der Freudenmädchen. Al Swearingen, der Mann, mit dem Bill über die Huren gesprochen hatte, kam ein wenig später herüber. Er trug eine Flasche und drei Gläser und lud sie auf einen Whiskey ein, um ihre Ankunft in den Hills zu feiern. Er trug einen Bart, hatte helle Augen und war die Sorte Mann, die jeden Tag im Leben zehn Tage im Voraus plante. Bill nahm die Einladung an, Charley nicht. Überall auf der Innenseite des Glases waren die Fingerabdrücke des Hurentreibers zu sehen.
Bill trank die Hälfte von dem, was der Zuhälter ihm eingeschenkt hatte, und wartete die Wirkung ab.
»Heute ist ein historischer Tag, Partner«, sagte der Mann und kippte seinen Whiskey hinunter. Bill sah ihn an. »Ich meine, die Hills zu finden«, erklärte der Mann.
Bill betrachtete sein Glas. Er steckte seinen Finger hinein, fischte ein Stück von einer Mücke heraus und schnippte es fort.
»Haben Sie gedacht, wir würden die Hills verfehlen?« fragte Charley. Sie zogen sich von Norden nach Süden über eine Länge von hundert Meilen.
»Nein«, erwiderte er, »so war das natürlich nicht gemeint.«
Bill sah ihn an, ruhig und kalt, bis er wegging. Es war seine Art, mit Belästigungen umzugehen. Er drohte niemals einer Menschenseele, wenn er es nicht ernst meinte.
Der Hurentreiber ging zu seinem Wagen zurück. Er war größer als die anderen und nagelneu. Der Junge war schon drinnen gewesen und erzählte, es sähe aus wie im feinsten Hotel. Allerdings war der Junge sein Leben lang noch nie in einem Hotelzimmer gewesen. Charley sah zu, wie er und der Zuhälter zusammen mit zwei Mädchen hinten in den Wagen stieg.
»Malcolm ist wieder bei den Mädchen«, meinte er. Bill grinste und schüttelte den Kopf. Er selbst konnte auf die Entfernung nichts erkennen.
»Es zeugt von Gesundheit, wenn man weiß, was man will«, sagte Bill.
»Er ist jung«, erwiderte Charley.
»Das auch«, sagte Bill. Er war neununddreißig Jahre alt. Eine der Huren kreischte laut, kam halb aus dem Wagen heraus, wurde dann von hinten gepackt und zurückgezerrt. »Wie weit ist es noch bis zu den Hills, ein Tag?«
»Länger«, antwortete Charley. Seit dem frühen Morgen konnten sie die Hills sehen. Es war nicht so, als käme man in die Rockies, wo die Berge direkt vor deiner Nase aus der Erde zu wachsen scheinen. Bis man dicht davor war, schienen die Hills immer nur noch schwärzer zu werden.
»Wie sehen sie aus?« fragte Bill.
»Scheiße, Bill, du kennst die Black Hills.«
Bill schüttelte trotzig seinen Kopf.
»Sie sehen schwarz aus«, antwortete Charley.
Noch eine Hure stieg hinten in den Wagen ein, kurz darauf folgten weitere. Der Wagen wackelte, und jemand begann zu singen. Eine dünne, jaulende Stimme, die klang, als würde jemand gewürgt.
»Könntest du ihnen sagen, dass ich schon einmal eine Frau umgelegt habe, weil sie so gesungen hat?« sagte Bill.
Charley überlegte. »So etwas bringe ich nicht über die Lippen. Ich mache dich doch nicht zum Frauenmörder.« Gerade als er das sagte, verstummte die Stimme, mitten in »Beautiful Dreamer«. »Vielleicht hat der Junge das jetzt für dich erledigt«, sagte er.
»Wie lange ist er jetzt bei uns? Zehn Tage – und schon ein Opernkritiker«, sagte Bill.
»Vielleicht hat er«, meinte Charley, »ihr einfach seinen Pimmel in den Mund gesteckt.«
Bill zuckte die Achseln. »Dann ist sein Pimmel ein Opernkritiker.« Bill stand auf. Er hatte immer noch das Glas des Zuhälters in der Hand. »Siehst du den Hund?« fragte er. Der Hund gehörte auch zu dem Hurentreiber. Er war räudig, hatte ein kurzgeschorenes Fell und sah einem nie direkt in die Augen. Sein Kopf war so groß wie der von einer Kuh. Etwa dreißig Schritt entfernt streunte er gerade bei den Pferden herum, die die Wagen zogen, und machte sie nervös.
»Ja, ich sehe ihn«, antwortete Charley und wunderte sich. Dreißig Schritt waren weiter, als Bill normalerweise sehen konnte.
»Eine Wette unter Gentlemen?« schlug Bill vor.
Sie wetteten um fünf Dollar. Bill stellte sich mit dem Rücken zu dem Tier hin, ließ den Arm mit dem Glas sinken und drehte sich dann um. Der Arm folgte dem Rest eine halbe Sekunde später. Als er das Glas losließ, flog es wie ein Strahl Pisse, funkelte in der Sonne und traf das Monster genau am Kopf. Der Hund jaulte auf. »Hört sich an, als hätte er eine Schlange gesehen«, meinte Bill.
Charley hatte noch nie jemanden so werfen sehen wie Bill. Bei ihm fügten sich die Dinge wie von Zauberhand zusammen. Bill kletterte in den Wagen und kam mit einer Flasche wieder heraus. Er zog den Korken mit seinen Zähnen heraus und spuckte ihn auf den Boden. Womit seine Absichten klar waren. Es war eine Flasche ohne Zukunft. Er nahm einen Schluck und reichte sie Charley. Charley wischte über die Flaschenöffnung und schloss sich ihm an. Die Huren kreischten wieder.
Sie ließen die Flasche zwei oder drei Mal hin und her wandern, dann stand Bill auf, um sich in die Büsche zu verziehen. Er ging um die Wagenpferde herum und einen kleinen Hügel hoch. Dort gab es ein paar Sträucher und Bäume, die genug Privatsphäre boten.
Was für eine Blutkrankheit Bill auch immer hatte, seit März war es schlimmer geworden. An dem Morgen, als Charley ihn in der Hotelbar gefunden und gefragt hatte, wie es ihm ginge, hatte Bill ihm erzählt, er habe den Eindruck, seine Pisse müsse sich jedes Mal einen neuen Weg bahnen. Charley hatte nicht wieder nachgefragt. Manche Dinge ließ man besser auf sich beruhen. Er wusste allerdings, dass Bill Angst hatte, Agnes angesteckt zu haben, und weil er das annahm, liebte er sie umso mehr.
Er war schon eine halbe Stunde in den Büschen, als der Hurentreiber vorne aus seinem Wagen sprang. Der Junge tauchte am anderen Ende auf, halb bekleidet, mit den Mädchen im Schlepptau, in der rechten Hand die alte Smith & Wesson. Eine der Huren hatte eine Flasche in der Hand, an der sie sich festhielt. Mit der anderen Hand versuchte sie, ihn zurückzuhalten. »Das hat nichts zu bedeuten«, sagte sie zu ihm. »Komm wieder in den Wagen, bevor du dir wehtust.«
Der Junge machte sich los und steuerte auf den vorderen Teil des Wagens zu, in der festen Absicht, seine Waffe zu gebrauchen. Charley sah sofort, dass er es ernst meinte. Der Hurentreiber war losgerannt und hinten in einen anderen geklettert. Er gehörte einem der Papierkragen, die sich ihnen in Cheyenne angeschlossen hatten. Hinten im Wagen lag ein Zündnadelgewehr – der Handelsreisende hatte es Bill im ersten Camp gezeigt –, und wenn der Hurentreiber das fand, war der Junge so gut wie tot.
Charley versuchte den Jungen zu beruhigen. »Komm, Malcolm«, sagte er, »reiß dich zusammen.«
Der Junge drehte sich um und schoss, bevor er sehen konnte, wer es war. Der alte Peerless, der an Charleys Wagen angebunden war, zuckte nicht einmal. Wie Bill bei einer Schießerei. Die Kugel schlug direkt über der Schulter ein. Peerless stand etwa eine halbe Minute lang still, und der Junge erstarrte, als ihm bewusst wurde, welch schweren Fehler er gemacht hatte. Dann drehte das alte Pferd seinen Kopf, als wollte es sehen, was sich da alles um ihn herum veränderte. Es sackte auf die Knie, ein Zittern erfasste die Hinterläufe, und dann blickte sich Peerless nicht mehr um, denn nun wusste er, was es war.
Er starb schnell. Der Junge vergaß den Hurentreiber, und in der Zeit, die er brauchte, um hinüberzugehen, wich alles Leben aus dem Pferd. Malcolm hielt immer noch den Revolver mit dem gebrochenen Griff in der Hand. »Mr. Hickoks Pferd«, sagte er.
»Und beinahe Mr. Hickoks Freund«, sagte Charley, obwohl die Kugel ihn in Wahrheit weit verfehlt hatte.
»Er kann mich umbringen, wenn er will«, sagte der Junge.
»Deine Erlaubnis braucht er dazu nicht«, erwiderte Charley. Er sah, dass der Junge Probleme hatte, seine Gefühle unter Kontrolle zu behalten.
»Ich verlasse den Treck«, sagte der Junge. »Ich sag ihm, was ich getan habe, gebe ihm mein Maultier und ziehe alleine weiter.«
Charley ging hinüber zu dem Wagen, wo Bill die offene Flasche stehen gelassen hatte. Er nahm einen Schluck und bot dem Jungen auch einen an. »Die Indianer würden dich zerhacken und aufgespießt zum Trocknen stehen lassen«, sagte er. »Mit deinem Pimmel im Mund.« In diesem Fall eine etwas unglückliche Wortwahl.
Es stellte sich nämlich heraus, dass sich der Junge im hinteren Teil des Hurentreiberwagens unter den Weichteilen diverser Frauen befand, als er einen Mund an seinem Glied spürte. Es war nicht das erste Mal, alle machten das gern so. Aber der Whiskey hatte ihn verwegen gemacht, und bei all den Nippeln und Beinen und Händen, die ihn beschäftigten – der Junge sagte, er würde es lieben, ihre Hände zu küssen, woraufhin Charley erwiderte: »Du brauchst nicht alles zu erzählen« –, hatte er nicht bemerkt, wer da unten so emsig am Werk war.
»Es war ein unheimliches Gekicher«, berichtete er, »und ich hatte irren Druck. Aber als alles vorbei war, hab ich runtergesehen und Mr. Swearingen hatte seinen Mund da, wo eine von den Ladys hätte sein sollen.«
Charley war heilfroh, dass er nicht aus dem Glas des Hurentreibers getrunken hatte. Der Junge erzählte ihm die Geschichte, während sie darauf warteten, dass Bill wieder aus den Büschen kam. Malcolm stand barfuß mit seiner langen Unterhose da, in der Hand immer noch die Waffe. Der Zuhälter war noch im Wagen der Handelsreisenden. Charley gefiel das nicht, wegen des Zündnadelgewehrs, also ging er hin und trat gegen die Seitenwand.
»Kommen Sie raus, Mr. Swearingen«, drohte er, »oder ich fackle den Wagen ab.« Inzwischen hatte sich eine Gruppe von Huren versammelt, die zuschauten, sogar einige der Chinesinnen waren da. Charley hatte noch nie so hoffnungslose Gesichter gesehen. Im Wagen bewegte sich etwas, aber niemand zeigte sich. Einige Augenblicke vergingen.
»Haben Sie dem Jungen das Gewehr abgenommen?« fragte der Hurentreiber.
»Was ich habe, ist Kerosin.«
Weitere Augenblicke vergingen. »Der Wagen gehört nicht mir«, entgegnete der Zuhälter.
»Mir auch nicht«, erwiderte Charley. »Ich gebe Ihnen eine Minute.« Der Hurentreiber kam hinten aus dem Wagen, zeigte nervös seine gelben Zähne und strich sich die Haare glatt. An seinem Bart klebte noch etwas Feuchtes. Eine der Huren kicherte, aber er warf ihr einen Blick zu und das Kichern erstarb.
»Wo ist der Junge?« fragte er.
»Lassen Sie ihn in Ruhe«, sagte Charley.
»Sagen Sie dem Jungen, dass wir beide noch eine Rechnung offen haben«, sagte er. »Er schuldet mir was für die Mädchen. Bei Al Swearingen gibt es keine Freifahrten, sagen Sie ihm das.«
Charley drehte sich um, warf noch einen Blick auf die Mädchen und ging dann zurück zu dem Jungen. Der saß im Schneidersitz auf dem Boden neben dem alten Peerless. In der Dunkelheit wirkte das Pferd größer. »Hör zu«, sagte Charley, »es gibt keinen Grund, dass deine Schwester etwas hiervon erfährt.«
»Ich hab gehört«, sagte der Junge nach einer Weile, »dass es einen für die Mädchen verdirbt.«
»Wo hast du denn das gehört?« fragte Charley.
Der Junge zuckte die Achseln. »Ich hab gehört, wenn man einmal mit einem Mann zusammen war, will man keine Frau mehr.«
»Du warst nicht wirklich mit ihm zusammen«, sagte Charley.
»Ich sitz hier und denk an jedes Mädchen, das ich da drüben gesehen hab, und ich will keine davon«, sagte er.
»Himmel«, sagte Charley, »da spricht nicht deine Männlichkeit, sondern dein guter Geschmack.«
Dann schaute der Junge Peerless an, als fiele ihm gerade wieder ein, dass er dort lag. »Und nun habe ich Mr. Hickoks Pferd erschossen. In meinem ganzen Leben ist noch nie alles so schiefgelaufen.«
Charley stand neben dem Jungen. Das alte Pferd war immer noch warm. »Willst du, dass ich ihm erkläre, was passiert ist?« fragte er. Bill hatte das Pferd schon eine ganze Weile.
»Nein«, antwortete der Junge, »das muss ich ihm selbst sagen.« Charley entfernte sich ein Stück, da er annahm, dass der Junge etwas Platz brauchte, um genau dies zu tun. »Das Problem ist«, sagte der Junge, »ich weiß gar nicht, wie es passiert ist. Noch nie ist etwas so verdammt schiefgelaufen.«
»Dann nimm dich vor Mr. Swearingen in Acht, damit es nicht noch schlimmer wird«, riet Charley.
Der Junge lachte. »Das ist doch noch nicht mal ein Mann.«
»Malcolm«, sagte Charley, »man lernt zwar nur, was man selbst begreift, aber jetzt hörst du mir zu. Wenn sie wütend werden, sind solche Leute fähig, dir Dinge anzutun, die anderen noch nicht einmal im Traum einfallen würden.«
Aber der Junge schenkte ihm ebenso wenig Beachtung wie das Pferd, und so machte Charley einen Spaziergang den Hügel hinauf, um einen letzten Blick auf den Tag zu werfen. Er traf Bill, der aus dem Gebüsch kam und sich die Hose zuknöpfte. Bill blickte ihn mit toten Augen an, kalt und starr. »Ich bin’s«, sagte Charley. Bill war nachts stockblind.
»Ich habe den Schuss gehört«, sagte er. Charley sah, wie er eine Träne aus dem Augenwinkel wischte. »Man setzt sich hin zum Pissen, und dann schießt jemand und man muss von vorne anfangen …«
»Vielleicht haben sie in Deadwood einen Arzt«, sagte Charley. »Oder in Belle Fourche. In Belle Fourche haben sie sicher Medikamente.« Bill lächelte nur. Irgendetwas sagte ihm, dass das eine Sache war, die in den Black Hills geregelt werden musste, vielleicht zwischen ihm und Gott. Und er fand nichts unlogischer als einen Arzt, der zwischen zwei so mächtige Kräfte geriet.
Außerdem war er bereits bei Ärzten gewesen. In Cheyenne und auch vorher schon. Er hatte eine ganze Satteltasche voller Pillen und Medikamente.
»Ich hasse es, in den Büschen zu sein, mit meinem Pimmel an der frischen Luft, wenn Schüsse fallen«, sagte er. Und einige Augenblicke später: »Es ist nicht mehr so leicht wie früher, zu vergessen, dass Leute um einen herum sind. Ist dir das auch aufgefallen? Man kann nicht einfach dreißig Meter weiter in die Büsche gehen und hat dann das Gefühl, man wäre allein. Irgendwer schnappt sich immer einen Revolver wegen einer Hure und erinnert dich daran, dass hier nicht alles dir gehört.« Er spuckte zwischen seine Mokassins.
»Du hattest es schon immer gern, wenn es ruhig war, Bill«, sagte Charley. »Du hast ein ganzes Leben lang nach Ruhe gesucht.« Normalerweise redete Charley nicht so, außer wenn er Bills morbide Stimmung vertreiben wollte.
Bill packte Charley am Nacken, und Charley kickte ihm die Füße weg. Sie rollten über den Boden und rangen miteinander, bis Bill Charley an der Kehle zu fassen bekam. Bill ließ sich von Charley immer ein paar Mal in den Schwitzkasten nehmen – Charley wusste, dass er ihn ließ –, bis er die Sache dann beendete. Sie lagen erschöpft auf dem Rücken und keuchten. Bill gluckste.
»Was ich meinte«, sagte er, »war, dass mir der Lärm an sich nichts ausmacht. Es sind nur immer mehr Weicheier, die ihn veranstalten.«
»Das stimmt«, sagte Charley.
»Es ist verdammt einfach geworden, Lärm zu machen«, sagte Bill.
»Bill«, sagte Charley nach einer Weile, »der Junge hat den alten Peerless erschossen.«
Bill setzte sich in der Dunkelheit auf. Charley blieb, wo er war. Über dem Auge spürte er eine warme Stelle, dort, wo sie mit den Köpfen zusammengestoßen waren. Er berührte sie, es war eine Beule, so groß wie ein Löffel. »Er war mit den Mädchen im Wagen zugange, und irgendwie endete alles damit, dass der Hurentreiber an seinem Pimmel gelutscht hat.«
»Deswegen hat er mein Pferd erschossen?«
»Er hat auf mich geschossen, weil er dachte, ich sei der Hurentreiber, und hat stattdessen Peerless erwischt. Hat ihn direkt ins Herz getroffen.« Bill seufzte, zog die Knie an die Brust und umschlang sie mit den Armen. Charley hatte sich mal die Beine gebrochen und so achtete er darauf, was andere mit ihren Beinen machen konnten.
»Das war ein ganz besonderes Pferd«, sagte Bill. Charley setzte sich auf, und seine Nase fing an zu bluten. Er hatte Bill eine Kopfnuss geben wollen, aber Bill hatte es geahnt und war ausgewichen. »Ich hatte ihn schon lange.«
»Sechs, sieben Jahre«, sinnierte Charley. »Mindestens seit Kansas. Damals in Abilene war er schon dabei.« Es schien ihm der richtige Zeitpunkt zu sein, Abilene zu erwähnen, wo Bill Mike Williams erschossen hatte. Soweit Charley wusste, war Mike der einzige Mann, den Bill versehentlich getötet hatte. Er war ein Gesetzeshüter gewesen – sie hatten Wahlen gehabt und die Gewinner hatten ihre Neffen ernannt, nachdem Bill die Sicherheit des Ortes so weit wieder hergestellt hatte, dass man Gesetzeshüter sein konnte –, und es war reines Pech, dass Mike Williams ausgerechnet in dem Moment um die Ecke kam, als Phil Coe auf der Straße Bill herausforderte. Bill verpasste Williams eine Kugel in den Kopf, weil er dachte, es wäre einer von Phil Coes Brüdern. Anschließend erschoss er Phil.
Die Zeitung ließ das Thema nicht auf sich beruhen und erweckte Mike Williams jede Woche aufs Neue von den Toten. Der Herausgeber nannte ihn einen Prachtkerl aus Kansas und proklamierte einen »Kreuzzug, um Abilene und den Staat Kansas von Wild Bill und sonstigem Volk seiner Couleur zu befreien«. Das war der genaue Wortlaut, denn danach nannte Bill ihn eine ganze Weile lang »Couleur«.
Es war allerdings nicht die Zeitung, die Bill und Charley aus Kansas vertrieb. Es war eine Petition. Sie war an der Rezeption des Hotels, in dem sie wohnten, abgegeben worden. Dreihundertundsechzehn Bewohner forderten Bill mit ihrer Unterschrift auf, die Stadt zu verlassen. Kein Wort der Dankbarkeit darüber, was er getan hatte. Er setzte sich in die Hotelhalle, mit der Liste auf dem Schoß, und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Er las jeden einzelnen Namen – es waren sechs Seiten –, und wenn er mit einer Seite fertig war, reichte er sie Charley, der sie ebenfalls las.
Es war der schlimmste Rückschlag, den Charley je erlebt hatte. Sie hatten selbst die Frauen unterzeichnen lassen. Bill zuckte die Achseln und lächelte, aber einige der Namen schmerzten ihn. Er dachte, er hätte Freunde in Kansas, doch als er die Namen sah, erkannte er, dass jeder Angst vor ihm hatte.
Was Wild Bill aus Abilene vertrieb, waren verletzte Gefühle. Diese Sache mit dem Pferd hatte ihn vielleicht auch verletzt, schwer zu sagen. »Das Herz?« fragte er.
»Er hat nichts gespürt«, antwortete Charley. »Und falls doch, hat er es nicht geglaubt.« Bill fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, in dem Blätter und Zweige von ihrer Rangelei hingen. Er stand auf, klopfte seine Hosenbeine ab und ging den Hügel hinunter in Richtung der Planwagen. Charley wartete einen Moment und folgte ihm dann.
Al Swearingen hatte ein paar seiner Huren losgeschickt, um Holz zu suchen, und hatte ein größeres Feuer gemacht als nötig. Die Chinesen hatten kleinere Feuer. In den meisten Nächten hatten die Chinamänner ihre Mädchen mit den anderen hinausgelassen, aber nach der Schießerei behielten sie sie dicht bei sich und brüllten sie auf Chinesisch an, wenn sie sich zu weit entfernten. Charley bewunderte ihre Art zu sprechen.
Sie hatten auch ganz eigene Manieren. Nachdem er sie das erste Mal hatte essen sehen, brauchte er anderthalb Tage, bis er wieder etwas zu sich nehmen konnte. Charley war kein Papierkragen und jedermann westlich von Boston aß mit den Fingern. Er hatte schon mit allen möglichen Menschen zusammen gegessen, einschließlich Indianern, aber er hatte außer den Chinesen noch nie jemanden gesehen, der beim Essen die Finger in den Mund steckte, zumindest nicht drei Finger gleichzeitig bis zum zweiten Knöchel.
Andererseits, wenn fünfzig Chinesen sich täglich anstellten, um ein Bad zu nehmen, kam immer derselbe Chinamann als Erster ins Wasser, dann immer der derselbe zweite, und so weiter, bis Nummer fünfzig. Sie hatten eine besondere Art, alles zu regeln, und für alles eine Ordnung, und Charley vermutete, dass das auch eine Form von Manieren war.
Auf diese Art landeten ihre Wagen immer am selben Ort. Sie rückten jeden Abend hinter den Amerikanern ein, fuhren ein Stück weiter und blieben dann unter sich. Der oberste Chinamann hatte die jüngsten Mädchen, aber wenn man ehrlich war, gab es keinen Grund, eine der anderen vorzuziehen. Reizlos waren sie allesamt. Obwohl es eine gab, die der Chinamann für sich behielt.
Sie fuhr allein hinten in seinem Wagen mit, und niemand bekam sie zu Gesicht, außer nachts, wenn er sie rausließ. Nur für ein paar Minuten. Er blieb stets an ihrer Seite und ließ niemanden an sie heran, weswegen man vielleicht mal sah, wie sie in den Wagen kletterte oder ihn verließ, oder aber sie trippelte abseits des Lagerfeuers neben dem Chinamann her, ein Gesicht wie eine ägyptische Statue, aber man kam nie dicht genug heran, um zu sehen, wie es aussah. Charley hatte gehört, dass Al Swearingen versucht hatte, sie zu kaufen, aber der Chinamann wollte zu viel Geld.
Als Charley zurück zum Wagen kam, saß Bill auf dem alten Peerless. Er hatte eine neue Flasche geholt. Der Junge schaufelte anderthalb Meter entfernt ein Grab. Der Boden war nass und schwer – es hatte jeden einzelnen Tag dieses Frühlings geregnet, aber die teuflischen Stürme, die Charley von früher in den Hills kannte, waren ausgeblieben – und der Junge schaufelte den Matsch in einem Tempo, das ihn wahrscheinlich innerhalb der nächsten drei Minuten umbringen würde.
»Setz dich und schau dir das an«, sagte Bill und klopfte neben sich auf den Bauch des alten Peerless.
Selbst im Dunkeln konnte Charley erkennen, dass das Pferd angefangen hatte anzuschwellen. Er setzte sich stattdessen auf den Boden und stützte sich dann auf einen Ellbogen, damit die Schmerzen nicht zu stark wurden. Er wusste nicht wieso, aber in den letzten paar Jahren waren seine Beinprobleme die Hüfte hochgekrochen. Als er richtig saß, reichte Bill ihm die Flasche, und nachdem Charley einen Schluck genommen hatte, rief er zu dem Jungen hinüber und bot ihm auch einen an. Der Junge hatte inzwischen einen drei Meter langen Graben von Westen nach Osten ausgehoben und arbeitete sich jetzt in Richtung Süden vor.
Er legte die Schaufel beiseite und nahm die Flasche. Er trank drei Schluck, so schnell die Schwerkraft es zuließ, und gab dann die Flasche zurück. Bei dem Tempo würde er auch das nicht lange durchhalten. »Hast du vor, einen Garten anzulegen, Malcolm?« fragte Charley leise.
Der Junge antwortete nicht. Er nahm einfach nur die Schaufel und fing wieder an zu arbeiten. Bill nahm Charley die Flasche aus der Hand und trank einen Schluck. »Hast du schon jemals jemanden ein Pferd beerdigen sehen?« fragte er.
Der Junge buddelte zwei Meter Richtung Süden und dann weiter in westlicher Richtung. Er atmete schwer, und Charly hörte, wie er zwischendurch nach Luft schnappte. Darin waren sich die Geschwister ähnlich. Zu Hause in Colorado hackte seine Schwester manchmal so lange Holz, bis ihre Hände bluteten, wenn Charley in die Berge zog und sich betrank.
Eine Weile lang saßen Charley und Bill einfach nur da und sahen dem Jungen zu. Der Junge schaufelte drei Meter in westlicher Richtung, bis er auf die Höhe kam, wo er angefangen hatte, und arbeitete sich dann nach Norden zum Ausgangspunkt vor.
»Zu was für einem Missionar bist du geworden?« fragte Charley.
Der Junge hörte auf zu buddeln und nahm einen weiteren Schluck. Charley sah, dass sie noch eine Flasche brauchen würden. »Ich werde ihm eine anständige Beerdigung verschaffen, bevor ich hier weggehe«, sagte der Junge. »Ich habe ihn ohne Grund getötet, und das ist das Mindeste, was ich tun kann, um es wiedergutzumachen.«
Charley ließ den Ellbogen wegsacken und legte sich auf den Rücken, sah hoch zu all den Sternen am Himmel und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Ohne es zu wollen, begann er zu lachen.
Und dieses Lachen löste auch etwas in Bill. Solange Charley ihn kannte, war Bill immer für einen Scherz zu haben gewesen, egal, wie schlecht es gerade lief. Aber es gab keine fünf Leute auf der Welt, die ihn je so hatten lachen hören wie jetzt. Er lachte und schaukelte auf dem Bauch des alten Peerless vor und zurück, bis er herunterfiel. Währenddessen hatte der Junge weitergegraben. Wenn überhaupt, hatte ihn das Gelächter nur weiter angespornt. Als er wieder sprechen konnte, sagte Bill: »Und das hier ist noch der einfache Teil. Stell dir mal den Sarg vor, den er bauen wird.«
Doch der Junge hörte nicht auf, außer um zwischendurch zu trinken. Er wurde immer betrunkener und schaufelte Matsch von einer Seite des Loches auf die andere. Auch Bill und Charley wurden immer betrunkener, wenn auch ruhiger. Sie schauten dem Jungen zu, bis der sich versehentlich mit der Schaufel gegen den Kopf schlug und in das Loch fiel, das er für das Pferd gebuddelt hatte. Es war inzwischen einen halben Meter tief. Er landete auf dem Rücken und lag zunächst still da. Dann drehte er sich zur Seite und kam mühsam auf die Knie. Dort verweilte er einige Augenblicke, bis er plötzlich zur Seite kippte und einschlief.
So fanden sie ihn am nächsten Morgen, immer noch im Tiefschlaf. Bill packte ihn unter den Armen und hob ihn hoch. Als der Junge die Augen öffnete, stand er bereits. Seine Hände bluteten an den Stellen, wo die Blasen aufgeplatzt waren. Zum Arbeiten war er nicht mehr zu gebrauchen. Er hielt sich einen Augenblick an Bill fest, bis er sein Gleichgewicht fand, und blickte sich um, völlig schockiert, als seien über Nacht Gangster gekommen, hätten das Pferd erschossen und die Erde umgegraben.
»Ich muss das fertig machen«, sagte der Junge.
»Lass das verdammte Pferd in Ruhe«, meinte Bill. Ihm war das Lachen inzwischen vergangen.
Aus den anderen Planwagen hörte man Geräusche, als die Huren einander weckten. Einige der Chinesen hatten ihr Feuer über Nacht geschürt, überall lag der Duft von Essen in der Luft. Nirgendwo im Umkreis von zwei Meilen konnte man anständig atmen. Charley dachte an all diese Finger in den Mündern.
»Du kannst mein Maultier haben«, sagte der Junge zu Bill. »Es ist nicht viel, aber …« Das Maultier war mit den anderen zusammen angebunden. Sie bliesen zum Aufbruch. Am anderen Ende des Lagers brüllte eine Hure ihren Zuhälter an. Bill, der Gefühlsausbrüche jeder Art vor seinem Morgencocktail nicht ausstehen konnte, kletterte in den Wagen und schenkte sich einen Drink ein. Er setzte sich hin, nippte an seinem Glas und kaute an einem Stück Trockenfleisch, während das Lager sich zur Abfahrt bereit machte.
Nach einer Weile kletterte er an der anderen Seite wieder herunter, ging den Hügel hoch und verschwand in den Büschen. Der Junge spannte den Wagen an und warf Bills Sattel hinten rein. Charley wusch und rasierte sich, dann putzte er sich die Zähne. Zum Rasieren hatte er einen echten Spiegel.
»Glaubst du, Mr. Hickok überlegt es sich vielleicht noch anders? Ich wünschte, er würde mein Maultier nehmen«, sagte der Junge.
»Bill will heute Morgen nicht über Transportmittel reden«, entgegnete Charley. Inzwischen war der Bauch des alten Peerless zur doppelten Größe angeschwollen, um die Einschussstelle herum war es schwarz vor Fliegen.
Bill kam genau in dem Moment aus den Büschen, als die Sonne über den Black Hills durch die Wolken brach. Er kämmte sein Haar und knotete es im Nacken zusammen. Dann ging er den Hügel herunter, direkt am Wagen vorbei. Charley dachte zunächst, er hätte sie vielleicht nicht gesehen – man konnte nie sagen, ob Bill sich gerade seiner Sache unsicher war, man konnte ihm nichts anmerken –, aber er ging an Charley und dem Jungen vorbei, direkt zu Al Swearingens Wagen. Der Hurentreiber saß auf einem Kissen, aß hart gekochte Eier und sah zu, wie Bill auf ihn zukam.
»Ein wundervoller Tag, um in die Hills zu fahren«, sagte Swearingen. »Ein Omen für die Zukunft.«
»Haben Sie jemanden, der mit Pferden umgehen kann?« fragte Bill.
Der Hurentreiber lächelte stolz. »Ich habe den Mädchen beigebracht, alles zu tun, was ich ihnen sage. Die hören aufs Wort.«
»Holen Sie eine her, die die Pferde lenken kann«, sagte Bill, »und machen Sie, dass Sie in den Wagen kommen.« Der Zuhälter zuckte mit keiner Wimper. »Ich will Ihr Gesicht nie wieder sehen.«
Der Hurentreiber strich seinen Bart glatt. Jeder in Hörweite hielt mit dem inne, was er gerade tat, und sah zu ihnen hinüber. »Al Swearingen lenkt seinen Wagen selbst«, erwiderte der Hurentreiber.
»Dann hat Al Swearingen die Zeichen nicht verstanden«, sagte Bill.
Der Hurentreiber sah Bill eine Weile an, lange genug, um zu sehen, was er sehen musste, und rief dann nach einer der Huren aus dem anderen Wagen. Smooth Bones. Soweit Charley gesehen hatte, war sie die Beste aus dem Haufen. Sie war nicht älter als siebzehn oder achtzehn, im selben Alter wie der Junge, und wenn sie Vorderzähne gehabt hätte, wäre sie sogar hübsch gewesen. Natürlich, wenn sie Vorderzähne gehabt hätte, hätte man sie nicht Smooth Bones genannt. Mit was wäre wenn konnte man sich gleich aus dieser Welt katapultieren.
Sie setzte sich auf das Kissen neben Al Swearingen, und er gab ihr die Zügel. »Richten Sie dem Jungen aus, dass wir noch eine Rechnung offen haben«, sagte er. Dann kletterte er nach hinten in den Wagen.
Bill schickte den Jungen als Späher voraus, in erster Linie, um ihn nicht mehr im Blickfeld zu haben. Mit zweiunddreißig Wagen war man vor Indianern sicher. Er stieg hoch, setzte sich neben Charley und sagte: »Ich hätte die Sache beenden sollen, dann müsste ich jetzt nicht mehr daran denken.«
Bill konnte mit Dingen abschließen, wenn sie tot waren. Der Junge hielt sich eine Viertelmeile vor ihnen, dahinter sah man die Hills. Die Wagen reihten sich hinter Charley und Bill ein, Räder quietschten und die Maultiere wieherten auf, sobald sich die Schirrung spannte. Charley blickte zurück und sah den alten Peerless im Dreck liegen, neben ihm ein Loch, das sein Grab hatte werden sollen. Es sah so aus, als hätte der liebe Gott ihn höchstpersönlich aus dem Himmel geworfen und er wäre einmal aufgesprungen, bevor er auf der Erde liegen geblieben war.
Sollten die Indianer das selbst rausfinden.
Sie fuhren bergabwärts, von Süden her, in Deadwood ein. Die Schlucht kam aus den Bergen, lang und schmal, und folgte dem Whitewood Creek, und dort, wo es breit genug war für ein Stadtschild, begann Deadwood. Es war am Mittag des 17. Juli. Der Ort wirkte meilenlang und schmal, zur Hälfte bestand er aus Zelten. Der Whitewood floss am südlichen Ende mit einem kleineren Bach zusammen – dem Deadwood – und zog sich dann durch die ganze Stadt. Der Matsch stand knöcheltief, und jeder nur erdenkliche Abfall wurde auf die Straße geworfen und vermischte sich damit.
Auf den angrenzenden Bergen standen keine Bäume mehr. Nur Tausende von toten, verkohlten Stämmen lagen übereinandergeschichtet auf der Erde.
»Wie wirkt es auf dich?« fragte Bill. Er saß oben auf dem Wagen, groß und gut aussehend, hielt die Zügel und nickte den Leuten zu, wenn sie ihm von der Straße aus etwas zuriefen. Wer da auf dem Wagen saß, hatte sich in der Stadt herumgesprochen, noch bevor Charley und Bill hundert Meter zurückgelegt hatten.
»Wie aus der Bibel«, sagte Charley. Sie fuhren durch den Matsch, der an den Rädern und den Hufen der Maultiere kleben blieb, bis er sich durch sein eigenes Gewicht wieder löste. Es dauerte über eine Stunde, bis der ganze Zug die Main Street hinuntergefahren war, von Zwischenstopps unterbrochen, damit Bill Hände schütteln und einem Reporter des Black Hills Pioneer ein Interview geben konnte. Obwohl er Gefallen am gedruckten Wort fand, zuckte Charley doch zusammen, als er hörte, dass es in der Stadt bereits eine Zeitung gab.
Weiter nördlich änderte sich die Nachbarschaft. Huren, Galgenvögel und Glücksspieler standen herum, mit einem Drink in der Hand, und schossen in die Luft. Dieser Teil der Stadt wurde die »Badlands« genannt, und dort hielten die Wagen mit den Huren. Der Ortsteil war schäbig, aber die Ladys sahen in Charleys Augen immer noch besser aus als die Ladung, die gerade ankam. Einige standen in den Fenstern, so gut wie nackt. »Welcher Teil der Bibel?« fragte Bill, als sie wieder allein waren.
»Als Gott zornig wurde«, antwortete Charley.
Plötzlich kamen rund hundert Leute vor ihnen auf der Straße zusammen. Bill zügelte die Maultiere, und einer der Männer kletterte auf den Wagen, um Bill die Hand zu schütteln. Er trug einen billigen Ledermantel mit Fransen und zwei Revolver.
»Captain Jack Crawford«, sagte der Mann. »Im Namen der Stadt Deadwood möchte ich Sie und Ihre Begleiter willkommen heißen. Ich hoffe, Sie sind gekommen, um sich hier niederzulassen und eine erfolgreiche Existenz aufzubauen. Wir können hier Männer von Ihrer Couleur gut gebrauchen.«
Couleur, schon wieder.
»Danke«, sagte Bill.
Erst jetzt schien der Mann Charley zu bemerken, konnte sich aber nicht dazu durchringen, Bills Hand loszulassen. »Captain Jack Crawford«, sagte er zu Charley. »Scout, Poet und ordnungsgemäß bevollmächtigter Captain der Black Hills Minutemen. Wir können Freiwillige gebrauchen, Freunde, wenn’s gegen die Indianer geht.«
»Charles Utter«, sagte Charley. »Hat dieser Ort ein Badehaus?«
Die Frage war Anlass für eine Reihe von Kommentaren aus der Menge, die Captain Jack jedoch ignorierte. »Auf dem Weg in die Stadt sind Sie daran vorbeigekommen«, antwortete er. Dann blickte er sich um: »Zu schade, dass nicht noch andere diese Frage gestellt haben.« Bevor sie ihn vom Wagen bekamen, hatte Captain Jack ihnen noch erklärt, wo sie die Maultiere grasen lassen konnten und Frauen fanden. Und dass er persönlich an der Seite von Custer und Buffalo Bill Cody geritten war.
Sie wendeten und fanden einen Lagerplatz, zwischen den Badlands und dem Badehaus, gegenüber dem Betwix-Stops Saloon, einem Segeltuchzelt. Der Eigentümer hatte am Eingang zwei umgedrehte Fässer hingestellt, ein Holzbrett darübergelegt und verkaufte Whiskey aus den Staaten für fünfzig Cents das Glas.
Sie ließen den Wagen drei Meter vom Bach entfernt stehen und blockierten mit Baumstämmen die Räder. Der Junge brachte die Maultiere ans nördliche Ende der Stadt, hinter die Badlands, wo der Canyon sich weitete und der Boden eben und grasbewachsen war. Charley holte seine Decken aus dem Wagen und warf sie über das Dach, um sie zu lüften. Bill saß auf einem Baumstumpf und drehte sein Haar um einen Finger.
»Ich habe so ein Gefühl, was dieses Camp angeht«, sagte er. »Eine Vorahnung.«
Charley hielt inne. Er kannte Leute, die ihre düsteren Gedanken zum Beruf machten, aber Bill war noch nie so gewesen und Charley nahm die Bemerkung ernst.
Einen Monat nach der Schießerei in Abilene war beispielsweise ein Reporter aus Philadelphia aufgetaucht – Reporter, das war eine Gruppe von Papierkragen, die Charley gerne etwas näher unter die Lupe genommen hätte – und hatte geschwärmt, wie Bill mitten auf der Straße gestanden hatte, während Phil Coe und vier seiner Brüder aus jedem Winkel auf ihn schossen, aber Bill hatte seine Sache einfach durchgezogen, wie eine Maschine, indem er sich einen nach dem anderen vorknöpfte.
»Wie bewahren Sie im Angesicht des Todes Ihren Mut?« hatte der Reporter gefragt.
Bill hatte mit keiner Wimper gezuckt und geantwortet: »Wenn du im Herzen weißt, dass die Kugel nicht für dich bestimmt ist, zittert deine Hand nicht unter dem Gewicht eines Revolvers.«
Der Reporter hatte Wort für Wort notiert – Bill musste es zwei Mal für ihn wiederholen – und sich dann volle vier Tage lang betrunken, danach war er mit dem Zug wieder zurück nach Philadelphia gefahren. Bill sagte später, er sei ein guter Reporter gewesen, obwohl er ihn nie hinsichtlich der Anzahl der von ihm erschossenen Coe-Brüder – oder Gesetzeshüter – korrigiert hatte. Aber was er über die Kugel gesagt hatte, die nicht für ihn bestimmt war, stimmte. Etwas Ähnliches hatte er Charley vorher auch schon erzählt.
Die Veränderungen bei ihm kamen mit der Blutkrankheit oder mit Agnes oder mit dem Verlust seiner Sehkraft. Charley war sich nicht sicher, ob man das eine vom anderen trennen konnte.
»Was für eine Vorahnung?« fragte er.
»Dies ist das letzte Camp«, antwortete Bill.
»Wir können woandershin gehen«, schlug Charley vor. »Schließlich sind wir mit diesem Ort nicht verheiratet.«
Bill schüttelte den Kopf. »Hier wartet etwas auf uns«, sagte er. Er blickte hoch, sah sich um und Charley glaubte, dass er die Berge um sie herum klarer erkennen konnte als er selbst. Es hatte etwas damit zu tun, wie die Dinge für ihn miteinander in Verbindung standen. »Man landet nicht ohne Grund an einem Ort wie diesem«, sagte Bill.
Boone May lag in einem Bett im ersten Stock des Gem Theaters auf Lurline Monti Verdi. Er liebte es, ihren Namen zu sagen. Er war schon fertig, aber er mochte es, auf ihr liegen zu bleiben und zuzusehen, wie sie in Panik geriet. Nachdem die Lust vergangen war, hatte Lurline immer das Gefühl zu ersticken.
Boone May war übergroß – sein Kopf hatte einen Durchmesser von dreißig Zentimetern –, und er blieb immer auf ihr liegen, bis sich ihre Atmung veränderte. Dann drückte sie mit ihren kleinen weißen Händen gegen seinen Brustkorb. »Boone, Liebling, ich bekomme keine Luft …« Und einen Augenblick später trommelte sie dann mit ihren Fäusten gegen seinen Kopf und schrie, dass er sie umbringen würde. Boone liebte das Gefühl dieser kleinen weichen Fäuste an seinem Kopf genauso wie den Klang ihres Namens. Und nie kam jemand, um zu helfen.
Schreie bedeuteten überhaupt nichts im Gem Theater, und falls doch, wussten alle, wann Boone oben war, und er war der Letzte auf Gottes Erdboden, bei dem man ins Zimmer kommen wollte, wenn er Unzucht beging.
Geduldig wartete er nun auf sie. Neben dem Bett war ein Stuhl, auf den er seine Kleidung gelegt hatte. Alles außer seiner Unterwäsche, die er unter der Bettdecke auszog. Seine Hosen aus Wildleder hatte er über die Rückenlehne gehängt. Obenauf lag ein Lederbeutel, der mit einer Kordel zusammengebunden war. Darin steckte der Kopf von Frank Towles. Auf Frank war eine Belohnung von zweihundert Dollar ausgesetzt worden, aber wie die Dinge zwischen Boone und Sheriff Bullock standen, würde er wohl nach Cheyenne reiten müssen, um das Geld zu kassieren. Dort wurde Frank gesucht.
Boone May wusste nicht, wann genau zwischen ihm und Seth Bullock etwas schiefgelaufen war. Normalerweise wurde er, wenn ein Wegelagerer identifiziert worden war, gemeinsam mit W.H. Llewellyn von Bullock losgeschickt, um ihn einzufangen. W.H. war sein Partner. Sie hatten gemeinsam als Wachboten für Geldtransporte angeheuert, und beide fühlten sich geehrt, wenn der Sheriff zu ihnen kam, damit sie die schlimmsten Burschen herbrachten. Das Geschäft lief so, dass immer einer dabei draufging. Entweder man selbst oder die Wegelagerer. Boone May war inzwischen darauf gekommen, dass es dem Sheriff vollkommen egal war, wer es war. Und das wiederum fasste er nicht als Kompliment auf.
Jetzt versuchte sie, ihn wegzuschieben, und er musste grinsen. Er hatte Zähne so groß wie die dreckigen Fingernägel eines Farmers. Lurline Monti Verdi war Sängerin und Black-Jack-Croupier und hatte mit mehr Straßenräubern gevögelt, als es Kugeln gab, um alle zu erschießen. Sie liebte das Risiko. Der Kopf würde eine Überraschung sein.
»In Ordnung, Boone«, sagte sie. »Geh jetzt runter …«
Er hob sein Bein vom Bett, um noch mehr Gewicht auf ihren Brustkorb zu verlagern. Ihr Mund war zu einem kleinen Herzen angemalt, und er konnte im Dunkeln ihre Zungenspitze sehen. Sie begann sich zu winden, aber wo immer sie sich hinrollte, er hielt dagegen, sodass sie sich nicht einen Zentimeter bewegen konnte.
Sie biss die Zähne zusammen und widersetzte sich, aber er blieb obenauf und starrte auf ihren Mund. Es ging jetzt nicht mehr darum, dass sie unter ihm lag, sondern nur noch um ihr Gesicht.