Der fremde Maler

Freder van Holk

Published by BEKKERpublishing, 2018.

Inhaltsverzeichnis

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Der fremde Maler | Kriminalroman von Freder van Holk

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Der fremde Maler

Kriminalroman von Freder van Holk

Der Umfang dieses Buchs entspricht 187 Taschenbuchseiten.

Im Herzen Londons liegt in dem dunklen Flur eines unauffälligen Hauses plötzlich ein Toter. Gene Whynn, Privatdetektiv seines Zeichens und gedienter Offizier, ist zwar einiges gewöhnt, aber das verblüfft ihn doch. Warum hält der Tote ausgerechnet eine Zeichnung in der Hand, die seine reizende Klientin Dorothy darstellt?

Diese dürftigen Anhaltspunkte versprechen kaum Aussicht auf Erfolg, den Mord, nein, zwei Morde aufzuklären. Und doch, Gene gibt nicht auf!

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

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© Cover: Nach Motiven von Pixabay

© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

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1.

Gene Whynn saß an seinem Schreibtisch. Seine Füße lagen auf der Tischkante. Der Sessel war zurückgekippt und stand nur auf den Hinterbeinen. Er pendelte kaum merklich hin und her. Gene Whynn hatte den Kopf zurückgelegt und blickte zur Decke, ohne sie zu sehen. Seine Hände ruhten mit verschränkten Fingern auf dem Magen. Die Daumen drehten sich monoton umeinander, einmal rechtsherum und einmal linksherum.

Die Ruhestellung hatte etwas Aufregendes an sich. Es gab zwei Möglichkeiten. Der Schreibtischsessel konnte abrutschen oder überkippen, so dass Gene mit dem Hinterkopf zuerst auf dem Fußboden landete. Es stand jedoch auch einiges dafür, dass die Sesselbeine wegbrachen und der Knall einen weniger edlen Körperteil traf. So neuwertig sah der Sessel nicht mehr aus.

Soweit es die Neuwertigkeit betraf, kam Gene Whynn gleich an zweiter Stelle hinter der Tageszeitung. Er war erst dreißig Jahre alt, und das zählte nicht viel in diesem Raum, der ungefähr vor hundert Jahren eingerichtet worden war. Die braunen, samtig gewordenen Möbel gewannen Tag für Tag an Altertumswert, zumal die Holzwürmer fleißig ihre Echtheitsmarken hineinbohrten. Die Sesselbezüge und Vorhänge sahen brüchig und schmierig aus, doch beruhigten helle Stores, die immerhin neugewaschen wirkten. Aus den Bücherschränken drang der trockene, strenge Modergeruch vergilbter Akten und schweinelederner Einbände heraus. Es war ein altes Zimmer mit Vergangenheit und Stil, ein Zimmer, dessen Möbel und Wände Geschichten hätten erzählen können, ja, sogar ein gemütliches Zimmer, wenn abends eine Tischlampe brannte und die Holzwürmer friedlich knabberten, aber Gene Whynn hätte es trotzdem entbehren können. Es schien ihm als Wohnbüro eines Privatdetektivs doch nicht ganz das Passende zu sein.

Er dachte eben wieder einmal darüber nach, während er Kopf und Steiß riskierte, die Daumen drehte und gelegentlich zu dem blauen Frühlingshimmel hinausschielte, der ausnahmsweise über London stand. Viel Himmel war es freilich nicht. Der größte Teil seiner Aussicht bestand aus Schornsteinen und altersgrauen Backsteinfassaden mit altmodischen Fenstern und halbvertrockneten Geranientöpfen, aus denen eben helle Triebe herausschossen. Seine Wohnung lag in der Ecke, an der die City, Islington und Whitechapel zusammenstießen, und das war eine in mancher Hinsicht interessante Gegend, aber sie bot nicht gerade viel Naturgenüsse. Außerdem befand sie sich auch noch im Erdgeschoss. Auch das besaß seine Vorteile, erschwerte jedoch träumerische Himmelsbeobachtungen.

Genau genommen war es nur eine halbe Wohnung. Sie bestand aus dem Wohnbüro, in dem er sich aufhielt, einem dahinter gelegenen Schlafzimmer und einem weiter vorn befindlichen kleinen Büro, in dem Gloria Ward so gut nach Lavendel und Sauberkeit duftete, wie man es von einer alten Jungfer erwarten konnte. Die andere Hälfte der Wohnung einschließlich Küche gehörte Mrs. Olga Rand und den Erinnerungen an ihren verstorbenen Steueroberinspektor.

Das Rumpeln und Dröhnen oberhalb der Decke bedeutete nicht, dass dort Möbelräumer am Werk waren, sondern dass sich das Familienleben von Octavio Lugosi in bester Ordnung befand. Octavio bewohnte den ganzen ersten Stock. Er hatte eine Frau und vier Kinder, und alle hatten einen guten Schuss italienisches Temperament mit nach London gebracht. Dafür war es im Obergeschoss sehr ruhig, denn dort wohnte nur ein altes Ehepaar, dessen Lebensaufgabe vermutlich darin bestand, sich nicht wieder von den angesammelten Möbeln zu trennen.

Die ganze Herrlichkeit vom Keller bis zum Dach stand im Grundbuchamt auf den Namen Gene Whynn eingetragen. Die Hypotheken vom Keller bis zum Dach auch. Sie wogen die Herrlichkeit reichlich auf.

Natürlich war er leichtsinnig gewesen. Er hatte das Erbe seines Onkels angenommen, ohne sich vorher gründlich über die Belastungen zu unterrichten, die er mit seiner Unterschrift auf sich nahm. Das Ergebnis war erstaunlich gewesen. Er hatte innerhalb weniger Wochen das gesamte Übergangsgeld, das ihm ein wohlwollender Staat zur Gründung einer neuen Existenz zur Verfügung gestellt hatte, ausgeben müssen, um die von seinem Onkel hinterlassenen Verpflichtungen zu bereinigen - angefangen von der Fleischerrechnung bis zu einigen Wechseln. Dieser Onkel, den er kaum ein halbes Dutzend mal in seinem Leben gesehen hatte, war ein Lebenskünstler gewesen. Er hatte es tatsächlich fertiggebracht, die letzten Jahre seines Lebens auf Kosten des Ahnungslosen zu leben, der eines Tages seine Erbschaft antreten würde.

Gene Whynn seufzte und wechselte die Drehrichtung seiner Daumen. Woher hatte er es wissen sollen? Solche juristischen Spitzfindigkeiten waren ihm fremd geblieben. Vor einem halben Jahr war er noch Hauptmann in einem Infanterieregiment gewesen, das seit Jahren in Deutschland stationiert war. Die Umrüstung auf Wasserstoffbomben und Raketen machte diese Infanterieregimenter und ihre Hauptleute überflüssig - vielleicht kalkulierte man auch, dass sie zu Haus in ihren Betten schneller und billiger sterben würden - und so war eben auch er gegangen worden, selbstverständlich mit Übergangsgeld, einer laufenden Rente und den besten Empfehlungen. Das Übergangsgeld hatte der selige Onkel geschluckt, die Rente mahnte zur Bescheidenheit und die Empfehlungen - nun ja, ein schlechter Leumund wäre besser gewesen, denn dann hätten sie ihm wenigstens die Lizenz verweigert.

Genau genommen war er auf seine romantische Ader hereingefallen. Privatdetektiv! Chef einer Detektiv-Agentur! Agentur Argus, gegründet 1910! War das etwas oder nicht? Er hätte Automobilverkäufer, Versicherungsreisender, Abteilungsleiter im Warenhaus, Empfangschef in einem Modesalon und was noch alles werden können, aber als netter junger Hauptmann besitzt man noch gewisse Vorurteile, und wenn nun einmal zufällig ein Onkel stirbt und eine angesehene und eingeführte Agentur hinterlässt, wenn man fernerhin schon längst detektivische Talente in sich vermutet und sogar gelegentlich Kriminalromane liest - na bitte.

Die Wirklichkeit kam dann so sicher und triste wie die Schulden seines Onkels. Die Agentur befand sich in einer geschäftlich vielversprechenden Gegend und war eingeführt wie ein kleiner Gemüseladen, aber mehr als kleines Gemüse kam auch nicht herein und ging auch nicht hinaus. Der selige Onkel hatte keinesfalls den Ehrgeiz besessen, mit der Pistole im Schulterhalfter die Kaschemmen von Whitechapel auszuräumen oder die Geheimnisse des vergifteten Pergaments im Hause eines Millionenlords aufzuklären. Die Agentur Argus sorgte sich vielmehr darum, wieso die Kohlen in einem Kohlenkeller zusehends abnahmen, während der Nachbar seinen Vorrat nicht anzugreifen brauchte, wer den Mops von Mrs. Plumpudding heimtückisch vergiftet hatte, ob der Fleischermeister Butching wirklich zum Kegeln ging oder eine Liebste besuchte und was so alles die Gemüter in diesen verräucherten Backsteinhäusern dramatisch erregte.

Ein Glück, dass Gene Whynn wenigstens nicht ganz auf den guten Ruf des ererbten Instituts angewiesen war. Man empfahl ihn. Am vornehmeren Ende der Welt besorgte das Oberst Strettham, sein ehemaliger Kommandeur, so dass man ihn gelegentlich bei Diebstählen und ähnlichen Ereignissen in besseren Häusern heranzog, in denen die Polizei nicht gern gesehen wurde. Sogar ein paar Nachforschungen für Versicherungen hatte ihm der wohlwollende Oberst verschafft. Am diesseitigen Ende der Welt half Octavio Lugosi nach. Er schickte ihn in Nachtlokale und Kaschemmen, für die er sich als Makler interessierte, und ließ ihn dort nächtelang als Kunde herumsitzen, um einen Einblick in den echten Umsatz zu gewinnen. Diese Beschäftigung förderte weder die Gesundheit noch die Moral, aber Octavio bezahlte gut, und nebenbei lernte Gene Whynn all die Lokale und Typen kennen, die seiner Meinung nach zu einem Verbrechen gehörten. Leider brachte auch das nur Enttäuschungen ein, denn so wild waren die Leute gar nicht, die sich dort herumtrieben, und die Wirte neppten sogar viel weniger als am Piccadilliy.

Tja, das war's, und Gene Whynn überlegte wieder einmal in dieser stillen Nachmittagsstunde, ob er sich nicht doch lieber einer Beschäftigung zuwenden sollte, die aufregender war und mehr Geld einbrachte. Autoverkäufer, Sportlehrer oder so etwas.

Die Tür hinter ihm knarrte. Er nahm die Füße vom Tisch und ließ den Sessel nach vorn kippen. Gloria Ward bekam Zustände, wenn sie ihn zwischen Himmel und Erde auf zwei Stuhlbeinen sah.

Natürlich war es Gloria. Sie kam auf leisen Sohlen herangehuscht, als ob ihre breiten, in Jahrzehnten ehrlich ersessenen Polster kein Gewicht besäßen, und blinzelte ihn an wie eine Maus, die eben aus dem Loch herauskommt. Sie war schon über fünfzig und hatte die letzten dreißig Jahre ihres Lebens überwiegend in dem kleinen, muffigen Büro nebenan verbracht. Genau so sah sie denn auch aus. Glücklicherweise wurde ihr blasses Gesicht wenigstens von zahlreichen Falten belebt, und ihr Geist war zweifellos noch ungebrochen. Durch die altmodische Stahlbrille hindurch funkelten lebhafte, dunkle Mäuseaugen, die verrieten, mit welcher Anteilnahme sie die Geschicke der Firma verfolgte. Gloria Ward war keine schlechte Beobachterin und besaß auch einen trockenen Verstand, aber merkwürdigerweise zugleich ein romantisches Gemüt. Nach dreißig Jahren fand sie einen toten Kanarienvogel oder eine fragwürdige Rechnung in der Westentasche eines Ehemannes immer noch so aufregend wie am ersten Tag, und Gene war sicher, dass sie in den langen Stunden ihres Nichtstuns aufregende Kriminalromane erlebte, die sich in ihrer Fantasie abspielten.

Er hatte bei der Übernahme der Agentur ernsthaft erwogen, sich einen jungen, knusprigen Leckerbissen ins Vorderzimmer zu setzen, um wenigstens einen Augentrost zu haben, aber es war dann doch bei Gloria Ward geblieben. Einesteils hatte er befürchtet, den Kundenstamm durch eine Neuerscheinung zu erschrecken, und andernteils hatte er es einfach nicht fertiggebracht, dieses alte lebende Inventarstück nach Haus zu schicken. Die graue Sekretärin seines seligen Onkels hatte keine Aussicht, wieder eine Stellung zu finden, und vermutlich wären ihr gleichzeitig auch alle Inhalte ihres Lebens verloren gegangen. So ließ er sie weitermachen, und sie dankte es ihm mit einer hündischen Ergebenheit, kompliziert durch die Erfahrungen ihres Lebens, die sie ihm trotz allem nicht vorenthalten wollte.

„Eine Kundin, Mr. Whynn“, zischelte sie aufgeregt.

„Ich ahnte es schon immer, warum Sie Gloria heißen“, seufzte er. „Ruhm und Sieg, meine liebe Miss Ward. Sie bringen beides in meine Hütte. Ist wieder einmal ein Kanarienvogel unter geheimnisvollen Umständen gestorben?“

„Das ist keine aus unserer Gegend“, zischelte Gloria Ward. „Ich habe sie noch nie gesehen. Ich glaube auch nicht, dass es sich um einen Kanarienvogel handelt. Die Krokotasche ist echt.“

„Nun, nun, schnappen Sie nur nicht über“, beschwichtigte Gene. „Warum soll sie nicht echt sein?“

Sie blickte ihn aus kleinen Pupillen heraus scharf an und sagte mit plötzlicher Strenge: „Sie müssen auf solche Kleinigkeiten achten, Mr. Whynn. Scharfblick und Erfahrung - das ist es, was Ihr seliger Onkel immer sagte. Das ist eine echte Krokotasche für mindestens fünfzig Pfund.“

„Gewicht?“

„Geld!“, verwies sie noch strenger. „Wenn Sie verheiratet wären, wüssten Sie genau, was eine echte Krokotasche in dieser Größe kostet. Mrs. Whynn würde es Ihnen schon bei allen passenden Gelegenheiten erzählen. So eine Tasche hat nicht einmal Mrs. Gelford, obgleich diese Leute in ihrem Delikatessenladen Preise haben, die doch wirklich schandbar sind. Die Behörden sollten das verbieten. Dieses ausschweifende Leben heutzutage ...“

„Bleiben wir bei der Krokotasche,“ schlug Gene mit einer gewissen Hast vor, denn wenn Gloria Ward auf die modernen Sitten kam, wurde sie zur tröpfelnden Wasserleitung, die selbst ein Klempner nicht abstellen konnte. „Sie wollen sagen, dass für uns ein paar Pfund in dieser Tasche stecken könnten?“

„Das habe ich nicht gesagt“, zischelte sie nun wieder aufgeregt. „Mehr als ein Pfund Vorschuss hat Ihr seliger Onkel nie genommen. Lieber hat er sich etwas geliehen.“

„Habe ich gemerkt. Also was ist mit dieser albernen Tasche.“

„Nichts, gar nichts. Ich meine doch bloß - da steckt etwas dahinter. Denken Sie an meine Worte! Wenn so eine mit so einer Krokotasche herumläuft - ich will ja nichts sagen, aber es gibt nun einmal gewisse Frauen, die den Männern das Geld aus der Tasche ziehen - und manche Männer sind so dumm - also ich habe mir jedenfalls noch keine Krokotasche leisten können und ....“

„Sie sehen, dass die Dummheit der Männer eben doch ihre Grenzen hat“, knurrte Gene unhöflich.

„Also schicken Sie schon diese Krokotasche herein.“

„Mr. Whynn, ich kann Ihnen doch unmöglich die Krokotasche allein hereinbringen?“, entsetzte sich Gloria Ward.

„Die Dame natürlich. Schicken Sie die Dame herein!“

Gloria Ward schürzte die Lippen.

„Die Dame? Gott, so brauchen Sie auch nicht gleich zu übertreiben, Mr. Whynn. Dame!“ Damit ging sie hinaus. Gleich darauf schob sie die Besucherin herein. Gene erhob sich von seinem Sessel und ließ sich gleich wieder zurückfallen. Dann winkte er mit einer Geste zu dem Stuhl, der an der Seite des Schreibtischs stand.

Es war keine Krokotasche, sondern eine Hornback, und das gab einen Kontakt bei Gene. Eine derartige Tasche war ihm schon einmal gezeigt worden, und den Preis hatte man ihm auch dazu genannt. Zu der Tasche gehörte eine Frau, wie er sie schon in den Kaschemmen und Nachtlokalen beobachtet hatte. Das Gesicht trug ein Make-up, das sich wohl am besten mit dem Spachtel herunter schaben ließ. Die Lippen waren grell, und über die natürlichen Konturen hinaus geschminkt. Die Augen waren dunkel untermalt und so groß, als wären sie mit Belladonna gespritzt. Ein dünnes Seidenkleid unter einem billigen Wettermantel, der offen war, knallte mit grellen Farben heraus, ließ aber keinen Zweifel, dass die Besucherin figürlich bestens geschaffen war. Die Beine waren ein Gedicht. Zwei Gedichte! Gene rückte ein Stück herum, weil er etwas für Poesie übrig hatte. Schwer fiel es nicht gerade, die Besucherin einzustufen. So etwas verdiente sein Geld bei Nacht. Es war jedoch etwas Widersprüchliches an ihr, und zwar etwas, das Gene gereizt hatte. Nein, es lag nicht an der Zusammenstellung von billigem Mantel und teurer Tasche. Manche Frauen verzichteten lieber auf ein paar Kleider, um sich eine teure Tasche, einen Brillantring oder einen Pelzmantel zu kaufen, wenn sie das für den Traum ihres Lebens hielten. Vielleicht war es das Haar, vielleicht die Augen. Sie trug einen zerquetschten roten Eierbecher auf dem Kopf, der wohl ein Hut sein sollte. Das neckische Ding ließ genügend Haar zur Besichtigung frei, und es war ein helles, naturblondes Haar von unmodischer Länge, das wie matte Seide fiel und sorgfältige Pflege verriet. Die Augen waren dunkelblau und passten ebenfalls nicht zu dem angepinselten Gesicht. Sie wirkten nicht müde und erfahren genug. Die reinsten Kinderaugen! Wahrscheinlich war das Mädchen noch reichlich jung und malte sich nur so an, um älter zu erscheinen.

„Nun?“, forderte er auf. „Was kann ich für Sie tun?“

Sie öffnete ihre Tasche, holte eine Zigarette heraus, stopfte sie in eine lange Spitze hinein, steckte diese in den Mund und schloss die Tasche wieder.

„Haben Sie Feuer?“

Er bediente mit der Flamme seines Feuerzeugs.

„Hoffentlich kamen Sie nicht nur deshalb?“

Sie paffte und schlug die Beine übereinander. Er rückte noch ein Stück herum. Nebenbei wunderte er sich. Die Besucherin trug ein bisschen dick auf. Sie konnte noch nicht lange in ihrem Beruf stehen. Sie benahm sich so, wie sich Frauen ihres Schlages auf der Leinwand benahmen, nämlich so, wie sie sich im wirklichen Leben nicht benahmen.

„Ich habe einen Auftrag für Sie“, stieß sie heraus, als hätte sie einen Anlauf nehmen müssen. „Ich suche einen Mann.“

„Durchgebrannt?“

Ihre Lider zuckten hoch und gaben einen schnellen, neugierigen Blick frei.

„Nein. Ich bin nicht verheiratet.“

„Ich meine mit der Taxe.“

Wieder ein schneller Blick, diesmal mit deutlichem Erstaunen.

„Wieso? Er hat keine Taxe. Er ist Maler.“

Die Antwort warf ihn gewissermaßen gegen die Wand. Er starrte seine Besucherin an. Sie ärgerte sich darüber und sprudelte nervös heraus: „Was ist denn nun schon wieder? Sind Sie eigentlich komisch oder bin ich es? Oder sind Sie nur dreist? Ich komme hier herein, und Sie mustern mich, als ob ich Ihnen die Brieftasche gestohlen hätte. Und jetzt fangen Sie schon wieder an. Wenn es Ihnen nicht passt, dass ich Ihnen einen Auftrag geben will ...?“

„Es passt mir großartig“, fiel er hastig ein, während er mit noch mehr Tempo überlegte. Das Mädchen sprach nicht wie jemand, der aus der Gosse kommt. Es hatte sogar einen Tonfall an sich, zu dem nur langjährige Erziehung verhilft. Irgendetwas stimmte hier nicht. Die Besucherin brachte es fertig, aufzustehen und davonzugehen. Und so drängten sich die Kunden denn noch nicht, um ohne Not auf einen Auftrag zu verzichten. Es tat not, einen Kontakt herzustellen.

„Einfach ein beruflicher Trick“, fuhr er entschuldigend fort. „Die Leute verlangen von einem Detektiv einen durchdringenden Blick. Das schafft Vertrauen. Abgesehen davon muss ich mir natürlich auch ein Bild machen. Meine Kundschaft ist gelegentlich recht gefährlich.“

„Gefährlich?“, zeigte sie Interesse.

„Nicht zu knapp“, nickte er mit Bedeutung. „Sehen Sie, da war neulich die Sache mit dem Papagei. Ein Ehepaar, zwanzig Jahre verheiratet. Sie fährt auf ein paar Wochen zu einer Kur. Als sie zurückkommt, sagt der Papagei plötzlich dauernd ,Liebling‘. Das hat er in den vergangenen neunzehn Jahren nie getan. Große Familienszene, Eifersucht, Scheidung und solche Sachen. Ich kläre die Angelegenheit auf. Ein Lausejunge hatte es dem Papagei heimlich eingetrichtert. Große Versöhnung. Zwei Tage später schicken mir die Leute als zusätzliches Honorar eine frischgerupfte Wachtel. Was soll ich Ihnen sagen - es war der Papagei. Ich hätte an dem zähen Vieh ersticken können.“

Um ihre Lippen zuckte es. Er grinste. Da lachte sie hell auf und zeigte ihre Zähne. Sie lachte ganz natürlich, aber ihr Gesicht verdarb den Eindruck. Es sah aus, als lachte eine Mumie. Sie musste glatt Pockennarben haben, die sie unter der dicken Schmiere verbarg.

„Sie sind ja ulkig!“ zensierte sie amüsiert. „Haben Sie ihn wirklich gegessen?“

„Natürlich nicht. Ich habe ihn meinem Schuhmacher gegeben. Wenn ich nicht irre, hat er Absatzflecken aus dem zähen Bruder gemacht. Wie heißt der Mann eigentlich, den Sie suchen?“

Die Heiterkeit verschwand. Sie wurde einen Augenblick lang durch Misstrauen ersetzt, aber der Kontakt hielt.

„Ich weiß nicht, wie er heißt. Ich kann ihn aber beschreiben.“

„Hm, lassen Sie hören.“

„Er trägt sandalenartige, braune Schuhe, eine braungelbe Manchesterhose, die schon ziemlich stark abgenutzt ist, eine Art Windjacke, die verwittert und nicht besonders sauber aussieht, darunter einen blauen, verschossenen Pullover und ein verwaschenes Wollhemd, auf dem Kopf eine alte braune Baskenmütze.“

Das war eine so typisch weibliche Beschreibung, dass er sich ein Kommentar sparte.

„Das Gesicht?“

„Er ist Mitte Vierzig, mittelgroß und schlank, aber eher kräftig als schmal. Er trägt eine Art Schifferbart, also einen Bart, der von Ohr zu Ohr um das ganze Kinn herumreicht, aber kurz verschnitten ist. Sonst ist sein Gesicht von kräftigen Falten durchsetzt, aber es ist wohl gerade deshalb ziemlich ausdrucksvoll. Er hat ein Gesicht, als ob er viel an frischer Luft wäre. Die Augen sind grau oder dunkelgrau. Das Haar ist fast ganz grau. Er hat kein Durchschnittsgesicht. Er sieht trotz seiner grauen Haare aus, als ob er gesund, vital und voller Kraft wäre, aber gleichzeitig ist etwas in seinem Gesicht, das ihn alt und müde erscheinen lässt. Ich glaube, es ist eine Art Resignation, etwas Philosophisches. Sie dürfen dabei nicht an irgendwelche Bitterkeiten denken. Es ist, als wäre er innerlich schon zu weise geworden, um sich selbst oder gar die anderen tragisch zu nehmen. Das lässt sich nur schwer ausdrücken, aber Sie werden mich verstehen, sobald Sie ihn sehen.“

Gene schielte mit einiger Vorsicht in das Gesicht seiner Besucherin. Wenn das ein Straßenmädchen war, so wollte er nachträglich den Papagei doch noch essen. So konnte sich niemand ausdrücken, der sich so anmalte. Die Figur war echt, die Beine waren echt, die Augen und das Haar dazu, aber das Gesicht nicht. Es konnte interessant werden, dieses Gesicht einmal unter die Wasserleitung zu halten. Im Übrigen war das Mädchen nicht nur eine gute Beobachterin, sondern musste persönlich an dem Mann stark interessiert sein. Eine derartige Beschreibung kam nicht aus einem flüchtigen Eindruck.

„Ich kann ihn mir vorstellen“, murmelte er. „Er ist Maler?“

„Ja. Er könnte in dieser Gegend wohnen, vielleicht in Islington, vielleicht aber auch in Whitechapel. Vielleicht sitzt er abends in irgendwelchen Lokalen herum und skizziert seine Umgebung. Glauben Sie, dass Sie ihn finden können?“

„Ich denke schon. Wenn Ihre Beschreibung zutrifft, ist es nur eine Frage der Zeit.“

„Fein!“, atmete sie auf. „Dann müssen Sie ihn solange suchen, bis Sie ihn gefunden haben. Was kostet das?“

„Das hängt davon ab, wie lange es dauert. Die Rechnung bekommen sie hinterher. Sie werden allerdings einen Vorschuss zahlen müssen.“

„Natürlich.“ Sie öffnete wieder ihre Handtasche, brachte zwei Zehnpfundnoten heraus und legte sie auf den Tisch.

„Genügt das?“

Er beherrschte sich. Soviel hatte er vom Geschäft denn doch schon gelernt. Wenn ihm jemand das Zwanzigfache eines normalen Vorschusses hinschob, so musste man das mit Würde tragen. Er schluckte nur kurz. Dann stand er auf, ging zur Tür und öffnete sie.

„Miss Ward, bitte eine Quittung über zwanzig Pfund Vorschuss auf einen Ermittlungsauftrag.“

Er hörte, wie Gloria Ward schnell den Atem einzog. Dann fragte sie schrill: „Zwanzig Pfund?“

„Zwanzig Pfund“, bestätigte er gelassen. „Für - wie war der Name?“

„Smith - Dorothy Smith“, sagte die Besucherin hastig.

„Für Miss Dorothy Smith“, gab er weiter, warf die Tür zu und ging zu seinem Schreibtisch zurück. „Die Quittung kommt gleich. Inzwischen noch ein paar Fragen, Miss Smith.“

„Ja?“

Er schob das Geld vorsichtshalber aus der Reichweite ihrer Hand, beugte sich vor und fixierte sie. Sie konnte ihm für ihr Geld vorspielen, was sie wollte, aber er hielt es für ratsam, noch ein paar Kleinigkeiten aus ihr herauszuholen. Die Welt war keine Sonntagsschule, und wenn jemand zwanzig Pfund auf den Tisch legte, konnte das leicht Unannehmlichkeiten bedeuten.

„Warum gehen Sie nicht zur Polizei? Sie ist darauf geeicht, VerMisste zu suchen.“

„Das ist eine private Angelegenheit“, wehrte sie steif ab. „Und außerdem wird er gar nicht verMisst. Ich weiß bloß seinen Namen und seine Wohnung nicht. “

„Warum interessieren Sie sich dafür?“

„Das geht Sie wohl nichts an“, parierte sie geradezu hochmütig. „Sie bekommen Ihren Auftrag und Ihr Geld.“

„Und notfalls ein Messer zwischen die Rippen, nicht?“

„Haben Sie Angst?“

Er lockerte sich und grinste.

„Sicher. Nicht vor einem Messer, aber wie leicht kann es passieren, dass ich Ihren Maler finde und er dann aus lauter Dankbarkeit ein Aktbild von mir malen will.“

Sie lächelte flüchtig zurück, verriet aber Unruhe.

„Sie sind ein komischer Detektiv, nicht? Ich begreife Sie nicht recht. Es ist doch gar nichts weiter dabei? Sie sind Privatdetektiv und sollen für mich den Maler suchen. Das ist alles. Warum stellen Sie sich eigentlich so an, als ob das etwas Besonderes wäre?“

Er lehnte sich zurück und erwiderte nüchtern: „Dazu könnte ich Ihnen einen ganzen Roman erzählen, Miss - hm, sagen wir lieber Dorothy. Der Vorname könnte möglicherweise echt sein. Moment – bleiben Sie sitzen! Ich will Ihnen ja den Roman gar nicht erzählen. Es ist nur manchmal nützlicher, wenn man alles weiß. Weiter nichts. Sie können es halten, wie Sie wollen, aber es kostet Sie Ihr Geld, wenn Sie Verstecken spielen und mir Dinge verschweigen, die mir die Suche nach Ihrem Maler erleichtern könnten. Wird er von der Polizei gesucht?“

„Nein.“

„Er verbirgt sich also nicht?“

„Nein.“

„Ein Verwandter von Ihnen?“

„Nein.“

Die Tür quietschte. Die Sekretärin huschte herein und legte das Quittungsformular auf den Tisch. Sie ging gleich wieder, wenn auch sicher nicht ohne eine genaue Momentaufnahme der Besucherin. Gene malte seinen Namen unter das Formular und schob es seiner Kundin hin.

„Bitte. Falls Sie nicht Bescheid wissen - damit haben Sie Anspruch darauf, dass alle Ihre Angelegenheiten vertraulich behandelt werden, soweit es sich nicht um kriminelle Vergehen handelt. Ich brauche nur noch Ihre Adresse.“

„Ich habe keine“, sagte sie auffallend kleinlaut, während sie das Blatt in ihre Tasche steckte. „Ich möchte sie Ihnen nicht sagen. Ich komme schon wieder vorbei und frage nach.“

„Wie Sie wollen“, fügte er sich gleichgültig und stand auf. Sie blieb sitzen und blickte zu ihm hinauf. Das war eine ganz hübsche Strecke, denn Gene war langbeinig geraten. Seine Nase und sein Mund hatten auch reichlich viel mitbekommen, aber sonst passte alles leidlich zusammen. Er war in Uniform ein ansehnlicher Offizier gewesen, und selbst in Zivil sah er noch bei weitem männlicher aus, als er sich fühlte.

„Ich habe noch eine Bitte“, brachte sie zögernd heraus. „Ich möchte - ich möchte nichts falsch machen. Könnte ich Sie nicht begleiten, wenn Sie ihn suchen?“

„Warum?“

„Ich habe meine Gründe.“

„Ich verstehe Sie nicht“, sagte er kopfschüttelnd. „Was soll das eigentlich? Erst mieten Sie sich für zwanzig Pfund einen Detektiv, und dann wollen Sie die Arbeit selbst erledigen? Ich nehme an, dass Sie sich nicht die richtige Vorstellung machen. Es ist eine trübsinnige Angelegenheit, von früh bis Mitternacht durch die Straßen zu laufen und einen Mann aufzustöbern, der schließlich ebensogut in einem ganz anderen Viertel sitzen kann. Sie würden sich höchstens Plattfüße holen.“

„Sie können sich solche Anspielungen sparen“, empörte sie sich und stand auf. „Sehr fein sind Sie nicht gerade. Ich will auch nicht den ganzen Tag mit Ihnen herumlaufen. Sie sollen mich bloß gleich benachrichtigen, wenn Sie glauben, dass sie ...“

„Wie?“

„Wieso? Ach so?“

„Eben. Erstens habe ich keine Adresse, und zweitens kann ich den Mann schon im ersten besten Lokal finden. Sie wollen nicht, dass ich mich mit ihm in Verbindung setze, nicht wahr?“

„Ja“, gab sie zu.

„Na schön, dann werde ich eben darauf verzichten, mich mit ihm zu unterhalten. Genügt das?“

Sie kaute an ihrer Unterlippe herum.

„Jaa ... ich weiß nicht? Sie können natürlich nicht verstehen, worauf es ankommt. Und das ist es ja eben. Er darf nicht merken, dass er gesucht wird, aber vielleicht ist alles auch nur ein Irrtum. Wenn ich gleich dabei wäre ...“

„Sie können es ja versuchen“, grinste er nachsichtig. „Wie wär's heute abend ab zehn Uhr mit einem Lokalbummel durch Whitechapel? Für Milieustudien wird garantiert.“

Sie schielte wie die Maus nach dem Speck.

„Meinen Sie, dass ich das riskieren kann?“