Der Versuchung ergeben

Agent Lovers Band 1

Sky Landis


ISBN: 978-3-96415-074-5
2. Auflage 2019
Copyright © 2019 by Wild Books (Imprint des Latos Verlags), Wilhelm-Loewe-Str. 34, 39240 Calbe

Wild Books
Dein neues Label für aufregend erotische Lovestories

Lektorat: Latos-Verlag, Calbe/Saale
Titelbild: © adrenalinapura – Fotolia.com, © konradbak – Fotolia.com
Titelbildgestaltung: Grittany Design
Alle Rechte vorbehalten.
www.latos-verlag.de

Inhalt

 

1. Kapitel

 

Vollkommen ruhig lehnte Liz an dem Stamm einer Buche. Die Beine hatte sie lässig über die Knöchel gekreuzt. So stand sie im Schatten der bereits tief stehenden Sonne, verschmolz beinahe mit ihm und war auf den ersten Blick nicht mehr erkennbar.

Einige Minuten lang beobachtete sie nun schon das Pärchen, das sich in einiger Entfernung von ihr und weit abseits des großen Herrenhauses befand. Liz wandte ihren Blick von dem Pärchen ab und ließ ihn durch den weitläufigen Garten mit seinen üppig blühenden Blumenbeeten schweifen. Perfekt gestutzte Bäume umgaben das riesige Anwesen und schirmten es zusätzlich zur massiven Mauer, die das gesamte Grundstück einfasste, vor neugierigen Blicken ab.

Der Rasen, die Rabatten und Zieranpflanzungen, die von einer Horde Landschaftsgärtner in symmetrischen Formen angelegt worden waren, unterstrichen noch die herrschaftliche Note des Anwesens. Liz fragte sich, wie lange wohl die unterbezahlten Gärtner täglich an den Rabatten und Blumenbeeten zugange waren, um die gesamte Gartenanlage in einem nahezu makellosen Zustand zu halten.

Unwillkürlich musste sie an die Zeit zurückdenken, als der Garten längst nicht so gnadenlos perfekt aussah, zwar von liebevoller Hand gepflegt, aber eben nicht den Eindruck erweckte, aus einem Expertenmagazin für Garten- und Parkanlagen zu stammen. Über fünfzehn Jahre war es her, dass sich Isabell Gibson, ihre Mutter, mit einiger Unterstützung um den Garten kümmerte. Es verging wohl kein Tag, an dem sich Isabell nicht ihrem Garten widmete.

So liebevoll wie sie die Blumen pflegte, so sanft war ihr Wesen auch ihren recht rebellischen Kindern gegenüber. Wie ein süßes Parfum umgab Liebe ihre Mutter und ließ sie von innen heraus strahlen. Liz hatte niemals genug davon bekommen können. Die bedingungslose Liebe ihrer Mutter gab ihr ein unbeschreibliches Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Allein ein aufmunterndes Lächeln von ihr reichte aus, um Liz’ kindliche Sorgen und später die eines Teenagers in Luft aufzulösen. Sicher, ihr Vater, Harold, liebte seine Kinder ebenso vorbehaltlos. Aber er konnte nicht immer für sie da sein, der Aufbau seiner Firma nahm ihn unentwegt in Anspruch. Schmerzhaft zogen sich Liz’ Eingeweide zusammen, als sie an den Tag des Unfalls dachte, der ihr Leben schlagartig veränderte.

Ihr Kopf sank gegen die brüchige Rinde des Baumes und ihre Lider schlossen sich, während sie die Vergangenheit vor ihrem inneren Auge Revue passieren ließ. Dreizehn war sie gewesen, nur knapp vier Wochen trennten sie von ihrem vierzehnten Geburtstag. Hätte sie Maggie, ein rothaariger Wirbelwind und ihre damalige Freundin, die für jeden Spaß zu haben war, nicht dazu überredet, den Bummel durch die Mall zu verlängern, hätten sie den Bus nicht verpasst und dann hätte sie nicht zu Hause anrufen müssen. Ihre Mutter schalt sie zwar am Telefon wegen ihrer Trödelei, aber, so wie eigentlich jedes Mal, mit sanfter Stimme und versprach, sie und Maggie abzuholen. Nach über zwei Stunden standen sie noch immer wartend vor dem Eingang der Mall. Das vertraute beigefarbene Ford Thunderbird Coupé fuhr jedoch nicht vor. Also rief Maggie ihre Mutter an. Als die dann eine knappe halbe Stunde später am Straßenrand hielt, ausstieg und bei Liz’ Anblick in Tränen ausbrach, wusste sie, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste. Maggies Mutter zog Liz in ihre Arme, presste sie fest, beinahe schmerzhaft an ihren Leib und flüsterte immer wieder, wie leid es ihr täte.

„Was tut dir leid?“, fragte Liz leise, mit erstickter Stimme, bereits ahnend, dass ein fürchterliches Unglück geschehen sein musste, wenn die sonst so unerschütterliche Beatrice in aller Öffentlichkeit in Tränen ausbrach. „Was tut dir leid? … Wo ist meine Mutter? … Was ist passiert?“ Erst ängstlich, dann panisch wiederholte sie die Fragen ein ums andere Mal, bis Maggies Mutter von ständigen Schluchzern unterbrochen stockend erzählte, was geschehen war. Voller Unglauben und mit weit aufgerissenen Augen starrte Liz Beatrice an. Sie schüttelte mehrmals den Kopf ob des Gehörten, schlang die Arme um ihren Oberkörper und ging auf Abstand zu der Frau, die etwas behauptete, das einfach nicht stimmen konnte. Nicht stimmen durfte. Als Maggies Mutter dann jedoch ihre zitternde Hand nach ihr ausstreckte und sie erneut tröstend in ihre Arme zog, konnte sich Liz ihrer Tränen nicht mehr erwehren. Erst klammerte sie sich laut schluchzend an die ältere Frau, bevor sie diese mit aller Kraft von sich stieß. Orientierungslos und tränenblind rannte Liz davon. Ihre Gedanken überschlugen sich, waren ein heilloses Durcheinander. Vollkommen verstört lief Liz über den riesigen Parkplatz, stolperte achtlos auf die nahe gelegene, dicht befahrene, mehrspurige Fahrbahn und brachte sich damit in Lebensgefahr.

Dass sie jenen Tag überlebte, hatte sie nur dem schnellen Eingreifen eines aufmerksamen Streifenpolizisten zu verdanken. Gerade noch rechtzeitig zog er sie vor einem Truck weg, dessen Fahrer verzweifelt auf die Bremsen trat, um Liz nicht zu überrollen und unter den Rädern zu zerquetschen. Auf dem Rasenstreifen neben der Straße hielt der Polizist Liz, die gleichzeitig weinte, um sich schlug und nach ihrer Mutter schrie, eisern fest, damit sie nicht wieder auf die Fahrbahn rannte. Eine scheinbare Ewigkeit verging, bis Liz zu schreien aufhörte, in den Armen des Polizisten zusammenbrach und nur noch teilnahmslos vor sich hinstarrte, während unablässig Tränen über ihre Wangen rannen. Maggie und Beatrice, die Liz immer wieder abwechselnd ansprachen, den herbeigerufenen Krankenwagen und die Sanitäter, die sie versorgten, die Fahrt ins Krankenhaus, nichts davon nahm sie mehr wahr. Ihre Gedanken kreisten nur noch um das, was sie von Beatrice erfahren hatte, um den schweren Unfall, der den Tod ihrer geliebten Mutter zur Folge hatte.

Ein voll beladener Truck war auf das Ende eines Staus, der sich vor einer Baustelle auf der Bundesstraße gebildet hatte, aufgefahren und hatte mehrere Wagen zusammengeschoben. Mehr als ein Dutzend Fahrzeuge waren in die Karambolage verwickelt gewesen. Die Rettungskräfte hatten schwere Gerätschaften benutzen müssen, um die Insassen aus den ineinander verkeilten Fahrzeugen befreien zu können. Liz’ Mutter in ihrem Coupé traf es am schlimmsten. Der Thunderbird stand am Stauende und war jener Wagen gewesen, auf den der Truck als erstes und mit voller Wucht auftraf. Zwar hatten die Bergungskräfte Liz’ Mutter als Erste befreit, doch die Verletzungen, die sie durch den Aufprall davontrug, waren zu schwerwiegend gewesen. Isabell war noch auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben.

Wie ein Kartenhaus stürzte Liz’ kleine, heile Welt an jenem Tag in sich zusammen. Und für eine sehr lange Zeit gab sie sich die Schuld am Tod ihrer Mutter. Hätte sie nicht die Zeit vertrödelt, wäre ihre Mutter zum Zeitpunkt des Unfalls nicht auf der Straße gewesen und noch immer am Leben. Die Schuldgefühle bewirkten, dass Liz ihre Familie zu meiden begann und sich immer mehr von ihr zurückzog, sich selbst von ihr ausschloss. Sie wähnte sich ihrer Zuneigung und Liebe einfach nicht mehr würdig. Liz mied ihren Bruder, John, den sie vergötterte. Und sie ließ ihren Vater nicht mehr an sich heran, der den Verlust seiner geliebten Frau, der sie so ähnlich sah, kaum verkraften konnte.

Es dauerte Jahre, bis Liz endlich begriff, dass der Tod ihrer Mutter nicht ihre Schuld war und auch niemand ihr dies vorwarf. Doch zu dem Zeitpunkt war die Kluft zwischen ihr, ihrem Bruder und ihrem Vater bereits unüberwindlich.

Langsam öffnete Liz ihre Augen und starrte für einen Moment blicklos in die dichten Baumkronen über ihrem Kopf, bevor sie die trüben Gedanken an die Vergangenheit abschüttelte. Allein das Hier und Jetzt zählte und dies bedeutete, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit an diesem Abend noch eine Auseinandersetzung mit ihrem Vater haben würde. So wie jedes Mal, wenn sie beide aufeinandertrafen.

Liz benötigte dringend Ablenkung von dem Treffen mit ihrem Vater. Also richtete sie ihren Blick zurück auf das Pärchen und beobachtete sie weiter.

Interessant, wirklich interessant, dachte sie nach einiger Zeit, strich sich eine hellblonde Haarsträhne aus dem Gesicht und schob sie hinters Ohr, bevor sie auf die Uhr an ihrem Handgelenk sah. Mehr als zehn Minuten beobachtete Liz das elegant gekleidete Pärchen, das sich leise und angeregt unterhielt, nun schon neugierig. Zwar wusste sie nicht, wer der Mann war, dafür kannte sie die junge Frau neben ihm umso besser. Es war Annie, die Verlobte ihres Bruders. Vom Gespräch der beiden verstand Liz kein einziges Wort, dafür war die Entfernung zwischen ihnen einfach zu groß. Aber was sollten ein Mann und eine Frau allein in diesem abgeschiedenen Teil des Gartens wollen?

Liz musterte den Fremden genauer, besser gesagt, das, was sie von ihm sehen konnte. Und das war im Moment „nur“ seine beeindruckende Rückansicht. Jede Kleinigkeit an ihm nahm sie wahr. Groß war er; sie schätzte ihn auf ungefähr einen Meter fünfundachtzig, vielleicht sogar etwas größer. Sein dunkelbraunes Haar trug er kurz, beinah militärisch kurz. Der dunkle Anzug saß perfekt. Dieser Mann machte eine gute Figur. Er gehörte eindeutig nicht in die Kategorie „Bürschchen“, die noch zu Hause bei Mami und Papi wohnten und darauf hofften, irgendwann eine solche Statur vorweisen zu können, entschied Liz und lachte über ihren merkwürdigen Gedankengang beinahe laut auf. Liz’ Augen klebten förmlich auf seinem muskulösen Körper. Sie fand, dass er sich hervorragend dafür eignete, ihr die Ablenkung zu verschaffen, nach der sie sich eben noch gesehnt hatte. Liz beschloss, es sei an der Zeit, dem Kerl, der sich so einträchtig mit ihrer Schwägerin unterhielt und den es anscheinend nicht die Bohne interessierte, dass Annie bereits vergeben war, ein wenig auf den Zahn zu fühlen.

Sie nahm einen Schluck aus der Bierflasche, die sie locker in der linken Hand hielt, und stieß sich von dem breiten Baumstamm ab. Gemächlich schlenderte sie aus ihrem Versteck zu dem Paar hinüber, zog dabei eine Schachtel aus ihrer Jackentasche, schüttelte eine Zigarette heraus und schob sie sich zwischen die vollen Lippen. Dann zündete sie sie an und sog den Rauch tief ein.

Nur wenige Schritte hinter dem Pärchen, das ihre Anwesenheit noch immer nicht bemerkte, blieb sie stehen. Mit einem leisen, spöttischen Lachen zog sie die Aufmerksamkeit ihres potenziellen Opfers auf sich. Abrupt drehte sich der breitschultrige Mann zu ihr um und starrte Liz einen Augenblick lang verblüfft an, bevor eine seiner dunklen Augenbrauen sich fragend hob. Liz ignorierte ihn jedoch und wandte sich stattdessen ihrer künftigen Schwägerin zu.

„John sucht sicher schon nach dir, Annie. Meinst du nicht, du solltest langsam wieder zu ihm zurückgehen, bevor er sich vielleicht fragt, wo du steckst?“

„Liz! Wo kommst du denn her? Ich habe dich gar nicht gesehen.“

Liz grinste innerlich. Annie war vor Schreck herumgefahren. So klammheimlich ertappt zu werden, war ihr sicher unangenehm. Oder war etwa Liz’ plötzliches Auftauchen schuld an ihrem verstörten Gesicht? Ganz sicher konnte sie sich nicht sein und beschloss, der Verlobten ihres Bruders ein wenig einzuheizen. „Das glaube ich gern. Du warst hier ja auch schwer beschäftigt. Störe ich etwa?“

„Es ist nicht so, wie du denkst.“

„Nein, nein, gewiss nicht. - Was denke ich denn?“ Um Liz’ Mundwinkel zuckte ein spöttisches Lächeln, während sie ein weiteres Mal an ihrer Zigarette zog und Annie gespielt freundlich anschaute. Doch so leicht ließ sich ihre Schwägerin in spe offenbar nicht einschüchtern.

Annie seufzte leise, schüttelte genervt den Kopf, so dass ihre dunklen, schulterlangen Locken wild hin und her wogten, wandte sich schließlich ihrem Gesprächspartner zu und ignorierte Liz dabei auf vornehme Art. So machte man das mit kleinen, frechen Mädchen! Sie kannte Johns Schwester nun schon seit einiger Zeit und hatte mehr als genug ihrer Eskapaden miterlebt, um sich davon noch beeindrucken zu lassen.

Anfangs war ihr Liz’ angriffslustige Art noch vollkommen unverständlich erschienen, bis John ihr erzählte, dass der Tod ihrer Mutter sie so sehr verändert hatte.

Jeder Mensch verarbeitete dramatische Erlebnisse anders, und es tat Annie in der Seele weh, wie sehr Liz auch nach den vielen Jahren noch immer unter dem Verlust ihrer Mutter litt. Zu gern würde sie eine bessere Beziehung zu ihrer künftigen Schwägerin aufbauen, wenn Liz es doch nur zuließe und nicht jeden ihrer Annäherungsversuche im Keim ersticken würde. Annie hatte jedoch nicht vor aufzugeben, dafür mochte sie Liz viel zu sehr.

Sie fand vor einiger Zeit heraus, dass sie Liz, wenn diese ein solch provozierendes Verhalten an den Tag legte, den Wind aus den Segeln nehmen konnte, indem sie sie und ihre bissigen Kommentare einfach ignorierte und somit keine Angriffsfläche bot. Eine andere Möglichkeit bestand darin, Liz einfach an Ort und Stelle stehenzulassen. Und genau das tat sie auch jetzt.

„Entschuldige mich, Gray! Wir sehen uns sicher später noch einmal. Dann werde ich dir gern mehr über den Landschaftsarchitekten erzählen, der mit der Planung der Anlage betraut wurde.“ Ein letzter missbilligender Blick in Richtung der Unruhestifterin, dann drehte Annie sich um und ließ beide einfach im Garten stehen.

War der Landschaftsarchitekt nicht Annies Cousin gewesen? Oha! Wenn es Fettnäpfchen mit Badewannenausmaße gab, stand Liz gerade mitten in einem solchen drin.

Vielleicht hätte ich wirklich erst einmal lauschen sollen, bevor ich zum Angriff überging, überlegte Liz kurz, jedoch ohne Reue, während sie der jungen Frau nachsah.

Was soll’s! Liz zuckte kurz mit den Schultern. Ihre Schwägerin war nichts anderes von ihr gewohnt und würde ihr in ihrer Weichherzigkeit wie immer jeden Ausrutscher verzeihen, auch wenn sie jetzt sichtlich genervt davonstapfte.

 

Ungläubig musterte Gray die abgerissene Erscheinung, die ihn eben so rüde in seinem Gespräch mit Annie gestört hatte. Ihrer Kleidung nach zu urteilen, gehörte sie ganz sicher nicht hier her. Etliche Risse zierten die ausgewaschenen, ehemals schwarzen Jeans. Ein Wunder, dass sie überhaupt noch auf ihren Hüften saß und nicht schon längst von ihrem Körper gefallen war. Das T-Shirt war so kurz, dass mehr als eine Handbreite Stoff fehlte, um überhaupt in die Nähe des Hosenbunds zu kommen. Ihre dunkelbraune Lederjacke, die sie über dem, seiner Meinung nach, viel zu kurzen Shirt trug, hatte auch schon einmal bessere Tage gesehen, so rau und abgeschabt, wie sie an manchen Stellen war. Sein Blick blieb auf der nackten, leicht gebräunten Haut ihres Bauches, auf ihrem Nabel hängen, so dass es ihm fast peinlich war. Diese Göre konnte hoffentlich nicht Gedanken lesen.

Er bemühte sich, so gelassen wie nur möglich zu wirken und ließ seinen Blick zu ihrem Gesicht wandern, das von kinnlangen, verwuschelten, hellblonden Haaren umrahmt wurde. Hin und wieder kitzelten einzelne Strähnen frech die zarte, ebenmäßige Haut ihres Gesichts, so dass sie sie mit einer leicht ungeduldigen Geste fortstrich.

Den Kopf etwas geneigt, wandte sich Liz an Gray. Ein spöttischer Ausdruck stand in ihren blitzenden, blauen Augen, der sich im Lächeln um ihren Mund widerspiegelte. Eine Herausforderung?

„Hat man Ihnen als Kind keinen Anstand beigebracht? Wer sind Sie überhaupt, dass Sie es wagen, in so einem Ton mit ihr zu sprechen?“, fragte er mit zusammengezogenen Brauen, während seine grauen Augen ein weiteres Mal über ihre wohlgeformte Gestalt wanderten.

„Das hast du doch gehört, Gray!“ Die Art und Weise, wie sie hämisch seinen Namen betonte, ließ in ihm den Verdacht aufkeimen, sie mache sich offen über ihn lustig oder fordere ihn tatsächlich heraus. Oder beides zusammen. So etwas war ihm in seinen sechsunddreißig Jahren noch nicht passiert. Normalerweise legte man ihm gegenüber den gebührenden Respekt an den Tag.

Also gut, beschloss er. Dann würde er es in ihrer Sprache versuchen und ging ebenfalls zum Du über. „Dein Name ist also Liz? Steht das vielleicht für Elisabeth?“, äußerte er seine Vermutung, um mehr über sie zu erfahren.

„Einen echten Schlaukopf habe ich da vor mir.“

„Du nimmst dir ziemlich viele Freiheiten heraus für eine Angestellte“, provozierte er sie. Dann erinnerte sich Gray an ihr freches Auftreten Annie gegenüber und kam zu dem Schluss, dass sie das nicht sein konnte. Kein Dienstmädchen, dem die Anstellung etwas wert war, würde sich dermaßen rüpelhaft Gästen gegenüber benehmen und erst recht nicht dem Arbeitgeber oder dessen Angehörigen auf der Nase herumtanzen. Sie musste mit Annie oder den Gibsons verwandt sein. Anders konnte es nicht sein. Als sie ihm schließlich lauthals ins Gesicht lachte und ihn simpel als „Arsch“ bezeichnete, überraschte es ihn nicht sonderlich. Etwas in der Art hatte Gray erwartet. In gewisser Weise fand er diese Possen sogar witzig. „Eine Angestellte bist du also nicht“, schlussfolgerte er. „Wer bist du dann? Etwa die Vogelscheuche, die der Gärtner vergessen hat? Denn genau so siehst du aus, mit deinen abgelederten Klamotten.“

„Nur zu. Mach weiter so!“ Ein breites Grinsen verzog ihre Lippen und ließ sie noch frecher wirken. „Aber lass dir gesagt sein, es braucht schon etwas mehr, um mich zu beleidigen.“ Liz nahm einen letzten Zug von ihrer Zigarette, schnippte sie auf den liebevoll gepflegten Rasen und trat sie dort aus. Dann setzte sie die Bierflasche an ihre Lippen und nahm einen kräftigen Schluck. Es entging Gray nicht, dass es sich dabei um alkoholfreies handelte. Irgendetwas passte hier nicht zusammen, dachte er bei sich.

Gray beobachtete sie eine Weile. Etwas an ihr kam ihm bekannt vor. Aber was? Er verschränkte die Arme vor der Brust und meinte leichthin: „Wer auch immer dich eingeladen hat, er war zumindest zeitweise nicht ganz bei Verstand.“ Die locker vorgebrachte Bemerkung war reine Provokation, auf die Liz mit Sicherheit reagieren würde. Denn indem er einem Familienmitglied der Gibsons den Verstand absprach, forderte er unweigerlich den Widerspruch von einem anderen heraus. Und noch bevor Liz antwortete, wusste er, wer sie war. Wie Schuppen fiel es ihm plötzlich von den Augen.

Vor einiger Zeit erwähnte John in einem Gespräch seine kleine Schwester, Lissi. Als Gray damals bemerkte, dass die bloße Erinnerung an seine Schwester John einen sorgenvollen und betrübten Gesichtsausdruck bescherte, forschte er nicht weiter nach. Das waren Familienangelegenheiten und die gingen ihn nichts an. Wenn Harold und John nicht von sich aus darüber reden wollten, würde er sie auch nicht dazu drängen.

Und die Frau vor ihm konnte niemand anders sein als Harolds Tochter. Er war sich absolut sicher. Dazu brauchte Gray sich nicht mal mehr an das zwanzig Jahre alte Zeitungsfoto erinnern, das er bei seinen Nachforschungen entdeckt hatte. Darauf war, neben Harold Gibson stehend, eine Frau zu sehen gewesen, mit der Liz auffallende Ähnlichkeit hatte. Isabell Gibson, Harold Gibsons verstorbene Frau.

„Ich glaube kaum, dass John erfreut sein dürfte, wenn er erfährt, dass einer der Gäste ihn einen Idioten nennt“, meinte Liz mit einem wütenden Funkeln in den Augen, was seine Vermutung zusätzlich bestätigte.

Gray lächelte und neigte leicht den Kopf. „Schön dich kennenzulernen, Elisabeth Gibson. Ich bin Grayson Blackwood.“

Liz blinzelte verblüfft, sah ihn verdutzt an und lachte dann. Er hatte ihr eine Falle gestellt und sie war blind hineingetappt.

„Das hätten wir ja nun geklärt.“ Sie warf einen schnellen Blick auf ihre Uhr. „Wenn du nichts dagegen hast, gehe ich jetzt rein und sage der Gesellschaft Hallo.“

Gray schwante nichts Gutes bei ihrer lässigen Bemerkung. So wie er sie kennengelernt hatte, würde sie mit sehr großer Wahrscheinlichkeit Harold und John in eine peinliche Situation bringen. Wenn Liz mit einem spektakulären Auftritt die anwesenden Investoren und Geschäftspartner beleidigte, würden eben jene vielleicht ins Grübeln geraten, ob Harold Gibson möglicherweise nicht alles im Griff hat, wie es bisher immer den Anschein hatte. Sie könnten daraus schlussfolgernd ihr Geld anderweitig oder sicherer anlegen wollen. Nicht auszudenken, wie die Investoren der gehobenen Gesellschaft - für die das Wort Etikette sehr wohl eine Bedeutung hatte - reagieren würden, wenn Harolds Tochter in den Saal hereingetrampelt käme, sich wie ein Penner auf einen der Stühle lümmelte, lässig ihre Füße auf dem eingedeckten Tisch ablegte, ihren betagten Tischnachbarn mit dem Ellenbogen in die Rippen stieß und breit grinsend trompetete: „Was geht ab, Alter?“

Oh Gott, bloß das nicht, dachte Gray entsetzt. Er kannte Harold und John lange genug, um ihnen eine solche Szene und die daraus resultierenden Folgen ersparen zu wollen, sollte es denn in seiner Macht stehen. Gray warf einen Blick über Liz’ Schulter hinweg und entdeckte den kleinen hölzernen Geräteschuppen. Hohe Bäume und leuchtend gelbe Ziersträucher verdeckten den Schuppen zum größten Teil und schirmten neugierige Blicke ab. Perfekt.

Doch erst wollte er sich absolut sicher sein, ob die relativ drastische Maßnahme, die er zu ergreifen beabsichtigte, auch von Nöten war. „Ich hoffe doch, du hast nicht vor, deinen Vater und deinen Bruder vor ihren Gästen zu blamieren, oder?“

„Und wenn schon. Sie sind daran gewöhnt. Außerdem wäre es nicht das erste Mal. Schönen Abend noch.“ Liz drehte sich um und war bereits im Begriff wegzugehen, als er mit einer schnellen Bewegung ihren Oberarm packte und sie zurückhielt.

„Ganz sicher werde ich nicht zulassen, dass du diese Party sprengst.“ Blitzschnell schnappte er sie um die Taille und warf sich Liz wie einen Sack Getreide über die Schulter. Schnurstracks lief er die paar Meter zum Geräteschuppen.

„Hey! Lass mich runter, du Trottel!“ Wütend schlug Liz kräftig mit geballter Faust gegen seinen Rücken, während sie mit der anderen Hand noch immer die Bierflasche fest umklammert hielt. So war ihr ein heftiges Zappeln allerdings unmöglich.

Hastig öffnete ihr „Opfer“ die Tür des Schuppens, stellte Liz schwungvoll auf ihre Füße und verpasste ihr einen leichten Stoß gegen die Schulter, der sie rückwärts taumeln ließ. Nachdem sie ihr Gleichgewicht wiederfand, schüttelte Liz sich die Haare aus dem Gesicht, blitzte ihn wütend an und machte einen Schritt in Richtung Ausgang.

Ihre geballte Faust schoss auf sein Gesicht zu. Doch Gray wehrte ihren Angriff blitzschnell ab und verpasste Liz einen weiteren Stoß gegen die Schulter, diesmal um einiges kräftiger. Liz stolperte rückwärts, über eine Harke hinweg und landete laut fluchend auf ihrem Hintern. Schnell schloss Gray die Tür und verriegelte sie von außen. Durch die geschlossene Tür hindurch sprach er leise lachend mit ihr: „Ich werde dein Fehlen während des Essens bei Harold und John entschuldigen. Aber ich glaube kaum, dass es sie wirklich stört, wenn du sie nicht vor ihren Gästen blamierst. Nach dem Abendessen lasse ich dich natürlich wieder raus. Und wenn du schön artig bist, Wildfang, bringe ich dir auch etwas zu essen mit.“

„Lass mich sofort hier raus! Du spinnst wohl! Sag mal, hast du sie noch alle? Mach sofort die Tür auf!“ Liz brüllte aus Leibeskräften, ihre Stimme schnappte beinahe über. Zusätzlich schlug und trat sie so kräftig gegen die Tür, selbst der Rahmen bebte unter der Wucht.

Gray hoffte inständig, die Bretter der Hütte hielten der Wut des Mädchens stand. Sorgfältig überprüfte er, ob die Tür auch wirklich verschlossen war, drehte eine Runde um die Hütte und redete beruhigend auf Liz ein, jedoch ohne eine Chance, ihren Wortschwall übertönen zu können. Gray richtete seinen Anzug, wischte den Staub von seinen vormals blanken Schuhen und begab sich recht beunruhigt und dennoch schnurstracks auf das Haus zu und hoffte trotz allem auf einen gelungenen Abend.

Warum war Liz ihrer Familie gegenüber nur so abweisend eingestellt, fragte er sich im Stillen. Dabei war es offensichtlich, dass ihr etwas an ihnen lag, sonst wäre sie vorhin nicht in seine Falle getappt.

Er kannte Harold und John nun seit ungefähr einem Jahr. Zwischen ihnen hatte sich etwas entwickelt, das man ohne zu übertreiben als eine sehr gute Freundschaft bezeichnen konnte.

Als möglicher Investor der Baufirma Gibson & Son, die innerhalb von fünfzehn Jahren um ein Vielfaches gewachsen war und zu der diverse Zweigstellen gehörten, wurde er damals eingeladen, an der Feier zum 35-jährigen Firmenjubiläum teilzunehmen. Diese Chance wollte er sich keineswegs entgehen lassen, denn Gray war schon seit einiger Zeit auf der Suche nach einer Möglichkeit, das Geld, das er von seinen Eltern geerbt hatte, sinnvoll und vor allem gewinnbringend zu investieren.

Harold war ihm von Anbeginn stets freundlich, offen und ehrlich gegenüber getreten. Er galt in Wirtschaftskreisen als überaus seriöser Geschäftspartner. Egal wo Gray auch Erkundigungen über den Mann eingezogen hatte, überall konnte er nur Gutes in Erfahrung bringen. Das war einer der Gründe, weshalb Gray sich entschied, eine nicht unerhebliche Summe in dessen Firma zu investieren. Der zweite und eher persönliche Grund für die Investition war die sofortige Sympathie gewesen, die zwischen ihnen bestand. In regelmäßigen Abständen trafen sie sich und arbeiteten an Erfolg versprechenden Ideen, um die Firma weiterhin auf Kurs zu halten.

Harold Gibson konnte, wenn es ums Geschäft ging, knallhart sein. Andererseits zeigte sich sein weiches Herz, wenn er sich für Schwächere und Bedürftige einsetzte. In der Vergangenheit kaufte er als Privatmann mehrere baufällige Objekte auf, sanierte sie und vermietete die Wohneinheiten äußerst günstig an sozial schwache Familien. Ein weiterer Punkt, warum Gray diesen Mann, der tatkräftig von seinem Sohn unterstützt wurde, so schätzte. Er kümmerte sich nicht nur um die Seinen, sondern auch um jene, denen es nicht so gut ging. Harold hatte nicht vergessen, wie es war, kaum etwas zu besitzen.

Grays Recherche über seinen Geschäftspartner war überaus gründlich gewesen. Dass Harold Witwer war, einen Sohn und eine Tochter hatte, interessierte ihn eigentlich nur am Rande, denn Gray konzentrierte sich bei seinen Recherchen hauptsächlich auf Gibsons Fähigkeiten als Geschäftsmann und dessen Unternehmen als Investitionsobjekt.

Gibson & Son war praktisch aus dem Nichts heraus geschaffen worden. Harold bekam ein von Hypotheken belastetes Anwesen und die marode Baufirma vor über fünfunddreißig Jahren von seinem Onkel vererbt. Er hatte all seine Kraft und Zeit hineingesteckt, um beides vor dem Untergang zu retten. Und innerhalb kürzester Zeit hatte die Firma wieder schwarze Zahlen geschrieben. Jahr um Jahr fuhr Gibson & Son höhere Gewinne ein.

Vor fünfzehn Jahren hatte die Firma plötzlich zu expandieren begonnen, Zweigstellen wurden eröffnet und die jährlichen Gewinne stiegen seitdem stetig an. Gray ahnte, was der Auslöser der damaligen Expansion war. Der plötzliche Tod von Harolds Frau. Und so, wie er seinen Geschäftspartner kennen gelernt hatte, baute er die Firma nur aus, um seinen geliebten Kindern eine gesicherte, sorgenfreie Zukunft bieten zu können. Sie sollten sich nicht so abschuften, wie er selbst es hatte tun müssen, um Essen im Kühlschrank und ein Dach über dem Kopf zu haben.

Umso unverständlicher war es für Gray, dass Liz sich so abweisend ihrer Familie gegenüber verhielt, sie offenbar wie die Pest mied und anscheinend alles dafür tat, als das schwarze Schaf der Familie zu gelten, ging man von ihrem Benehmen Annie gegenüber aus. Sie respektierte nichts und niemanden und brachte das auch offen zum Ausdruck. Zwar war Liz wirklich hübsch auf ihre zerzauste, wilde Art, mehr als hübsch sogar, aber ihr Benehmen ließ eindeutig zu wünschen übrig. Gray glaubte jedoch nicht, dass ihre Eltern bei ihrer Erziehung Fehler gemacht hatten. Irgendetwas anderes musste der Auslöser für ihr ungewöhnliches Verhalten sein.

Gray verdrängte vorerst jeden weiteren Gedanken an Liz, die sicher verwahrt im Schuppen saß, und zog sein Jackett zurecht, das nach der Rangelei mit der kleinen Furie ein wenig verrutscht war. Er überquerte den Rasen, passierte den steinernen Springbrunnen, in dem gurgelnd das Wasser vor sich hin plätscherte und ging auf die breite Freitreppe zu, die ihn auf direktem Weg über eine weitläufige Terrasse in den Saal hinein führte, der sich im rückwärtigen Teil des riesigen Herrenhauses befand.

Angeregt plauderte Gray mit einigen der anderen Gäste, bis es an der Zeit war, sich zum Essen an die lange, elegant eingedeckte Tafel zu setzen. Sein Platz befand sich in der Nähe des Gastgebers. Der Stuhl zu seiner Linken blieb jedoch leer. Ganz offensichtlich verspätete sich ein Gast. Und er wusste ganz genau welcher.

 

Die kurzfristig engagierten Kellner trugen gerade den zweiten Gang des exquisiten Menüs auf, als die zweiflügelige Tür regelrecht aufflog und Liz, die eigentlich im Geräteschuppen sitzen sollte, in den Raum stolzierte.

„Schönen guten Abend, die Herrschaften. Entschuldigen Sie bitte vielmals meine Verspätung, ich wurde leider aufgehalten“, begrüßte sie die verdutzt dreinblickenden Gäste. Mit einem unschuldigen Lächeln hielt sie auf das Kopfende der Tafel zu und setzte sich auf den freien Platz neben Gray. Freundlich lächelte sie in die Runde, ihrem Bruder hingegen warf sie einen Blick zu, den man durchaus als Missbilligung hätte deuten können. Einer der Angestellten brachte ihr einen Teller und Liz begann ohne Umschweife zu essen. Die neugierigen Blicke, die man ihr aus allen Richtungen zuwarf, ignorierte sie einfach.

Nachdem er Liz’ Erscheinung einer kurzen, kritischen Musterung unterzogen hatte, neigte sich Harold Gibson zu seiner Tochter. Um zu verhindern, dass die anwesenden Gäste seine Worte mithörten, sprach er mit gedämpfter Stimme: „Musst du jedes Mal, wenn du hier auftauchst - so selten dies auch geschehen mag - eine solche Show abziehen, Elisabeth? Und dann auch noch in vollkommen unangemessener Kleidung. Und sag jetzt nicht, du hättest nicht gewusst, es würde kein Familienessen sein?“

„Genau so ist es, Dad. Meinst du wirklich, ich wäre zu diesem Geschäftsessen erschienen, hätte ich die leiseste Ahnung davon gehabt?“ Diese Kleinigkeit hatte John ihr verschwiegen, als er sie anrief und dazu überredete, an diesem Abend vorbeizukommen. Wobei „überreden“ es nicht wirklich traf. John nötigte Liz regelrecht dazu.

„Seit fast vier Monaten hast du dich nicht mehr bei uns sehen lassen. Meine Güte, Liz, Savannah liegt nicht am anderen Ende der Welt, sondern nur knappe eineinhalb Stunden von Brunswick entfernt“, waren seine ersten Worte am Telefon gewesen. „Entweder du kommst am Mittwoch zum Abendessen oder ich komme bei dir vorbei. Und eines sag ich dir gleich: Ich werde ganz sicher eine Weile bleiben und dir ordentlich auf die Nerven gehen.“

Nach Liz’ frustriertem Aufstöhnen, das ihr Bruder als Zusage wertete, hatte er nur noch gemeint: „Wir sehen uns also Mittwochabend.“ Dann hatte er aufgelegt, bevor sie überhaupt eine Möglichkeit hatte, es ihm auszureden. Dass es ein Geschäftsessen sein würde, hatte John mit keiner Silbe erwähnt. Oder er vergaß es schlichtweg, froh darüber, seine Schwester zumindest für kurze Zeit nach Hause geholt zu haben.

Eigentlich hatte sie sofort kehrt machen wollen, als sie bei ihrer Ankunft all die Edelkarossen in der Auffahrt hatte stehen sehen. Doch dann entschied sie sich anders. Auf keinen Fall durfte sie riskieren, dass John seine Drohung wahr machte und mit Sack und Pack für zwei, drei Wochen bei ihr einzog. Lieber ließ sie ein Dinner im Kreise der Familie über sich ergehen, das sich dummerweise als Geschäftsessen herausstellte.

Im Endeffekt war es vollkommen unwichtig, ob Gäste anwesend waren oder nicht. Diese Tatsache würde Liz nicht davon abhalten, ihr übliches „Ding“ durchzuziehen. So wie jedes Mal, wenn sie auf ihren Vater, John und Annie traf, tat Liz, als würde sie einen Dreck darauf geben, was sie von ihr und ihrem Auftreten hielten. Es war längst zu einer Manier geworden, sich von der aufmüpfigen Seite zu zeigen. Kritik von ihrem Vater einstecken zu müssen, half ihr, Abstand von ihm zu halten. Schließlich war Abstand das Gegenteil von Nähe.

„Was hast du denn, Dad? Gefällt dir mein Aufzug etwa nicht? Dabei habe ich mir damit doch solche Mühe gegeben“, zischte Liz provozierend in Richtung ihres Vaters, ohne den Blick von ihrem Teller zu heben.

 

Sollte er etwa so schnell herausfinden, warum Liz so war, wie sie war? Gray bezweifelte das. Es schien eher die ganz normale Art zu sein, in der Harold und Liz miteinander sprachen. Ein kurzer Blick zu John, der ihm schräg gegenüber saß, eine leidende Grimasse zog und missbilligend den Kopf schüttelte, bestätigte seine Vermutung, dass es sich hier um eine Art Ritual zwischen Vater und Tochter handelte. Neugierig belauschte er weiter ihr leise geführtes Streitgespräch.

 

„Du weißt ganz genau, was ich von dir erwarte. Nein, nicht erwarte, was ich mir für dich wünsche.“

„Oh ja! Ich soll mich anpassen ...“, begann Liz betont gelangweilt ihre spöttische Aufzählung, „... einen stinklangweiligen Job machen - am besten in deiner Firma natürlich, damit du mich kontrollieren kannst. Die Vorzeigetochter soll ich für dich spielen auf Dinnerparties, wie dieser hier zum Beispiel, und irgendeine hohlköpfige Pfeife heiraten, die du mir am liebsten selber aussuchen würdest, damit ich dich früher oder später mit den statistischen zwei Komma drei Enkelkindern beglücke. Nein, danke!“

„Was ist daran so schlimm? Die Männer, die ich dir vorgestellt habe, waren alle sehr nett. John und Annie werden ja auch heiraten.“

„Oh ja, die beiden sind so sittsam und tugendhaft, besonders Annie! Die beiden müssen einfach heiraten.“ Bei ihren Worten stopfte sich Liz Salat in den Mund, und während sie kaute, wandte sie sich zu Annie. „Hm …, ihr müsst unbedingt zu Lloyd’s, die haben so zauberhaftes Porzellan. Und diese hübschen Designs, so mit Blümchen. Und diese traumhaft schöne Tischwäsche. Ich hab mir da erst kürzlich ganz tolle Servietten gekauft: Ein paar seidene, zwölf Stück mit Rüschen und welche mit zarten Blümchen bestickt, so wie meine Unterwäsche, ihr wisst schon. Ich muss davon immer genügend auf Vorrat haben, ich meine Servietten. Man kann ja nie wissen.“

Annie gab sich kühl: „Interessant, doch, da sollten wir wohl gemeinsam mal vorbeischauen.“ Diese Worte richtete sie allerdings an Liz’ Bruder, der daraufhin Annie ein zärtliches Küsschen auf die Nasenspitze gab. Verträumt kuschelte sie sich an ihn.

„Nee, so ein Verhalten ist einfach nicht mein Ding, da wird mir doch schon beim bloßen Gedanken daran schlecht. Außerdem ist nicht jeder so romantisch veranlagt wie du und hält eine Ehe für das absolute MUSS, um glücklich zu sein. Mir gefällt mein Leben so, wie es ist. Ich brauche und will keine Veränderung.“ Als würde Liz ihren Worten Nachdruck verleihen wollen, stach sie mit ihrer Gabel nun regelrecht auf das zarte Fischfilet auf ihrem Teller ein und zerpflückte es in winzige Stücke.

Wäre der Fisch nicht bereits tot, wäre er es nach dieser Behandlung mit Sicherheit gewesen, dachte Gray amüsiert und verkniff sich ein Grinsen über diesen zwar leise, aber offen ausgetragenen Konflikt zweier Sturköpfe.

„Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für eine solche Diskussion“, beendete Harold mit einem leisen Seufzen das Gespräch mit seiner Tochter, weil er einsah, dass sie für seinen Standpunkt momentan nicht zugänglich war. So wie jedes Mal. Etwas lauter wandte er sich mit aufgesetzt heiterer Miene an ihren Nachbarn. „Ich hoffe es schmeckt dir, Grayson?“

„Danke! Es schmeckt wie immer ausgezeichnet“, antwortete der lächelnd und warf seiner verärgerten Tischnachbarin einen forschenden Blick zu. Stur schaute die auf ihren Teller, schob lustlos das Essen darauf von einem Rand zum anderen, im Kreis herum und wieder zurück an den Rand. Will hier etwa jemand nicht erwachsen werden, waren Grays Gedanken, während er ihren Solo-Ruderwettbewerb beobachtete.

 

Wie üblich wechselten die Gäste nach dem Ende des Dinners vom großen Saal in den angrenzenden Salon und ließen den Abend bei einem Drink ausklingen. Mehrere Grüppchen bildeten sich, die es sich auf den aufgestellten Sofas und Sesseln gemütlich machten oder einfach beieinanderstanden und über die neuesten Entwicklungen in Wirtschaft und Politik diskutierten.

Liz schüttelte sich innerlich, während sie die Menschen um sich herum beobachtete. So etwas sollte sie sich mit schöner Regelmäßigkeit antun? Brrrrrr! Wo blieb denn da der Spaß? Immer nur ging es um Geschäfte, steif und korrekt. Oh ja, selbstverständlich war es eine Ehre, sich zu diesem erlauchten Kreis zählen zu dürfen. Und dann dieser herzzerreißende Klatsch dieser mitfühlenden Jammerlappen!

Ach, haben Sie schon gehört ...? Oh nein, wie entsetzlich! Ach was? Sagen Sie bloß? Nein, nicht auszudenken! Du meine Güte!

Dieses verlogene, eitle Getue hatte Liz gründlich satt. Das war die Welt ihres Vaters und Johns, ganz sicher nicht die ihre! Sie besaß ganz andere Talente und Interessen, von denen ihre Familie zum Glück nicht das Geringste ahnte. Und das war auch besser so.

Ich sollte wesentlich seltener hier auftauchen, dachte Liz bei sich und wurde von einem jungen Mann, der sich nach ihren Wünschen erkundigte, aus ihren Gedanken gerissen. Sie verlangte geistig abwesend nach einem alkoholfreien Bier und nahm das Glas, das ihr kurz darauf von dem Kellner gebracht wurde, mit einem dankbaren Lächeln entgegen. Plötzlich tauchte Gray neben ihr auf. Ebenfalls ein Glas schäumendes Bier in der Hand prostete er ihr zu. Ein gewinnendes Lächeln lag auf seinen Lippen.

„Ich hätte eher auf Scotch oder Bourbon getippt.“

„So kann man sich irren, Liz. Deinem Benehmen von vorhin nach zu urteilen, musste ich annehmen, du wärst hier, um die Party zu sprengen.“ Er schmunzelte vergnügt über seinen Irrtum und sein daraus resultierendes Verhalten. Die Aktion mit dem Schuppen wäre gar nicht nötig gewesen. Aber Liz trug es ihm offenbar nicht nach, dass er sie - zumindest zeitweise - außer Gefecht gesetzt hatte.

Liz ging auf die unverbindliche Unterhaltung mit ihm ein. Was war gegen ein kleines Geplänkel schon einzuwenden? Auf diese Weise verscheuchte sie wenigstens für eine Weile ihre trüben Gedanken. „Das kann ich noch immer machen. Sperrst du mich jetzt wieder vorsorglich in den Geräteschuppen?“

„Oh nein. Da ließe ich mir etwas ganz anderes einfallen, um dich von Dummheiten abzuhalten.“ Bedeutsam sah er ihr auf den Mund und ließ langsam den Blick seiner durchdringenden, grauen Augen über ihren Körper gleiten, bevor er ihr herausfordernd wieder ins Gesicht sah. Dann schenkte er ihr ein sinnliches, vielsagendes Lächeln, das noch nie seine Wirkung verfehlt hatte.

Vor Überraschung riss Liz die Augen auf und schaute ihn verdutzt an. Doch kein Schlaukopf! Hier würde sie härtere Geschütze auffahren müssen, um ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sie suchte sich die Männer aus, die sie haben wollte, und nicht umgekehrt!

„Du solltest vorsichtig sein“, warnte sie ihn. „Ich bin unheimlich gut darin, mich schlecht zu benehmen und Leute vor den Kopf zu stoßen. Und heute habe ich noch nicht mal meine Bestform an den Tag gelegt.“

„Das glaube ich gern. Sag mal, findest du dieses, sagen wir mal, einfältige Verhalten nicht reichlich dumm? Das solltest du dir unbedingt abgewöhnen. Und wenn du es nicht allein schaffst, findet sich sicher jemand, der dir dabei behilflich ist.“

Wie überzeugt er klang. Einfach nicht zu fassen! „Ich bin kein Kind, das man umerziehen kann.“ Ihre Augen funkelten zornig, während sie mit einer ungeduldigen, ruckartigen Geste ihre Haare aus dem Gesicht und hinters Ohr strich - ein deutliches Anzeichen dafür, wie gereizt sie war. Hatte es denn heute jeder auf sie abgesehen?

„Selbst Kinder haben mehr Anstand, Liz. Was ist also dein Problem?“ Gray schmunzelte, als er sah, wie sie wütend die Lippen zusammenpresste, bevor sie wenig damenhaft schnaufte. Mit dem, was dann kam, hatte er jedoch nicht gerechnet.

Einer der Angestellten kam erneut in ihre Richtung und Liz schlüpfte wortlos aus ihrer Jacke, die sie noch immer nicht abgelegt hatte, und reichte sie dem jungen Mann. Sie lächelte Gray herausfordernd an und wandte ihm mit einer geschmeidigen, halben Drehung demonstrativ ihren Rücken zu. Als der den Aufdruck auf ihrem T-Shirt sah, lachte er gequält auf. In grellen, gelben Lettern stand quer auf dem schwarzen Stoff: VERPISS DICH! Gray drehte sich halb zur Seite, nahm einen Schluck Bier und erwiderte nur kurz: „Werd erwachsen!“