ISBN: 978-3-96415-077-6
2. Auflage 2019
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Lektorat: Nicole Döhling
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Frustriert starrte Kayla auf ihren Notizblock. Die Zahlen verschwammen schon vor ihren Augen. Diese statistischen Berechnungen raubten ihr den letzten Nerv. Konnte es sein, dass die Ziffern vor ihren Augen bereits lustig über das Papier hüpften und sie verspotteten? Alles, was in irgendeiner Weise mit Mathematik zu tun hatte, war noch nie ihr Ding gewesen. Und würde es wahrscheinlich auch niemals sein. Die Abschlussprüfung war schon morgen und sie wusste noch immer nicht, wie man die „Varianz“ richtig berechnete. Ständig schlichen sich Fehler in ihre Berechnungen ein. Kayla wickelte sich unbewusst eine ihrer Haarsträhnen um den Zeigefinger, während sie mit dem Bleistift in einem schnellen Takt nervös auf den Block klopfte.
„Ist doch ganz einfach“, setzte Ben zu einer Erklärung an. „Die Varianz gibt immer die mittlere quadratische Abweichung der Ergebnisse einer Stichprobe um ihren Mittelwert an.“
„Das hast du jetzt schon gefühlte tausend Mal erklärt. Und ich verstehe es trotzdem nicht.“ Kayla warf den Bleistift auf den Tisch und rieb sich mit der flachen Hand über die Stirn. Überall auf dem runden Tisch verteilt lagen zusammengeknüllte Blätter mit ihren fehlerhaften Berechnungen zwischen Lehrbüchern und Tabellen. Was für ein deprimierender und entmutigender Anblick. In ihrer letzten Prüfung würde sie wohl jämmerlich versagen.
„Schau mal …“ Ben, der sich seit Wochen abmühte, ihre Mathekenntnisse auf Vordermann zu bringen, reagierte wie immer mit einer Engelsgeduld. Er wirkte auf Kayla wie der typische Nerd mit seiner schwarzen Nickelbrille. Seine Hemden trug er fast schon überakkurat gebügelt und die dunkelbraunen Haare … wahrscheinlich berechnete er schon während des Kämmens den korrekten Winkel, in dem er den Scheitel ziehen würde. Aber Ben war nett und ließ sie niemals spüren, wie unzulänglich sie in mathematischen Belangen war. In den letzten Wochen wurde er für Kayla zu einem echten Freund. Obwohl Joey, der Mann, den sie trotz seiner aufbrausenden Art über alles liebte und mit dem sie mittlerweile seit fast zwei Jahren zusammen war, das gar nicht gerne sah.
„Alles andere hast du doch auch verstanden“, riss Ben sie aus ihren Gedanken, schob die Nickelbrille auf seiner Nase zurecht und lächelte aufmunternd.
„Aber erst nach unzähligen Stunden, Tagen und Wochen, in denen du es mir wieder und wieder und immer wieder erklärt hast. Das muss dir doch selber schon zum Hals raushängen.“
„Vielleicht hätte ich die Geduld auch schon mit dir verloren“, räumte er ein und legte den Kopf schief, ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen, „… wenn du dir nicht so offensichtlich Mühe beim Lernen geben würdest.“
Aus einer Laune heraus beugte Kayla sich zur Seite, küsste ihn auf die Wange und grinste von einem Ohr zum anderen. „Du bist ein Schatz, Ben. Ohne dich wäre ich echt verloren. Wenn du …“
„Wenn er was?“, hörte sie Joey in ihrem Rücken knurren und wandte sich erschrocken um. Mit einem lauten Knall warf er die Wohnungstür hinter sich zu, während sein Blick von ihr zu Ben wanderte. Joey kam näher und musterte ihren Studienkollegen abschätzend. In seinem Unterkiefer zuckte ein Muskel. Ein untrügliches Anzeichen dafür, wie aufgebracht er war.
„Joey! Was machst du denn schon hier?“ Kaum war die Frage heraus, hätte Kayla sie am liebsten zurückgenommen. Denn Joeys Miene verfinsterte sich noch mehr.
„Hätte ich lieber später kommen sollen?“ Er kam näher, entdeckte durch die geöffnete Schlafzimmertür das zerwühlte Bett und presste seine vollen Lippen zusammen. „Oder bin ich vielleicht sogar schon zu spät gekommen?“
Kayla atmete tief durch und wandte sich zu Ben um, der mit weit aufgerissenen Augen neben ihr auf seinem Stuhl hockte und dessen Gesichtsfarbe eine unnatürliche Blässe angenommen hatte. Ihr Studienkollege hatte wahrscheinlich nur deswegen noch nicht die Flucht ergriffen, weil er glaubte, sie im Notfall vor ihrem aufgebrachten Verlobten verteidigen zu müssen. Er konnte nicht wissen, dass Joey ihr niemals etwas tun würde, ihm vielleicht schon.
„Vielen Dank für deine Hilfe. Ich schaue mir nachher noch einmal alle Notizen an und dann schaffe ich bestimmt die Prüfung“, sagte sie mit einem aufmunternden Lächeln. „Aber jetzt wäre es wohl besser, wenn du gehst, Ben.“
„Bist du dir sicher?“ Er wagte einen vorsichtigen Blick in Joeys Richtung, der sich mit vor der Brust verschränkten Armen direkt neben dem Tisch aufgebaut hatte, allein schon mit seiner muskulösen Erscheinung furchteinflößend auf ihn wirken musste und ihn mit einem eisigen Blick durchbohrte.
Noch ehe Kayla darauf antworten konnte, packte Joey Ben am Kragen, zerrte ihn mühelos von seinem Stuhl hoch und Richtung Tür. „Selbst wenn sie sich nicht sicher ist, ICH bin mir absolut sicher, dass du jetzt verschwinden solltest.“
„Lass ihn sofort los!“ Kayla sprang auf, lief hinter Joey her, der Ben noch immer wie einen widerspenstigen Welpen im Nacken gepackt hielt und gerade die Tür öffnete. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er sie über seine Schulter hinweg an.
„Oder sollte vielleicht besser ich gehen, damit du dich noch eine Runde mit diesem schmierigen Lackaffen vergnügen kannst?“ Er warf den vermeintlichen Rivalen im wahrsten Sinne des Wortes aus ihrer Wohnung. Kayla konnte noch sehen, wie Ben quer über den Flur stolperte und sich mit beiden Händen an der gegenüberliegenden Wand abstützte, um nicht dagegen zu prallen. Im nächsten Moment knallte Joey die Tür hinter ihm zu, dass selbst der Türrahmen unter der Wucht erzitterte.
„Was sollte das denn? Ben und ich haben nur gelernt.“ Als er mit verkniffener Miene an ihr vorbeigehen wollte, verstellte sie ihm den Weg und verschränkte die Arme vor der Brust. Aufgebracht funkelte sie ihn an. „Ich will wissen, was in dich gefahren ist, dass du meinen Studienkollegen aus meiner Wohnung schmeißt. Und das auch noch vollkommen grundlos.“
„Du hast ihn geküsst“, stieß er gepresst hervor.
„Freundschaftlich auf die Wange.“
„Und das Bett?“ Seine Kiefer mahlten aufeinander und sein Blick bohrte sich in ihren, als versuche er herauszufinden, ob sie ihn offen anlog.
„Ich habe es schlichtweg heute Morgen vergessen zu machen. Na und? Da ist nun wirklich nichts dabei. Ich habe schon öfter vergessen, das Bett zu machen. Das solltest du eigentlich wissen.“ Er schien zu überlegen und kam nach einem Moment offensichtlich zu dem Schluss, dass sie die Wahrheit sagte. Denn die Kälte verschwand aus seinen Augen und sein kantiges Gesicht nahm weichere Züge an.
Dass er eifersüchtig auf andere Männer reagierte, war nichts Neues. Joey war ständig in Alarmbereitschaft, sobald einer ihrer männlichen Studienkollegen in ihrer Nähe auftauchte. Aus dem Grund hielten sich auch alle wohlweislich von ihr fern, wenn Joey bei ihr war. Bisher hatte er sich immer im Griff gehabt und war nie so weit gegangen wie heute. Normalerweise verteilte er nur unausgesprochene, aber eindeutige Warnungen. Ein stechender, unnachgiebiger Blick aus seinen eisblauen Augen genügte oftmals schon. Manchmal steckte er sein Revier aber auch ab, indem er sie besitzergreifend an seine Seite oder in seine Arme zog und sie vor den Augen des vermeintlichen Rivalen küsste.
Aber dieses Mal war es anders gewesen. Ganz so, als würde das, was seit Langem in ihm brodelte und ihm zu schaffen machte, aus ihm hervorbrechen. Was Kayla an seinem Verhalten am meisten schmerzte, war nicht einmal, dass er ihren Nachhilfelehrer aus der Wohnung geworfen hatte, sondern dass er überhaupt hatte überlegen müssen, ob er ihr glauben konnte. Joeys Vertrauen in sie schien erschüttert. Und sie konnte sich keinen Reim darauf machen, warum das so war.
„Was ist mit dir los, Joey?“, fragte sie leise. „Was ist passiert, dass du wie ein wutschnaubender Rottweiler hier reinstürmst, so unüberlegt handelst und sogar fast handgreiflich wirst? Ich weiß ja, dass du es nicht magst, wenn Ben oder ein anderer Mann sich in meiner Nähe aufhält. Aber ich werde auch in Zukunft immer wieder mit anderen Männern zusammentreffen und mit ihnen zusammenarbeiten. Das heißt noch lange nicht, dass ich dich mit einem von ihnen betrügen würde. Ich liebe dich, Joey. Und zwar nur dich.“
„Ich weiß. Und ich liebe dich, Kleines. Aber …“ Er fuhr sich mit einer Hand durch sein dichtes, dunkelblondes Haar und stieß geräuschvoll den Atem aus. „Ich hätte ihm einfach nicht zuhören dürfen, so wie allen anderen auch. Es tut mir leid, Kayla.“
Sie runzelte die Stirn und überlegte, von wem er gerade gesprochen hatte. Bis es ihr wie Schuppen von den Augen fiel. Mit „ihm“ hatte er seinen Vater gemeint, der von ihr nichts hielt und von ihrer Verbindung zu seinem Sohn noch weniger. In der Vergangenheit hatte sie vergeblich versucht, sich Joeys Vater, der dem Alkohol mehr zusprach als gut für ihn war, anzunähern. Bruce McAdams hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, was er in ihr sah: Eine verwöhnte Tochter aus reichem Hause, die sich seinen Sohn nur als kurzweiligen Zeitvertreib ausgesucht hatte und ihn irgendwann abservieren würde, sobald sie genug von ihm hatte.
So wie es aussah, hatten seine ständigen Warnungen vor ihr bei seinem Sohn endlich Früchte getragen. Und wenn sie es richtig verstanden hatte, war er nicht der einzige, dem es gelungen war, Joey so weit zu verunsichern, dass er schlussendlich an ihr zu zweifeln begonnen und sie sein Vertrauen verloren hatte.
Tränen traten in ihre Augen, als Kayla bewusst wurde, was das bedeutete. Mit dem Verlust seines Vertrauens in sie, gab er auch den Glauben an sie beide auf. Immer wieder würde es ähnliche Situationen geben, die sein Misstrauen zu Tage fördern. Und das wiederum würde irgendwann ihre Liebe zueinander tief erschüttern und vergiften. Sehr wahrscheinlich war genau das bereits geschehen. Sie beide hatten keine Chance, würden auf lange Sicht nicht glücklich miteinander werden. Egal, wie sehr sie ihn liebte und sich wünschte, Joeys Frau zu werden.
Mutlos sackten ihre Schultern herab, als sie einen Schritt auf ihn zutrat und eine Hand hob, um behutsam über seine breite Brust zu streicheln. Seine Muskeln zogen sich bei ihrer sanften Berührung unter dem dunkelgrauen T-Shirt zusammen. Ja, er liebte und begehrte sie, aber das würde nicht ausreichen.
„Ich liebe dich, Joey …“ Als er zu einer Erwiderung ansetzte, schüttelte Kayla traurig lächelnd den Kopf. „Aber es ist nicht genug …“
„Nicht genug wofür?“, unterbrach er sie argwöhnisch. Erneutes Misstrauen blitzte in seinen Augen auf und bestätigte Kaylas Vermutung. Die Zweifel an ihr hatten sich in ihm längst festgesetzt. „Du liebst mich … aber eben nicht genug, um mir treu zu sein? Ist es das, was du damit sagen willst?“ Voller Abscheu schob er ihre Hand beiseite und trat einen Schritt zurück. „Also stimmt es, was mein Vater die ganze Zeit über immer wieder behauptet hat? Ich bin nicht der Einzige?“ Die Warnungen seines Vaters hatten eindeutig Früchte getragen. Joey WOLLTE die Lügen glauben, stellte Kayla betrübt fest.
„Hätte es einen Sinn, wenn ich es abstreiten würde?“
„Wie viele? Mit wie vielen anderen Kerlen hast du noch geschlafen?“, presste er wutschnaubend und zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Du weißt sehr gut, dass du mein Erster warst.“
„Das heißt nicht, dass ich dein einziger Liebhaber geblieben sein muss.“ Die Hände zu Fäusten geballt stand er vor ihr, kaum noch in der Lage, seinen ungerechtfertigten Zorn im Zaum zu halten. Als er sie schließlich anbrüllte, zuckte sie erschrocken zusammen. „Wie viele?“
Kayla straffte sich, erwiderte hoch erhobenen Hauptes seinen Blick, in dem von seiner Liebe zu ihr nichts mehr zu sehen war. Nur noch Abscheu und grenzenlose Enttäuschung waren darin erkennbar. Was immer sie jetzt noch zu ihrer Verteidigung hervorbringen würde, er würde es nicht glauben.
„Es wäre besser, wenn du jetzt gehst, Joey.“ Hatte sie nicht erst Minuten vorher ähnliche, fast genau die gleichen Worte benutzt? Nur hatte sie da Ben weggeschickt.
Nachdem Joey aus dem Apartment gestürmt war und die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, sackte Kayla in sich zusammen. Den Rücken gegen die Wand gelehnt, hockte sie mit angezogenen Knien auf dem Boden und ließ ihren Tränen freien Lauf. Ihre Träume waren innerhalb von Augenblicken geplatzt wie Seifenblasen. Die gemeinsame Zukunft mit dem Mann, den sie über alles liebte, war nur ein dummer Wunsch ihrerseits gewesen. Ein Herzenswunsch, der unerfüllt bleiben würde.
Kayla betrachtete den schmalen, schlichten Ring an ihrer linken Hand, schniefte leise und wischte sich mit der rechten Hand die Tränen von den Wangen, die einfach nicht versiegen wollten. Es gab nur noch eines, was sie tun konnte, was sie tun musste …
Kayla lief den langen, von kaltem Neonlicht erhellten Flur entlang. Ihre High Heels verursachten ein klackerndes Geräusch auf dem grauen Steinfußboden, als sie ihre Schritte beschleunigte, um nicht zu spät zu ihrem Gespräch mit dem Direktor zu kommen. Sie passierte eine leere Vitrine, deren Glasscheibe einen Sprung aufwies, und verzog unwillig den Mund. Es war ihr bisher noch nie untergekommen, dass eine Schule nicht voller Stolz wenigstens ein paar Pokale in einer Vitrine ausgestellt hatte, die als Ansporn für die Schüler dienten. Die Jefferson High wirkte alles andere als einladend, hatte keine eigene „Persönlichkeit“, die ihr von Schülern und Lehrern hätte verliehen werden können. Keine Plakate, auf denen irgendeine High School-Party angekündigt wurde, oder Aufrufe, an Wettbewerben teilzunehmen. Die Atmosphäre war trist und erdrückend - wie viele Schicksale von Schülern der Jefferson High.
Als sie vor zwei Wochen als Vertrauenslehrerin an die Jefferson High gekommen war, hatte sie nicht gedacht, dass ihre Hilfe so dermaßen von Nöten war. Kayla hatte sich damals bewusst für die High School mit dem schlechtesten Ruf entschieden, obwohl ihr mehrere Jobangebote vorlagen. Sie wollte sich dort nützlich machen, wo sie am meisten bewirken konnte. Zwar machte sie nur langsam Fortschritte, aber sie waren bereits erkennbar. Die Schüler begannen, ihr tatsächlich zu vertrauen und öffneten sich in persönlichen Gesprächen. Das Lehrerkollegium verhielt sich ihr gegenüber nicht mehr ganz so abweisend, taute langsam auf und wurde lockerer. Nie hätte sie gedacht, dass Schüler und Lehrer gleichermaßen auf Hilfe angewiesen waren. Es schien Kayla fast, als akzeptierten alle die Situation, einen Großteil des Tages in einer trostlosen Umgebung ihr Dasein zu fristen, um sich dann nach Schulschluss in einem Heim im Stadtteil mit der höchsten Kriminalitätsrate zu verkriechen.
Kayla warf einen Blick auf ihre Uhr, seufzte erleichtert, weil sie es wohl doch pünktlich ins Büro des Direktors schaffen würde, und bog nach rechts in den nächsten Flur ein.
„Miss Williams?“, erklang die vertraute Stimme des Direktors hinter ihr und ließ sie abrupt innehalten. Kayla zog eine Grimasse, weil sie mal wieder die falsche Richtung eingeschlagen hatte, drehte sich dann mit einem herzlichen Lächeln auf den Lippen um und lief dem Direktor entgegen. Lance Masters war Ende 40, wirkte wegen der vielen Falten und dem ergrauten Haarschopf aber deutlich älter. Und er trug mit Vorliebe langweilige hellgraue Anzüge, die sich perfekt in die triste Umgebung der High School einfügten. Etwas mehr Mut zur Farbe bei seiner Kleiderwahl täte ihm gut.
„Guten Morgen, Mr. Masters. Ich bin doch hoffentlich nicht zu spät?“
„Nein. Aber wären Sie gewesen, wenn Sie weiter in die falsche Richtung gelaufen wären.“ Ein verschmitztes Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht, als er mit einer Hand einladend in sein Büro wies. „Vielleicht sollte ich für Sie Hinweisschilder aufstellen lassen, damit Sie sich nicht ständig verlaufen.“
„Ist das ein versteckter Hinweis auf meinen mangelnden Orientierungssinn?“
„Ich würde ihn nicht als „versteckt“ bezeichnen, Miss Williams. Bisher habe ich noch niemanden kennengelernt, der sich so oft verläuft wie Sie.“
Kayla war solche Kommentare inzwischen gewohnt. Darüber ärgerte sie sich schon lange nicht mehr. Es war eine Tatsache, dass sie einen katastrophalen Orientierungssinn besaß. Das war auch der Grund, warum sie ihr Auto so selten aus der Garage holte. Die meisten Wege erledigte sie mit einem Taxi oder dem Bus. So kam sie nicht in Verlegenheit, sich zu verfahren. Denn selbst mit einem Navigationsgerät verfuhr sie sich öfter, als ihr lieb sein konnte. Und natürlich war in den letzten Wochen ihren Kollegen und auch den Schülern nicht verborgen geblieben, wie oft sie die Orientierung verlor. Mehr als einmal musste sie um Hilfe bitten, weil sie in die falschen Flure eingebogen war und am Ende den Weg zu ihrem Büro nicht fand. Ihre offensichtliche Schwäche hatte aber auch ihre Vorteile, wie sich schnell herausstellte. Denn während der Hausmeister, Schüler und Lehrerkollegen sie immer bis zu ihrer Bürotür begleiteten, um sicher zu gehen, dass sie tatsächlich ankam, entwickelte sich stets eine unvorhergesehene persönliche Unterhaltung, bei der sie mehr über ihre Gesprächspartner herausfand.
„Um gleich auf Ihr Anliegen zu kommen, Miss Williams …“, während Kayla Platz nahm, setzte Lance Masters sich auf seinen Stuhl hinter dem abgenutzten Schreibtisch, der, so wie das gesamte Mobiliar im Büro, aussah als wäre er älter als sie mit ihren 31 Jahren, „… ich bezweifle, dass Ihr Vorschlag die gewünschte Wirkung erzielen würde. Die Jefferson steht nicht in dem Ruf, dass Schüler und Lehrer sich besonders verbunden mit ihr fühlen.“
„Und woran liegt das? Doch nur daran, dass nicht einmal der Versuch unternommen wird, annähernd etwas wie Zusammenhalt und Verbundenheit schaffen zu wollen.“ Kayla würde sich nicht davon abbringen lassen, für einen besseren Ruf der Schule zu sorgen. Das Potential war da, nur niemand nutzte es. Zumindest hatte bisher niemand es getan. Aber das war, bevor sie an die Jefferson gekommen war.
„Sie vergessen, dass uns kaum finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Es ist ja nicht einmal genug Geld da, um das Chemielabor auf den neuesten Stand zu bringen oder das altersschwache Mobiliar oder die kaputten Sportgeräte auszutauschen.“ Bedeutungsvoll senkte er den Blick auf die abgeschabte Tischplatte, verschränkte seine Finger ineinander und stützte seine Ellenbogen auf dem Schreibtisch ab. „Wie sollen wir es da schaffen, ein Schulfest zu organisieren? Wo soll das Geld für Getränke, Snacks und und und herkommen? Haben Sie sich das so vorgestellt, dass sich alles zu einem netten Plausch auf dem Schulgelände zusammenfindet und wollen DAS dann als Schulfest bezeichnen?“
„Alles, was ich von Ihnen möchte, ist, dass Sie Ihr Okay geben. Um den Rest werde ich mich kümmern.“
„Miss Williams …“
„Ein Nein werde ich nicht akzeptieren, Mr. Masters. Sie wissen, dass ich nur die besten Absichten hege.“ Sie schlug die Beine übereinander und strich den kobaltblauen Stoff ihres Rocks mit beiden Händen glatt.
„Aber …“
„Kein aber. Ich weiß, dass auch Sie nur das Beste für die Jefferson und deren Schüler wollen. Also gibt es keinen Grund, sich gegen meine Idee zu sträuben.“
„Ich möchte nur nicht, dass das von Ihnen angedachte Schulfest zu einer Enttäuschung wird - für uns alle.“
„Das wird es ganz sicher nicht“, versprach sie ihm überzeugt. Ihr Gegenüber schien allmählich seinen Widerstand aufzugeben, da würde sie ganz sicher nicht locker lassen. „Sehen Sie es vielmehr als ersten Schritt in die richtige Richtung, der allen nur Vorteile bringen kann.“
Lance betrachtete sie für einen Moment schweigend und stieß dann einen tiefen Seufzer aus, ehe er sich geschlagen gab. „Okay. Sie bekommen das Schulfest. Aber Sie sollten sich gleich im Klaren darüber sein, dass Sie eventuell nur sehr wenig Hilfe bekommen werden. Finanziell kann ich Sie dabei nicht unterstützen.“
Kayla strahlte ihr Gegenüber an und nickte eifrig. „Kein Problem. Damit habe ich bereits gerechnet. Ich verspreche, ich werde Sie mit der Planung des Schulfestes zu keiner Zeit behelligen.“
„Wenn ich helfen kann, dann werde ich das tun, Miss Williams.“ Die Schulglocke ertönte und kündigte die Heerschar von Schülern an, die jeden Moment in die Jefferson und durch die Flure strömen würde. Lance, der es sich zur Angewohnheit gemacht hatte, vor der ersten Stunde immer eine Runde durch die Schule zu drehen und Präsenz zu zeigen, erhob sich von seinem Stuhl. „Soll ich Sie zu Ihrem Büro bringen?“
„Damit ich mir wie eine senile alte Frau vorkomme?“, sagte Kayla lachend, stand von ihrem Stuhl auf und schob sich die Schlaufen ihrer Handtasche über die Schulter. „Ich werde mich tapfer durch die Massen kämpfen und wenn ich doch Hilfe brauchen sollte, findet sich schon jemand, den ich in Beschlag nehmen kann.“
Nachdem sie aus dem Büro getreten war und sich kurz umschaute, hörte sie den Direktor hinter sich leise lachen. „Sie müssen nach rechts und dann immer geradeaus, bis zum Ende des Ganges. Und dann …“
Gespielt empört wandte sie sich zu ihm um und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Das wusste ich.“
„Natürlich. Wie konnte ich nur etwas anderes denken?“ Lance verkniff sich ein Grinsen, während sein Blick Kayla folgte, die im nächsten Augenblick von den hereindrängenden Schülern verschluckt wurde. Sie war erst seit zwei Wochen an der Jefferson und ihm waren die Veränderungen, die sie bereits bewirkt hatte, nicht verborgen geblieben. Anfangs dachte er noch, sie sei vollkommen ungeeignet als Vertrauenslehrerin, wirkte sie doch mit den feinen Gesichtszügen, ihrer roten Lockenpracht und der farbenfrohen Designerkleidung wie einem dieser „IN“-Modemagazine entstiegen. Stets und ständig trug sie High Heels, selbst wenn sie sich auf den unebenen Sportplatz vorwagte, um einen der Schüler dort für ein Gespräch aufzusuchen. Argwöhnisch hatte er die Reaktionen der anderen Lehrer auf Kayla beobachtet, denen wie ihm die Zweifel im Gesicht gestanden hatten. Für keinen war nachvollziehbar, wie eine Frau mit ihrer Herkunft sich ausgerechnet für ein Jobangebot von der Jefferson, der High School mit dem schlechtesten Ruf in Ocala, entscheiden konnte. Wäre sie nicht die einzige Bewerberin für den Job gewesen, hätte er sie wahrscheinlich gar nicht eingestellt. Aber er musste zugeben, dass mit Kayla die Stelle der Vertrauenslehrerin hervorragend besetzt war. Sie war einfühlsam, liebevoll und fürsorglich. Er hoffte nur, dass sie keinen Rückschlag mit dem Schulfest einstecken musste. Denn er hatte mehr als einmal erlebt, dass es sinnlos war, Verbundenheit zwischen Schülern und Lehrerkollegium schaffen zu wollen.
Natürlich bog Kayla in den falschen Flur ein, während sie versuchte, zu ihrem Büro zu kommen. Warum musste auch alles gleich aussehen? Jeder Gang grau in grau. Kein Farbtupfer, an dem sie sich hätte orientieren können. Genervt blies sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und wandte sich in die Richtung, aus der sie gekommen war. Die Flure waren mittlerweile wie leergefegt, alle Schüler in ihren Klassen. Mit einem Seufzen entschloss sie sich, an eine der Türen zu klopfen und sich einen der Schüler „auszuborgen“, als sie durch die angelehnte Tür eines Klassenzimmers, das wegen eines schweren Wasserschadens derzeit nicht genutzt wurde, einen Gesprächsfetzen aufschnappte.
„Das kann nicht dein Ernst sein?“ Die aufgebrachte Stimme gehörte zu Mitchell, erkannte Kayla, einem intelligenten jungen Mann, der in diesem Jahr seinen Abschluss machen würde. „Du bist erst 17 und hast in diesem Schuppen nichts verloren.“
„Was bleibt mir denn anderes übrig? Ich muss doch irgendwie meinen Bruder und mich durchbringen.“ Mindy, ebenfalls 17, klang den Tränen nahe.
Kayla überlegte, ob sie sich einfach dazu gesellen und gerade heraus nach dem Problem der beiden fragen sollte. Aber die Verzweiflung in der Stimme der jungen Frau ließ sie innehalten. Möglicherweise verschlimmerte sie die Situation nur noch, wenn sie zu forsch in den Vordergrund trat.
„Es ist die Aufgabe deines Vaters, für euch zu sorgen und nicht deine.“
„Aber er kann doch nicht …“
„Weil er ein verfluchter Säufer ist“, fuhr Mitchell Mindy aufgebracht an. „Dem ist alles und jeder scheißegal. Hauptsache er bekommt jeden Tag seinen Fusel und kann sich volllaufen lassen. Und DU bezahlst dafür.“
„Mitchell, versteh mich doch …“
„Ich versuche es ja, aber irgendwo ist Schluss …“
Im nächsten Moment flog die Tür auf und Mindy rannte schluchzend den Flur entlang. Sie war so durcheinander, dass sie nicht einmal hörte, wie Kayla ihren Namen rief. Als Mitchell aus dem Klassenraum kam und sie im Flur stehen sah, versuchte er eine heitere Miene aufzusetzen und scheiterte dabei kläglich. „Brauchen Sie Hilfe, Miss Williams?“
Sie legte den Kopf schief und schenkte ihm ein verschmitztes Lächeln. „Wenn du so nett wärst?“
Gemeinsam legten sie den Weg zu ihrem Büro zurück, das sich nur den Flur entlang und um die Ecke befand.
„Danke Mitchell!“ Kayla fischte den Schlüssel aus ihrer Tasche, öffnete die Tür und betrat ihr Büro.
„Wollen Sie mich gar nicht fragen, was da eben zwischen Mindy und mir vorgefallen ist?“ Mitchell fuhr sich mit einer Hand durch sein kurzes schwarzes Haar, schob dann beide Hände in seine Hosentaschen und starrte mit hängenden Schultern zu Boden. Er wirkte verloren wie ein kleines Kind und wusste offensichtlich nicht mehr weiter.
„Das könnte ich tun. Aber ich denke, du wärst im Recht, wenn du dann sagen würdest, es geht mich nichts an. Etwas anderes wäre es natürlich, wenn du von dir aus mit mir darüber reden möchtest …“
Der Kopf des jungen Mannes ruckte hoch und er musterte sie forschend, als versuche er zu entscheiden, was er tun sollte und ob er sich ihr anvertrauen konnte. Er schluckte hart und fragte dann leise: „Hätten Sie vielleicht kurz Zeit für ein Gespräch, Miss Williams?“
Kayla öffnete die Tür etwas weiter und wies mit einem sanften Lächeln einladend in ihr Büro. „Selbstverständlich habe ich Zeit für ein Gespräch. Komm rein, Mitchell.“