WELTLITERATUR FÜR KINDER

Nathan der Weise

nach Gotthold Ephraim Lessing

Neu er zählt von Barbara Kindermann
Mit Bildern von Maren Briswalter

Zu einer Zeit, in welcher Juden, Christen und Moslems tief verfeindet waren, kehrte ein jüdischer Händler namens Nathan von einer weiten Reise nach Jerusalem zurück. Seine Kamele waren mit allerlei Kisten und Säcken reich beladen.

Er hatte sein Haus noch nicht erreicht, als ihm Daja, die Gesellschafterin seiner Tochter Recha, aufgeregt entgegeneilte und rief: »Oh, Nathan! Endlich! Wie elend hättet Ihr es hier antreffen können! Euer Haus …«

»… das brannte«, fiel Nathan ihr beschwichtigend ins Wort, »das habe ich bereits vernommen. Doch wenn es niedergebrannt wäre, dann hätten wir uns ein neues gebaut.«

»Schon wahr«, sagte Daja, »doch Recha, Eure Tochter, wäre beinahe mit verbrannt!«

»Verbrannt? Wer? Meine Recha?«, fragte Nathan erschrocken. »Ist sie wohlauf?«

»Ja, hört nur, ein junger Christ, ein Tempelherr, hat sie gerettet. Er kam, und niemand weiß woher. Kühn lief er ins Haus, der Stimme nach, die da um Hilfe schrie. Schon hielten wir ihn für verloren, als er aus Rauch und Flammen mit Recha im Arm plötzlich wieder vor uns auftauchte. Doch er wollte keinen Dank: Er verschwand. Danach sahen wir ihn täglich unter jenen Palmen dort wandeln. Da Recha ihm so gerne für ihre Rettung danken wollte, bin ich jeden Tag von neuem an ihn herangetreten und habe ihn angefleht, er solle zu ihr gehen. Doch er wollte nichts davon hören.«

»Ich gehe hin und bringe ihn gewiss her«, versprach Nathan, doch Daja fuhr aufgeregt fort: »Das Wundersamste habt Ihr noch nicht vernommen, Herr. Stellt Euch vor, dieser Tempelherr, dieser Christ, verdankt sein eigenes Leben einem Wunder. Er war beim Sultan Saladin in Gefangenschaft, und obwohl der Sultan als Moslem sonst jeden Christen zum Tode verurteilt, hat er diesen Mann verschont und ihm das Leben geschenkt.«

Nathan fragte erstaunt: »Aus welchem Grund hat der Sultan ihn begnadigt?« »Man sagt, weil dieser junge Tempelherr einem seiner lieben Brüder besonders ähnlich sehe«, erklärte Daja. »Doch dieser Bruder lebt seit über zwanzig Jahren nicht mehr. Dies alles klingt so ganz und gar unglaublich!«

»Aber Daja«, sagte Nathan, »was ist daran so unglaublich? Warum sollte Saladin nicht einen Bruder verloren haben, den er sehr geliebt hat, und warum sollten sich nicht zwei Gesichter gleichen? Doch da kommt Recha: Mein liebes Kind!«

Recha kam aus dem Haus gelaufen und stürzte sich in Nathans Arme: »Mein Vater, hast du schon gehört? Ein Wunder ist geschehen! Ein Engel, ein wirklicher Engel hat mich durchs Feuer getragen und gerettet!«

»Kein Engel, Recha, ein Mensch war es. Ist es denn kein Wunder mehr, von einem Menschen gerettet zu werden? Zumal diesen Menschen zuvor selbst ein Wunder retten musste. Denn wer hat je gehört, dass Sultan Saladin einen Tempelherrn begnadigt hat? Nein, es war ein Mensch, kein Engel, der sich für dich ins Feuer stürzte.«

»Dem ich dafür danken muss, Vater!«

»Das wirst du auch. Doch sieh dort, ein Moslem mustert neugierig meine Kamele. Nanu, das ist ja mein alter Freund Al Hafi: He, Al Hafi, komm her! Aber was trägst du denn für teure Kleidung?«

Zögernd trat Al Hafi näher und sagte verlegen: »Ja, ja, reißt nur die Augen auf. Ich bin jetzt des Sultans Schatzmeister. Ich wollte es nicht werden, doch was sollte ich tun? Der Sultan bat mich darum, und wenn man muss …«

»Muss? Al Hafi muss? Kein Mensch muss müssen! Und Al Hafi müsste? Doch was soll es, du bist doch noch mein Freund?«

»Das schon, und doch soll ich, weil der Sultan Geldsorgen hat, als dessen Schatzmeister Geld eintreiben. Als ich hörte, dass Ihr mit voll beladenen Kamelen zurückgekehrt seid, wollte ich bei Euch den Anfang machen.«

»Ah«, sagte Nathan, »darum geht es also. Doch hier gilt es zu unterscheiden: Al Hafi, mein Freund, ist zu allem, was ich vermag, mir stets willkommen. Al Hafi, der Schatzmeister des Sultans jedoch, der …«

Al Hafi klatschte in die Hände: »Ja! Ihr seid so gut, so weise! Ihr habt Recht, ich bin Euer Freund! Vergesst den Schatzmeister!«