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Die Totgeglaubten

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Dorothe Reichling

 

 

 

 

 

 

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DeBehr

 

©2021 Dorothe Reichling, Autorin

Herstellung und Verlag: DeBehr

Umschlaggestaltung: Verlag DeBehr

Umschlaggrafik Copyright by AdobeStock by: ©mRGB

Satz und Layout: Verlag DeBehr

ISBN: 9783957538918

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 


Die Totgeglaubten

ruhen nicht!

 

 

„Guten Morgen, du Schlafmütze.“ Lukes schwere Schritte führten ihn gleich zu dem einzigen Fenster in Ellas kleinem Schlafzimmer. Er schob den schweren Stoff auseinander und ließ das Tageslicht herein. „Die Sonne scheint und du liegst immer noch im Bett. Was ist eigentlich mit dir los? Seit Tagen schon benimmst du dich mehr als merkwürdig. Muss ich mir etwa Sorgen um dich machen?“ Ella hatte sich die Decke weit über den Kopf gezogen. Das Licht tat ihren Augen nicht gut. Es schmerzte sogar. Sie wollte nur noch schlafen. Unmöglich konnte die Nacht schon vorbei sein. Ihr Körper fühlte sich schwer und träge an. Sie hasste es, wenn Luke so eifrig war und seine gute Laune förmlich über sie ergoss. „Lass mich in Ruhe, raus mit dir“, stöhnte sie und hielt ihren Kopf mit beiden Händen fest. „Mein Kopf zerspringt in tausend Stücke, wenn du noch ein Wort sagst. Geh! Aber vergiss nicht, die Vorhänge wieder zu schließen. Bitte! Ich hatte eine wirkliche, furchtbare und anstrengende Nacht auf Station“, beklagte sie sich, in der Hoffnung, dass Luke Mitleid mit ihr haben würde und endlich ihr Schlafzimmer verließ. Aber Luke dachte gar nicht daran zu gehen und ihrem Wunsch nachzugeben. „Steh endlich auf!“ Sein Tonfall wurde fordernder und ließ keinen weiteren Widerspruch zu. „Von wegen, furchtbare Nacht", tönte er voller Empörung und stampfte wutentbrannt durch das Zimmer. „Ich weiß wirklich nicht, wovon du nachts so träumst, aber du hast das ganze Wochenende im Bett verbracht. Wir haben Montag und wenn mich nicht alles täuscht, hast du heute Spätdienst. Also, noch gut eine Stunde, bis du deinen Dienst antreten musst.“ Ella hörte seine Worte, schließlich war er laut genug, aber ihr Kopf weigerte sich, irgendetwas davon sinnvoll zu verarbeiten. „Übrigens, wir waren gestern Abend verabredet." Mit jedem Wort, das er ihr an den Kopf warf, war seine Enttäuschung deutlicher zu spüren. „Ich habe zwei Stunden auf dich gewartet und dir mindestens zehn SMS geschickt. Und zu deiner Information, ich habe das Wochenende alleine im Studio verbracht, „Ella war immer noch nicht ganz wach. Sie hörte nur einen Schwall an Worten, die einfach keinen Sinn für sie ergaben. Sie hatte nicht einmal die Hälfte von dem verstanden, was er ihr gesagt hatte. Er lief durch ihre Wohnung, kramte hier und da und aus der Küche vernahm sie ein aufdringliches Klappern und Scheppern. Ihr Kopf war leer und fühlte sich an, als sei er nur mit Watte gefüllt. Sie hielt sich die Ohren zu und kroch erneut unter die Decke. Sie murmelte ein: „Es tut mir leid." Die dumpfen Geräusche aus der Küche drangen zu ihr unter die Decke. Sie brauchte dringend einen Kaffee, um wieder Herr ihre Sinne zu werden.

Niemals hätte sie zwei volle Tage im Bett verbringen können, ohne sich daran zu erinnern. Das war unmöglich. Zwei volle Tage, waren nicht nur aus ihrem Gedächtnis gestrichen, sie waren aus ihrem Leben gelöscht. „Erinnere dich, flehte sie leise und verzweifelte an ihrer Leere, die mit jeder Sekunde größer zu werden schien. Was war das Letzte, an das du dich erinnern kannst, bevor du am Freitagabend ins Bett gegangen bist. Sie schob die Decke weit von sich, setzte sich auf und lauschte. Es war ruhig, zu ruhig. War Luke etwa schon wieder gegangen? Ihr Atmen stockte, als sie versuchte, in die Stille ihrer Wohnung hineinzutauchen. „Luke“, flüsterte sie kaum hörbar. Sie wollte nicht reden, aber noch weniger wollte sie jetzt alleine sein. Kein Luke! Nur eisige Stille. Aufstehen, sie musste aufstehen wie jeden Tag und sich für ihre Arbeit fertigmachen. Luke hatte recht. Viel Zeit hatte sie wirklich nicht mehr.

Was war nur passiert, als sie am Freitagabend nach Hause gekommen war?

Sie war sehr müde, sehr müde nach ihrer Doppelschicht. Daran erinnerte sie sich genau. Auch dass sie sich nach dem Duschen und dem Abendessen sofort hingelegt hatte, war ihr noch im Gedächtnis geblieben. Aber was hatte sie anschließend so ausgeknockt. Sie hatte zu ihrem Salat keinen Alkohol getrunken. Und der Tee konnte es nicht gewesen sein. Jeden Abend und auch auf der Arbeit trank sie ihn. Eine Kräuterteemischung, die sie von ihrer Mutter hatte. Ansonsten war an diesem Abend nichts anders gewesen. Warum also hatte sie diesen Blackout? Gequält von ihrer Hilflosigkeit warf sie sich zurück ins Kissen und begann, wütend darauf einzuschlagen. Schon seit einiger Zeit brachte ihr der wenige Schlaf, der ihr übrigblieb, nach getaner Arbeit und Überstunden, keine Erholung mehr. Wie in einem Hamsterrad drehte sie sich im Kreis. Nacht für Nacht wälzte sie sich nervös hin und her und verlor immer mehr an Konzentration für den kommenden Tag. Zunehmend wurde sie unkonzentrierter und begann, Dinge zu vergessen. Hinzu kam, dass sie seit einigen Tagen von Albträumen heimgesucht wurde. Irgendetwas sagte ihr, dass sie auch in dieser Nacht geträumt hatte. Ja, sie hatte geträumt, da war sie sich jetzt sicher. Aber sie konnte nicht sagen, ob es in der Nacht von Freitag auf Samstag oder doch schon am Samstag war. Oder vielleicht hatte sie auch gestern Nacht erst von Sonntag auf Montag geträumt. Das ständige Kreisen um ihre Gedanken bescherte ihr zusätzliche Kopfschmerzen. Ihre Schläfen pochten sichtbar. Ihr Kopf glühte. Sie hatte zu viel zu tun, krank werden, war jetzt keine Option.

Ihre Träume waren wirr und ohne wirklichen Inhalt und ergaben keinen Sinn. In all ihren Träumen wurde sie bedroht und bedrängt. Aber die Gefahr ging von keiner wirklichen Person aus. Vielmehr war es ein mächtiger Schatten, der sie verfolgte und sie immer wieder in die Knie zwang. Ein Gefühl der Beklemmung umschloss ihren Körper. Und dann waren da diese Hände. Sie packten sie und drängten sie in eine Ecke. An diesem Punkt ergab sie sich dem Schatten und verlor das Bewusstsein. Dann war sie vollkommen alleine. Stand nur leicht bekleidet in einem weißen Hemdchen auf einer Wiese. Endlose Weite erstreckte sich ins unendliche Grün. Sie rannte, rannte los auf blanken Füßen ins Ungewisse. Sie spürte auch jetzt, wie ihr Herz zu rasen begann. Sie bekam kaum noch Luft. Aber sie konnte nicht stehen bleiben. Ihre Beine gehorchten ihr nicht. Immer schneller und schneller rannte sie, rannte und rannte und stürzte in einen nicht endenden Abgrund. Die Wiese verschwand unter ihren Füßen. Noch während sie fiel, rannte sie weiter. Hilflos, und von Panik erfüllt, versuchte sie, den Aufschlag und dem dunklen Loch, in das sie hineingesogen und verschlungen wurde, zu entkommen. Wach auf, bitte wach auf …

Sie erwachte schweißgebadet und mit zittrigen Beinen. Die wenigen Stunden, die ihr in so einer Nacht noch blieben, wälzte sie sich von einer Seite auf die andere. Die Bilder folgten ihr in den Tag und wichen nicht aus ihrem Kopf. Es wurde so schlimm, dass sie manchmal zwischen Traum und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden konnte. Bei den kleinsten Geräuschen zuckte sie zusammen. Ein tropfender Wasserhahn wurde zur Zerreißprobe. In ihrer Mittagspause im Park fühlte sie sich verfolgt, ständig schaute sie sich um. Es entwickelte sich ein regelrechter Tick daraus. Auch, wenn sie sich sicher sein konnte, alleine zu sein, so war das Gefühl, beobachtet und verfolgt zu werden, ihr ständiger Begleiter. Das alles wirkte sich inzwischen schon auf ihre Arbeit aus. Jeden ihrer Arbeitsschritte kontrollierte sie doppelt und dreifach. Entweder, weil sie nicht mehr wusste, ob sie diesen Teil der Arbeit bereits erledigt hatte. Oder um absolut sicherzugehen, keinen Fehler gemacht zu haben. Besonders die Vergabe der Medikamente, die eine ihrer leichtesten Übungen war, verunsicherte sie zusehends. In ihrem Job hatte sie immer zu wenig Zeit. Jetzt rann ihr das bisschen durch die doppelte Kontrolle auch noch durch die Finger. Was war nur mit ihr los? Noch vor wenigen Wochen war eine Doppelschicht kein Problem für sie gewesen. Auch einen Wechsel von Spät- auf Frühdienst nach einem Wochenenddienst steckte sie locker weg. Aber jetzt war sie froh, wenn sie nur noch sicher zu Hause ankam. Statt wie gewohnt ihre Wohnung in Ordnung zu bringen, fiel sie nur noch todmüde ins Bett. Ihre Hausarbeit blieb liegen. Ihr Eisschrank war leer und ihre Wäsche lag in der ganzen Wohnung verstreut herum. Selbst für Luke hatte sie kaum noch Zeit. Dass sie eine Verabredung mit ihm einfach mal so verschlafen hatte, ängstigte sie sehr. Wie konnte sie sich nur so gehen lassen. Kein normaler Mensch schläft zwei Tage, ohne etwas davon mitzubekommen. Sie war einfach nicht mehr sie selbst. Vielmehr fühlte sie sich von Tag zu Tag wie ferngesteuert. Ihre ständige Müdigkeit und Zerschlagenheit brachten sie um den Verstand. Es half alles nichts. Sie musste endlich raus aus dem Bett und etwas ändern. „Luke", rief sie. Ohne auf eine Antwort von ihm zu warten, rief sie gleich noch hinterher: „Sei so lieb und bring mir bitte einen Kaffee und wenn du mir noch einen Schokocroissant besorgen würdest, wäre ich dir für den Rest meines Lebens unendlich dankbar. Ich verspreche dir auch, nie wieder so lange zu schlafen und ein Date mit dir nie wieder zu vergessen. Luke, Luke, bist du da?" Natürlich war er längst gegangen. Für einen flüchtigen Moment war sie enttäuscht. Aber dann strahlte sie.

 „Na endlich", Luke stand plötzlich vor ihrem Bett. Ella wäre fast das Herz stehen geblieben. „Du hättest mich beinahe zu Tode erschrocken. Ich dachte, du wärst gegangen.“

„War ich auch. Ich war für dich beim Bäcker. Ich wäre doch ein schlechter Freund, wenn ich dich ohne ein anständiges Frühstück zur Arbeit gehen ließe.“ Er lachte, als er auf die Uhr schaute. „Es wird wohl eher ein vorgezogenes Mittagessen werden.“ Ein kleines Lächeln, der Verlegenheit zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Sie war froh, dass Luke ihr nicht lange böse sein konnte. „Wenn du deinen hübschen Kopf noch ein wenig nach rechts drehen würdest, dann würdest du sehen, dass alles bereits für dich angerichtet ist. Kaffee, Croissant und sogar ein großes Glas Orangensaft. Frisch gepresst, so wie du ihn am liebsten magst. Aber bevor du frühstückst, solltest du unbedingt duschen. Es müffelt ganz ordentlich hier.“ Entschlossen, der Situation Abhilfe zu leisten, riss er jetzt beide Fenster weit auf. Sofort strömte eine frische Brise durch den Raum. Wie eine Drogensüchtige nahm Ella den flüchtigen Windhauch tief in ihre Lungen auf. Sie setzte sich aufrecht hin und erkundete sorgfältig ihre Umgebung. Alles sah auf dem ersten Blick wie immer aus. Ihre Augen suchten jeden Winkel des Raumes ab. Ihr Schreibtisch war unverändert. Ihre Kleidung lag ordentlich auf ihrem Stuhl. Selbst das Buch, das sie sich noch am Freitag aus der Bücherei mitgenommen hatte, lag am Fußende ihres Bettes. „Traumdeutung“, flüsterte sie. So träumen Sie, was sie wollen. Was für ein Unsinn, dachte sie. Albträume hatte sie nach wie vor. Und jetzt konnte sie ihren Tagträumen nicht mehr ganz trauen. Sie tippte das Buch mit ihrem linken Fuß an, sodass es lautstark zu Boden viel. Luke hatte recht. Sie brauchte dringend eine heiße Dusche. Die Vorstellung, dass sie gleich fit für den Dienst sein musste, ließ sie fast wieder zurück ins Bett fallen.

Die Zeit hatte kein Erbarmen mit ihr. Schweren Herzens raffte sie sich auf, ging durch ihr Zimmer und öffnete die Badezimmertür. Auch hier war alles wie immer. Sie ließ das Nachthemd zu Boden fallen und stellte sich unter den warmen Wasserstrahl. Nur fünf Minuten dachte sie und schloss die Augen. Ihr Körper entspannte sich unter dem warmen Wasser. Aus fünf Minuten waren jedoch zwanzig geworden. Ihre Zeitwahrnehmung hatte sich total verschoben. Hektisch sprang sie aus der Dusche und zog ihre alten Klamotten wieder an. Sie hatte einfach nichts anderes. An sauberer Wäsche fehlte es ihr schon seit Tagen. Eigentlich hatte sie vorgehabt, am Wochenende zu waschen. Verlegen sah sie den Berg von Wäsche vor sich. Ihr Wäschekorb war längst voll und der Rest verteilte sich bereits auf dem Boden. Mit sicheren Handgriffen begann sie, ein paar Teile auszusortieren und stopfte sie in die Waschmaschine. Dann gab sie noch etwas Waschpulver hinzu und los ging es.

Nach ihrer Schicht würde sie dann die Wäsche aufhängen können. Alles halb so schlimm, dachte sie sich. Schnell noch ein paar Bürstenstriche durch ihr langes rotblondes Haar und etwas Rouge und Lipgloss aufgelegt, startklar war sie. Das musste reichen. Ihre Wimpern waren von Natur aus lang und dunkel, sodass sie auf Wimperntusche verzichtete. Zufrieden betrachtete sie ihr Spiegelbild. Das Schlafzimmer sah ähnlich wüst aus wie der Rest ihrer Wohnung. Es half alles nichts. Augen zu und durch. Sie schüttelte das Kissen auf und zog das Laken glatt, bevor sie die Tagesdecke sorgfältig glattzog. Mit einer geschulten Sicherheit gelang ihr jeder Handgriff auf Anhieb. Ohne Fleiß kein Preis. Sie war mit sechsundzwanzig die jüngste Stationsschwester in ihrer Abteilung. Bis sie das erreicht hatte, musste sie Tausende von Betten abziehen und neu beziehen. Zufrieden schaute sie sich um. Das Fenster ließ sie Kippe offen. Hier musste ordentlich Frischluft rein. Sie rümpfte die Nase, denn es roch noch immer nach Schlaf, abgestandenem Essen und Angstschweiß. Sie hob das Buch vom Boden auf. „Traumdeutung" murmelte sie vor sich hin. Davon hatte sie erst mal genug. Sie wollte in Zukunft auf solchen Hokuspokus verzichten und einfach nur noch versuchen zu schlafen. Vielleicht verschwanden dann auch die Albträume. Achtlos legte sie das Buch zur Seite. Für einen Moment setzte sie sich an ihren kleinen Schreibtisch. Wie jeden Morgen fiel ihr Blick als Erstes auf das Bild ihrer Eltern. Der frühe Verlust war auch noch nach zweieinhalb Jahren kaum zu ertragen. Sie strich mit ihrer Hand über das Antlitz ihrer Eltern. So wie auf diesem Bild würden sie für immer in ihrem Herzen lebendig bleiben. Ihre Mutter war spätgebärend. Erst mit zweiundvierzig wurde sie schwanger. Ihr Vater war neun Jahre älter und hatte eigentlich damit abgeschlossen, noch Vater zu werden. Aber beide waren über ihr spätes Glück sehr dankbar. Ihre Mutter sagte immer: „Bis du uns zu Großeltern machst, halten wir noch durch. Leider kam alles ganz anders. Sie wollte nicht traurig werden und wandte sich dem Frühstück zu.

Luke hatte sich wirklich Mühe gegeben. Das Tablet war bis über dem Rand gefüllt mit allem, was sie gerne morgens frühstückte. Auch wenn es eher, wie Luke liebevoll meinte, ein vorgezogenes Mittagessen war. Der Schokocroissant duftete herrlich. Der Tee in der Thermoskanne duftete verführerisch und der Honig auf dem Toast war längst zerlaufen. Wenn sie ehrlich war, so hatte sie nur wenig Appetit. Sie genehmigte sich einen großen Schluck frischgepressten Orangensaft und obwohl sie den Kaffee am liebsten intravenös eingenommen hätte, ließ sie ihn stehen, da er inzwischen eiskalt geworden war. Sie würde wie so oft in der Klinik etwas essen und zwischen der Übergabe der Frühschicht noch einen schnellen Kaffee trinken. Sie packte das Croissant zurück in die Tüte und legte sie ins Gefrierfach. An irgendeinem Sonntag, wenn sie mal frei hatte und vergessen hatte, Brot zu kaufen, würde sie dankbar sein, ihn aufgehoben zu haben. Es schmeckte ihr einfach besser in guter Gesellschaft. Auf ihrer Station hatte sie liebe Kollegen oder aber auch ab und an einen einsamen Patienten, mit dem sie zwischen zwei Plätzchen ein kleines Schwätzchen hielt.

Nach dem Tod ihrer Eltern verkroch sie sich regelrecht in Arbeit. Sie bemerkte es nicht einmal mehr, wenn sie Überstunden machte wie am Fließband. Und die halbe Nacht an irgendeinem Bett eines Patienten saß und kein Ende fand. Dienstschluss, war für sie nicht gleich Feierabend. Geduldig schenkte sie jedem ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Diese Momente waren kostbar und in ihrer regulären Schicht einfach nicht möglich. Es erfüllte sie jedes Mal mit großer Freude, wenn man ihr etwas Privates anvertraute oder sie Sorgen und Ängste den Patienten nehmen konnte. Nur so lernte man den Menschen hinter der Patientenakte kennen. Jeder Einzelne von ihnen dankte es ihr mit einem Lächeln und einer noch schnelleren Genesung.

Ihr Fleiß und Arrangement blieben nicht ungesehen. Ihre Kollegen und einige Ärzte gehörten seit ihrer Ausbildung zu ihrem engsten Freundeskreis. Auch wenn der Job hart war, so war er am Ende des Tages doch immer noch mehr Vergnügen als Last. Sie fühlte sich zu Hause, wenn sie auf Arbeit war.

Da gab es zum Beispiel Nina. Seit Beginn ihrer Ausbildung waren sie beste Freundinnen. Auf Station waren sie aber auch Kolleginnen. Nina konnte schimpfen wie ein Rohrspatz, wenn Ella es mal wieder mit dem Arbeiten übertrieb. Dann stand sie vor ihr, mit erhobenem Zeigefinger, und schickte sie umgehend nach Hause. Wie sollte sie auch ahnen, wie alleine sie sich in ihrer Wohnung fühlte. Wie sehr sie immer noch ihre Eltern vermisste und am liebsten vor allem geflüchtet wäre. Eine Zeit lang konnte sie kaum noch schlafen. Und wenn, dann plagten sie furchteinflößende Albträume. Nacht für Nacht wurde sie heimgesucht von Schatten und Dämonen. Sie war am Ende in dieser Zeit und bekam sogar zeitweise Angststörungen. Sich Nina anzuvertrauen, kam nicht infrage! Nina war toll, aber auch eine Plaudertasche. Jochen, eigentlich Dr. med. Stein, dagegen, war verschwiegen wie ein Grab, wenn man ihn darum bat. Er war nicht nur ihr Chef auf ihrer Station, er war auch leitender Oberarzt und ihr bester Freund. Mit ihm konnte sie einfach über alles reden. Er war damals ihre Rettung und bot ihr sofort seine Hilfe an. Er redete Tag und Nacht mit ihr. Für den Notfall verschrieb er ihr ein leichtes Schlafmittel. Jochen wusste, dass Ella das Schlafmittel nicht anrühren würde. Aber es wirkte auch so. Der berühmt-berüchtigte Placebo-Effekt setzte umgehend ein. Es reichte Ella zu wissen, dass etwas da war, das ihr sofortige Abhilfe leisten würde. Sie achtete nicht mehr auf jeden ihrer Gedankengänge und ließ auch mit der Zeit ihre Eltern ein Stück weit los.

Jeder, der sie kannte, machte sich große Sorgen um Sie. Ella aber wollte ihren Schmerz nicht betäuben und lehnte jede medikamentöse Hilfe ab. Am Ende waren es die vielen Gespräche mit Jochen, die sie aus ihrem Tief befreiten. Ohne ihn und all die anderen – ohne ihre Patienten, wäre sie damals verloren gewesen. Inzwischen war sie wieder vollkommen fit und ihr Ruf als beste Stationsschwester im Heidelberger Klinikum eilte ihr voraus.

Wo waren nur ihre verdammten Autoschlüssel? „Jeden Tag das Gleiche“, ärgerte sie sich. Das war, ihre allerletzte Chance, noch rechtzeitig zum Dienst zu kommen. Sie musste los, und zwar jetzt in dieser Sekunde. Ihre Handtasche war riesig und mal wieder viel zu schwer. Am Ende einer Woche hatte sich immer so viel Unrat bei ihr angesammelt, dass sie kaum noch etwas wiederfand. „Wo hast du dich versteckt“, schimpfte sie lautstark. In ihrer Tasche waren ihre Schlüssel anscheinend nicht. Nur ein Berg von Zetteln und Notizen, die sie längst aussortiert haben wollte, quoll ihr entgegen. Eine erbärmliche Ausbeute fand sie. Sie traute ihren Augen nicht, als sie noch vier Lipgloss und zwei Deodorants sowie eine leere Tüte Pfefferminzdrops fand. Zu guter Letzt hielt sie auch noch ein uraltes Päckchen Kaugummi in ihren Händen. „Du solltest dich schämen“, war ihr kleinlauter Gedanke. Inzwischen hatte sie ihre Tasche auf den Kopf gestellt, aber weit und breit war kein Autoschlüssel zu sehen. Die Seitentaschen ihres Mantels, war ihre letzte Hoffnung! Sie stopfte jeden einzelnen Zettel und sogar das uralte Päckchen Kaugummi zurück in die Tasche.

Endlich, in der linken Manteltasche, fand sie das gute Stück und atmete erleichtert auf. "Wo war sie nur mit ihren Gedanken", ermahnte sie sich erneut und zog den Gürtel ihres Mantels eng um ihre schmale Taille. Ein letzter flüchtiger Blick in den Spiegel ließ alle ihre Befürchtungen wahr werden. Ihr Spiegelbild zeigte sich keine junge sechsundzwanzigjährige Frau. Ihre Haut war blass und fahl. Ihr sonst so wunderschönes rotblondes Haar war stumpf und ohne jeglichen Glanz. Sie beugte sich näher an den Spiegel heran. Leichte rote Flecken bedeckten ihr viel zu schmal gewordenes Gesicht. Vier Kilo, waren es, die sie in den letzten drei Wochen abgenommen hatte. Was sie sah, gefiel ihr überhaupt nicht mehr. Diese Stresspusteln, wie sie es nannte, bekam sie immer dann, wenn sie sich aufregte oder unter starker Anspannung stand. Dann sah sie aus wie ein Streuselkuchen, der explodiert war. Vielleicht sollte sie noch mal mit Jochen sprechen. So konnte es auf keinen Fall weitergehen. Vielleicht hatte sie einen Rückfall? Aber war das möglich, nach fast zwei Jahren? Eher fraglich! Aber nicht unmöglich, wenn es einen Auslöser gegeben hatte, den sie übersehen hatte. Sie wäre gerne noch einmal ins Bad gegangen, um den Schaden zu korrigieren. Das aber würde bedeuten, dass sie endgültig zu spät kommen würde. Und das wiederum hasste sie mehr als ihr derzeitiges Aussehen. „Beruhige dich“, flüsterte sie inständig. Sie stellte sich aufrecht hin, schloss für einen Moment die Augen und atmete tief ein und wieder aus. Ein und aus und ein und aus …

Ihre Frustration wuchs ins Unermessliche. Sie drehte sich um und hatte die Tür schon fast geöffnet.

Aber irgendwas etwas hinderte sie daran, die Wohnung zu verlassen. Ihre Augenlider wurden mit jedem Atemzug schwerer und schwerer. Sie vibrierte, als hätte sie in eine Steckdose gefasst. Ihr Körper fühlte sich heiß an. Sie hatte das Gefühl, innerlich zu kochen. Mit beiden Händen umschloss sie ihren Kopf, schützte ihre pochenden Schläfen, die wild zu zucken begannen. Ihr Herz schlug ihr hämmernd gegen die Brust. Das Atmen fiel ihr immer schwerer. Sie musste sich anstrengen, um die Wand des Nebels in ihrem Kopf zu durchdringen. Sie rieb sich die Augen, als könnte sie so den Schleier mit nur einer einzigen Handbewegung beiseitewischen.

Um Sie herum verschwamm alles. Dann endlich die Erlösung. Der Schleier des Nebels hob sich. Nach und nach reihte sich ein Bild an das andere. Schmerzhaft begann sie zu begreifen, dass es Bruchstücke waren aus der vergangenen Nacht, die ihren Weg suchten, zurück in ihr Bewusstsein. Dann fiel die Tür ins Schloss und Ella rannte einfach los. Sie fühlte sich verfolgt von den Dämonen der letzten Nacht. So sehr sie sich auch bemühte, sie schaffte es nicht, die Bilder einzuordnen. Wie ein viel zu schneller Zug, der drohte zu entgleisen, rasten die Erinnerungen durch ihren Kopf. Sie sah sich, wie sie auf einer Straße stand, spürte Regen auf ihrer Haut. Sah Bücher und eine dunkle Gasse, die sie entlangging. Es waren Erinnerungen, Bilderfetzen von dem Abend, als sie nach Dienstschluss noch unterwegs gewesen war, um sich ein Buch zu kaufen. Das Buch, das zu Hause auf ihrem Bett gelegen hatte.

Wie konnte es sein, dass sie den leichten Nieselregen, der am Freitagabend eingesetzt hatte, als sie die Klinik verließ, jetzt auf ihrem Gesicht spürte. Und dass sie ganz deutlich die Gasse sah, die sie an diesem Abend gelaufen war. Sie stand für einen Moment wieder vor dieser Buchhandlung. Die Erinnerungen der vergangenen Tage überrollten sie. Sie rannte weiter, den Korridor entlang, vorbei an dem Aufzug und eilte die Treppe hinunter. Ihre Wohnung befand sich in der fünften Etage. Das Haus war schön, aber alt. Unter ihren Füßen knarrte es gefährlich. Einige der alten Holzdielen schienen sogar lose zu sein. Sie rannte noch schneller – so schnell, dass die Stufen unter ihren Füßen kaum noch zu spüren waren. Erst als sie vor der Tiefgarage stand, kam sie wieder zum Stehen. Fast wäre sie frontal gegen die Eisentür gerannt. Instinktiv schob sie beide Hände vor sich und fing den Aufprall somit ab. Sie fühlte sich wie eine Gejagte und war bereit, sich zu ergeben. Nach wie vor tobten die Bilder unaufhörlich in ihrem Kopf. Wenn Sie wissen wollte, was am Wochenende passiert war und was sie so verändert hatte, musste sie dem allem auf den Grund gehen. Sie ging nicht durch die Tür der Tiefgarage, um zu ihrem Wagen zu gelangen, sondern stellte sich ihren Dämonen.

Sie hielt beide Hände fest vor ihrem Brustkorb gepresst. In ihren Händen nahm sie ihren Herzschlag wahr. Langsam pochte ihr Herz wieder in einem gleichbleibenden Rhythmus. Das erste Bild, dass ihr Verstand zuließ, stand wie ein Mahnmal vor ihrem inneren Auge. Jetzt sah sie alles klar und deutlich vor sich.

Es war Freitagabend, ihre Schicht war nach einem langen Tag endlich zu Ende gegangen. Wieder einmal hatte sie Überstunden gemacht. Aber bevor Nina sie diesmal ermahnen konnte, ging sie von selbst in die Umkleide und freute sich auf das bevorstehende Wochenende. Auf dem Weg nach Hause beschloss sie jedoch, noch in die kleine Bücherei am Rande der Altstadt zu gehen. Ein Buch, ein Glas Wein, das war ihr Plan. Sie würde Kerzen anzünden und sich ein Bad einlassen. Ella versuchte, nachzuvollziehen, ob sie ihr Vorhaben, auch in die Tat hatte umsetzen können. Sie hielt ihre Augen weiter fest geschlossen. Wie eine kleine private Diavorstellung folgte ein Bild nach dem anderen. Endlich fügte sich alles zusammen.

Sie sah, wie sie eine Straße entlangging. Dass sie zu Fuß unterwegs war, während sie ihren Wagen auf dem großen Sammelparkplatzt stehen gelassen hatte. Sie freute sich über den herrlichen Abendspaziergang und das bevorstehende Wochenende. Sie sah, wie sie in die kleine Gasse ging und erblickte schon von Weitem den Buchladen. Ihr Herz schlug ein wenig schneller. Das lag wohl daran, dass auch sie sich schneller zu bewegen begann. Mit großen, schnellen Schritten lief sie auf den Laden zu. Ihr Atem stockte und ihr Körper bebte. Sie presste ihre Hände fest gegen die kalte Eisentür der Tiefgarage. „Du bist in Sicherheit“, sagte sie laut. Sie blieb vor der Türe stehen. Ihre Neugier war größer als die weichende Angst in ihr. Und so folgte sie den Bildern wie hypnotisiert, die in ihrem Kopf nach wie vor Chaos verursachten. Was auch immer geschehen würde, sie brauchte Gewissheit.

Seit Tagen war sie nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ein Zombie der durch die Nacht streifte und am Tag nicht mehr wusste, was er zuvor getan hatte. Ihre Nächte waren inzwischen so kurz, dass sie sich kaum noch traute, ins Bett zu gehen. Geplagt von Albträumen saß sie die halbe Nacht auf dem Sofa. Das Fernsehen lief, ohne dass sie wirklich hinschaute. Mitten in der Nacht schreckte sie hoch, weil sie das schrille Piepen des Testbilds aus dem Halbschlaf riss. Ihr Kopf war leer und dennoch konnte sie nicht abschalten. Sie sehnte sich nach Schlaf, nach traumlosen Nächten und einem erholsamen Erwachen für den Tag danach. War das wirklich zu viel verlangt? Ihre Hände blieben auf der Tiefgaragentür. Sie gab ihr den Halt, um nach weiteren Bildern in ihrem Kopf zu suchen. Für einen Moment wollte sie der Hilflosigkeit, die sie übermannte, nachgeben. Sie fühlte sich als Verliererin. Ihr fehlte die Kraft und auch ein Stückchen Mut, sich den Tatsachen zu stellen. Hatte sie einen Rückfall? Durchlebte sie einen schweren Schub aus Depressionen und Panikattacken …

Sie begann, sich erneut zu erinnern. Jetzt wusste sie auch, warum ein Buch über Traumdeutung in ihrer Wohnung lag. Nach und nach ließen sich einzelne Puzzleteile zusammenfügen. Aber das alles erklärte nicht, warum sie das Wochenende vollständig ausgeblendet hatte. Und warum sie eine Verabredung mit Luke vergessen konnte. Es erklärte auch nicht, warum ihr Leben gerade drohte, im Chaos zu versinken. Krampfhaft hielt sie an einer weiteren Erinnerung fest und folgte einer neuen Spur geradewegs durch ihren Kopf.

Es war inzwischen dunkel. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und langsam leerten sich die Straßen im Sekundentakt. Eine Verkäuferin begrüßte sie mit einem müden Lächeln. „Wir schließen in zehn Minuten“, sagte sie und hoffte darauf, dass Ella wieder gehen würde. "Ich weiß genau, welches Buch ich suche und wenn Sie erlauben, hole ich es sofort und bin in zwei Minuten wieder bei Ihnen.“

"Natürlich, gehen Sie ruhig. Ich schließe hinter ihnen ab und lasse Sie dann hinten raus, wenn Sie damit einverstanden sind?“

„Natürlich, danke! Ella ging durch die lichtdurchfluteten Gänge. Warum hatte sie gelogen? Sie hatte keinen blassen Schimmer, welches Buch sie kaufen wollte. Ehrlichkeit war ihr so wichtig wie Loyalität. Am liebsten wäre sie zurückgegangen und hätte ihre Lüge gebeichtet. Stattdessen ging sie aber weiter und stand dann vor einem Regal mit Büchern zu dem Thema: Träume und ihre Bedeutung.

Draußen bellte ein Hund. Ein Auto hupte und Stimmengewirr drängte sich an ihr Ohr. „Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?“ Ella hatte die Verkäuferin gar nicht kommen hören. Sie sah wirklich müde und erschöpft aus. Genau wie ihre Kollegin. Sie war sich sicher, dass die Frau, wenn sie nach Hause kam, sehr gut schlafen würde.

"Danke! Sehr nett von Ihnen. Aber ich habe schon gefunden, was ich gesucht habe. Ohne weiter zu überlegen, griff sie nach einem beliebigen Buch aus dem Regal. „Das freut mich für Sie", lächelte die Verkäuferin höchst zufrieden. „Ich warte dann vorne an der Kasse mit meiner Kollegin auf Sie.“ Ella sah, wie die Frau verschwand. Sie selbst hielt ein Buch in den Händen, von dem sie nicht wusste, ob sie es wirklich einmal lesen würde. Die einzige Erklärung, warum gerade dieses Buch in ihrem Einkauf landete, war wohl eher dem Zeitdruck vielleicht auch ein wenig der inneren Fügung geschuldet.

 

„Können Sie nicht aufpassen?" Ella spürte einen heftigen Stoß gegen ihren Arm und einen unsanften Stich, der sich durch ihren Rücken zog. „War das eine Hand?“ Erschrocken drehte sie sich um. Verängstigt schaute sie in alle Richtungen und in jeden Winkel, den sie wahrnahm. Niemand war zu sehen. Weit und breit keine Menschenseele. Nur ein dunkler Schatten tanzte an der Wand und dann war er auch schon wieder verschwunden. Sie bückte sich um das Buch, das ihr beim Zusammenstoß aus den Händen gefallen war, aufzuheben. „Sie könnten sich wenigstens entschuldigen“, rief Ella wütend in den menschenleeren Gang hinunter. Ihr Arm schmerzte und ihr Rücken schien geprellt. Denn jeder Atemzug tat ihr weh. „Was für ein Idiot“, schimpfte Ella lautstark. Sie war noch damit beschäftigt, ihre Kleidung wieder herzurichten, als wie aus dem Nichts, eine der beiden Verkäuferinnen plötzlich vor ihr stand. Ella hatte sie weder gehört noch kommen gesehen. Aber sie war froh, dass ihr jetzt jemand zur Seite stand.

„Haben Sie das gesehen?“ Ihr Blick sagte alles! "Ich bin nicht alleine hier", hörte Ella sich sagen, und wusste, wie sich das anhören musste. Ein lautes Klingeln hallte durch den leeren Laden. "Bestimmt ist das die Putzkolonne für heute Abend. „Ich muss Sie jetzt bitten, den Laden zu verlassen.“ Die Verkäuferin wirkte sehr ungehalten. Aber Ella wollte sich nicht so einfach abwimmeln lassen. Schließlich war sie in Ihrem Laden tätlich angegriffen worden. Auch wenn Ella die Situation in den Augen der Dame hochspielte, saß ihr der Schrecken noch deutlich in den Gliedern. Sie wollte doch nur etwas Verständnis und Mitgefühl.

„Sagten Sie nicht, dass sie den Laden hinter mir abschließen würden und dass ich ihre einzige und letzte Kundin sei?“

„Ja, das sagte ich.“

"Das kann nicht sein! Es muss schon jemand im Laden gewesen sein, als ich kam. Er muss noch hier sein." Verstohlen sah sie sich erneut um. Sie wusste, was die Verkäuferin dachte. „Gerade hat mich jemand fast umgerannt und ist dann ganz schnell wieder verschwunden. Ich weiß nicht einmal, ob es ein Mann oder eine Frau gewesen ist. Auf jeden Fall ist er oder sie weggerannt, ohne ein Wort der Entschuldigung. Ich habe mich fast zu Tode erschrocken und mein Arm wurde auch verletzt. Nur deshalb bin ich wohl etwas zu laut geworden. „Gut, dass sie jetzt da sind.“ Vielleicht sollten wir gemeinsam den Laden kurz durchsuchen. Nicht dass Sie jemanden über das Wochenende aus Versehen einschließen.“ Mühsam versuchte Ella zu lächeln. „Hier! Ich habe das Buch gefunden.“ Sie hielt der Verkäuferin, das Buch fast wie eine Trophäe stolz vor deren immer noch perfekt geschminktes Gesicht. Leicht angewidert, aber ohne jegliche Hektik ging die Verkäuferin einige Schritte zurück. Ella sah in das ausdruckslose Gesicht ihres Gegenübers. Sie wusste, dass man ihr kein einziges Wort von ihrer Geschichte glaubte. „Außer Ihnen ist niemand mehr hier", versuchte sie, Ella glaubhaft zu versichern. „Die Putzkolonne hat gerade geklingelt“, sagte sie leicht genervt. Ich möchte Sie deshalb nochmals eindringlich bitten, jetzt mit mir zu kommen. Ella war enttäuscht, wollte aber keine weitere Diskussion heraufbeschwören. Sie folgte der Verkäuferin mit schwankenden Schritten zur Kasse. Sie hatte Angst, Angst vor dem, was mit ihr geschah. Bei all ihren Problemen, die sie seit geraumer Zeit quälten, wurde sie jetzt auch noch von Wahnvorstellungen heimgesucht? Sie bezahlte das Buch und ließ sich dann stillschweigend an der Hintertür hinausbegleiten. Man wünschte sich gegenseitig einen ruhigen Feierabend und ein schönes Wochenende. Dann schlug das schwere Eisentor erbarmungslos hinter ihr zu. Ein Schlüssel wurde hörbar mehrmals im Schloss herumgedreht. Sie schaute sich um und sah wie ein schweres, eisernes Stahlgitter sich vor das Tor schob. Instinktiv sprang sie ein Stück nach vorne und wäre beinahe auf der Straße gelandet. Ihr war unbehaglich zumute. Sie brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln. Die Umgebung erschien ihr im ersten Moment befremdlich. Hilfesuchend schaute sie sich um. War sie wirklich gerade aus einem Geschäft geworfen worden. Sie fand sich auf einem Hinterhof wieder. Es war zu dunkel, um die Ziffern auf ihrer Uhr erkennen zu können. Der Boden unter ihren Füßen war stockfinster. Es half alles nichts, sie musste hier weg. Schritt für Schritt trat sie aus dem Dunkel der Straße heraus. Erleichtert stellte sie fest, dass nur ein Weg aus dem Hinterhof führte. Mit jedem Schritt wurde es wieder etwas heller. Endlich, sie war wieder auf der Geschäftsstraße angekommen. Erleichtert sah sie auf ihre Uhr. Es war spät geworden. Viertel vor acht zeigte ihre Uhr.

Inzwischen hatten einige Geschäfte ihre Türen geschlossen und nur die Schaufensterbeleuchtung warf ihren langen Schatten auf die Straße. Andere Läden folgten dem Beispiel und holten Regale und Korbe mit Wäsche oder anderen Verkaufsartikeln nach und nach von der Straße. Ella zog ihren Mantelkragen hoch, so als könnte sie sich darin ganz klein machen und verstecken. Auf den Straßen wurde es mit jeder Minute ruhiger. Ella hatte nur noch einen Wunsch, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Dieser Abend war bisher turbulent genug gewesen. Sie war bereit, einen Strich unter diese unschöne Angelegenheit im Laden zu machen. Nur noch nach Hause und das Wochenende in vollen Zügen genießen. Mehr wollte sie nicht.

Es war ihr erstes freies Wochenende seit mehr als zwei Monaten. Sie freute sich auf ihr neues Buch. Sie liebte den intensiven Geruch von frisch bedrucktem Papier und Druckerschwärze. Auch wenn dieses Exemplar nicht ihre erste Wahl gewesen war, so war sie doch neugierig, was sie erwarten würde. Alles Neue war immer ein Abenteuer. Es war viel zu lange her, dass sie gelesen hatte. Sie hegte die leise Hoffnung, durch diese Lektüre einen sinnvollen Grund zu finden, der für ihre erneuten Angstträume verantwortlich war. Vielleicht aber machte sie sich auch einfach nur zu viele Gedanken und alles würde sich in Wohlgefallen auflösen, wenn sie erst einmal richtig entspannen würde. Auch tiefe acht Stunden Schlaf würden ihr Übriges beitragen. Schneller als gedacht erreichte sie endlich den Parkplatz. Sie fuhr nach Hause, hängte ihre Wäsche auf, duschte ausgiebig und legte sich, nachdem sie etwas gegessen hatte, erschöpft ins Bett. Ihre neuste Errungenschaft lag neben ihr auf der Kommode. Hatte sie darin gelesen, oder nicht? Sie konnte sich einfach nicht erinnern. Ihr Kopf begann zu schmerzen, als die letzten Bilder sich nach und nach verflüchtigten. Sie öffnete ihre Augen. Erleichtert stellte sie fest, dass es nichts gab, wovor sie sich ängstigen musste. Ihre Hände ließen von der Eisentüre ab und sanken zu Boden.

„Ein ganz normaler Freitagabend also“, stellte sie zufrieden fest. Bis auf das unschöne Zusammentreffen mit diesem Rüpel war nichts Außergewöhnliches geschehen. Sie beschloss, diesen ersten Tag, den sie fast lückenlos nachvollziehen konnte, als erledigt abzuhaken. Aber was war danach geschehen? Der Samstag und Sonntag! Diese Tage waren wie ausgelöscht. Ella war besorgt. Noch nie hatte sie so einen Blackout erlebt. Ihr Leben war geprägt von einfachen Strukturen. Sie hatte ihren Job, sie hatte ihre Beziehung mit Luke. Mehr war da nicht und genauso gefiel es ihr. Ja, es stimmte! Sie war zurzeit etwas überarbeitet und mit Luke da lief es auch seit einiger Zeit nicht mehr so ganz gut. Sie weigerte sich aber, diese Alltäglichkeiten als Grund für ihre Gedächtnislücken und ihren Totalausfall hinzunehmen. Aber was blieb dann übrig? Sie hatte keine andere Erklärung für ihren desolaten Zustand, als pure Erschöpfung und eine kleine private Krise. Es blieb rätselhaft, genauso wie die Tatsache, dass sie ihre Verabredung mit Luke vergessen haben sollte. Im Normalfall würde ihr das niemals passieren. Aber was war in ihrem Leben noch normal? Etwas musste geschehen sein, das so schlimm war, dass sie es zu verdrängen versuchte.

Etwas schnürte ihr in diesem Moment die Kehle zu. Hatte Luke etwas mit alledem zu tun. Sie begann zu husten und zu würgen. Sie hatte sich an ihrem eigenen Speichel verschluckt. Niemals! Sie verwarf den Gedanken sofort wieder, dass Luke irgendetwas tun könnte, das ihr schaden würde. In den letzten Wochen hatten sie sich kaum gesehen. Ihr schlechtes Gewissen trat an die Oberfläche. Sie musste sich eingestehen, dass sie in der Vergangenheit, die eine oder andere Verabredung ohne driftigen Grund abgesagt hatte. Einmal schob sie die vielen Überstunden vor und ein anderes Mal hatte sie einfach keine Lust, sagte aber, dass sie so starke Kopfschmerzen habe und sich einfach früh hinlegen wollte. Sie ging ihm bewusst aus dem Weg. Dass er ihr noch keine Szene gemacht hatte, rechnete sie ihm hoch an. Er saß das Ganze einfach aus. So wie heute Morgen. Sie hatte ihn mal wieder versetzt und er machte ihr Frühstück. Das war typisch für Luke. Er versorgte sie sogar mit einer Lunch Box für die Arbeit. Nicht zu vergessen ihren heißgeliebten Tee von ihrer Mutter. Aber irgendetwas lag in der Luft. Etwas von dem sie noch keine Ahnung hatte. Es war nur ein Gefühl, das ihr suggerierte: „Das ist erst der Anfang.

„Aber der Anfang von was?“

So sehr sie sich auch bemühte, die richtige Schublade in ihrem Kopf zu ziehen. Sie fand sie einfach nicht. Die Verabredung mit Luke blieb verschollen. Er war ihre erste große Liebe. Auch wenn er ein Chaot war. Seit etwas mehr als zwei Jahren waren sie nun schon ein Paar. Er jobbte früher noch in einem Foto Shop. Dort lernten sie sich auch kennen. Sie brauchte damals ganz dringend neue Passbilder für ihre bevorstehende Bewerbung als Stationsschwester. Sie hätte in jeden anderen Laden gehen können. Aber damals entschied sie sich für den kleinsten und unauffälligsten Laden in ganz Heidelberg. So nahm das Schicksal seinen Lauf. Die Chemie zwischen ihnen stimmte auf Anhieb. Luke hatte etwas Lausbubenhaftes an sich und war Mister Charming in Perfektion. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt weder Interesse noch stand ihr der Kopf danach, jemanden kennenzulernen. Ihre Eltern waren gerade erst bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen. Die Beerdigung musste vorbereitet werden und sie selbst stand immer noch unter Schock. Seine Avancen ihr gegenüber waren überschwänglich, aber nicht plump. Er brachte sie zum Lachen und das permanent. Luke gab ihr neue Kraft. Sie gewann mit der Zeit wieder Spaß am Leben. Er war der Richtige zur richtigen Zeit. Luke war äußerst charmant und dabei sehr liebevoll. Sie konnte nicht anders, als sich Hals über Kopf in ihn zu verlieben.

Obwohl er eigentlich so ganz und gar nicht ihrem Beuteschema entsprach. Er war nicht viel größer als sie. Und in seinen viel zu großen Jeans wirkte er schlackig und ein wenig Öko. Das verwaschene Hemd hatte auch schon bessere Tage erlebt. Genauso wie die Sneakers, die sich teilweise schon aufzulösen schienen. Er trug sie mit einer Selbstverständlichkeit, die sie wiederum nur bewundern konnte. Luke war einfach und unkompliziert so wie sie. Er stellte keine Fragen und hatte keine Erwartungen. Es gefiel ihr. Genau das war es, das sie jetzt nach ihrem schweren Verlust brauchte. Er rief sie an. Ihre Bilder waren fertig. Zwei Tage später verabredeten sie sich in Ellas Lieblingscafé. „Das Kultur Haus. Hier bekam man nicht nur den besten Kaffee der Stadt, sondern auch den besten Käsekuchen. Und es lag nur wenige Gehminuten von ihrer Wohnung entfernt. Ihre freien Wochenenden, die sehr spärlich waren, verbrachte sie gerne hier. Bei einem ausgiebigen Frühstück ließ sie gerne mal die Seele baumeln. Später wurde es zu ihrem Stammcafé.

Die Fotos waren ausgesprochen gut geworden. Sie hegte den leisen Verdacht, dass Luke mit ein, zwei Filtern gearbeitet hatte. Was nicht schadete. Sie bekam nicht nur die Bilder, sondern auch den heißersehnten Job und Luke gab es noch obendrauf. Es war von Anfang an eine lockere Beziehung. Und ist es bis heute geblieben. Luke hatte sich inzwischen als Fotograf selbstständig gemacht. Er hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Sie hatte ja ihren Traumjob in der Klinik und half Luke, wenn es mal eng wurde am Monatsende. Ihr Leben war perfekt. Luke war und blieb der ewige Künstler. Er wartete auf seinen großen Durchbruch, wie er sagte. Leider blieb der bislang aus. Ella, unterstützte ihn gerne, aber nach zwei Jahren waren nicht nur ihre Geduld, sondern auch fast alle ihrer Ersparnisse aufgebraucht. Luke musste anfangen, der Realität ins Auge zu sehen. Sein Job fing an, ihre Beziehung zu belasten und das nicht nur finanziell. Vielleicht wollte sie mit ihm darüber am Wochenende reden.

Sie fühlte sich seltsam erleichtert. Die Chancen standen gut, dass sie sich auch an alles andere erinnern würde. Entschlossen ging sie durch die Tiefgaragentür. „Auch das noch!“ Sie tastete sich im Dunkeln an der Wand entlang. Warum lief bei ihr immer alles schief? Der Lichtschalter war mal wieder kaputt. Genauso wie die dämliche Überwachungskamera, die sowieso nichts aufzeichnete. Ella war sich sicher, dass es sich nur um eine billige Attrappe handelte. Selbst die spärliche Beleuchtung des Notaggregats war kurz davor, den Geist aufzugeben. Genervt schlug sie mehrmals auf den Schalter, aber nichts geschah. Das Licht flackerte jetzt noch intensiver und wirkte sich unruhig auf ihre Augen aus.

Aus jeder verdammten Ecke kroch ein penetranter Geruch hervor. Ein Gemisch aus Urin und Desinfektionsmittel vermutete sie. Eigentlich sollten ihr solche Gerüche als Krankenschwester nichts anhaben. Aber da war noch etwas anderes, das alles überdeckte. Etwas Fauliges, Säuerliches vermischte sich dazu. Schneller als ihr lieb war, fand sie auch heraus, was es war. Nur einen Schritt weiter und sie wäre fast auf eine tote Maus getreten, die bereits von Fliegen und anderem Getier umringt war. Zügig ging sie weiter. Gut, dass sie noch nicht gefrühstückt hatte. Das Tier war bis auf die Knochen abgenagt worden. Ella hatte schon einiges gesehen und war bestimmt nicht zimperlich. Aber der Gestank und dieser Anblick hätten jedem das Frühstück wieder hochwürgen lassen.

Sie schaute sich hilfesuchend um. Aber niemand außer ihr war hier unten. Inzwischen war auch die restliche Lichtquelle erloschen. Sie machte einen großen Bogen um das verendete Tier. „Dritte Reihe, Platz sieben“, flüsterte sie. Ihre Augen suchten den Boden nach weiteren Stolpersteinen ab. „Drei, vier …

„Es wurde langsam ungemütlich hier unten. Draußen schien bestimmt die Sonne, während sie hier unten anfing zu frösteln. „Fünf, sechs … Irgendwo hier musste ihr Wagen doch sein. Nur noch wenige Schritte, dann hatte sie sich erfolgreich durch das dunkle Labyrinth des Autodecks gekämpft. Sie hielt den Autoschlüssel fest in ihrer Hand. „Sieben“. Was war das?“ Ella hörte ein lautes Quietschen, ein Motor, der aufheulte und dann raste wie aus dem Nichts kommend ein Auto haarscharf an ihr vorbei. Instinktiv sprang sie zur Seite. „Idiot“, schimpfte sie ins Leere. War sie denn nur von Spinnern umgeben. Erst Rüpel in der Bücherei und jetzt würde sie hier fast über den Haufen gefahren. Wo verdammt noch mal kam dieser Wagen so plötzlich her? Sie war sich doch so sicher gewesen, dass hier unten niemand war außer ihr. „Wo ist nur dieser verdammte Autoschlüssel?“ Sie hatte ihn fallen lassen und suchte jetzt mit zittrigen Händen den dunklen Boden ab. Ihr Herz raste und ihre Hände waren eiskalt. Nach einer gefühlten Ewigkeit fand sie ihn endlich. Tränen schossen ihr in die Augen. „Beruhige dich, Ella“, flüsterte sie. „Es ist doch nichts passiert.“ Sie schloss ihren Wagen auf und sank erleichtert in den Sitz. Wüsste sie es nicht besser, so würde sie glauben, man hätte es auf sie abgesehen. Aber so viel Glück hatte sie nicht. Sie wurde nur heimgesucht von einer nicht endenden Pechsträhne. Sie kannte weder den Wagen, noch konnte sie sich in der Kürze der Zeit das Nummernschild merken. Sie klappte den Innenspiegel im Auto herunter und sah, dass ihr Make-up vollständig zerstört war. Noch immer rollten ihr vereinzelt Tränen über das Gesicht. Das Rouge auf ihren Wangen bestand nur noch aus zwei rötlichen Streifen. Ihre Augen waren glasig. Man sah deutlich, dass sie geweint hatte. Mit dem Handrücken ihres Mantels hatte sie sich nicht nur die Tränen weggewischt, sondern sich auch die restliche Wimperntusche in den Mantel gerieben. Sie war kurz davor, wieder auszusteigen und sich für heute krank zu melden. Stattdessen schaltete sie die Notbeleuchtung in ihrem Wagen an. Ihr Knie schmerzte und die Jeans hatte ein Loch, darunter war deutlich eine leicht blutende Schürfwunde zu sehen. Vermutlich von der Wand, gegen die sie gefallen war. „Ist das Öl?“, hörte sie sich selbst ungläubig fragen. Sie versuchte, den Fleck rauszureiben, aber irgendwie wurde alles nur noch schlimmer. Sie wollte nur noch weg. In der Klinik bewahrte sie immer ein Set an Wechselkleidung auf. Ihr anderes Knie schmerzte ebenfalls. Wie sollte sie mit lädierten Knien acht Stunden Schicht meistern. Ihr Gesicht war halb so schlimm. Sie würde einfach Nina fragen. Bestimmt hatte sie etwas Make-up für sie. Alles wird gut, dachte sie und ließ den Motor ihres Minis laut aufheulen. Sie steuerte ihren Wagen sicher in Richtung Ausfahrt. Endlich war sie umgeben von Tageslicht. Sie atmete erleichtert auf, um sich dann auf den Straßenverkehr zu konzentrieren.

Die Fahrt zur Klinik dauerte etwas über eine halbe Stunde. Aber heute hatte sie einfach kein Glück. Jede Ampel, die sie ansteuerte, schlug sofort auf Rot um. Und dann wollte es einfach nicht mehr Grün werden. Sie brauchte fast eine Stunde. Jetzt kam sie endgültig zu spät. Sie brauchte eine wirklich gute Ausrede, um ihre fast eineinhalbstündige Verspätung zu erklären. Dann endlich erreichte sie die Klinik. Noch nie war sie so erleichtert, ein Ziel erreicht zu haben. Sie parkte den Wagen und stieg aus. Bevor sie loslief, warf sie noch einen kurzen Blick auf ihr Handy. Luke hatte sich noch nicht gemeldet. Sie hatte gehofft, dass er sich doch noch kurz bei ihr meldete, um ihr einen guten Tag zu wünschen. Das tat er sonst immer. Sicherlich war er schon wieder im Studio und arbeitete. Oder er schlief. Luke machte oft den Tag zur Nacht. Er war der Meinung, dass er in der Nacht kreativer war als am Tag. Schlafen, wie gerne würde auch sie jetzt schlafen. Einfach der Schwere ihres Körpers nachgeben und hinabtauchen in eine sorgenlose und geheimnisvolle Welt der Illusion. Ella verlor sich öfter in Tagträumen. Sie versuchte so, den Albträumen ihre Kraft zu nehmen.