Henryk Sienkiewicz

 

Komödie der Irrungen

Novellen und Erzählungen

 

 

Impressum

Covergestaltung: Steve Lippold

Digitalisierung: Gunter Pirntke

 

ISBN 9783955011703

2014 andersseitig.de



andersseitig Verlag

Dresden

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Novellen

 

Die Jagd nach dem Glück

Erstes Kapitel. Die Seereise. – Der Sturm.

            Das deutsche Segelschiff »Blücher« hatte seine Reise von Hamburg nach New-York angetreten und wiegte sich stolz auf den Wellen des Ozeans.

            Es war seit vier Tagen unterwegs, hatte vor zwei Tagen die irländische Küste verlassen und befand sich nun auf offenem Meere. So weit das Auge reichte, sah man vom Verdeck aus nichts weiter, als die graublaue Wasserfläche, welche in langgestreckten Furchen heftig hin und her wogte und in der Entfernung immer dunkler zu werden und mit dem Horizont in Eins zu verschwimmen schien. Hier und da zogen Schaumflocken auf den Wogenkämmen daher, tief unten am Horizont schwebten leichte weiße Wolken, die sich im Wasser spiegelten und da, wo ihr Schein hinfiel, demselben die Farbe der Perlmutter verliehen. In dieser Färbung spiegelte sich der Rumpf des Schiffes mit seinem nach Westen gerichteten Bug so deutlich ab, daß man genau sehen konnte, wie das Vorderteil desselben von den Wellen bald hoch emporgehoben, bald tief hinabgesenkt wurde. Er trennte die ihm entgegenströmenden Fluten, und ihm nach zog, wie eine sich wälzende Riesenschlange eine mächtige weiße Schaummasse. Einige Möven umflatterten das Steuer und stießen, in der Luft sich überschlagend, fröhliche Locktöne aus.

            Seit der Abfahrt des »Blücher« aus Hamburg war das Wetter hell, zwar windig, aber nicht stürmisch. Der Wind kam von Osten und nur in einzelnen Stößen; zuweilen herrschte völlige Stille. Das schöne Wetter hatte die Passagiere auf das Verdeck gelockt. Auf dem hinteren Teile desselben sah man die schwarzen Paletots und Hüte der Kajüten-Passagiere erster Klasse, während auf dem Vorderdeck diejenigen des Zwischendecks in buntem Gewimmel sich tummelten. Einige saßen auf Bänken, aus kurzen Pfeifen rauchend, andere hatten sich gelagert, während ein großer Teil der Passagiere an der Brüstung lehnte und hinab auf das Wasser sah. Es befanden sich auch etliche Frauen mit Kindern an Bord, welche Blechgeschirre am Gürtel befestigt trugen und einige junge Männer, die im Auf- und Abschreiten, mühsam das Gleichgewicht haltend, deutsche Lieder sangen.

            Ein wenig abseits von der großen Menge saßen ganz allein zwei Menschen, denen man ansehen konnte, wie vereinsamt sie sich vorkamen. Auf den ersten Blick mußte man erkennen, daß die beiden, ein älterer Mann und ein junges Mädchen, niemand anderes sein konnten, als polnische Bauern. Sie waren thatsächlich vereinsamt, denn sie verstanden kein Wort Deutsch.

            Der Mann hieß Lorenz Toporek; das Mädchen, Maryscha mit Namen, war seine Tochter. Sie reisten nach Amerika und waren eben zum ersten Male auf das Verdeck gekommen. Auf ihren von der Seekrankheit bleichen Gesichtern malte sich Erstaunen und Furcht zugleich. Sie ließen die erschrockenen Blicke über die Reisegefährten, die Matrosen und das ganze Deck schweifen, betrachteten angstvoll den schwer ächzenden, großen Schornstein und die mächtigen schaumgekrönten Wellen, welche bis zu Maryscha über Bord des Schiffes spritzten. Maryscha hielt sich am Arme des Vaters und klammerte sich bei jeder Schwankung des Schiffes fester an ihn. Beide verharrten schweigend. Endlich unterbrach der Vater das Schweigen indem er rief:

            »Maryscha!«

            »Was soll es, Vater,« frug das Mädchen.

            »Siehst Du?« sagte der Alte.

            »Freilich sehe ich,« war die Antwort.

            »Und wunderst Du Dich?«

            »Freilich wundere ich mich,« sagte Maryscha.

            Sie fürchtete sich aber mehr, als sie sich wunderte und der alte Toporek ebenfalls. Glücklicherweise beruhigte sich jetzt der Wellenschlag etwas, der Wind hörte auf zu wehen und die Sonne brach durch die Wolken.

            Als die beiden die »geliebte Sonne« erblickten, wurde ihnen leichter um's Herz, denn sie dachten, daß sie hier genau so scheine wie ihn Lipiniez. Alles um sie her war ihnen ja fremd, neu und unbekannt, nur sie nicht, diese Strahlen, die ihnen plötzlich wie ein treuer Freund, wie ein Beschützer erschienen.

            Immer mehr glättete sich das Meer, die Segel hingen schlaff herab und vom anderen Ende des Schiffes her ertönte die Signalpfeife des Kapitäns. Sofort eilten die Matrosen herzu, sie zu befestigen. Der Anblick dieser in der Luft schwebenden, über dem Abgrund hängenden Menschen, versetzte den Alten und seine Tochter wiederum in Staunen.

            »Unsere Jungen würden das nicht fertig bringen,« sagte Toporek.

            »Wenn die es hier fertig gebracht haben, klettert der Jaschu auch hinauf,« entgegnete Maryscha.

            »Welcher Jaschu? Der Jaschu Sobek?« frug der Vater.

            »Ach woher denn. Ich meine den Jaschu Smolak, den Bereiter,« versetzte die Tochter.

            »Er ist ein netter Bursche,« meinte der Alte, »aber schlage ihn Dir aus dem Sinn. Er ist nicht für Dich und Du nicht für ihn. Du fährst nach Amerika, um eine Dame zu werden, er bleibt Bereiter in Lipiniez, da mag nur die ganze Sache auch bleiben wie sie ist.«

            »Er hat doch aber auch einen kleinen Hof,« warf Maryscha ein.

            »Ja, aber einen in Lipiniez.«

            Maryscha antwortete nicht mehr, aber sie dachte: »was Einem bestimmt ist, dem entgeht man nicht.«

            Das Schiff zog jetzt ganz ruhig auf der glatten Fläche dahin. Immer neue Gestalten fanden sich auf dem Verdeck ein, Arbeiter, deutsche Bauern, Müßiggänger aus allen Weltteilen. Es entstand ein dichtes Gedränge. Lorenz und seine Tochter drückten sich, um niemandem im Wege zu sein, in eine Ecke, wo sie sich auf einer Rolle Schiffstaue niederließen.

            »Müssen wir noch lange auf dem Wasser fahren, Väterchen?« frug Maryscha nach einer Weile.

            »Wenn ich das wüßte!« war die Antwort. »Hier kann ja keiner polnisch antworten.«

            »Wie werden wir uns da in Amerika verständigen?« fuhr das Mädchen fort zu fragen.

            »Hast Du nicht gehört, wie man uns sagte, daß in Amerika eine ganze Menge der Unserigen sich befinden?« entgegnete der Alte.

            »Väterchen?«

            »Was gibt es?«

            »Man muß sich hier über Vieles wundern und staunen, das ist wahr, aber – die Wahrheit zu sagen – in Lipiniez war es besser.«

            »Lästere nicht!« rief der Vater ärgerlich.

            Nach einer Weile aber setzte er sanfter, wie im Selbstgespräch hinzu:

            »Gottes Wille geschehe! ...«

            Dem Mädchen füllten sich die Augen mit Thränen. Beide verfielen gleich darauf in tiefes Sinnen. Lorenz Toporek dachte darüber nach, warum er auf der Reise nach Amerika sei, und wie das so gekommen war. Wie war es gekommen? Vor rund einem halben Jahre, im Sommer, hatte man ihm die Kuh gepfändet, weil sie auf fremdem Acker in's Futter gegangen. Der Nachbar, welcher sie gepfändet, verlangte drei Mark Schadenersatz. Toporek hatte nicht zahlen wollen, die Kuh blieb als Pfand. Man war in's Gericht gegangen, die Angelegenheit blieb schweben bis zur Fällung des Urteils, die Kosten wuchsen schnell von Tag zu Tag. Lorenz glaubte sich im Recht; ihn dauerte das viele Geld, er wollte das Recht erzwingen.

            Aber es ließ sich nicht zwingen; er verlor den Prozeß. Die Prozeßkosten hatten sein Bargeld aufgezehrt, die Unterhaltungskosten der Kuh mußten durch Pfändung seines Inventars gedeckt werden. Man nahm ihm das Pferd, und da gerade die Ernte begonnen hatte, so konnte er sein Getreide nicht rechtzeitig einbringen, Regengüsse kamen, es war bald ausgewachsen. Toporek sah sich im Elend, noch ehe dasselbe wirklich da war; er verlor die Besinnung um so mehr, da er bisher ein wohlhabender Mann gewesen, und um die Gedanken an kommende Not zu bannen, griff er zu dem gebräuchlichsten Mittel, – er fing an zu trinken.

            Im Wirtshause lernte er einen Agenten kennen, welcher unter dem Vorwande Flachskäufe abzuschließen, Menschen zur Auswanderung nach Amerika warb. Er versprach jedem Einzelnen dort so viel Land und Wald, als ganz Lipiniez zusammen nicht umfaßte. Zuerst glaubte Toporek nicht recht an die Erfüllung solcher Versprechungen, als aber der alte Jude, welcher Inhaber der Gastwirtschaft war, beistimmte und erzählte, er wisse von seinem Enkelsohn, daß man in Amerika Land geschenkt bekomme so viel man wolle, da leuchteten die Augen Toporeks begehrlich auf, er verkaufte seine ganze Habe und beschloß nach Amerika auszuwandern. Was sollte er denn noch hier? Die Not kam auf ihn zu, wie ein drohendes Ungewitter. Der Prozeß hatte ihn so viel Geld gekostet, daß er kaum noch einen Knecht würde halten können. Oder sollte er vielleicht betteln gehen hier, wo jedermann ihn kannte? Er ordnete bis Michaeli alle seine Angelegenheiten, dann hatte er den Rest seines Geldes und seine Tochter genommen und – nun war er auf dem Wege nach Amerika.

            Die Reise hatte nicht zum besten angefangen. In Hamburg war ein großer Teil seines Geldes daraufgegangen. Er reiste mit seiner Tochter als Zwischendeck-Passagier, die Unendlichkeit des Meeres, das Schaukeln des Schiffes erschreckte ihn. Niemand verstand seine Sprache, er verstand die anderen nicht, man spottete über ihn und Maryscha.

            Wenn zur Mittagszeit alles nach der Küche drängte, um sich vom Koch die Rationen verteilen zu lassen, da stieß man sie und drängte sie zurück, so daß oft nichts für sie übrig blieb und sie mit leerem Magen schlafen gehen mußten. Er fühlte sich einsam und verlassen mit seinem Kinde unter den fremden Menschen und nur Gottes Schutz über sich. Vor seiner Tochter verbarg er sorgfältig, was er dachte und fühlte; er frug nur immer, ob sie alle die neuen Dinge, welche sie zu Gesicht bekommen, nicht mit Staunen erfüllten. Er selbst traute niemanden, und zuweilen überfiel ihn eine Angst, daß diese »Heidenvölker«, wie er still für sich seine Reisegenossen nannte, sie beide eines Tages in's Wasser werfen, oder irgend einen Pakt mit dem Bösen zu unterschreiben zwingen könnten.

            Das Schiff selbst, welches sich vom Dampfe getrieben, so von selbst fortbewegte und wie ein Drache pfauchte, erschien ihm verdächtig – eine unreine, gefährdende Gewalt. Eine kindische Furcht bemächtigte sich seiner beim Anblick so vieler Dinge, die sein Verstand nicht zu fassen vermochte. Thatsächlich befand sich dieser polnische Bauer, losgetrennt von der heimatlichen Scholle, wie er es war, in der gleichen Lage mit einem hilfs- und schutzbedürftigen Kinde.

            Es war daher nicht zu verwundern, wenn jetzt der Kopf des auf der Rolle Schiffstaue sitzenden Mannes tief auf seine Brust herabsank unter der Last der Ungewißheit und der Sorgen. Seine Lippen murmelten leise den Namen seines Heimatdorfes »Lipiniez«; ihm war, als bringe die Sonne, die auch jenes Dorf beschien und der Luftzug, der über das Wasser zog, ihm Grüße von dort zu und die Frage der Nachbaren: »Wie geht es Dir Lorenz?«

            Es waren Gedanken ganz anderer Art, welche Maryscha inzwischen beschäftigten, nur die gleiche Sehnsucht hatten sie mit denen des Vaters gemein. Sie flossen rückwärts mit dem Kielwasser des Schiffes, mit den Möven flogen sie den östlichen Gestaden zu. Kurz zuvor ehe sie abgereist waren, hatte sie in Lipiniez am Brunnen gestanden, daran mußte sie denken. Es war im Herbst, sie wollte Wasser schöpfen, die ersten Sterne blinkten eben am Himmelszelt. Sie zog am Schwengel den vollen Eimer herauf und sang dabei: »Jasiek will die Pferde tränken – Kasia gießt das Wasser aus« – (ihr wurde sehr wehmütig bei dieser Erinnerung). – Da tönte ein Pfiff vom Walde herüber, langgezogen, wie der Ton einer Saftpfeife. Jaschu Smolak wollte ihr damit sagen, daß er den Brunnenschwengel in die Höhe steigen gesehen und daß er sogleich von den Wiesen herkommen werde. Bald darauf ertönte Pferdegetrappel, die Erde dröhnte unter dem Galopp der Tiere, jetzt hielt er sie mit einem Ruck an, sprang vom Braunen herab und schüttelte seine Flachsmähne. Was Jaschu ihr damals gesagt, klang ihr noch jetzt wie Musik in den Ohren. Sie schloß die Augen und träumte, Jaschu stehe neben ihr und flüstere wie damals mit vor Aufregung bebender Stimme:

            »Wenn Dein Vater sich durchaus nicht von der Auswanderung abbringen lassen will, so werde ich das Angeld auf den Jahreslohn bei Hofe zurückgeben, mein Anwesen verkaufen und Euch nachkommen ... Marysch mein«, – hatte er gesagt – »Dir nach fliege ich mit den Kranichen, mit den Enten durchschwimme ich die Wasser und als goldener Reif will ich die Landstraßen durchrollen. Wo Du auch seist; ich finde Dich, Einzige! Ist denn ohne Dich ein Glück zu denken? Wo Du bist, will ich sein, was Dir geschieht, soll mir geschehen. Wir zweie sind eins im Leben und Sterben, und wie ich Dir hier bei diesem reinen Wasser schwöre, so möge Gott mich verlassen, wenn ich Dich je verlasse, Marysch, meine einzige!«

            Während sie diese Worte zu hören glaubte, sah sie jenen Brunnen, den Vollmond über dem Walde und Jaschku leibhaftig vor sich. Das gewährte ihr einigen Trost. Jaschku war ein resoluter Bursche! er wird halten, was er versprochen. O wäre er jetzt hier, es wäre viel fröhlicher, zusammen mit ihm dem Brausen des Meeres zu lauschen. Was mochte er jetzt in Liziniez machen? Gewiß lag dort schon hoher Schnee! Ob er wohl mit der Axt in den Wald zu den Holzfällern geht, oder ob er die herrschaftlichen Pferde besorgt? Wo mochte er sein, der Herzgeliebte? Dem Mädchen stand plötzlich das ganze Dorf vor Augen, so wie es jetzt aussehen mußte. Der Schnee knarrt unter den Füßen der Menschen aus der Dorfstraße, das Abendrot leuchtet durch die blätterlosen, vom Rauhreif bedeckten Baumäste, ein Flug Krähen zieht krächzend vom Walde her dem Dorfe zu, Rauchwölkchen steigen aus den Schornsteinen der strohgedeckten Hütten, der Brunnenschwengel ruht angefroren am Geländer des Brunnens und in der Ferne schimmert der mit Schnee überstreute Wald, von der Abendröte warm angehaucht, rosig herüber.

            Ach und wo war sie jetzt! Wohin hatte ihres Vaters Wille sie geführt! Ueberall, wohin das Auge auch suchend schweift, nichts als Wasser grünlich durchfurcht, mit Schaumkämmen, und in dieser unermeßlichen nassen Wüste nichts, als das Schiff, auf dem sie waren, eine verirrte Möve, darüber das Himmelsgewölbe, ringsum das unaufhörliche Tosen und Brausen der Wasser, bald pfeifend, gurgelnd, bald kläglich wie das Weinen eines Kindes und vor sich die unbekannte grausige Ferne.

            Armer Jaschu, wie wirst du sie finden, wohin ihr folgen? Wirst du deiner Maryscha wie die Ente nachschwimmen, oder wie die Kraniche fliegen, oder wie der Reif rollen? Denkst du wohl ihrer in Lipiniez jetzt auch?

            Allmählich war die Sonne unter die Fluten des Meeres getaucht. Ein breiter Lichtstrom, der letzte Schein der Scheidenden, lag auf den Wellen, und als nun das Schiff in diesem schillernden, leuchtenden Glutstrom seinen Weg fortsetzte, sah es aus, als jage es der sinkenden Sonne nach. Die dem Schornstein entsteigende Rauchwolke war rot, die Leinen, die Taue, die feuchten Segel in rosiges Licht getaucht, die Matrosen sangen, während der Lichtkreis immer kleiner wurde, bis er endlich nur noch einen lichten Streifen bildete, da, wo die Sonne untergegangen. Man konnte kaum noch unterscheiden, wo das Meer sich von der Luft abgrenzte; es verschwamm alles in diesem Lichtstreifen. Das Meer murmelte leise, als spreche es sein Abendgebet.

            In solchen Augenblicken fühlt der Mensch sich gehoben. Die Seele bekommt Flügel und was Liebes in der Ferne ihr weilt, dem fliegt sie auf sehnsüchtigen Schwingen zu.

            Lorenz und Maryscha fühlten das jetzt auch. Sie erkannten in dieser Stunde, daß nicht das Land ihre Heimat werden würde, welchem der feuchte Wind sie zutrieb, sondern, daß der Baum ihres Lebens tief wurzelte in jenem Erdstrich, den sie verlassen, in dem Stück heimatlicher Erde, wo die goldenen Aehren im Sommer wogen, die Wiesen bunt blühen und Luft und Wasser von lustigen Vögelscharen wimmeln, wo in den Dörfern die strohgedeckten Hütten stehen, stattliche Herrensitze sich bereiten und wo der Mensch den Menschen mit dem Gruße anspricht: »Gelobt sei Jesus Christus,« welchen der Andere erwidert mit dem Gegengruß: »In alle Ewigkeit, Amen!« Alle die Gefühle, welche bisher den beiden einfachen Menschen unbekannt geblieben waren, stürmten in dieser Stunde gewaltig auf sie ein. Der alte Toporek nahm die Mütze ab. Das Abendrot beleuchtete seine grau melierten Haare, in seinem Gesicht arbeitete es heftig, man sah, daß es ihm schwer wurde, einen Ausdruck für das zu finden, was er seiner Tochter gern sagen wollte. Endlich stammelte er:

            »Mir ist so, Marysch, als hätten wir dort etwas zurückgelassen.« Bei diesen Worten wies er mit der Hand rückwärts nach Osten zu.

            »Unser Glück, unser Lieben ist dort zurückgeblieben,« antwortete das Mädchen, während sie die Augen wie zum Gebet nach Oben richtete.

            Es war unterdessen finster geworden; die Passagiere begannen das Verdeck zu verlassen. Trotzdem herrschte auf dem Schiffe ein ungewöhnlich reges Leben. Oftmals pflegt einem so schönen Sonnenuntergange ein Unwetter zu folgen, deshalb ertönten die Signalpfeifen der Offiziere unablässig und die Matrosen arbeiteten unablässig am Takelwerk. Ein dichter Nebel stieg am Horizont auf, welcher von Minute zu Minute sich weiter über das Wasser verbreitete und bald den ganzen Gesichtskreis, ja sogar das Schiff umhüllte. Eine Stunde später sah man die Matrosen in der dicken Luft nur noch wie Schatten und noch etwas später auch sie nicht mehr, noch den Schornstein, noch die brennende Schiffslaterne. Alles war in einen weißlichen Dunst gehüllt.

            Das Schiff lag unbeweglich still; die Nacht sank lautlos und finster herab. Plötzlich ertönte vom Horizont her ein seltsames Geräusch. Es klang wie das schwere Atmen aus gepreßter Brust. Dann schien es, als töne ein Ruf durch die Finsternis, dann wie ein Rufen und Stöhnen verschiedener Stimmen durcheinander, welche aus der grenzenlosen Weite auf das Schiff zukamen, näher und näher. Der Kapitän stand, in einen Gummimantel gehüllt, am Vordersteven, der Leutnant auf seinem Platze. Außer Toporek und seiner Tochter befand sich niemand mehr von den Passagieren auf Deck. Nun verließen auch sie es, um in den gemeinschaftlichen Schlafsaal im Zwischendeck hinunterzugehen.

            Derselbe war groß, aber düster. Das Licht der Lampen, welche von der niedrigen Decke herabhingen, erhellte den Raum und die in Häufchen um ihre Betten zusammensitzenden Auswanderer nur spärlich. Die Luft darin war gesättigt von dem Geruch geteerter Leinwand, der Feuchtigkeit ausströmenden Schiffstaue und des Seetang. Gewöhnlich wirkt die zweiwöchentliche Ueberfahrt, verbunden mit dem Aufenthalt in diesem Räume, äußerst schädlich auf die Lungen der Reisenden. Auch Lorenz und Maryscha spürten die Folgen davon schon, obgleich sie erst wenige Tage unterwegs waren. Die Seekrankheit und die schlechte Luft hatten ihre Wangen gebleicht und ihre Konstitution geschwächt, umso mehr, als sie bis heute nicht gewagt hatten, den Saal zu verlassen im Glauben, das sei nicht erlaubt. Auch hatten sie ihre Sachen hüten wollen. So setzten sie sich gleich den anderen Reisegenossen auch wieder zu den ihrigen. Das Reisegepäck der Auswanderer lag in Bündeln im ganzen Saale umher. Betten, Kleidungsstücke, Mundvorräte, verschiedenes Kochgeschirr lag in buntem Durcheinander auf der Diele, während die Menschen teils auf ihnen, teils um sie herum saßen. Die einen kauten Tabak, andere rauchten. Der Qualm aus den Tabakspfeifen stieg empor zu der niedrigen Decke, stieß sich dort ab und zog in langen Streifen daran hin, das Lampenlicht verschleiernd. Ein paar Kinder weinten in den Winkeln, sonst herrschte tiefe Stille, denn der Nebel draußen hatte alle Gemüter traurig und ängstlich gemacht. Die Erfahreneren unter den Auswanderern wußten, daß er der Vorläufer eines Sturmes sei, niemand verhehlte sich mehr, daß eine Gefahr, möglicherweise der Tod nahe. Lorenz und Maryscha, welche sich mit Niemanden verständigen konnten, wußten von alledem nichts. Aber die eigentümlichen Töne, die zu ihnen drangen, sobald jemand die Thüre öffnete, erfüllten auch sie mit heimlichem Grausen.

            Man hatte sie, wie das schüchternen, in der Fremde ratlosen Menschen oft geschieht, in den schmälsten Teil des Saales, zunächst des Vorderteiles gedrängt, wo die Schwankungen des Schiffes am meisten sich bemerklich machten. Der Alte stillte seinen Hunger an einem Stück Brot, welches er aus Lipiniez mitgenommen, und das Mädchen, welchem der Müßiggang ein Greuel war, flocht sich die Zöpfe zur Nacht.

            Sie wunderte sich zuletzt doch über die unheimliche Stille, die den sonst so lauten Raum erfüllte.

            »Warum sprechen die Menschen heute gar nicht?« frug sie den Vater.

            »Ich weiß es nicht!« antwortete Toporek. »Sie müssen wohl irgend einen Feiertag morgen haben, der ihnen am Vorabend Schweigen auferlegt, oder so etwas ...«

            Plötzlich unterbrach ein heftiger Stoß seine Rede. Das Schiff knarrte in allen Fugen. Die Blechgeschirre flogen klappernd durcheinander, die Lampen lohten hell auf und flackerten dann hin und her. Einige Stimmen schrieen ängstlich durcheinander.

            »Was soll das sein? Was bedeutet das?« frug Lorenz.

            Aber er erhielt keine Antwort. Dem ersten Stoß folgte bald ein zweiter, heftigerer, der das ganze Schiff in's Schwanken brachte. Sein Vorderteil wurde in die Höhe gehoben, und ebenso plötzlich wie das geschehen, schien es in eine unermeßliche Tiefe zu sinken. Gleichzeitig schlug eine Sturzwelle mit lautem Getöse an die eine Schiffswand.

            »Ein Sturm kommt,« flüsterte Maryscha erschrocken.

            Jetzt brauste es die Schiffswände entlang, wie wenn ein heftiger Sturmwind sausend durch die Wipfel eines Waldes fährt, daß die Kronen sich tief neigen. Gleich darauf heulte es ringsum, als ob eine Heerde Wölfe ihre Stimmen ertönen ließen, und im nächsten Augenblicke legte der Sturm das Schiff ein, zwei Mal auf die Seite, drehte es im Kreise herum, riß es in die Höhe und schleuderte es in den Abgrund. Die Schiffswände krachten, der ganze Rumpf ächzte und stöhnte wie ein Kranker, die Gepäckstücke der Reisenden, die Kochgeschirre, Betten und Mundvorräte flogen von einem Winkel in den anderen. Ein Chaos entstand. Einzelne Bettstücke waren an Nägeln hängen geblieben, zerrissen; die Federn flogen umher, einige Menschen wurden umgeworfen, die Cylinder der Lampen klirrten melancholisch.

            Die über das Deck hereinbrechenden Sturzwellen verursachten ein Brausen, Poltern, Plätschern, welches tosend bis in das Zwischendeck hinunter drang. Dazu schrieen die Frauen, die Kinder weinten, die Männer suchten das Gepäck zu befestigen und all' diesen Lärm übertönte der gellende Pfiff der Signalpfeifen. Zuweilen nur konnte man die Tritte der auf dem Vorderdeck herumlaufenden Matrosen vernehmen.

            »Heilige Jungfrau von Tschenstochau!« flüsterte Maryscha.

            Ein neuer Anprall hob das Vorderteil des Schiffes haushoch in die Höhe, um es ebenso schnell wieder sinken zu lassen. Obgleich sich beide mit aller Kraft festklammerten, wurden sie so hinuntergeschleudert, daß sie wiederholt heftig an die Schiffswand schlugen. Das Gebrüll der Wogen übertönte jedes andere Geräusch während das Holz der Decke aus den Fugen zu weichen und herabzustürzen drohte.

            »Halte Dich fest Marysch!« schrie Lorenz mit aller Kraft, um das Toben der Wasser zu übertönen. Bald aber schnürte die Angst ihm und den anderen die Kehle zu. Die Kinder hatten zu weinen aufgehört, das Geschrei der Frauen war verstummt, man hörte nur heftiges schnelles Atmen, ein jeder suchte sich mit äußerster Anstrengung an irgend einen festen Gegenstand zu klammern.

            Die rasende Wut des Sturmes hatte aber ihren Höhepunkt noch nicht erreicht. Die Elemente waren entfesselt, der Nebel verdichtete sich noch mehr. Wolken, Wasser, Sturm und Gischt verbanden sich miteinander, um die Schrecknisse der Nacht noch zu vergrößern. Donnernd schlugen die Wogen bald über dem Schiff zusammen, bald warfen sie es seitwärts, spielten mit ihm, wie mit einem Ball, es flog nach rechts, links, stieg hoch empor bis an die Wolken, kurz es war ein gräßlicher Kampf mit den Elementen. Die Oellampen im Schlafsaal verlöschten eine nach der anderen. Es wurde immer dunkler in demselben, und Toporek glaubte nicht anders, als die Nacht des Todes sei für alle angebrochen.

            »Marysch!« rief er mit halberstickter Stimme. – »Verzeihe mir, daß ich Dein Verderben verschuldet habe. Unsere letzte Stunde ist gekommen, wir werden die Welt mit unseren sündigen Augen nicht mehr sehen. Wir müssen ohne Beichte, ohne die Sakramente in den Tod gehen, zum letzten Gericht, wir werden nicht in der stillen Erde ruhen, sondern auf dem Grunde des Meeres werden unsere Gebeine bleichen. Du armes Kind!«

            Als Maryscha den Vater so sprechen hörte, fing sie selbst an zu glauben, es gäbe keine Rettung mehr für sie. In ihr schrie etwas auf! Eine Stimme rief in ihrer Brust:

            »Jaschku, Jaschku, Herzlieber, hörst Du mich in Lipiniez?«

            Ihr wurde so todestraurig, daß sie laut zu schluchzen anfing. Das Schluchzen tönte durch den Raum, während der Sturm eine Pause zu machen schien, mitten in das Grabesschweigen der anderen hinein. Da rief eine Stimme: »Still dort!« Im selben Augenblick erlosch wieder eine der Lampen. Es wurde noch dunkler. Die Menschen rückten näher zusammen, das Schweigen des Schreckens lagerte über ihnen. Da tönte laut und vernehmlich in die Stille die Stimme Toporek's:

            »Kyrie Eleyson!«

            »Christe Eleyson!« antwortete schluchzend das Mädchen.

            »Christe erhöre uns!

            »Gott Vater im Himmel, erbarme Dich unser!« Sie beteten die Litanei. Die Stimme des Alten und das von Schluchzen unterbrochene Antworten des Mädchens, übten eine beruhigende Wirkung auf die anderen aus; eine feierliche Stimmung bemächtigte sich ihrer, einige der Auswanderer entblößten die Häupter und schienen still mitzubeten. Die Stimme Maryscha's gewann immer mehr an Festigkeit, sie sprach ruhiger, während das Toben des Sturmes von Außen her das Gebet begleitete.

            Da plötzlich schrieen die der Thür zunächst Stehenden laut auf. Eine Sturzwelle hatte die nach dem Zwischendeck führende Thür aufgedrückt, ein Wasserstrahl ergoß sich plötzlich von oben herab in den Saal und drang bis in die äußersten Winkel. Die Frauen schrieen laut und stiegen auf die Bettstellen. Alle glaubten, das Ende sei da.

            Einen Augenblick später trat der dienstthuende Leutnant herein. Er hielt eine Laterne in der Hand, war ganz durchnäßt, sein Gesicht von der angestrengten Arbeit gerötet. Mit wenigen Worten beruhigte er die Frauen, indem er erklärte, daß nur ein Zufall das Eindringen des Wassers verschuldet habe, daß die Gefahr nicht so groß sei, weil das Schiff auf offener See schwimme.

            Noch zwei, bis drei Stunden tobte der Sturm, bald rasend heftig, bald etwas nachlassend. Allmälich beruhigten sich die Gemüter. Endlich schien es draußen zu dämmern. Ein blasser Lichtschimmer stahl sich durch das dicke Glas des Deckenfensters. Nachdem Lorenz und Maryscha alle Gebete verrichtet, die sie auswendig wußten, hüllten sie sich in ihre Schlafdecken und verfielen bald in tiefen Schlaf.

            Sie wurden erst geweckt, als der Ton der Glocke zum Frühstück rief. Aber sie konnten nichts genießen. Ihre Köpfe waren schwer wie Blei! Lorenz befand sich noch schlimmer als seine Tochter. Er war außer sich. Der Agent, welcher ihn für die Auswanderung gewonnen, hatte ihm zwar gesagt, daß sie über das Wasser fahren würden, er hatte aber niemals gedacht, daß das Meer so groß sei. Er hatte gemeint mit einem Prahm hinüber zu kommen. Niemals hätte er sich auf dieses große Wasser begeben, wenn er es vorher gekannt hätte. Außerdem quälte ihn unaufhörlich der Gedanke, daß er sein und seiner Tochter Seelenheil leichtsinnig in Gefahr gebracht hatte. War das nicht eine große Sünde für einen Katholiken aus Lipiniez? War das nicht Gott versucht? Seine Gewissensbisse sollten während der nächsten sieben Tage noch zunehmen, denn der Sturm hielt volle achtundvierzig Stunden an, dann erst fingen die Wolken an zu brechen, der Nebel schwand allmälich. Endlich wagte Lorenz mit seiner Tochter wieder auf das Verdeck zu gehen, als sie aber die noch sehr hoch gehenden schwarzen Wasserberge, mit ihren Schlünden und Abgründen erblickten, mußten beide wieder denken, daß nur Gottes Hand allein sie glücklich bewahren könne.

            Endlich wurde der Himmel wieder heiter. Aber ein Tag nach dem anderen verging, ohne daß etwas anderes als Wasser rings zu sehen gewesen wäre. Bald schillerte die Flut grün, bald wie der Himmel blau, mit dem sie in Eines zusammenzufließen schien. Am Firmament tauchten von Zeit zu Zeit kleine weiße Wölkchen auf, welche sich gegen Abend rosig färbten und dann im fernen Westen verschwanden. Das Schiff schwamm ihnen unablässig nach. Das wiederholte sich täglich und Lorenz fing thatsächlich an zu glauben, daß das Meer endlos sei. Zuletzt faßte er Mut und beschloß, noch einmal eine Frage zu wagen. Eines Tages nahm er seine viereckige Mütze vom Kopfe, verneigte sich ehrfurchtsvoll vor einem vorübergehenden Matrosen und sagte demütig:

            »Werden wir nicht bald an eine Landungsstelle kommen, gnädiger Herr?«

            Und o Wunder! Der Matrose brach nicht in schallendes Gelächter aus, wie die anderen, wenn er zu sprechen anfing, sondern blieb stehen und horchte auf. Auf dem wettergebräunten Gesicht entwickelte sich ein lebhaftes Mienenspiel, es sah aus, als versuche er, sich auf etwas zu besinnen. Nach einer Weile frug er:

            »Was?«

            »Ich frage, ob wir bald an das Land kommen?« antwortete Lorenz.

            »Zwei Tage! Zwei Tage!« brachte der Matrose mühsam in polnischer Sprache heraus, indem er gleichzeitig zwei Finger emporhob.

            »Ich danke ergebenst«, beeilte sich Lorenz zu sagen.

            »Woher seid ihr?« frug der Matrose polnisch.

            »Aus Lipiniez«.

            »Was ist das Lipiniez?« frug er nun deutsch.

            Maryscha, welche während der Unterhaltung herbeigekommen war, richtete mit schüchternem Erröten die Augen zu dem Matrosen empor und sagte mit sanfter Stimme:

            »Wir sind aus Posen, mein Herr!«

            Der Matrose sah unverwandt auf den Kopf eines großen kupfernen Nagels, welcher die Bordwände miteinander verband, endlich sah er das Mädchen an, betrachtete ihren Flachskopf wie etwas Wunderbares, dann zog es wie Rührung über die harten Züge, zuletzt brachte er ernst und langsam, halb polnisch, halb deutsch gesprochen, die Worte hervor:

            »Ich war in Danzig ... verstehe polnisch ... Ich bin ein Kassube ... Euer Bruder, aber das ist lange her! – Jetzt bin ich deutsch ...«

            Nach dieser Rede griff er nach dem Tauende, welches er bei der ersten Frage Toporeks hatte fallen lassen, drehte den beiden den Rücken und nach Matrosenart »ho! ho! o!« rufend, begann er daran zu ziehen ...

            Von da ab lachte er sie immer freundlich an, so bald er Lorenz und Maryscha auf Deck sah und in ihre Nähe kam. Auch sie freuten sich sehr über ihre Bekanntschaft, denn nun hatten sie auf dem Schiffe unter den vielen fremden Menschen doch eine wohlwollende Seele, welcher sie sich im Notfalle anvertrauen konnten. Die Reise sollte ja auch nicht mehr lange währen. Zwei Tage später, als sie am frühen Morgen auf Deck kamen, erblickten sie zu ihrer Verwunderung in der Ferne einen großen schwimmenden Gegenstand auf dem Wasser. Als sie sich mit dem Schiffe ihm näherten, sahen sie erstaunt, daß es eine große rote Tonne war, welche sanft von den Wellen hin und her geschaukelt wurde. In einiger Entfernung tauchte bald noch eine, eine dritte, vierte Tonne auf. Ueber der See lag es wie ein leichter, durchsichtiger Schleier, sie schimmerte silbergrau und nur sanft kräuselte sich ihre Oberfläche. Soweit das Auge reichen konnte lag sie still, nur eine immer sich vermehrende Zahl Tonnen kam allmählich in Sicht. Unzählige Scharen weißer Vögel mit schwarzen Flügeln sammelten sich um das Schiff und folgten ihm auf seiner Fahrt. Auf dem Verdeck wurde es lebendig. Die Matrosen scheuerten dasselbe, putzten die messingenen Beschläge und Bänder blank, welche die Bordwände zusammen hielten, wuschen die Fenster und zogen, als diese Arbeit beendet war, frische Jacken an. Eine Fahne wurde am Mast aufgezogen, eine zweite auf dem Hinterdeck angebracht.

            Die Reisenden überkam eine neue Lebensfreudigkeit und eine ungewohnte Rührigkeit. Alles, was lebte, erschien auf Deck. Man begann Gepäckstücke heraufzutragen und festzuschnallen.

            Alle diese Vorbereitungen gaben Maryscha die Gewißheit, daß sie nun bald am Ziele ihrer Reise angelangt seien.

            Neue Hoffnung bemächtigte sich ihrer und ihres Vaters, als nun westlich die erste Insel, Sandy-Hok, in Sicht kam und bald darauf eine zweite, mit einem in ihrer Mitte stehenden großen Gebäude. In der Ferne schwebte es wie verdichteter Nebel, eine Rauchwolke oder derartiges; undeutlich verschwommene, gestaltlose Gegenstände, bei deren Anblick eine große Bewegung auf Deck entstand. Fast alle Anwesenden wiesen mit den Händen darauf hin, sprachen lebhaft miteinander, dazwischen pfiff die Dampfpfeife, daß es gellte.

            »Was ist das dort?« frug Lorenz den neben ihm stehenden Kassuben.

            »New-York!« antwortete dieser.

            Nun begannen Rauch und Nebel sich zu teilen, zu zerstieben. Die Umrisse von Häusern, Dächern, Schornsteinen, spitzen Türmen wurden sichtbar und traten immer deutlicher aus dem Dunst hervor. Neben den Türmen tauchten hohe Fabrikschlote auf mit hohen Rauchsäulen darüber, welche hoch oben in der Luft in einzelne Bündel sich auflösten. Unten vor der Stadt ein Wald von Masten, von deren äußersten Spitzen tausende bunte Wimpel wehten, von der leichten Brise anmutig hin und her bewegt.

            Immer näher kam das Schiff der schönen Stadt, welche aus dem Meere emporzutauchen schien. Lorenz war von einer überwältigenden Freude erfüllt. Er hatte die Mütze abgenommen und starrte mit offenem Munde und trunkenen Augen die Wunder der neuen Welt an. Endlich rief er seine Tochter:

            »Marysch!«

            Das Mädchen, welches ebenso staunte, wie der Vater über das, was um sie her vorging, jauchzte freudig auf:

            »O Gott, wie schön!«

            »Siehe doch, sieh!« rief der Alte.

            »Ich sehe ja.«

            »Wunderst Du Dich nicht?«

            »Freilich wundere ich mich,« entgegnete Maryscha.

            Lorenz aber konnte kaum noch den Augenblick erwarten, wo er das Land betreten würde. Während er die grünen Ufer zu beiden Seiten des Hafens und die dunklen Parkbäume betrachtete, sprach er weiter:

            »Ei nun, das gefällt mir. Wenn man uns gleich hier in der Nähe der Stadt ein Stück Land mit Wiese geben wollte, so hätten wir es nicht weit zu Markte. Wenn Jahrmarkt ist, könnte man bequem Kuh und Schwein zum Verkauf hineinführen. Man merkt, das Land ist sehr bevölkert. In Polen war ich ein Bauer, hier werde ich Herr sein.«

            Das Schiff fuhr soeben an dem wunderschönen National-Park vorüber, welcher sich seiner ganzen Länge nach am Hafen hinzog. Als Lorenz die herrlichen Baumgruppen und Bosketts erblickte, fuhr er fort in seinem Selbstgespräch:

            »Ich werde den gnädigen Herrn Kommissar von der Regierung ganz demütig bitten und sehr geschickte Worte suchen, damit er mir wenigstens zwei Gewände dieses Waldes hier schenkt. Die nötigen Aecker selbstverständlich dazu. Wenn ich ein Herr sein will, muß ich auch eine Herrschaft haben. Ich kann dann ausholzen und früh immer den Knecht mit dem Holzwagen in die Stadt schicken. Gott sei Dank! Der Agent hat mich nicht betrogen.«

            Auch Marysch träumte sich nun als Herrin eines Gutes hier. Sie wußte selbst nicht, woher die Fröhlichkeit kam, von der sie gegenwärtig erfüllt war. War es der Gedanke an Jaschu, der sie ihr brachte? Sie sah im Geiste ihn schon hier landen und sich zu seiner Begrüßung an den Hafen eilen, sie – eine Gutsbesitzerin.

            Inzwischen war das von der Quarantänestation gesandte Boot am Schiff angelangt. Vier bis fünf Männer kamen an Bord. Zurufe und Hinundwiderreden wurden laut. Diesem Boote folgte bald ein zweites direkt aus der Stadt. Es brachte Agenten aus den Hotels und Boarding-houses, Führer, Geldwechsler, Eisenbahnagenten. Alle diese Menschen riefen, schrieen und lärmten durcheinander, es begann ein Stoßen und Hinundherschieben auf Deck.

            Lorenz und Maryscha wußten in diesem Wirrwarr nicht mehr was sie thun sollten. Da kam der Kassube und riet ihnen, gleich hier ihr Geld zu wechseln. Er wollte ihnen behilflich sein und dafür sorgen, daß sie dabei nicht betrogen würden. Toporek erhielt für das, was er besaß, siebenundvierzig Silberdollars. Während alles das auf dem Schiffe sich begab, war dasselbe der Stadt so nahe gekommen, daß man nicht nur die Häuser, sondern auch die davorstehenden Menschen unterscheiden konnte. Das Bollwerk stand dichtgedrängt voll Männer und Frauen, die der Ankunft des Schiffes entgegen sahen. Es lavierte jetzt zwischen größeren und kleineren Fahrzeugen hindurch, lief in die Docks ein und ließ dann die Anker fallen.

            Die Seereise war zu Ende.

            Die Menschen strömten der Stadt zu, es wirbelte auf dem Schiffsdeck wie in einem Bienenstock, auf der schmalen Landungsbrücke entstand ein großes Gedränge. In buntem Wechsel kamen sie alle, die an's Land wollten, sich stoßend, schiebend – die Passagiere der ersten und zweiten Klasse, die des Zwischendecks zuletzt mit ihrem Gepäck beladen.

            Als Lorenz und Maryscha die Landungsbrücke eben betreten wollten, stand an der Bordöffnung ihr kassubischer Freund. Er streckte ihnen beide Hände entgegen, schüttelte die ihrigen kräftig und verabschiedete sich von ihnen mit den Worten:

            »Bruder, ich wünsche Euch Glück und auch Dir, Mädel! Gott helfe Euch!«

            »Gott lohne Dir Deinen Wunsch,« antworteten beide gleichzeitig. Dann wurden sie durch die Nachdrängenden von ihm getrennt. Sie befanden sich bald darauf in dem geräumigen Zollhause.

            Der Zollbeamte in grauem Rock mit silbernem Stern betastete ihr Gepäck, darnach rief er: » All right« und wies sie nach dem Ausgange! Nun standen sie auf der Straße.

            »Was werden wir jetzt anfangen, Väterchen?« frug Maryscha.

            »Wir müssen warten,« antwortete Lorenz. »Der Agent hat mir gesagt, daß der Kommissar von der Regierung bald nach Ankunft des Schiffes kommen und nach uns fragen werde.«

            Sie suchten sich eine geschützte Stelle dicht an der Mauer des Zollhauses und warteten. Der Lärm der Großstadt umtoste sie. So etwas hatten sie noch nicht gesehen. Die langen geraden Straßen, Wagen, Menschen, Omnibusse, Lastwagen, alles, als ob Jahrmarkt hier wäre, dazu die fremden Leute ringsum, die Sprache, in welcher gesprochen, gerufen, geschrieen wurde und von der sie nichts verstanden. Beim Anblick einiger Schwarzer bekreuzten sie sich, im Glauben, es seien böse Geister.

            So verstrich Stunde um Stunde. Sie standen noch immer an derselben Stelle, aber der Kommissar kam nicht. Wo anders wäre das seltsame Paar, dieser polnische Bauer mit dem langen, graumelierten Haar und der viereckigen Pelzmütze und das blonde Mädchen im roten Mieder und den vielen Glasperlenschnüren um den Hals wohl jedermann aufgefallen, in New-York fällt nichts auf, dort hastet ein jeder nach Erwerb und hat nicht Zeit, sich um andere zu kümmern.

            Wieder hatte die Turmuhr in der Nähe eine volle Stunde geschlagen; der Himmel hatte sich mit Wolken bezogen, Regen mit Schneeflocken vermischt träufelte leise hernieder, ein feuchter kalter Wind stellte sich gegen Abend ein.

            Der polnische Bauer hat viel Ausdauer und Geduld, er versteht zu warten. Doch als der Kommissar noch immer nicht erschien, wurde ihnen beiden sehr wehe zu Mute.

            Wenn sie sich auf dem Schiffe vereinsamt gefühlt hatten, so war das jetzt hier noch mehr der Fall. Sie hatten sich sicher und geborgen geglaubt, sobald sie festes Land unter sich hatten, nun merkten sie erst, daß der Einzelne in dem Getriebe der Großstadt vollkommen verschwindet.

            Maryscha bebte vor Angst und Kälte. Wind und Regen hatten ihre und des Vaters Kleider durchnäßt, wo sollten sie hin, wo ein Obdach finden.

            Allmählich stockte das Leben und Treiben im Hafen, abendliche Ruhe trat ein. Die Arbeiter von den Werften zogen singend heimwärts, die Stadt erglänzte nach und nach in einem unendlich scheinenden Lichtmeer. Das Zollhaus wurde geschlossen, dann wurde es ganz still um sie und zuletzt brach die Nacht herein. Wenn sie auch längst gerne das Warten aufgegeben hätten, so wußten sie doch nicht, wohin sie sich hätten wenden können. So verharrten sie also auf ihrem Platze, von dem sie auch niemand vertrieb. Der Agent hatte sie sicher betrogen; er bekam seine Prozente für die Stückzahl der Auswanderer, was kümmerte ihn schließlich ihr Fortkommen und ihr Verbleib.

            Lorenz fühlte, wie die Füße unter ihm schwach wurden; aber er fühlte nicht nur seine Schwäche, viel mehr als diese drückte ihn die Verantwortung seiner Tochter gegenüber. Hatte nicht sein Wille das Mädchen in die trostlose Lage gebracht, in der sie sich befanden?

            Er stand und wartete und litt mit der Ausdauer des polnischen Bauern ...

            »Väterchen!« tönte es leise neben ihm.

            »Sei stille! Es gibt keine Barmherzigkeit,« sagte er barsch.

            »Gehen wir zurück nach Lipiniez,« flehte das Mädchen.

            »Eher ertränke ich mich!«

            »O Gott, o Gott!« flüsterte Maryscha.

            Eine große Seelenpein bemächtigte sich Toporek's.

            »O Du arme Waise ...« rief er verzweifelt. »Gott erbarme sich Deiner.«

            Sie hörte ihn nicht mehr. Ihr Kopf war an die Wand gesunken, sie war vor Müdigkeit eingeschlafen.

            Die Morgendämmerung beleuchtete mit fahlem Schein zwei schlafende Menschen mit blassen, von der Kälte bläulich angehauchten Gesichtern. Eine leichte Schneedecke lag auf ihren Kleidern, wie ein Bahrtuch über Gestorbenen.

Zweites Kapitel. In New-York.

            Wenn man die breiten Straßen New-York's verläßt und vom Broadway nach der Richtung von Chattam-square einige Nebenstraßen nach dem Hafen zu durchschreitet, gelangt man in eine Gegend, welche von Schritt zu Schritt ärmlicher, verlassener und düsterer wird. Die Häuser sind noch von holländischen Ansiedlern erbaut; sie haben breite Risse, die Dächer sind stellenweise eingesunken, der Putz von den Wänden losgebröckelt, die Gassen eng und ganz im Gegensatz zu den gradlinigen Straßen der Stadt krumm. Die Fenster der Souterrains blicken kaum noch halb über den Erdboden hinweg, so tief sind die Fundamente eingesunken, was den Häusern eben jenes rissige, schiefe Aussehen gibt.

            In Folge der Nähe des Meeresufers stehen überall Pfützen und die wenigen kleinen freien Plätze gleichen kleinen Teichen mit trübem, schlammigen Wasser angefüllt. Abgerissene Papierfetzen, Lumpen und Unrat schwimmen darauf herum, überall sieht man Schmutz, Elend und Unordnung.

            In diesem Stadtteil befinden sich Wirtshäuser, in denen man für zwei Dollar wöchentlich Nachtquartier und Essen bekommt; hier sind auch die Spelunken, welche den Wallfischfängern und allerhand Gesindel als Schlupfwinkel dienen, Geheimschreiber treiben zusammen mit Agenten aller Zungen ihr Unwesen darin.

            Trotz des Elends, welches herrscht, findet man hier dennoch ein reges Leben. Alle diejenigen Auswanderer, die nicht mehr ein zeitweiliges Unterkommen in der Kaserne von Castle-Garden erhalten können, oder nicht in die sogenannten »Arbeiterhäuser« gehen wollen oder dürfen, sammeln sich und verhungern oft hier. Wenn man die Auswanderer im allgemeinen schon als den Auswurf der Menschheit bezeichnet, so kann man die Bewohner dieser Spelunken mit gutem Recht als den Abschaum der Auswanderer betrachten. Schlägereien, Messeraffairen und Spitzbübereien sind an der Tagesordnung, selbst die kleinen Negerjungen balgen sich mit den Kindern der Ausgewanderten um jeden abgenagten Knochen und beide, Weiße und Farbige, lassen keinen Erwachsenen vorüber, ohne ihn anzubetteln.

            In diesem Gehenna finden wir unsere Bekannten vom »Blücher« wieder. Die Herrschaft, welche sie in Amerika zu erhalten gehofft, war ein Traum gewesen, der in Nichts zerronnen. Die reale Wirklichkeit präsentiert sich ihnen in Gestalt einer engen, im Erdgeschoß liegenden Stube mit einem Fenster, dessen Scheiben zerschlagen sind. Die Wände der Stube triefen von Nässe, der Schimmel liegt auf ihnen. An der einen Wand steht ein eiserner Ofen mit durchgebrannten Löchern und ein schlotteriger, dreibeiniger Tisch, während ein Häuflein Gerstenstroh im Winkel die Bettstatt vertritt.

            Das ist alles! Der alte Lorenz kniet vor dem Ofen und sucht in der verkohlten Asche, ob nicht irgendwo darin eine Kartoffel zu finden sei. Er sucht seit zwei Tagen schon wiederholt vergebens danach. Maryscha sitzt auf dem Strohhäuflein. Sie hat ihre Hände um die Kniee geschlungen und starrt unbeweglich zu Boden. Das Mädchen ist krank und elend. Wohl scheint es dieselbe Maryscha von früher, aber die ehemals roten Wangen sind hohl und bleich, die Gesichtsfarbe ist krankhaft, das ganze Gesicht scheint kleiner, die Augen größer, der Blick starr. Die Spuren von Gram, Kummer, mangelhafter Nahrung und vor allem die Einwirkungen der schlechten Luft sind deutlich darin sichtbar.