Irgendetwas stimmt nicht in Neles Familie. Ihre beiden Geschwister verließen das elterliche Zuhause Knall auf Fall und brachen den Kontakt völlig ab. Und nun auch Nele: Plötzlich sagt sie sich von allem los und flüchtet nach Helgoland, um sich ein Jahr Auszeit zu nehmen und heraus zu finden, was sie eigentlich will im Leben.
Sie findet neue Freunde, gewinnt die Insel und ihre Bewohner lieb und richtet sich ein in ihrem neuen Leben. Doch die Vergangenheit schläft nicht. Ihr Ex-Verlobter, den sie schmählich im Stich ließ, macht sie ausfindig, und da ist auch noch Maik, der Meeresbiologe, den sie sympathisch findet. Nele muss feststellen, dass es mit dem Alten und dem Neuen nicht so einfach ist.
Rainer Gross, Jahrgang 1962, geboren in Reutlingen, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Heute lebt er mit seiner Frau als freier Schriftsteller wieder in seiner Heimatstadt.
Bisher u.a. erschienen: Grafeneck (2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (2008); Kettenacker (2011); Kelterblut (2012); Die Welt meiner Schwestern (2014); Yûomo (2014); Haus der Stille (2014); Schrödingers Kätzchen (2015); Haut (2015); My sweet Lord (2016); Die sechzigste Ansicht des Berges Fuji (2017); In der fernen Stadt (2017); Räucherstäbchenjahre (2018); Der Teehändler (2019); Er sollte nicht ahnen (2019); Lebkuchenstadt (2020); Schatzkiste (2020); Ein Nachmittag am Bondi Beach (2020); Flieg zum Regenbogen (2020).
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© 2020 Rainer Gross
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
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ISBN: 9783752681338
Die Standesbeamtin beugte sich vor und lächelte sie einfühlsam an.
»Wollen Sie, Nele Heidenkamps, den hier anwesenden Florian Brenner zu Ihrem rechtmäßigen Ehemann nehmen, dann antworten Sie bitte mit: Ja!«
Sie schaute Florian an. Der hatte die Frage mit einem zufriedenen Ja beantwortet. Er hatte es hinter sich. Sie blickte über die Schulter und schaute zu den Gästen hinüber. Die Sekunden verrannen. Was ist los?, fragte sie sich. Du solltest schon längst antworten. Ein einfaches Ja. Was ist daran so schwierig?
Sie schaute die Standesbeamtin an, die leicht die Stirn runzelte. Die Frage stand im Raum, klang unheilverkündend nach.
Sag es, ermahnte Nele sich. Sag es einfach, und dann hast du’s hinter dir. Du hast es hundertmal mit Florian durchgesprochen. Heirat. Umzug. Gemeinsame Wohnung. Das erste Kind in einem Jahr. Es ist alles geplant. Ein sauberer Verlauf, gegen den sich nichts sagen lässt. Auch nicht eine verschwommene Sehnsucht nach Freiheit, nach Atempause, nach einem Ausbruch und Aufbruch. Frühlingsgefühle, hatte es Heidi genannt, ihre beste Freundin, die nun als Trauzeugin dort vorn saß und wartete, wie alle anderen. Hast du wirklich Zweifel? War das nicht nur eine Laune, Lampenfieber vor dem großen Tag? Und nun stehst du hier, Nele, und kannst der Standesbeamtin nicht antworten.
Die Pause dauerte schon viel zu lang. Jetzt war eh nichts mehr zu retten. Wenn du jetzt Ja sagst, bleibt das Misstrauen, die Unglaubwürdigkeit. Jetzt kannst du dich nicht mehr aus der Affäre ziehen. Aber wie sagte einmal ein guter Freund zu ihr? Du kannst nicht deinen Arsch retten und zugleich dein Gesicht wahren.
Also, dachte sie und sagte, weil sie sowieso nichts zu verlieren hatte und weil es sich richtig anfühlte und weil sie keine Ahnung hatte, wohin das führen würde, laut:
»Nein.«
Und setzte, als wäre sie ein amerikanischer Präsident bei der Vereidigung, leise hinzu:
»So wahr mir Gott helfe!«
Raunen und Flüstern, Ah und Oh: Das hatte sie erwartet. Aber es herrschte eisiges Schweigen. Selbst Florian brachte kein Wort heraus, starrte sie nur entgeistert an. Die Standesbeamtin fing sich erstaunlich rasch und meinte: »Damit hat sich der amtliche Vorgang erledigt. Es tut mir leid für Sie beide.«
Sie räumte die Dokumente, die sie bereitgelegt hatte, zusammen und trat einen Schritt vor. Das war das Signal für die übrigen Gäste, aufzustehen und sich zum Ausgang zu bewegen. Leises Gemurmel wurde jetzt hörbar, niemand schaute Nele an, ihre Mutter verkniff sich die Tränen, und ihre wohl doch nicht künftige Schwiegermutter beugte sich im Vorbeigehen zu ihr her und zischte:
»Was anderes habe ich von dir auch nicht erwartet!«
Florian bewahrte die Contenance. Er wusste, dass es keinen Sinn hatte, hier im Standesamt eine große, womöglich heftige Diskussion anzufangen. Für dieses Mal war es gelaufen. Er wartete, bis alle draußen waren und sich die Beamtin verabschiedet hatte.
Er fasste sie an der Schulter und kam ihr mit seinem Gesicht ganz nahe.
»Was soll das? «, fragte er beherrscht.
Nele machte sich los. Sie hatte jetzt keine Kraft und Nerven für ein Gespräch. Er hätte eine Erklärung verdient, das ja, aber sie könnte ihm gerade sowieso keine geben. Sie wusste nicht, was eben da drin passiert war. Sie musste es erst einmal selbst herausfinden.
Ohne eine Erwiderung ließ sie ihn stehen, überquerte den Marktplatz, den alten Markt zwischen Fachwerkhäusern, und schlenderte die Fußgängerzone entlang, als wollte sie shoppen.
Sie war selbst erstaunt. So spontan und unüberlegt hatte sie noch nie eine Entscheidung getroffen. Das brauchte aber nicht zu heißen, dass sie falsch war. Sie benötigte nur Zeit, um sie zu verstehen. Und um zu verstehen, was sie für Folgen hatte. Dafür brauchte sie wahrscheinlich die ganzen nächsten Wochen.
Sie war mit ihren Eltern in deren Wagen von Regensburg aus hergefahren, in diese Stadt am Fuß der Schwäbischen Alb, wo Florian wohnte und wo er hatte heiraten wollen. Sie konnte jetzt unmöglich mit ihren geschockten Eltern im Auto sitzen, zwei Stunden lang, und sich eine Gardinenpredigt anhören. Oder vielleicht das Gegenteil: eisiges Schweigen wie vorhin im Standesamt. Auch ihre Eltern würden eine Erklärung verlangen, und die konnte Nele beim besten Willen nicht geben.
Also schlug sie den Weg zum Bahnhof ein, löste dort ein Ticket nach Regensburg, besorgte sich einen Kaffee im Pappbecher und setzte sich auf eine Bank an den Gleisen, in Kostüm und hochhackigen Schuhen, um auf den Schreck hin erst einmal etwas Warmes in den Bauch zu bekommen.
Es war mild für Februar. Letzte Schneereste tauten von den Traufen der Überdachung, Meisen zirpten fröhlich, die Bewölkung lockerte immer mehr auf und zeigte einen luftig leichten blauen Frühlingshimmel. Nele horchte in sich hinein und fand, dass es ihr eigentlich gut ging. Sehr gut sogar, wenn man bedachte, dass sie eben eine fest verplante Zukunft vergeigt hatte. Sie fühlte sich erleichtert und irgendwie frei. Sie atmete tief ein.
Sie hatte das Gefühl, als wäre das alles gar nicht wahr. Es kam ihr während der Zugfahrt vor wie ein Traum, ein Traum, aus dem sie nicht erwachen wollte, und doch wusste sie, dass es Realität war und sie vielleicht den größten Fehler ihres Lebens gemacht hatte.
Sie fürchtete, wenn sie zuhause in Regensburg ankam, würde der große Katzenjammer über sie herein brechen und sie sich gleich ans Telefon hängen, um Florian voll bitterer Reue um Rückgängigmachung anzuflehen. Man sollte einen Reset-Knopf haben, dachte sie, als sie den Regensburger Bahnhof verließ und nach der richtigen Buslinie suchte. Wie beim Computer: einfach draufdrücken und alles rückgängig machen. Das System zurücksetzen bis zu dem Zeitpunkt, da man noch alle Tassen im Schrank hatte.
Als sie zuhause die Wohnungstür aufschloss und ihr der vertraute Geruch nach Teppichboden und Küche entgegen kam, seufzte sie erleichtert.
Sie war zuhause!
Hier konnte sie sich erst einmal in Ruhe vergraben und über alles nachdenken. Doch wie sie den Schlüssel ans Brett hängte, ihre drückenden Pumps abstreifte und sich im Schlafzimmer etwas Bequemes anzog, merkte sie: Es fühlte sich immer noch wie ein Traum an. Wie ein luftiger, leichter, aber durchaus realer Traum. Obwohl sie allen Grund hätte, niedergeschlagen zu sein, wurde sie je länger je mehr zuversichtlich, dass ihr Nein keine Katastrophe bedeutete, mit der sie sich das Glück bis an ihr Lebensende verbaut hatte. Sie pfiff, während sie eine ausgebeulte Jogginghose, den Schlabberpulli aus dem Yoga-Kurs und dicke Wollsocken anzog, tänzelte zwischen Bett und Schrank, hängte das Kostüm wieder auf seinen Bügel, und dann blieb sie vor dem Spiegel an der Innenseite der Schranktür stehen und sagte zu der jungen aufgeweckten Frau, die eben ihr Leben so mir nichts dir nichts aus den Angeln gehoben hatte: » Gratuliere! Das hast du gut gemacht! «
Sie streckte ihrem Spiegelzwilling die Hand entgegen. Das Smartphone hatte sie längst ausgeschaltet, und sie wollte auch nicht wissen, wer in Abwesenheit angerufen hatte.
In der Nacht schlief Nele schlecht. Sie wachte öfter auf, träumte wild und lag einmal wach, machte die Nachttischlampe an und lag da, ohne einen vernünftigen Gedanken fassen zu können.
Am Morgen fühlte sie sich wie gerädert. Sie schlurfte in Pyjama und Birkenstocks in die Küche, backte zwei Croissants im Ofen auf und ließ sich von der Espressomaschine einen Latte machen. Sie setzte sich an den Stubentisch und vertilgte die Hörnchen mit Butter und Heidelbeermarmelade, die sie am liebsten mochte. Sie checkte ihr Smartphone, um festzustellen, dass vier Anrufe eingegangen waren. Ihre Mutter hatte gestern angerufen und besorgt eine Nachricht darauf gesprochen. Sie wisse nun gar nicht, wo Nele stecke, und sie solle sich doch bitte melden. Heidi hatte auch angerufen und die Nachricht hinterlassen, dass sie morgen, also heute, vorbei kommen werde, um zu schauen, ob sie zuhause sei. Und Florian hatte angerufen, gestern und heute Morgen, aber nichts hinterlassen.
Seufzend rief sie ihre Mutter zurück und hielt das Gespräch kurz. Sie erzählte, wie sie nach Hause gekommen war, dass es ihr gut ging und dass sie nicht sagen konnte, wie es nun weitergehen sollte. Sie müsste, sagte sie, erst in Ruhe über alles nachdenken. Nein, mit Florian hatte sie noch nicht gesprochen.
Dann schickte sie Heidi eine SMS, dass sie gegen Mittag willkommen sei und sie dringend jemand zum Reden brauche. Und dann dachte sie über Florian nach.
Sie konnte sich vorstellen, wie er sich jetzt fühlte. Er war ein sehr duldsamer, ruhiger Mensch, knapp an einem ausgewachsenen Phlegma vorbei. Seine Arbeit als Geologe beim Landesdenkmalamt brachte auch nicht gerade Nervenkitzel mit sich, und wenn bisher in ihrer Beziehung irgendwas geschehen war, hatte er stets ruhig und umsichtig reagiert. Aber so etwas wie auf dem Standesamt hatte sie ihm auch noch nie zugemutet.
Leider war Florian ziemlich nachtragend. Er zeigte nicht viel Emotion, fraß die Dinge aber in sich hinein und schlüpfte gern in die Opferrolle. Dann war er für ziemlich lange Zeit gekränkt und erwartete von den Anderen, dass sie auf ihn zukamen und um Wiedergutmachung bemüht waren. Er hatte zweimal angerufen und sie nicht erreicht. Er erwartete eine Erklärung. Aber er würde ihr nicht hinterher laufen, das wusste Nele.
Sie räumte den Frühstücksteller und das Kaffeeglas weg, machte sich eine Kanne Wellnesstee und legte die DVD mit ihrer Lieblingsserie in den Player. Eine australische Serie, die von fünf Frauen auf einer australischen Ranch handelte. Sie wickelte sich in eine Decke, trank den heißen Tee und konnte, weil sie die Folgen beinahe auswendig kannte, ihren Gedanken freien Lauf lassen. Sie dachte über Florian nach und ihre Beziehung, die nun schon sechs Jahre dauerte.
Sie hatten sich in Regensburg kennen gelernt, als Nele noch Grafikdesign studiert hatte. Sie pendelten zwischen den Studentenwohnheimen hin und her, und als Florian mit seinem Studium fertig war, planten sie, gemeinsam nach Schwaben zu ziehen in Florians Heimat, sobald er dort eine Stelle gefunden hatte. Das zog sich aber hin, und erst nach drei Jahren fand Florian die Stelle beim Landesdenkmalamt in Tübingen. Anfangs pendelte er zwischen Regensburg und Tübingen und suchte für sich und Nele eine gemeinsame Wohnung. Nele hatte sich nach dem Abschluss ihres Studiums beruflich neu orientiert und eine Agentur für Webdesign gegründet. Es lief ganz gut, sie bekam Aufträge von der Uni, aber da sie die Einbindung vor Ort brauchte, war’s erstmal nichts mit dem Umzug. Zwei Jahre führten sie nun schon eine Fernbeziehung und waren beide unzufrieden. Dann fand Florian, dass es genug war, und wollte Nägel mit Köpfen machen. Er machte ihr einen Antrag und legte ihr seine Pläne offen, und irgendwie überzeugte er Nele, ihre Verbindungen abzubrechen und woanders neu anzufangen. Die Aufträge der Uni brauchte sie nun nicht mehr.
Sie hatten damals viele Gespräche geführt, und Florian gab preis, dass er eine ganz klare Vorstellung von seinem Leben hatte: heiraten, zusammenziehen, das erste Kind, ein Haus bauen, Alterssitz in seiner schwäbischen Heimat. Nur dass sie ihre Ein-Mann-Firma in Webdesign Brenner umtaufen sollte, dagegen wehrte sie sich entschieden. Ja, sie hatten gemeinsam über diese Pläne gesprochen, und Nele war damit einverstanden gewesen. Aber wie sie da so saß mit ihrem Wellnesstee und den Töchtern des alten McLeod zuschaute, die einen Rinderpansen anstachen, wurde Nele klar, dass das Nein auf dem Standesamt nicht so plötzlich und spontan gekommen war, wie es sich anfühlte. Dieses eine Wörtchen hatte einen langen Vorlauf.
Was sollte sie nun machen in Bezug auf Florian und die Beziehung? Sie mochte Florian, und sie war gern mit ihm zusammen. Aber reichte das für ein ganzes Leben? Liebte sie ihn wirklich? Nele war keine Frau, die mal zur Probe heiratete und sich wieder scheiden ließ, wenn es nicht das Richtige war. Wenn sie heiratete, dann den Mann fürs Leben. Wie war es denn bei Florian? Liebte er sie wirklich, oder war sie nur die Erfüllung seiner Lebenspläne? All diese Fragen hätte sie sich – und hätten sie beide sich – vorher stellen müssen. Aber irgendwie schien alles immer ganz klar zu sein. Kein Grund, tiefer zu bohren. So war es eben: Man lernte sich kennen, mochte sich, schlief miteinander, zog zusammen, heiratete undsoweiter undsoweiter. Im Grunde, begriff Nele, hatte Florian sie mit seiner Zielstrebigkeit überfahren.
Was war jetzt zu tun? Die Beziehung weiterführen wie bisher? Als wäre nichts gewesen? Dazu war Florian zu stur und vermutlich auch zu gekränkt. Er wollte wissen, woran er nun war. Verständlich. Aber sie konnte es ihm beim besten Willen nicht sagen. Sie wusste selbst nicht, was sie jetzt wollte. Sie wusste nur eines: dass sie auf die einfache Frage der Standesbeamtin ehrlich geantwortet hatte.
Die Haustürklingel riss Nele aus dem Schlaf. Sie war offensichtlich auf dem Sofa eingeschlafen. Das war der unruhigen Nacht geschuldet. Dann fiel ihr ein, dass das an der Tür Heidi sein musste, und sie betätigte den Türöffner für unten.
»Schön, dass ich dich antreffe!«, rief Heidi durchs Treppenhaus. »Dann bin ich nicht umsonst gekommen.«
Sie kam die Treppe herauf gesprungen, atmete schwer, hatte rote Backen und umarmte Nele erst einmal.
»Komm her, mein Schatz! Lass dich drücken!«
Nele ließ sie herein. Heidi zog ihren Dufflecoat aus, hängte ihn samt Schal und Mütze an die Garderobe, denn Heidi fror schnell, und ließ Nele dann ins Wohnzimmer voraus gehen. Heidi rieb sich die Hände. Sie sah die Decke, das Teeglas und den blinkenden DVD-Spieler und meinte:
»Aha, du hast’s dir gemütlich gemacht. Sehr gute Idee.« Dann drehte sie sich zu Nele um, die die Wohnzimmertür schloss. Nele gähnte.
»Hast du geschlafen? Um diese Zeit?«
»Ich hatte heut eine schlechte Nacht«, brummelte Nele und ließ sich aufs Sofa fallen.
Heidi nahm neben ihr Platz und musterte sie.
»Kann ich mir vorstellen«, sagte sie. »Würde mir sicher auch so gehen, wenn ich gerade meinen Künftigen auf dem Standesamt abserviert hätte!«
»Du hast wie immer eine charmante Art, die Dinge auf den Punkt zu bringen.«
»Wo bist du denn gestern abgeblieben? Du warst wie vom Erdboden verschluckt. Keiner wusste, wo du warst.«
»Ich bin mit dem Zug heim gefahren. Ich konnte nicht bei meinen Eltern im Auto sitzen und mir stundenlang Vorträge anhören, was man als Mädchen macht und was nicht.«
»Klar. Aber du hättest auch mit mir fahren können.«
»Tschuldige, hab ich völlig vergessen! Aber, ich glaube, es war besser so. Ich wollte allein sein.«
Heidi lächelte und strich ihr über die Wange. Nele sah so traurig aus, als sie das sagte.
»Aber jetzt erzähl doch mal: Was war denn los, da gestern auf dem Standesamt in diesem schwäbischen Kaff?«
»Langsam, Heidi! Ich bin noch nicht ganz wach. Möchtest du einen Tee oder sonstwas zu trinken?«
»Du hast recht. Kannst du für mich diesen tollen Rooibos vom letzten Mal machen? Mit Honig zum Süßen?«
»Kommt sofort!«, sagte Nele und verschwand in der Küche.
Nele konzentrierte sich aufs Teemachen und kam kurz darauf mit einem Tablett, einer Keramikkanne, zwei Bechern und dem Honigglas zurück. Sie stellte alles auf den Tisch, teilte die Becher aus und schenkte ein.
Es plätscherte leise. Heidi roch daran und machte: »Hmmmm!« Sie drehte ihren Löffel im Honigglas, steckte ihn in den Tee und rührte um. Dann nahm sie einen Schluck. Nele war der Tee noch zu heiß, sie pustete.
»Hier«, sagte Heidi, mit einer Hand den Becher haltend, mit der anderen in ihre Tasche greifend, »ich hab dir was mitgebracht.«
Und sie holte eine Schachtel mit Kleenextüchern heraus und stellte sie auf den Tisch. Nele lachte. Sie verstand die Anspielung. Sie wusste, dass sie Heidi alles sagen konnte.
»Das wird’s nicht brauchen«, meinte sie. »Es ist eigentlich ganz einfach.«
Und während Heidi ihren Tee schlürfte und aufmerksam zuhörte, erzählte ihr Nele von ihrer neuen Erkenntnis, von den letzten Monaten, in denen Florian ihr seine Pläne unterbreitet hatte, und von ihrer Gleichmütigkeit, mit der sie alles hingenommen hatte. Aber etwas in ihr schien sich doch gewehrt zu haben, stellte sich dem Lauf der Dinge in den Weg und führte schließlich zu dem plötzlichen Nein auf dem Standesamt.
»Als mich die Standesbeamtin so direkt fragte und mir auch noch in die Augen blickte, begriff ich zum ersten Mal den Sinn von dem, was ich da tat. Da wurde mir schlagartig klar, dass ich Florian nicht heiraten konnte. Nicht so. Nicht jetzt. Dass das alles viel zu schnell ging. Ich habe einfach ehrlich geantwortet, ohne mir zu überlegen, was das für Folgen haben könnte.«
Heidi nickte und nippte an ihrem Tee. Sie sagte nichts, und Nele erzählte weiter. Von sich und Florian, von ihrer Beziehung, von ihrer Liebe zu ihm oder eben der Frage, ob sie ihn wirklich liebte. Heidi hatte Florian schon kennen gelernt, einige Male hatten sie sich zu dritt getroffen, und sie wusste für sich, was sie von Florian zu halten hatte.
»Weißt du, ich habe das Gefühl, dass er nur eine Erfüllung für seine Pläne braucht. Ich bin ein Platzhalter, weiter nichts. Ich weiß nicht, ob er wirklich mich liebt oder nur die Frau für seine Biografie.«
»Also«, begann Heidi, »soweit ich das beurteilen kann, liebt er dich wirklich. Er meint es ernst. Vermutlich sind die Pläne, die er da schmiedet, seine Art, dir seine Gefühle zu zeigen.«
»Meinst du?« Nele war überrascht.
»Na ja, er ist halt der Typ Mann, der alles festmachen und kontrollieren muss. Ich bin sicher, er meint es nicht böse. Er scheint nur keine Ahnung zu haben, wie das Ganze auf dich wirkt.«
»Aber das wusste ich ja selbst nicht!«, rief Nele. »Er hat mich ja immer gefragt, ob das für mich in Ordnung geht, und ich habe, was weiß ich warum, immer brav genickt! Herrgott, was für eine Lethargie hatte mich da bloß befallen?«
»Hast du inzwischen mit ihm geredet?«, fragte Heidi.
Nele druckste herum.
»Aha, noch nicht«, meinte Heidi. »Ich denke, dann wird es höchste Zeit. Sag ihm all das, was du mir gesagt hast. Er wird es sicher verstehen.«
»Und dann?«, rief Nele verzweifelt. »Was soll ich ihm dann sagen? Er will mich heiraten, und er wird die Beziehung nicht einfach so weiterlaufen lassen wie bisher!«
»Meinst du?«, fragte Heidi zweifelnd. »Vielleicht sieht er ein, dass es so nicht geht, und ihr überdenkt die ganze Beziehung neu.«
Nele umfasste den Teebecher mit beiden Händen, wie um sich daran festzuhalten. Über den Becherrand hinweg sagte sie düster:
»Träum weiter! Ich kenne ihn. Er hat sich das mit Heirat, Haus und Kind in den Kopf gesetzt. Darauf hat er Jahre gewartet. Er wird kein Verständnis für mein Zögern haben.«
Eine Zeitlang war es still zwischen den beiden. Heidi dachte nach und leerte ihren Becher Schluck für Schluck, Nele vergrub ihre Füße unter der Decke und starrte wortlos auf die Teekanne. Auf einmal wurde ihr wieder alles zu viel. Wie auf dem Standesamt. Sie wollte nur noch weg von all dem, sich irgendwo verkriechen, wo sie keiner fand. Ihre Augen wurden nass, als sie keinen Ausweg sah.
»Jetzt brauch ich die verdammten Dinger doch«, brummelte sie und zog ein Kleenex aus der Schachtel.
»Schatz, ich bin sicher, er lässt mit sich reden«, tröstete Heidi. »Du musst es nur einmal versuchen. Wenn nicht, dann ... «
»Was dann?«
»Dann kannst du dich immer noch von ihm trennen.«
»Weißt du«, schniefte Nele, »wenn ich mich jetzt nicht bei ihm melde, dann läuft er mir nicht hinterher. Das weiß ich. Dann ist er so gekränkt, dass er gar nichts mehr tut. Dann werde ich ihn verlieren. Und weißt du, was? Am liebsten würde ich genau das tun. Nicht mit ihm sprechen. Allerhöchstens könnte ich ihm sagen, dass ich nicht weiß, wie es nun weitergeht.«
»Was könnte dir denn helfen heraus zu finden, wie es weitergehen soll? Was könntest du tun?«
Nele schnäuzte sich und zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Was gibt es denn für Möglichkeiten?«
»Du könntest eine Weile ins Kloster gehen. Du könntest dir einen neuen Lover nehmen. Du könntest nach Kanada und dir ein Blockhaus bauen ... «
Heidi grinste, und Nele musste kichern.
»Du könntest auch eine Geschlechtsumwandlung machen lassen, dann hast du’s mit den Männern hinter dir.«
»Das ist nicht witzig«, protestierte Nele und musste doch lachen.
»Nein, aber im Ernst«, sagte Heidi und nahm Neles Hand. »Du könntest dir eine Auszeit nehmen. Du könntest einen Tapetenwechsel vertragen. Einmal weg von allem hier.«
»Wie: weg?«
»Na, für ein paar Monate. Oder für ein Jahr. Ein anderes Leben. Etwas Neues, das dich auf andere Gedanken bringt. Glaub mir, es wirkt Wunder, wenn man das eigene Leben einmal mit etwas mehr Abstand betrachtet.«
Nele überlegte. War das nicht das, was sie sich im Stillen seit Wochen wünschte? Waren da nicht diese Frühlingsgefühle, wie Heidi Neles Anfälle von Sehnsucht und Fernweh genannt hatte? Hatte sie nicht Lust auf Abenteuer und Freiheit, nachdem ihr Leben in den letzten Jahren so vorhersagbar verlaufen war?
»Du meinst ... hier wegziehen?«
»Wenn es nötig ist, auch das«, meinte Heidi und tätschelte Neles Hand. »Auch wenn ich mir gerade die einzige Freude in meinem trostlosen Dasein nehme und eine unersetzliche Freundin verlieren werde. Schnüff«, machte sie.
»Ach du!«, sagte Nele, beugte sich vor und umarmte Heidi. »Du bist doch auch der Sonnenschein in meinem Leben. Ich würde dich sehr vermissen.«
»Na ja, wir können ja simsen und skypen. Du bist ja nicht aus der Welt.«
»Wo?«
»Auf deiner Insel«, sagte Heidi.
»Welche Insel?«
»Irgendeine. Da, wo du weit genug weg bist von dem Ganzen hier. Oder willst du dich in einem bayrischen Bergdorf verschanzen?«
Sie lachten beide.
»Denk drüber nach«, riet Heidi. »Und wenn du Klarheit hast, gib Florian Bescheid. Stell ihn vor vollendete Tatsachen. Du wirst ein Jahr weg sein, unerreichbar für ihn, und danach wirst du ihm sagen, wie es für dich weitergehen kann. Oder eben nicht.«
Nele atmete tief durch. Ihr Becher war leer. Sie schenkte sich nach und sah Heidi aus den Augenwinkeln an. Das war vielleicht eine Freundin! Brachte die Dinge wirklich auf den Punkt.
Aber Nele sah nun klarer. Sie erkannte, dass sie erst einmal heraus finden musste, was sie wollte, mit Florian und überhaupt im Leben, bevor sie mit ihm über ihre Zukunft sprechen konnte. Sie beschloss, ihm eine SMS zu schicken, eine kurze, und ihm ihren Entschluss, eine Auszeit zu nehmen, mitzuteilen. Sie wusste, dass das eigentlich ziemlich fies von ihr war, und sie im Gegenzug würde im Viereck springen, wenn Florian so etwas mit ihr veranstalten würde. Sie würde nach Tübingen fahren und ihm die Bude einrennen, bis er mit ihr sprechen würde. Aber sie wusste eben, dass er anders war. Mit ihm konnte sie es machen, und sie hatte ein schlechtes Gewissen dabei. Aber, wie lautete der Spruch nochmal? Du kannst nicht deinen Arsch retten und gleichzeitig dein Gesicht wahren. Ohne andere zu enttäuschen ging es manchmal nicht ab.
Sie saßen noch eine Weile und machten die Kanne leer, knabberten aus einer Blechdose Pfefferkuchen, die von Weihnachten übrig geblieben waren. Heidi hatte gerade wieder die Nase voll von den Männern. Sie war notorischer Single, und ihr Job als Physiotherapeutin machte es nicht besser. Allerdings hatte sie auch schon einige Beziehungen hinter sich und schmerzhafte Erfahrungen gesammelt. Nele vergaß ihren Kummer eine Zeitlang, genoss den Nachmittag mit ihrer Freundin, und als sie sich verabschiedeten, war Nele glücklich und dankbar, dass sie Heidi hatte.
Als sie zurück ins Wohnzimmer kam, war es kühl geworden. Draußen regnete es. Sie machte den Deckenfluter an, drehte die Heizung auf und kuschelte sich wieder unter die Decke. Ihr Blick fiel auf die Schachtel Kleenex, die auf dem Tisch stand. Sie musste lachen. Ja, mit Heidi konnte sie über alles reden.
Einige Tage vergingen. Nele hatte sich wieder an die Arbeit gemacht. Sie hatte von einem Weingut im Saarland den Auftrag für eine Internetpräsenz bekommen, daran bastelte sie schon seit zwei Wochen. Sie hatten einen Stick per Post geschickt, auf dem alle Texte und Preislisten und Fotos gespeichert waren. Die Bilder waren meist viel zu groß, Nele musste sie herunter rechnen auf eine niedrigere Auflösung. Den Grundentwurf und das Design hatte sie schnell gemacht, sie fand es gelungen. Es wirkte edel und kultiviert, aber auch zuverlässig und bodenständig. Das Weingut produzierte keine Premiumqualität, hatte als Kundenkreis aber durchaus Kenner und Gourmets. Sie bearbeitete die Bilder mit dem Profiprogramm, das sie installiert hatte, setzte Weichzeichner ein und Überblendungen, aber dezent und geschmackvoll, und war jetzt bei dem Nachspann wie Impressum, Wegbeschreibung, Kontaktadresse undsoweiter. Vielleicht würde der Kunde, wenn er zufrieden war, den Auftrag erweitern und sie bitten, zusätzlich einen Online-Shop einzurichten.
Wenn Nele an ihrem Laptop saß, vergaß sie alles um sich herum. Sie machte ein kleines Ritual daraus: Sie kochte sich einen Wildkirsch-Grüntee, eine Kanne, die sie neben dem Schreibtisch auf einem Abstelltischchen stehen hatte, legte sich eine Anzahl Lollis bereit – Bio-Lollis ohne Zucker - , knisterte den ersten Lolli aus dem Papier, steckte ihn sich in die linke Backentasche, nahm einen Schluck Tee, rieb sich die Hände und fing an. Ab und zu machte sie neuen Tee und zählte die Lollis. Für eine Arbeitssitzung veranschlagte sie vier bis sechs Lollis, danach machte sie Schluss. Sie arbeitete stundenlang, machte sich zwischendurch ein Knäckebrot mit Frischkäse und Schnittlauch, und wenn es Abend war und sie die Lichter im Zimmer anschalten musste, war auch der letzte Lolli gelutscht.
Sie rief ihre Mutter an, nur um sich einmal zu melden. Sie sagte, dass es ihr gut gehe, dass sie nicht wisse, wie es nun mit Florian weitergehe, und bevor ihre Mutter mit Vorwürfen und Einwänden kommen konnte, sagte sie:
»Mama, ich will darüber nicht reden! Ich werde mir eine Auszeit nehmen und von hier weggehen. Mal abschalten, verstehst du? Ich muss mir darüber klar werden, was ich will.«
»Ja, aber um Himmels Willen, Kind – wo willst du denn hin?«
»Das weiß ich noch nicht. Und wenn ich’s weiß, werde ich es euch nicht mitteilen. Ich will ganz allein sein. Ich brauche Zeit zum Nachdenken. Ich werde euch Mails schreiben, damit ihr wisst, dass es mir gutgeht.«
»Und deine Wohnung? Was ist damit?«
»Die werde ich an eine Studentin untervermieten, die hier ein Auslandssemester macht. Ich habe schon ein paar Kontakte. Da findet sich sicher jemand.«
Ihre Mutter war plötzlich still. So hatte ihre Tochter noch nie mit ihr geredet. Sie begriff, dass es Nele ernst war. Sie machte sich Sorgen, befürchtete eine Lebenskrise und hatte vielleicht Angst, dass ihre einzige verbliebene Tochter zu einem Guru nach Indien zog, wie Neles Schwester Kati seinerzeit, oder nach Globetrottermanier auf Weltreise ging.
Nele beendete das Gespräch rasch, ließ noch Grüße an den Vater ausrichten, der sich aus allem heraus hielt, und war froh, dass sie das erledigt hatte.
Florian meldete sich lange nicht, dann erreichte sie eine Kurznachricht auf dem Smartphone. Wir müssen reden!, stand da nur. Mit Ausrufezeichen.
Sie schrieb zurück: Kann nicht mit dir reden. Melde mich, sobald ich weiß, wie’s weitergeht. Sie hoffte, dass ihn das ein wenig hinhalten würde.
Sie verbrachte die Tage geruhsam, besuchte einmal Heidi und ging mit ihr einen Kaffee trinken. Nele machte viele Spaziergänge, durch die verregnete Altstadt an die Donau, der Fluss war immer noch trübgelb und geschwollen vom Regen. Sie war oft allein, aber nicht einsam. Sie hatte das Gefühl, dass jemand auf sie aufpasste. Da war jemand, der sie begleitete bei jedem Schritt und den Weg kannte, der vor ihr lag. Sie arbeitete viel, schaute an den Abenden fern, genoss es, wenn es draußen dämmerte und im Blau die Fenster in den Nachbarhäusern leuchteten. Oft saß sie bei Heidi, sie tranken Tee oder machten sich ein schickes Abendessen oder schauten gemeinsam fern, alle Schnulzen, die Heidi zusammenbringen konnte, und die Kleenextücher wurden manchmal gebraucht, als beiden Frauen bewusst wurde, dass sie sich so schnell nicht wiedersehen würden.
»Komm doch mit«, jammerte Nele. »Wir machen eine Frauen-WG auf, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat!«
»Ach, mein Schatz! Sofort würde ich mitkommen. Wenn du mir einen Job und eine Wohnung hättest. Du weißt ja noch nicht einmal, wo’s hingeht.«
Dann schlug das Wetter um, es kam Föhn über die Alpen bis ins Vorland, der Himmel strahlte in herrlichem Blau, die Föhnwolken prangten weiß darin, der warme Wind pustete ihr Gehirn durch, und ihr Herz machte einen Sprung. Da waren sie wieder, die Frühlingsgefühle! Sie spürte Mut in sich und Tatendrang. Sie hatte Lust auf Abenteuer. Sie wollte bald aufbrechen.
Oft dachte sie darüber nach, wohin sie fahren sollte. Wo sollte sie ihre Auszeit verbringen? Sollte sie sich an einem Ort einrichten für die kommenden Monate, oder sollte sie in der Gegend herum fahren, jede Woche woanders?
Wo hatte sie schon immer hin gewollt? Karibik? Südsee? Amerika? Es sollte ja kein Urlaub werden. Sie müsste nebenher ihre Arbeit tun, das war klar. Und sie wollte neue Leute kennen lernen. Und sie wollte ausreichend zur Ruhe kommen, um nachdenken zu können.
Was hatte Heidi da von einer Insel gefaselt? Auf einer Insel, dachte Nele, kann man sich sicher gut zurückziehen. Begrenzter Lebensraum, ein Städtchen, zweimal in der Woche das Frachtschiff vom Festland. Strandspaziergänge, das Meer – das stellte sie sich schön vor. Ja, eine Insel, warum nicht?
An einem Abend stand sie am Fenster, einen Becher Tee in der Hand, hatte gerade zu Abend gegessen und schaute hinaus auf die Nachbarhäuser und die Dächer der Altstadt. Da kam ihr plötzlich eine Erinnerung, eine Erinnerung aus ihrer Kindheit.