Sommer auf Helgoland. Nele genießt ihn mit ihrer Freundin Frauke und deren Mann Morten, dem Kreuzfahrtkapitän. Angekommen in ihrem neuen Leben, hat sie Abstand zu der Vergangenheit und ihrem Ex-Verlobten gewonnen.
Doch bald stellen sich neue Fragen: Sie und Maik kommen sich immer näher, aber ist sie bereit für eine neue Beziehung? Wer ist der geheimnisvolle NN, der am Weststrand sein Kunstwerk hinterließ? Und was will Nele eigentlich in ihrem Leben?
Da steht eine Tages unvermutet eine bekannte Gestalt vor ihr, und ein lang vergessenes Familiengeheimnis wird gelüftet, das ihr Leben verändern wird.
Rainer Gross, Jahrgang 1962, geboren in Reutlingen, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Heute lebt er mit seiner Frau als freier Schriftsteller wieder in seiner Heimatstadt.
Bisher u.a. erschienen: Grafeneck (2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (2008); Kettenacker (2011); Kelterblut (2012); Die Welt meiner Schwestern (2014); Yûomo (2014); Haus der Stille (2014); Schrödingers Kätzchen (2015); Haut (2015); My sweet Lord (2016); Die sechzigste Ansicht des Berges Fuji (2017); In der fernen Stadt (2017); Räucherstäbchenjahre (2018); Der Teehändler (2019); Lebkuchenstadt (2020); Ein Nachmittag am Bondi Beach (2020); Flieg zum Regenbogen (2020); Frühling auf Helgoland (2020).
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im
Internet über www.dnb.de abrufbar.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm
oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages
und des Autors reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer
Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
© 2020 Rainer Gross
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
Umschlagfoto: © depositphotos.com/ccaetano
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9783752681345
Der Sommer war nach Helgoland gekommen. Mit Schauerwetter, einem Haufen Cumuluswolken und Temperaturen bis fünfundzwanzig Grad. Nachts hatte es kaum weniger, und Nele bekam zu spüren, was es hieß, auf einer Sommerinsel mitten im Meer zu wohnen.
Sie wollte ihren Vorsatz wahr machen und ging so oft wie möglich ans Meer. Sie spazierte am Nordstrand entlang, setzte sich in den warmen Sand und schaute den Wellen zu. Mit Frauke und Morten fuhr sie auf die Düne und verbrachte einen sorglosen Nachmittag am Südstrand, beobachtete die Robben und erinnerte sich wieder an den kleinen Heuler, den sie vor den Jugendlichen gerettet hatte und weswegen sie in der Inselzeitung gelandet war – der Grund, weshalb Florian sie ausfindig gemacht hatte und hierher gekommen war, zu einer Aussprache.
Nun war sie froh, dass es so gekommen war. Sie hatte sich von einer Altlast befreit. Manchmal dachte sie an ihn, wie er das wohl weggesteckt hatte, aber sie kannte ihn ja. Er würde das Opfer spielen und sich in seinem Selbstmitleid suhlen. Es war vorbei.
Manchmal noch ging sie bei regnerischem Wetter am Weststrand spazieren und schaute sich die Installation an, die Maik ihr gezeigt hatte. Irgendwie ließ sie das Objekt, oder der Ort, nicht los. Wer wohl dieser oder diese NN war? Und weshalb hatte er oder sie diese Installation an diesen einsamen Strand gebaut?
Das Meer um die Düne war noch kalt, erwärmte sich aber von Tag zu Tag. Sie schwamm oft, wich den Quallen aus, stemmte sich gegen die Brandung und ließ sich das Wasser über den Kopf schäumen. Danach lag sie im Sand, mit geschlossenen Augen, und dachte nichts. Wenn Frauke und Morten dabei waren, gingen sie hinterher im Dünenrestaurant essen. Nele fühlte sich mittlerweile wohl mit den beiden. Sie freute sich für Frauke, wenn sie sah, wie glücklich sie mit ihrem Morten war, wie sehr sie seine Anwesenheit genoss. Und Morten hatte Nele ins Herz geschlossen. Er behandelte sie gar nicht machohaft, sondern war respektvoll und ehrlich. Er schien sich tatsächlich schneller an das Zuhausesein gewöhnt zu haben als sonst.
»Das macht deine Anwesenheit«, meinte Frauke zu ihr.
»Meine?«
»Ja. Ich merke, wie er dich schätzen gelernt hat und wie er immer mehr erkennt, dass du mir als Freundin sehr wichtig bist. Und das entspannt ihn total. Er muss dir gegenüber keine Rolle spielen. Du nimmst ihn an, wie er ist. Er hat seine Kapitänsallüren schneller abgelegt als noch letztes Jahr.«
»Na, umso besser«, sagte Nele.
Nele sah voller Aufregung dem zwölften Juni entgegen, wenn Heidi käme, um ihr Vorstellungsgespräch bei der Klinik zu absolvieren. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass sie Heidi nehmen würden, und dann würde sie auf die Insel ziehen, und sie wären wieder vereint. Heidi war noch die Einzige, die sie mit ihrer alten Heimat verband. Und ihre Eltern.
Sie hatte ihre Mutter nicht noch einmal danach gefragt, weshalb Kati, ihre jüngere Schwester, und Martin, ihr älterer Bruder, das elterliche Heim so Knall auf Fall verlassen und jeden Kontakt abgebrochen hatten. Die Unbekannte auf dem Nürnberger Bahnhof hatte vor drei Monaten von einer Art Familienfluch gesprochen. Und seither dachte Nele hin und wieder darüber nach, ob das stimmen könnte. Vor allem, weil sie selbst nun, wenn auch Jahre verspätet, dasselbe getan hatte.
Ihre Mutter war nun beruhigt, da sie wusste, wo Nele war. Nele hatte ihr aber eingeschärft, dass sie sich nicht einfallen lassen sollten, sie auf Helgoland zu besuchen. Sie wollte nicht, dass sie Einblick in ihr neues Leben bekam. Sie hütete es wie einen kostbaren Schatz.
Sie dachte auch öfter über ihren Vater nach, zu dem sie als Kind ein enges Verhältnis gehabt hatte, dem sie aber mit zunehmendem Alter gleichgültig geworden schien. Auch jetzt hatte er sich kein einziges Mal zu Wort gemeldet, als ihre Mutter ihr mailte. Und sie dachte darüber nach, weshalb Ommo Hüppop, der Leiter der hiesigen Vogelwarte, sie so an ihren Vater erinnerte.
Besagter Ommo füllte seit Kurzem ihre Gedanken, weil er sie noch einmal daran erinnerte, dass der Lummensprung unmittelbar bevor stünde, und fragte, ob sie nicht auf eine Führung mitkommen wolle. Die Lummentage, die das Touristenbüro von Helgoland jedes Jahr ausrief, waren begleitet von allerlei Veranstaltungen und regelmäßigen Führungen zum Lummenfelsen. Sie fanden in der Dämmerung statt, wenn die Küken sprangen, sodass man nur als Übernachtungsgast eine Chance hatte, das Naturschauspiel zu erleben.
Sie fand jetzt nichts so aufregend daran, dass ein paar Küken von einem Felsen ins Wasser sprangen, und verstand auch nicht ganz, warum die Leute so ein Gewese darum machten. Außerdem begriff sie den Sinn nicht, den das Ganze haben sollte. Was die Natur sich manchmal einfallen ließ, war schon kurios!
Aber sie hatte Lust, Ommo wiederzusehen und ihm zuzuhören, wenn er von seinen Vögeln sprach, und so meldete sie sich an einem Abend zu einer Führung an und fand sich um halb neun an der Vogelwarte ein, wo die Führung starten sollte.
Es waren nicht wenige Leute gekommen. Ommo begrüßte jeden von ihnen, auch Nele.
»Schön, dass du gekommen bist«, sagte er und lächelte. »Ich habe mich schon gefragt, was aus der Insulanerin auf Zeit geworden ist.«
»Der geht es prächtig auf der Insel«, antwortete Nele. »Ich glaube, ich habe schon Wurzeln geschlagen.«
»Kann man wohl sagen. Du bist geradezu eine Bekanntheit auf Helgoland. Seit diesem Zeitungsartikel.«
»Du hast ihn auch gelesen?«
»Jeder hat ihn gelesen.«
Gemeinsam ging die Gruppe los, folgte aber nicht dem östlichen Klippenrandweg, sondern ging zurück bis zum Beginn der Kartoffelallee und zweigte dann auf einen Fußpfad ab, der auf den westlichen Klippenrandweg führte.
Die Abendsonne stand schon rot am westlichen Horizont. Nele blickte ihr entgegen und bewunderte das wilde Oberland im Untergangslicht. Eine andächtige Stimmung herrschte, und die Gäste plauderten nicht wie sonst, sondern gingen schweigend oder wechselten nur ein halb geflüstertes Wort.
Der Lummenfelsen war von einer Klippenbucht aus gut einzusehen. Ommo erläuterte, dass er von den Einheimischen – und da gehörte er ja auch dazu – »Scheißfelsen« genannt wird – warum, sehe man ja. Tatsächlich war der Fels übersät von weißen Klecksen und Streifen, die nichts mit dem Sandstein zu tun hatten, sondern von den Exkrementen der Seevögel stammten.
Schon wurden die ersten Nachtgläser gezückt, Fotografen bauten ihre Stative auf, andere traten so nah wie möglich an die niedrige Absperrung und strengten die Augen an.
Der Fels war gut erkennbar, und auch die Schwärme von Vögeln, die ihn umflogen, hoben sich als scharfe Umrisse gegen die rote Sonne ab.
Ommo erläuterte gerade das Phänomen des Lummensprungs. Nele hörte zu. Sie wollte wissen, was sie da zu sehen kriegte, und endlich verstehen, weshalb das so ein Ereignis war.
Sie erfuhr, dass es Lummenkolonien in Mitteleuropa nur auf Helgoland gab. Sonst hatten die Vögel ihr Brutgebiet im Nordatlantik, Nordpazifik und den angrenzenden Eismeeren. Wohlgemerkt Brutgebiete, denn es waren Seevögel, die weit draußen auf dem Meer lebten und nur zum Brüten an Land kamen.
Klingt einsam, dachte Nele. Sie holte ihr Fernglas heraus, das ihr Vater ihr geschenkt hatte, und stellte scharf. Das Glas hatte einen Restlichtaufheller, sodass sie zumindest in der Dämmerung gut sehen konnte. Die Vögel erschienen ihr plump und flogen ungeschickt, keine eleganten Segler wie die Möwen. Deshalb, erklärte Ommo der Gruppe, auch der Name Trottellumme.
Jetzt hatte sie einen Punkt am Felsen ausgemacht und erkannte das Küken, ein pfludriges, hilfloses Wesen, das in einem Spalt des Steines hockte und weder vor noch zurück konnte.
Warum eigentlich musste es springen?
Die Eltern, erläuterte Ommo, sitzen unten im Wasser und locken es mit den ihm vertrauten Rufen. Die Fallhöhe beträgt ganze vierzig Meter.
Nele bekam eine Gänsehaut. Was ging hier vor? Weshalb mussten diese armen Geschöpfe vierzig Meter in die Tiefe springen, zumal sie noch nicht fliegen konnten, und die Eltern verleiteten sie auch noch dazu?
Die Jungen waren jetzt drei Wochen alt. Bisher waren sie von ihren Eltern im hohen Felshorst ernährt worden. Doch jetzt fraßen sie mehr, als die Eltern heran schaffen konnten, und deshalb war die Nestzeit zu Ende. Sie mussten zu den Eltern ins Wasser, um dort weiter versorgt und flügge werden zu können.
Aber warum das Ganze?, fragte sich Nele. Konnten die Vögel nicht einfach niedriger brüten oder gar auf dem Boden, wie andere Seevögel? Sie stellte Ommo die Frage.
Ommo sah im Zwielicht nicht, wer die Frage gestellt hatte, und erklärte ganz wissenschaftlich: »Die Lummen brüten in so großer Höhe, um ihre Jungen vor Fressfeinden zu schützen.«
»Aber es gibt doch auch andere Möglichkeiten, um sich vor Fressfeinden zu schützen. Andere Vögel machen das ja auch. Wieso tun die Lummen das, obwohl sie so schlecht fliegen können?«
»Nä«, sagte Ommo und hatte die Fragerin ausgemacht. Er kam näher und beugte sich zu ihr her: »Das hat die Natur so eingerichtet. Warum der eine Vogel sich so verhält und der andere anders, dafür gibt es keinen zwingenden Grund. Das ist einfach die Vielfalt des Lebens.«
Das hätte Maik auch antworten können, dachte Nele. Die Antwort befriedigte sie nicht. Umso weniger, als sie hörte, dass zwar die Knochen der Küken noch sehr weich waren und ihr Daunenkleid viel von dem Fall abfing, dass es aber doch vorkam, dass die Jungen sich auf dem Felswatt zu Tode stürzten.
Was für ein Unsinn, dachte Nele. Und deswegen pilgern die Leute hierher? Um unschuldige Küken in den Tod stürzen zu sehen? Na, danke schön!
Das Schauspiel war ihr schon verleidet. Sie hörte die merkwürdigen Lockrufe der Elternvögel in der zunehmenden Dämmerung, das Rauschen der Brandung tief unten, der rote Untergangsschein glänzte auf dem Wasser, eine seltsame Stimmung ergriff Nele.
Sie sollte vielleicht ehrfürchtig vor den Wundern der Natur stehen, aber sie fühlte sich plötzlich sehr einsam. Einsam und unverstanden. Alle um sie her hatten nur Augen für die Küken, von denen jetzt eines gesprungen war, und wie in einem Domino-Effekt folgten zahlreiche andere nach.
Sie flogen durch die Meeresdämmerung, zappelnde Schattenrisse sekundenlang unterwegs durch die Luft, und kamen unten an, wo man sie kaum noch sah. Die wenigsten schafften es direkt ins Wasser. Die meisten landeten auf dem Felswatt und rappelten sich nach wenigen Momenten wieder auf.
Das beruhigte Nele aber nicht. Sie fragte sich, wie die Küken sich wohl fühlten. Hinter sich Fels, vor sich den Abgrund, und die Eltern unten lockten und riefen. Ein Kampf gegen die Angst. Sie wussten, sie konnten noch nicht fliegen. Es half alles nichts: Sie mussten springen.
Nele wandte sich ab.
Das hatte sie sich anders vorgestellt. Ein freiwilliges Springen in die Freiheit hatte sie erwartet, und kein Notsturz auf Leben und Tod!
Sie stellte sich abseits und schaute über die Hochfläche des Oberlands.
Auf einmal tauchte Ommo neben ihr auf. Er schien zu ahnen, was in ihr vorging.
»Na, fasziniert dich das Schauspiel nicht, Nele?«
»Faszinieren ist nicht der richtige Ausdruck.«
»Ja, es gibt immer wieder Menschen, die sich das nicht anschauen wollen. Warte mal, ich zeig dir was anderes.«
Und er bat sie, ihr Fernglas an die Augen zu setzen und dahin zu richten, wohin sein Finger zeigte.
Im Bild erschien ein Streifen Wasser, glänzend vor gelbem Licht. Sie schaute direkt in den Sonnenuntergang.
»Dort! Siehst du die stangenförmigen Gebilde mit den Propellern dran?«
Nele sah sie. Es war ein Anblick wie in einem Traum. In einer Sphäre aus purem Licht prangten die Windräder wie ein futuristisches Kunstwerk. Manche standen teilweise hinter dem Horizont und waren niedriger. Ein entrücktes Bild. Ein fernes, unwirkliches Utopia.
»Das ist der Offshore-Windpark Meerwind Süd/Ost. Er ist dreiundzwanzig Kilometer von hier entfernt und besteht aus achtzig Rotoren. Man kann ihn von hier aus sehen.«
Der Anblick war nun etwas, was Nele wirklich faszinierte. Sie konnte sich an dem Anblick nicht sattsehen. Er wirkte wie eine geöffnete Theaterbühne, wie ein Ausblick durch ein Fenster in die Zukunft. Und das Ganze war dreiundzwanzig Kilometer entfernt!
Die Küken sprangen nur noch vereinzelt. Heute waren es nicht so viele gewesen wie an anderen Tagen. Aber Nele hatte es gereicht.
Die Fotografen packten ihre Stative ein, die Ornithologen ihre Nachtgläser, und die Gruppe machte sich auf den Rückweg.
Nele hielt sich zu Ommo und fragte ihn leise: »Gefällt dir sowas?«
»Was heißt gefallen? Es ist faszinierend. Es ist die Natur. So läuft das Leben auf der Erde ab. Ich denke, es ist falsch, menschliche Maßstäbe anzulegen oder Gefühle zu entwickeln.«
»Und du ziehst keinen Rückschluss auf die Menschen und ihr Verhalten?«
»Wie meinst du das?«
Nele spürte plötzlich, dass eine Wut in ihr aufstieg. Sie wusste nicht warum, aber die Wut richtete sich gegen Ommo, gegen alle Vertreter dieser ach so vernünftigen wissenschaftlichen Haltung dem Leben gegenüber, gegen alle, die Menschen und Tiere über einen Kamm scherten.
»Der Unterschied zwischen Zugvögeln und Standvögeln hat dich ja auch zu einer Bemerkung über Menschen bewogen«, sagte sie in fast zynischem Ton. »Wie ist das nun mit dem Lummensprung? Hast du da auch etwas aus der großen Menschenkenntnis zum Besten zu geben?«
»Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte Ommo verwirrt.
»Na, das schreit doch geradezu nach einer tieferen Bedeutung. Das ist doch alles so furchtbar symbolträchtig. Das Leben ist ein Wagnis. Bekämpfe deine Angst! Stürz dich in die Tiefe, und entweder gewinnst du das Leben, oder du gehst zu Grunde! Ein Plädoyer für die Todesverachtung, oder irgendetwas in dieser Richtung. Hast du sowas auf Lager?«
»Ich weiß nicht, was mit dir los ist, Nele«, sagte er väterlich. »Ich glaube, das Ganze hat dich doch mehr mitgenommen, als du dachtest ... «
Aber das, was er sagte, war gerade das Falsche. Dieser distanzierte Vaterton, dieser unausgesprochene Vorwurf, dass sie auf Dinge unangemessen reagierte, dieses Im-Grundeist-alles-in-Ordnung, obwohl gar nichts in Ordnung war und dieses Naturschauspiel einfach nur schrecklich – Nele zischte ein »Lass mich in Ruhe!« und wandte sich ab.
Sie ging allein nach Haus.
Sie machte sich selbst Vorwürfe. Was hast du plötzlich gegen Ommo? Was hast du gegen diese väterliche Weisheit?
Und sie ahnte, dass Ommo für all das nichts konnte. Er erinnerte sie eben sehr an ihren Vater.
Zuhause, als sie den Abend mit Frauke und Morten verbrachte, kriegte sie sich wieder ein. Sie beschloss, sich sobald wie möglich bei Ommo für ihren Ausfall zu entschuldigen.
Mariann hatte einen Änderungsvorschlag für den Onlineshop. Sie wollte einen Menüpunkt »Über uns« einrichten, in dem sie von der Tradition ihrer Teestube – ihr Vater hatte als einer der Ersten nach der Wiederfreigabe einen Laden auf Helgoland eröffnet – , von ihren Geschäftsgrundsätzen und ihrer Motivation erzählen wollte.
Nele war skeptisch und riet zuerst davon ab, allzu persönlich zu werden, mit Foto womöglich. Aber dann dachte sie, dass das dem Shop vielleicht wirklich eine persönliche Note gab, die die Kundenbindung erhöhte.
Lachen musste sie allerdings, als Mariann vorschlug, auch sie, Nele, als Autorin des Shops und der Website vorzustellen. Sie könnten ihren Dank ausdrücken, und für Nele sei es eine gute Werbung, meinte sie.
»Das ist zu viel der Ehre«, sagte Nele. »Normalerweise erscheine ich nur im Impressum, das reicht.«
Aber Mariann und Henry bestanden darauf, und schließlich gab Nele nach. Sie ließ sich die Texte und Fotos per Stick überbringen, fand ein ansehnliches Foto von sich selbst, auf dem sie seriös und dynamisch aussah, und lud das Ganze hoch. Nun konnte sie sich selbst sehen, ihr Foto, ihre Vita und ihren Wohnort Helgoland, wenn sie in der Menüleiste »Über uns« anklickte, und war gerührt über die Dankesworte, die Mariann und Henry gefunden hatten.
Der Shop ließ sich gut an, der Umsatz war bereits gestiegen, und auch das Gästebuch, das sie Mariann empfohlen hatte, bezeugte, dass viele Kunden Helgolandliebhaber waren und schon in Marianns Teestube auf der Insel eingekauft hatten. Ein neuer Markt war erobert. Nun musste der nächste Schritt kommen: dass der Shop auch von potentiellen Helgolandbesuchern entdeckt wurde und sein Alleinstellungsmerkmal – Helgoländer Spezialitäten – sich auswirkte.
Mariann hatte auch über Neles Anregung, Steine und Fossilien als Glücksbringer oder Souvenirs anzubieten, nachgedacht. Sie war auf die Idee gekommen, ob nicht Frauke von ihren Sammelgängen solche Dinge mitbringen könnte. Als Beifang sozusagen. Oder falls sie Feuersteine hatte, die aus irgendwelchen Gründen nicht verwendbar waren. Die Idee mit den Hühnergöttern fand sie gut. Ein Lederband durch das Loch gezogen, und fertig war das Souvenir, das man zudem um den Hals tragen konnte.
Das erinnerte Nele an ihre eigenen Funde, den einen Lochstein und das Meerglas, die auf ihrem Schreibtisch lagen und verstaubten. Sie hatte Lust, diesen Hühnergott um den Hals zu tragen, nicht als Glücksbringer und ohne alle abergläubischen Hintergedanken, sondern einfach, weil er für sie den Leichtmut und die Lebenslust ausdrückte, die sie in den letzten Wochen empfand.
Zudem näherte sich der Zwölfte, und Nele fieberte der Ankunft des Halunder Jets entgegen. Heidi und sie hatten telefoniert und abgemacht, dass Nele sie an der Landungsbrücke abholte. Es blieb Zeit, ihr Neles Wohnung zu zeigen und sie vielleicht Frauke und Morten vorzustellen, um dann noch ein wenig durch das Unterland zu bummeln und die Nervosität vor dem Vorstellungsgespräch zu zerstreuen.
Das letzte Mal war sie an der Landungsbrücke gestanden, um Florian kommen zu sehen. Mit gemischten Gefühlen. Heute freute sie sich nur, als sie die schwarzhaarige Lockengestalt mit der Reisetasche die Gangway herab kommen sah. Sie lief ihr entgegen, gegen den Strom der Passagiere, und sie fielen sich in die Arme.
»Dass ich dich endlich wieder drücken darf!«, rief sie, und Heidi gab ihr einen Kuss auf die Wange.
Gemeinsam trabten sie hinüber zum Fahrstuhl. Das Wetter war herrlich, die Fahnen wehten, Gläser und Fensterscheiben blitzten in der Sonne, die Möwen schwärmten kreischend.
»Das ist wirklich eine herrliche Insel«, meinte Heidi beeindruckt, als sie auf dem Oberland die Kirchstraße entlang gingen und man voraus schon den Leuchtturm und den Sendemast erkennen konnte. »Kein Wunder, dass du bleiben willst!«
Sie hatten sich viel zu erzählen, jetzt, da sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber sahen; Frauke und Morten waren nicht zuhause, so zeigte Nele nur ihre eigene Wohnung.
Heidi fand sie gemütlich und ein richtiges Nest zum Verkriechen.
»Schicke Frisur«, meinte Heidi. »Seit wann hast du die?«
»Schon eine Weile.«
»Ist mir beim Skypen gar nicht aufgefallen.«
Sie setzen sich kurz auf eine Tasse Tee, bevor sie wieder hinunter wollten ins Unterland. Sie unterhielten sich über das Alleinsein und über Männer.
»Fehlt dir nicht das Kuscheln mit Florian?«, fragte Heidi.
»Ach, weißt du, Florian fehlt mir kein bisschen. Aber an manchen Tagen, vor allem, wenn ich meine Periode kriege, da wünsche ich mir schon eine Brust zum Anlehnen. Dass mich jemand in die Arme nimmt. Mit Männern geht es nicht, aber ohne sie auch nicht. In Frauke hatte ich eine Leidensgefährtin, als ihr Mann noch weg war. Aber jetzt hängt sie nur noch an ihm.«
»Och, du Ärmste!«, rief Heidi. »Aber jetzt hast du ja mich!« Und sie umarmte Nele und knuddelte sie, und Nele legte ihren Kopf auf ihre Schulter und schluchzte theatralisch.
»Aber mal im Ernst«, sagte Heidi, »suchst du jemanden hier auf Helgoland? Willst du immer allein bleiben?«
»Das weiß ich nicht, Heidi. Deswegen bin ich ja hier. Ich habe nicht vor, hier eine neue Beziehung einzugehen. Aber wer weiß schon, was passiert?«
»Also, ich habe mich langsam an den Gedanken gewöhnt, Single zu bleiben. Hat auch seine Vorteile. Obwohl ich gerne Kinder hätte. Ich wäre gern Mutter von so zwei süßen Bälgern, die dann groß werden und in der Pubertät zu mir sagen: Ich hasse dich!«
Heidi lachte. »Aber auf dem Männermarkt herrscht gerade totale Baisse. Die Männer taugen alle nichts.«
»Also ich«, sagte Nele im Brustton der Überzeugung, »ich suche die wahre Liebe. Darunter mache ich‘s nicht. Sonst bleib ich lieber solo.«
»Die wahre Liebe«, seufzte Heidi. »Ein großes Wort.«
»Vielleicht so etwas wie Frauke und Morten. Obwohl sie so lange getrennt sind im Jahr, kriegen die beiden es gut auf die Reihe und sind sich treu. Das bewundere ich echt.«
»Ist ihr Mann wirklich acht Monate weg?«
»Acht Monate. Stell dir das mal vor!«
Sie erörterten weiter das Thema Männer und Lebenssinn, unterhielten sich über Inseln und das Ausland, Nele erzählte, dass Frauke und Morten sich auf Madeira kennen gelernt hatten, und Heidi meinte, das wäre eine Insel, auf die sie gern ziehen würde.
»Sieh du erst mal zu, dass du hierher ziehst«, meinte Nele. »Apropos«, sagte sie und schaute auf die Uhr. »Ich fürchte, jetzt haben wir uns verquasselt. Es ist schon halb zwei. Du musst los.«
»Ach du Schreck! Du hast recht.«
Angesichts der Eile ging Nele mit ihr den Invasorenweg ins Mittelland hinab, das war schneller. Als sie den Weg hinunter trabten, erzählte Nele, wie sie da im Lastenroller mit Frauke hinunter geholpert war und in der Klinik genäht wurde und wie ihr dadurch erst die Idee gekommen war, nach Stellenangeboten zu schauen.
Nele betrat mit ihrer Freundin die Klinik und setzte sich in den wasserblauen Flur, um zu warten. Heidi wurde gleich herein gebeten, und Nele zeigte ihr die gedrückten Daumen.
Nele war ganz zuversichtlich. Nicht unbedingt, dass Heidi die Stelle kriegen würde. Aber allgemein, dass sich die Frage, ob Heidi herziehen sollte, beantworten würde.
Jetzt, da sie die Freundin wieder ganz nah hatte, merkte sie erst, wie sehr sie ihr fehlte. Sie war eben doch eine langjährige Vertraute, und so gern sie Frauke und Karen und Mariann und alle anderen hatte: Mit Heidi verband sie doch viel mehr. Auf der anderen Seite war Heidi ein Überbleibsel aus dem alten Leben. Was sie in Regensburg zusammen erlebt hatten, zählte hier nicht. Sie würden die Freundschaft auf eine neue Grundlage stellen müssen, und irgendwie würde Heidi sie immer an Florian und ihr altes Leben erinnern. Vielleicht war es doch keine gute Idee, dass Heidi herkam. Sie konnten ja auch über die Entfernung Freundinnen bleiben und sich gegenseitig besuchen.
Als Heidi aus dem Gesprächsraum kam, machte sie ein bedröppeltes Gesicht.
»O je«, sagte Nele und nahm sie gleich in den Arm, »nicht gut gelaufen, oder?«
»Lass uns rausgehen«, antwortete Heidi nur.
Draußen gingen sie zur Landungsbrücke und irrten ein bisschen verloren zwischen den Touristen herum.
»Willst du erzählen?«
»Klar, warum nicht«, sagte Heidi. »Also. Am Anfang lief es ganz gut. Nur auf meiner fehlenden Klinikerfahrung sind sie ziemlich herum geritten. Da habe ich mich verunsichern lassen. Und dann fragten sie mich, warum gerade Helgoland. Ich dumme Nuss! Ich hätte von Wunsch nach beruflicher Veränderung und so reden sollen. Stattdessen habe ich geantwortet: Aus privaten Gründen.«
»Aber das ist doch eine akzeptierte Antwort.«
»Natürlich. Aber später habe ich mich verquatscht und habe gesagt, dass ich wegen einer guten Freundin herziehe. Ich habe an den Gesichtern gesehen, dass das nicht gut ankam. Wahrscheinlich haben die sich gedacht: Wenn sie wegen ihrer Freundin von Regensburg weggeht, aus was für Gründen wird sie dann aus Helgoland wieder weggehen? Das war absolut ein taktischer Fehler.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Nele. »Jeder hat seine Gründe. Und weshalb nicht eine gute Freundin?«
»Auf jeden Fall habe ich ein schlechtes Gefühl.«
»Wann kriegst du Bescheid?«
»Sie haben mich gefragt, ob ich morgen noch auf Helgoland sei. Sie wollen die Stelle scheint’s so schnell wie möglich besetzen. Die Bewerber, die sie eingeladen haben, kommen heut alle noch dran. Und dann wollen sie mir morgen Bescheid geben.«
»Morgen? Am Samstag?«
»Wenn sie mich nehmen. Ablehnungen werden mit der Post zugestellt.«
»Und wie läuft das dann ab?«
»Sie rufen mich an, und dann komme ich gleich vorbei, um die Verträge zu unterschreiben.«
Nele schürzte die Lippen. »Die haben es wirklich eilig. Das heißt also: Wenn du morgen nichts von ihnen hörst ... «
» ... ist es eine Ablehnung, genau.«
»Na, dann wissen wir ja, worauf wir warten«, meinte Nele betont leichthin. »Und wie geht’s dir? Was würdest du jetzt am liebsten tun?«
»Einen kuscheligen Abend bei dir zuhause verbringen. Ich hab einen Riesenkohldampf. Geht mir immer so: Zuerst krieg ich vor lauter Nervosität keinen Bissen runter, und dann könnte ich reinhauen ohne Ende.«
Nele lachte. »Da lässt sich bestimmt was finden. Weißt du was? Wir kochen uns etwas gemeinsam. Nichts Aufwendiges. Pasta zum Beispiel. Ich glaube, ich habe noch Tomaten und Zucchini.«
»Und hinterher schauen wir uns eine Liebesschnulze auf DVD an, einverstanden?«
»So machen wir’s.«
Nele bot Heidi an, mit ihr im Doppelbett zu schlafen, aber Heidi wollte das Sofa, und dann stritten sie sich eine Weile, wer nun dem Anderen gegenüber zurücktrat, und schließlich bekam Heidi eine Steppdecke und ein Daunenkissen und nächtigte auf dem Sofa.
Der nächste Tag war ein merkwürdiger Tag. Von dem Vorstellungsgespräch redete niemand, aber beide wussten sie, dass sie auf das Telefonklingeln warteten. Heidi nahm ihr Smartphone überallhin mit, um ja nicht den Anruf zu verpassen, der jederzeit kommen konnte.
Nele fuhr mit ihr zur Düne hinüber, sie verbrachten ein paar Sonnenstunden am Südstrand, Heidi sah zum ersten Mal Robben in natura und fand die Heuler, die ziemlich gewachsen waren, unglaublich süß. Sie aßen im Flughafenrestaurant und genossen das Flair eines australischen Outbacknestes, wo die Buschpiloten ein und ausgingen. Auf der Rückfahrt lag der Felsklotz wie ein Stück rotweißer Torte im blauen Meer, und Heidi kam nicht umhin, Nele zu beneiden.
»Na ja«, meinte Nele, »vielleicht klappt’s bei dir ja auch bald. Es muss nur endlich dieses verdammte Smartphone klingeln!«
Einmal klingelte ein Telefon, und Heidi zuckte zusammen, aber es war das Handy eines Fahrgastes neben ihnen.
Sie setzen sich bei Mariann in die Teestube und tranken jeder einen Pott Halunder Mischung.
»Bist du jetzt auf Schwarztee umgestiegen?«, fragte Heidi. Sie schaute immer wieder nervös in ihrer Tasche, ob das Smartphone auch empfangsbereit war.
»Nein. Aber ich habe mich hier an Schwarztee gewöhnt, und diese Mischung schmeckt mir außergewöhnlich gut.«
Heidi blickte auf die Uhr. »Nele, im Ernst: Glaubst du, das wird noch was?«
»Man soll die Hoffnung nie aufgeben. Es ist erst fünf.«
»Aber die beraten sich doch nicht Samstag abends.«
»Vielleicht verzögert sich der Anruf und sie haben schon längst beraten?«
»Ja, das haben sie. Und sie haben mich abgelehnt.«
»So kenne ich dich gar nicht«, meinte Nele und wuschelte ihrer Freundin durch die schwarzen Locken.
»Ich war auch noch nie auf Helgoland.«
Als sie um halb sieben nach Hause gingen, die Große Treppe hinauf stiegen und den Blick über die Häuser genossen, die noch in hellem Licht unter ihnen lagen, schwand die Hoffnung. Die Klinik würde heute nicht mehr anrufen. Sie hatten Heidi nicht genommen.
Etwas gedrückt kamen sie im Haus 777 an. Morten und Frauke waren zurück und brutzelten gerade ein paar Steaks in der Grillpfanne.
»Schön, dass ihr da seid!«, rief Morten aus der Küche. »Für euch reicht’s auch noch. Setzt euch schon mal an den Esstisch, die Steaks sind gleich soweit.«
Morten und Heidi begrüßten sich kurz, dann verfügten sie sich ins Wohnzimmer und halfen Frauke, den Tisch für zwei Personen mehr zu decken. Kräuterbutter stand bereit, eine Stange Baguette und eine große Schüssel bunten Salats. Frauke hatte Cidre gekühlt und Bier für Morten.
»Das ist ja ein schönes Heimkommen«, sagte Heidi wehmütig. »Da werde ich schon wieder ganz neidisch.«
»Hat’s denn geklappt mit dem Vorstellungsgespräch«, fragte Frauke, und Heidi erzählte ihr, wie es gelaufen war.
»Ach, weißt du, es ist eine ziemliche Fluktuation in der Klinik. Wer weiß, wann sie die nächste Stellenausschreibung ins Netz setzen.«
»Wieso denn das? Das spricht aber auch nicht gerade für ein gutes Betriebsklima«, empörte sich Nele.
»Nein, so meine ich das nicht. Es liegt an der Insel. Viele halten die Isolation nicht lange aus und werfen nach den ersten Monaten das Handtuch.«
»Ach so.«
Sie verbrachten den Abend mit Frauke und Morten, die sich einen Film anschauen wollten. Heidi schwächelte nach einer halben Stunde und wollte ins Bett. Sie verabschiedete sich.
»Soll ich mitkommen?«, fragte Nele.
»Wie du möchtest.«
Das war ein klares Zeichen, dass Heidi jetzt nicht allein sein wollte. Sie zogen das Sofa aus, legten sich mit einer leichten Decke nebeneinander, löschten das Licht bis auf eine Kerze, aber das brachte nicht viel, da die Dämmerung bis zehn dauerte.
»Jetzt ist bald Mittsommer«, sagte Nele.
»Mittsommer? Wird das auf Helgoland auch gefeiert?«
»Soweit ich weiß, nicht.«
»Schade, dass ich an deinem Geburtstag nicht da sein kann«, meinte Heidi betrübt. »Keinen Urlaub mehr.«
»Schade.«
»Ehrlich gesagt, Nele: Vielleicht ist es ganz gut, dass aus der Stelle nichts geworden ist. Ich bin einfach noch nicht so weit, so sehr ich dich auch vermisse. Aber wegziehen von Regensburg, auf so eine kleine Insel – ich weiß nicht, ob ich das bringe.«
»Mach dir keinen Kopf, Heidi. Ich glaube fest, dass es so richtig war. Irgendeinen Sinn wird das schon haben. Und ich komme darum herum, mich jetzt schon festzulegen. Dir zuliebe hätte ich es getan. Aber wer weiß, ob das gut gewesen wäre.«
Als sie sich müde gelegen hatten, waren sie zu faul, ins Bett zu gehen, und schliefen auf dem Sofa ein, gemeinsam unter die Decke gekuschelt.
Nele ging die Installation am Weststrand nicht aus dem Kopf. Vielmehr dieser oder diese NN, die scheinbar niemand kannte. Wie konnte es sein, dass ein Künstler, der vermutlich hier auf der Insel lebte, einfach so an den Strand ging, Treibgut sammelte und ein Kunstwerk daraus baute, das weder gesichert noch offiziell anerkannt war, seit zwei Jahren immer wiederkam und daran weiterarbeitete, es reparierte und wieder in Stand setzte, wo ihm die Winterstürme zugesetzt hatten, und die Kurverwaltung hängte eine Bronzeplakette auf und behauptete, der Künstler sei nicht bekannt? Irgendetwas stimmte doch da nicht.
Entweder der Künstler war der Verwaltung bekannt, und das Ganze hatte durchaus einen amtlichen Weg genommen; dann wurde sein Name schlicht verheimlicht. Gut, viele arbeiteten ja unter einem Pseudonym, aber der Künstler oder die Künstlerin müsste dann doch irgendwann in Erscheinung getreten sein. Es konnte nicht sein, dass niemand auf der Insel ihn oder sie kannte.
Oder das Ganze war ein Werbegag, NN gab es gar nicht, und wen immer die Leute da am Kunstwerk gesehen haben mochten, der hatte nichts mit NN zu tun.
Dass NN diese Installation auf den Strand gesetzt hatte und sie im Nachhinein von der Verwaltung anerkannt und ausgezeichnet wurde, hielt Nele für unwahrscheinlich. Obwohl Maik ihr genau das erzählt hatte.
Sie beschloss, sich selber schlau zu machen. Irgendeine Spur von NN musste sich doch finden lassen. Wo fand man am ehesten Berichte über so ein Kunstwerk? In der Inselzeitung. Zwei Jahrgänge. Archiv. Sie googelte und fand die Telefonnummer der Redaktion, rief dort an und fragte, ob sie einmal das Archiv einsehen könnte.
»Worum geht es denn?«
»Um NN.«
»Ach, die Installation am Weststrand? Das kann ich Ihnen heraus suchen. Da brauchen Sie nicht ins Archiv. Wohnen Sie auf der Insel?«
»Ja. Sie haben sogar schon über mich berichtet. Die Rettung eines Heulers ... «
»Ach, du bist das! Nele Heidenkamps. Ich erinnere mich. Und du interessierst dich jetzt für unsere Kunst?«
Nele musste lachen. »Eure Kunst? Eigentlich interessiere ich mich mehr für den Künstler. Was wisst ihr denn darüber? Das muss doch auf Helgoland ein großes Thema sein. Mit Bronzeplakette und allem.«