Meinen Eltern
in dankbarem Gedenken
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Impressum
© 2020 Reinhard Schwenecke
Lektorat, Fotos und Gestaltung: Susanne Dell, Zugvogelverlag Wenzel, Bad Neualbenreuth Die Fotos Nr. 23 und 24 stellte Alois Hanke, Flossenbürg, freundlicherweise zur Verfügung Das Cover zeigt Windkanter vom Typ Dreiflächenkanter
Kontakt: Zugvogelverlag@yahoo.de
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783752692938
Wirklich jeder, den ich mit Windkantern in Berührung brachte, ist von diesen merkwürdigen Gestalten sichtbar angetan, besonders von einer nur haselnussgroßen Art. Staunen! Ein Wunder, was die Natur an perfekten Formen hervorbringt. Der Wind soll sie geschaffen haben - lautet die Lehrmeinung. Aber selbst ein Unbedarfter würde wohl kaum auf einen solchen Gedanken kommen. Das Bauchgefühl wehrt sich einfach dagegen.
Aus Fachkreisen hat sich bislang wohl niemand öffentlich mit der Windschliffthese kritisch auseinandergesetzt. Was sich so fest etabliert hat, gilt eben und wird nicht hinterfragt - solange die eigenen Belange nicht beeinträchtigt werden, solange es nicht weh tut. Vielleicht rührt die Zurückhaltung von Fachleuten auch daher, dass sie meinen, erst eine Lösung des Problems parat haben zu müssen, bevor Kritik geübt werden darf? Die Lösung kommt aber (fast von allein), wenn das Problem, das Ding, analysiert worden ist. Bei Windkantern ist ihre Form das Problem. Mein Vater hatte als Laie begonnen, die Form zu studieren, denn diese unabdingbare Vorarbeit zur Genese stand aus. Sie wurde von der Wissenschaft übergangen. Das klingt unglaublich, ist aber so.
Das Thema Windkanter mag, da es fernab von brennenden Alltagsfragen liegt, kaum Beachtung finden und sowieso belanglos erscheinen. Es sind ja nur Feldsteine. Wer bemerkt noch die kleinen Freuden, kann sich überhaupt noch über etwas freuen, erbauen? Binnen Sekunden steht per Smartphone ein Wust an Informationen über alle möglichen wissenswerten Dinge zur Verfügung - da weiß man mühelos und sofort Bescheid, oft aber ohne es richtig verstanden zu haben. So verhält es sich auch mit den Windkantern. Doch was zählt, ist das selbst erworbene Wissen. Meine Erkenntnisse können sich als falsch herausstellen, mit der Zeit werden sie vielleicht ohnehin überholt sein. Was bleibt, ist hoffentlich ein bescheidener Beitrag zum Fortschritt.
Am Habitus der Windkanter ahnt man, dass mehr dahinter stecken muss. Dem bin ich seit vielen Jahren in meiner Freizeit nachgegangen. Zu Beginn galt es „nur“ eine schöpferische Leistung meines Vaters in Ehren zu bewahren: Ich versuchte zu verstehen, was er in seiner Windkanterforschung im Fazit mit „Gestalten im engeren Sinne“ meinte. So kam es meinerseits zur umfassenden und unvoreingenommenen Untersuchung der Form, über deren Ergebnisse sowie Schlussfolgerungen in diesem Buch zu lesen ist. Diese Aufgabe ließ sich mit dem schulischen Allgemeinwissen bewältigen, womit ich sagen möchte, dass das jeder andere Laie ebenso gut oder noch besser bewerkstelligen könnte. Entscheidend sind Motivation und Ausdauer. Es liegt in der Forschernatur, erworbenes Wissen mitzuteilen und darüber auch gegebenenfalls zu streiten, sonst wäre ja die Arbeit sinnlos. Ich sollte eigentlich Fachleute zur Entstehungstheorie dieser einzigartigen Feldsteinformen ansprechen, aber wer unter ihnen wäre zuständig für eine Frage, die sich in nahezu alle geologischen Wissenschaften verästelt und sogar in artfremde Wissensgebiete übergreift und nur durch Kooperation mit ihnen zu beantworten ist? Und wer hört schon gern, dass seine Meinung falsch sei, noch dazu von einem Laien? Das ist eine alte schmerzhafte Erfahrung.
Mein Alleingang hat noch weitere Gründe: Inhaltliche wie auch formelle Anforderungen an Veröffentlichungen, z. B. in Fachzeitschriften sind derart hoch, dass ich ihnen als Liebhaber kaum gerecht werden könnte. Der Gegenwind würde mich vermutlich gleich wegpusten, und der Umfang meiner Arbeit würde den Rahmen sprengen. Außerdem möchte ich unbedingt die Forschungsergebnisse und -erlebnisse meines Vaters für einen populärwissenschaftlich interessierten Leserkreis bewahren und ihn als Laienforscher würdigen. In Fachzeitschriften ist beides nicht ohne weiteres möglich.
Der Leser wird hier auf neu entstandene Fragen unterschiedlicher Art stoßen. Die kann er jedoch mit seinem Wissen besser als ich erkennen und beantworten, weshalb er sich ihrer gern annehmen sollte. Er möge bezüglich der Fehler, die von mir unbemerkt geblieben sind, nachsichtig sein und bedenken, dass mir für eine derartige selbst gestellte Forschungsaufgabe keinerlei Muster zur Verfügung standen.
Der erste Meilenstein meiner Arbeit bestand lediglich darin, die Form der Windkanter möglichst genau und umfassend zu beschreiben, weil darüber in Publikationen so gut wie nichts zu finden ist. Die Kenntnis der Form ist aber DIE Voraussetzung für eine Hypothese der Genese. Die ersten Niederschriften meiner Ergebnisse und Gedanken waren viel zu kompliziert, als dass der Leser sie ohne weiteres hätte nachvollziehen können. Das Gute daran war, dass ich unter dem Zwang zu vereinfachen, die Tatsachen und Zusammenhänge erst selbst richtig verstanden habe. Und plötzlich löste sich ohne Zutun der Knoten, indem völlig überraschend ein Weg zur Entstehung solcher Formen sichtbar wurde. Er führt in die Mikrostruktur der Gesteine. Der Leser wird letzten Endes meiner Meinung zustimmen können, vielleicht kommen ihm noch andere Ideen.
Zum Entdecken, Verborgenes sichtbar zu machen, gehört vor allem Glück. Ich hatte sogar mehrfaches Glück: Dass mein Vater als Einzelkämpfer in vorbildlicher Weise die Windkanterproblematik aufgegriffen hat, und dass ich ihm glauben konnte. Was er begonnen hatte, wurde für mich ein großartiges Lebensgeschenk.
Aus beruflichen Gründen (Montage- und Anfahrleiter für Chemieanlagen) blieb mir nur ganz wenig Freizeit. Zum Glück gerieten die Windkanter trotzdem nicht ins Hintertreffen! Ein unschätzbar großer Nebeneffekt, den wohl jedes Steckenpferdreiten begleitet, besteht darin, echte Konflikte, die das Leben so mit sich bringt, eher zu bewältigen und Sorgen abzubauen. Jetzt, im „ Alters - Ruhestand“ bin ich in der glücklichen Gesamtsituation, die es erlaubt, meine Arbeit an den Windkantern auf den Punkt zu bringen und somit erfolgreich abschließen zu können.
Heute steht auch für mich fest, dass Windkanter „Gestalten im engeren Sinne“ sind. Dieses wird sogar durch meine Entdeckung übertroffen, dass alle Windkantertypen einer einzigen primären Grundgestalt entspringen oder Teile von dieser sind - und noch dazu in jedem Maßstab. Das bedeutet, anhand von Zweikantern kann man sich vorstellen, wie die einstigen Gebirge aussahen, von denen sie stammen. An diese überraschende Erkenntnis muss ich mich selbst erst einmal gewöhnen.
Was die Geologie, in erster Linie die Gefügekunde, sowie auch andere Disziplinen mit dem Resultat anfangen und welche Konsequenzen sich daraus ergeben können, ist schwer zu überblicken. Sinn und Zweck meiner Arbeit wären aber erfüllt, wenn sie als Ansatzpunkt zur vollständigen Klärung des genetischen Problems Verwendung fände. Ich rechne allerdings mit Widerstand und bin auf alles gefasst. Zweifler und Gegner können sich überzeugen, indem sie sich an den Windkanterformen üben. Meine Ergebnisse ließen sich durch ausgefeilte Messmethoden und Berechnungen, wie sie zum Beispiel in Forschungseinrichtungen üblich sind, erhärten. Ohne großen Aufwand zu betreiben, kann sogar jeder Leser alles selbst nachvollziehen. An Untersuchungsmaterial scheitert es nicht, denn Windkanter jeden Typs findet man beispielsweise in der Letzlinger Feldmark (Endmoräne) in Hülle und Fülle.
Ich bin mir durchaus bewusst, dass mit meiner Arbeit die Formanalyse noch nicht erschöpft ist. Es kommen immer wieder neue Gesichtspunkte, aber auch Bedenken hinzu – ändern ... ändern. Trotzdem veröffentliche ich jetzt, sonst wird es nie etwas.
Das Glück hat mich während des gesamten Unterfangens begleitet. Es kam mehrmals einfach auf mich zu: Als ich nicht aus der von Walter Schwenecke eingefahrenen Spur (Kugel als Grundform) fand. Oder - trotz besseren Wissens - Varianten zur Genese im Blick hatte, anstatt die Form der Steine noch eingehender zu studieren. Oder als ich lange auf der Stelle trat und keine Lust mehr hatte. Es öffneten sich immer wieder Türen. Auf einer stand „Korrelation“ geschrieben und plötzlich löste sich der Knoten. Es ging mit größerem Elan weiter. Mein Interesse an Naturphilosophie war anfangs bescheiden. Inzwischen kann ich jedoch an einigen Themen sogar teilhaben. In Bezug auf Windkanter stellen sich nämlich spannende Fragen, insbesondere nach Gestalten, nach Gestaltstufen, die vom Anorganischen zum organischen (Leben) und zu Wesen führen, nach der Bedeutung von Symmetrie, Asymmetrie und – hervorzuheben - nach Individualität. Hinzu kommen Synergetik (die Lehre vom Zusammenwirken), Zufall, Selbstähnlichkeit/Skaleninvarianz und der Goldene Schnitt. All' das sind lohnende Themen, mit denen man wachsen kann.
Gefühle begleiteten und begleiten mich ständig. Sie sind die größte Triebkraft zur Selbsterkenntnis, was der Mensch bedeutet. Bei der Forschung, und seien es noch so anspruchslose Dinge wie Windkanter, geht es im Grunde immer um den Menschen. Das ist meine Erfahrung. Daher bin ich zufrieden. Ich helfe heute Landwirten in der nördlichen Oberpfalz gern beim „Stoi klauben“. Wohin meine Gedanken auf dem Acker wandern, kann man leicht erraten. Ein Spaziergang über kahle Äcker und auf Feldwegen ist wie ein Feiertag.
In den vergangenen zwanzig Jahren habe ich liebe Menschen um mich herum mit meinen Windkantern behelligt. Niemand hat abgewunken, sondern sie sind mit mir durch die Feldmark gelaufen, haben besondere Steine gesammelt und stellten aus echtem Interesse Fragen. Das hat mich immer wieder ermutigt dranzubleiben. Ihnen allen möchte ich auf diesem Wege danken.
Meine Lebenspartnerin hat mich, kritisch wie sie von Natur aus ist (!), energisch gedrängt und geraten, den Text so zu schreiben, dass er überhaupt lesbar wird. Sie hat fast alle Fotos geschossen, und sie hat das Buch gestaltet. Ohne ihre Erfahrungen als mehrfache Buchautorin (Susanne Dell) sowie Verlegerin (Zugvogel Verlag) wäre es bestimmt nicht erschienen. Sie hat es gewagt.
Danke Susanne!
Bad Neualbenreuth, im Juli 2020
Reinhard Schwenecke
Der besondere Reiz dieses Buches liegt im exotisch anmutenden Thema. Es fällt zwar in die Zuständigkeit der Geologie, schließt aber verschiedene Wissensgebiete ein, weshalb jeder an Natur Interessierte daran teilhaben kann. Das Windkanterphänomen wird wieder aufgegriffen, weil unsererseits ernsthafte Zweifel an der Lehrmeinung vom Windschliff als ursächliche Kraft bestehen. Wir unternehmen einen erneuten Anlauf, der bei Null mit der Schaffung von Grundlagen beginnt und sich das Ziel stellt, den Habitus (Aussehen) der Windkanter möglichst umfassend zu beschreiben; alles weitere ergibt sich daraus. Die Kapitel kann man unabhängig von der Reihenfolge lesen, sie sind in sich abgeschlossen.
Diese Steine sehen derart seltsam aus, dass sich wohl jeder fragen mag, wie solche Gestalten entstanden sein könnten. Ein jeder macht sich dazu seine Gedanken.
Der Leser erfährt, was wir im Unterschied zur „offiziellen“ Darstellung unter Windkanter verstehen (Kapitel 2); er kann unserer Kritik an der Windschliffthese folgen, oder er findet Argumente, die für Windschliff sprechen oder ihm kommen noch ganz andere Ideen.
Windkanterforschung ist überall auf der Welt möglich, das geht aus den Nachrichten über die Verbreitung von Windkantern (Kapitel 3) hervor. Kundige Beobachter kennen wahrscheinlich noch andere Windkanterhorte und werden bestimmt weitere entdecken (z.B. bei Schachtarbeiten!), darauf sind wir gespannt.
Zu den Grundlagen gehört die Definition für „Kante“ und „Ecke“, woraufhin eine bislang fehlende Systematk der Windkantertypen (Kapitel 12) vorgestellt wird. Bisher war nur von einem Formenreichtum die Rede. Nun ist gleich klar, welcher Typ vorliegt und wieviel Kanten er tatsächlich hat.
Die Tabelle zur Systematik lässt einen Grundtyp, nämlich Zweikanter, erkennen.
Zur Größe: Wie groß die Steine sind ließ sich bisher nicht klar angeben, denn Größe ist nicht gleich Länge. Mit einer von uns experimentell ermittelten Faustformel, die für alle Windkanterarten gilt, ist nunmehr unter Angabe des Längenmaßes die Zuordnung zu den genormten Korngrößen möglich geworden (Kapitel 9). Irritationen werden somit weitgehend vermieden.
Die Bedeutung der Oberfläche ist selbst von Windschliffverfechtern unterschätzt worden. Die Beurteilung der Rauheit ist subjektiv. Auf die von uns gemessenen Rauheitswerte gehen wir im Kapitel 16 ein, wobei auf die Probleme dieser Messung hingewiesen wird, und welch großer Wert spezialisierten Messungen zukäme. Frage: Wie sähe der Vergleich mit anderen Formen (kugelig, oval) und mit anderen Gesteinsarten (z.B. Glimmerschiefer) aus, denn auch dort kommen sehr glatte Flächen vor, obwohl Windschliff in solchen Fällen gar nicht relevant ist? Der Begriff Korrelation taucht in der aufgeführten Windkanterliteratur nicht auf, vielleicht ist Korrelation bei Windkantern zu offensichtlich, als dass sie auffällt. Es besteht laut unserer Betrachtungen (Kapitel 6) eine hohe Korreliertheit, die auch statistisch nachgewiesen ist. Zufall wird somit ausgeschlossen, d.h., die Form der Windkanter beruht auf Gesetzmäßigkeit - aber welcher? Deshalb hat die Beschäftigung mit Windkantern einen tieferen Sinn. Proportionen und Rundungen verleihen ihnen das gefällige Aussehen - sagen wir Ebenmaß, Schönheit … . Vielleicht möchte der Leser hier gern noch tiefer einsteigen.
Ebenmaß verdanken sie einer ganz besonderen Proportion, nämlich dem Goldenen Schnitt (Kapitel 7). Die irrationale Zahl 1,618... bestimmt den Konstruktionsplan der Windkanter. Sie ist in der Natur auf vielfache Weise gegenwärtig und beschäftigt schon seit der Antike Philosophen, Mathematiker und Künstler. Dennoch dürfte ein Zusammenhang mit Gesteinen bisher nicht bekannt gewesen sein. Der Goldene Schnitt ist sogar in all' seinen Variationen in der Gestalt der Windkanter zu erkennen. Möglicherweise ist er gegenüber anders lautenden Meinungen doch ein Prinzip, dessen sich die Natur bedient?
Windkanter kommen laut unseren Beobachtungen in der gesamten Korngrößenreihe lückenlos vor, d.h. vom kleinsten Kiesel bis zu Findlingen; und dabei ist ihr Aussehen zwar verändert, aber doch gleich. Dieses Phänomen – Selbstähnlichkeit/Skaleninvarianz genannt - wird im Kapitel 8 beschrieben. Skaleninvarianz gilt in der Wissenschaft als Beweis für Gesetzmäßigkeit. Demzufolge sind Windkanter gesetzmäßige Gestalten. Selbstähnlichkeit/Skaleninvarianz stellen wir ebenfalls bei kugelig und oval geformten Steinen fest, darüber hinaus auch bei gefalteten Gesteinen. Auf Skaleninvarianz des rautenförmigen Querschnittes, der häufig auch bei anderen Gesteinsarten vorkommt, wird besonderes Augenmerk gerichtet. Unsere Ausführungen könnten u.a. der Gesteinskunde von Nutzen sein.
Dreiflächenkanter steigen zum Inbegriff für Windkanter auf. Diese Gattung hat alle typischen Merkmale (Kapitel 14). Mit ihrer Form, die einer speziellen Doppelpyramide stark ähnelt, bilden sie die Basis für alle Windkanterformen. Diese einzigartige Figur steht im Zentrum der morphometrischen Untersuchungen; dazu bedarf es mehrerer Kapitel wie: Proportion, Schiefstellung, Asymmetrie, Flächen (Ansichten/Schnitte), Winkel, Radien und Packungsdichte. In allen Ansichten und Schnitten erkennt man eine deformierte Raute (Rhombus). Die Raute spielt auch bei anderen Gesteinen eine bemerkenswerte Rolle. Sie führt einerseits ins Innere kristalliner (rhombischer) Mineralien, ist aber ebenso im Makrobereich (Erdkruste) präsent (Kapitel 19).
Bruchstücke verdienen eine größere Beachtung als bisher geschehen (Kapitel 20). Wer ein Bild von Windkantern vor Augen hat, kann vom Teil auf den ganzen Stein schließen. Der Anteil von Windkantern am Gesamtaufkommen geformter Steine wird somit noch größer als bisher bekannt. Bruchstücke können dem Sachkundigen Auskunft über den Spannungsabbau im einstigen Fels geben. Windkanter stehen im Zusammenhang mit Eiszeiten (Kapitel 5). Wir folgen zunächst einer bei einigen Fachleuten bestehenden Vorstellung, wonach das Inlandeis maßgeblich an der Formung von Gesteinsstücken zu Windkantern beteiligt gewesen sein soll - Stichworte: Auftriebskörper und Eiskanter. Wir kommen auf das Alter der Gesteine im sogenannten Geschiebe zu sprechen. Die Geschiebekunde hat ein großes Interesse an Windkantern, vielleicht wird es noch bestärkt. Windkanter stehen laut einer überholten Meinung im Zusammenhang mit (Moränen) in der Annahme, Steine würden im Boden wachsen. Hierfür gibt es jedoch keine stichhaltigen Argumente. Wir widmen uns im Kapitel 22 eher der Frage, warum immer wieder neue Steine auf dem Acker auftauchen. Die Lehre vom „Auffrieren“ erscheint uns zweifelhaft. Unser Denkmodell vom (Sand-) Boden als Nichtnewtonsches Fluid, in welchem Steine Auftrieb erfahren können, wird zur Diskussion gestellt.
Über Windkanter als Gestalten im engeren Sinne und ihr Wesenhaftes erfährt der Leser im Kapitel 21.
Liebhabern von Gesteinen und Mineralien erscheinen Windkanter beim Lesen dieses Buches in einem helleren Licht, und sie werden wahrscheinlich solche Schönheiten in ihre Sammlungen gern aufnehmen. Vielleicht wollen Sie Formbetrachtungen an anderen Gesteinen vornehmen? Da wäre noch einiges nachzuholen.
Selbst wer mit Steinen nichts am Hut hat, wird seinen Blick auf Windkanter richten und besonders schöne Exemplare mitnehmen, denn Windkanter sind sehr dekorativ, und sie stehen auch bei Künstlern hoch im Kurs (z.B. Schmuck), die Freude an diesen einnehmenden Wesen wird um das Wissen über ihre Gestalt noch größer.
Wir erinnern mit dem ersten Kapitel an Walter Schwenecke, der einen neuen Weg für die Erforschung der Genese bereitet hat; zugleich bekommt der Leser einen Eindruck von der Windkanterforschung in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts; der Laienforscher führte nämlich mit mehreren renommierten Fachleuten eine kritische Korrespondenz. Beginnen Sie am besten mit diesem Kapitel; es lohnt sich auch unter anderen Gesichtspunkten.
Walter Schwenecke wurde am 15. September 1903 im Altmarkdorf Letzlingen geboren. Sein Vater war „Im Namen des Königs“ bei der Kaiserlichen Oberpostdirektion Magdeburg als angestellter Landbriefträger für Letzlingen sowie weitere Heidedörfer unterwegs, und er war zugleich auch Grundsitzer (Kleinbauer). Seine Mutter, eine Bauerntochter aus dem benachbarten Klüden, lebte als solche, und sie besorgte natürlich auch den altmärkisch armen Haushalt.
Walter hatte zwei ältere Brüder: Wilhelm und Ernst. Der Vater starb bereits im Alter von achtundvierzig Jahren an einer Lungenentzündung, da war der jüngste Sohn erst zwölf Jahre alt. Die Witwe blieb alleinstehend. Sie bewältigte ihr Leben in beispielgebender und bewundernswerter Weise: Wilhelm wurde Ingenieur, Ernst Bauer und Walter Lehrer.
Die Befähigung zur Verwaltung (so hieß es damals) eines Volksschulamtes erhielt Walter Schwenecke 1923 von der Regierung Magdeburg, nachdem er von 1917 bis 1923 das Preußische Seminar in Neuhaldensleben besucht und mit der ersten Lehrerprüfung abgeschlossen hatte. Zu dieser Zeit war es jedoch äußerst schwierig, eine Anstellung in seinem Beruf zu finden - für den Absolventen zunächst sogar aussichtslos - in einer nach dem ersten Weltkrieg erschütterten Gesellschaft und der Zeit der Inflation. Zum Glück konnte der im ganzen Dorf Geachtete gleich in der Staatlichen Forstkasse in Letzlingen als zweiter Gehilfe unterkommen. Nach drei Jahren wurde er wegen „seiner vorbildlichen dienstlichen und außerdienstlichen Führung erster und bevollmächtigter Gehilfe“. Die Überbrückung bis zur ersten Unterrichtsstunde dauerte fast fünf Jahre. „In diesen fünf Jahren hat Herr Schwenecke alle im Kassenbetrieb vorkommenden Arbeiten kennen gelernt und sie in peinlich gewissenhafter Weise ausgeführt. Seine hierbei bewiesene Gewandtheit, seine unbedingte Zuverlässigkeit und sein großer Fleiß ernteten stets mein uneingeschränktes Lob.“ schrieb sein Vorgesetzter, der Forstrentmeister, in einer abschließenden „Aeusserung“, die neben anderen Zeugnissen für die Schulamtsbewerbung erforderlich war. Die Regierung in Magdeburg hatte beschlossen, Walter Schwenecke auftragsweise ab November 1928 im Schulverband Letzlingen als Hilfslehrer zu beschäftigen. Doch schon vor Weihnachten teilte sie ihm mit, dass „der Lehrauftrag am 31. Dezember sein Ende erreicht“. Dennoch erfolgte ein nahtloser Übergang. Ab Januar 1929 wurde ihm eine Hilfslehrerstelle in Priesitz (Bad Schmiedeberg) und sofort anschließend eine in Nelben (Saal-Kreis) übertragen. Die vom Gesetzgeber vorgeschriebene zweite Prüfung für das Lehramt an Volksschulen hatte er mit „gut“ bestanden, woraufhin ihm im Mai 1931 „die Befähigung zur endgültigen Anstellung als Lehrer im Volks- schuldienst zuerkannt wurde.“ Am 1. August 1931 heiratete der nun gut Situierte seine Jugendliebe, mit der er sich selbstverständlich schon längst verlobt hatte, Luise Grabau, Tochter des Arbeiters Christoph Grabau aus Letzlingen. Die endgültige Anstellung erfolgte 1932 durch die Regierung Merseburg mit einer Ernennungsurkunde im Schulverband Nelben. Sie verpflichtete ihn „auf die treue Erfüllung seines Berufes als Lehrer und Erzieher der Jugend (...)“ Ferner verpflichtete sie ihn, „auf Verlangen bis wöchentlich 4 Unterrichtsstunden an den im Schulbezirk vorhandenen oder noch zu errichtenden Berufsschulen sowie gegebenenfalls deren Leitung zu übernehmen.“ Die o.g. Bestallungsurkunde erhielt 1934 den Zusatz: „Die endgültige Ernennung erfolgt unter Berufung in das Beamtenverhältnis“, d.h., nun war der einstige Hilfslehrer Beamter geworden. Auf Grund seines Gesuches wurde dem Lehrer Walter Schwenecke 1935 eine Lehrerstelle in Könnern übertragen.
Zweiter Weltkrieg. Im August 1942 wurde er wider Willen vom Schulamt des Saal-Kreises zur kommissarischen Wahrnehmung der Dienstgeschäfte eines Hauptlehrers an der Volksschule in Unterpeißen beauftragt; hinzu kam die Anweisung dieses Ortes als Amtssitz, beigefügt war eine dafür erforderliche „Umzugserlaubnis“ für die inzwischen vierköpfige Lehrerfamilie. Seine Söhne Walter und Manfred waren da zehn und vier Jahre alt.
Der pflichtbewusste Lehrer kam unter „freiwilligem“ Zwang zur Wehrmacht. Er musste den Krieg in allen Phasen durchstehen: Polen – Frankreich – Sowjetunion. „Schwenecke sei in 'Rußland' gefallen“, hörte seine Frau von einem auf Heimaturlaub befindlichen Soldaten. Unter diesem Schock hat sie schwer gelitten; die Seelenlast konnte sie nie mehr richtig loswerden. Das (zweite) Soldbuch vermittelt mit den persönlich–militärischen Eintragungen ein Bild aus dem letzten Jahr (September 1944 bis März 1945) seiner Kriegszeit im „Felde“. In einem zusätzlichen Ausweis steht: „Oberzahlmeister Walter Schwenecke, Heeresbetreuungsabteilung 9, ist im Betreuungsdienst des Heeres tätig. Alle Dienststellen werden gebeten, ihn bei seinen Aufgaben der Verwundeten- und Truppenbetreuung zu unterstützen. General z.b.V. IV beim OKH/AHA Heeresbetreuungsabteilung 9.“
Der Oberzahlmeister im TSD 'Truppensonderdienst' (gleichrangig Oberleutnant) kehrte am Kriegsende zu Fuß von der 'Ostfront' in seine Heimat nach Letzlingen zurück. („...Sie sind immer nur nachts gelaufen.“) Dort hatten bereits Bruder Ernst und die Mutter seine Familie in ihrem etwa acht Hektar- Hof in Obhut genommen. Ein großer Teil der Wohnungseinrichtung war unterdessen in Unterpeißen zerschossen worden. Die amerikanischen Sieger zogen ab – die 'Russen' kamen. Aus einer auf Russisch mit roter Handschrift auf einem Zettel ausgestellten-Bescheinigung vom 27. Juli 1945 geht, wörtlich übersetzt, hervor, dass Walter Schwenecke sich zur Registrierung als ehemaliger Kriegsdiener der deutschen Armee in die sowjetische Kommandantur nach Gardelegen begeben hatte. Es mussten sich nämlich auf Befehl der sowjetischen Militärführung alle Angehörige der ehemaligen Wehrmacht registrieren lassen; es war zu befürchten, dass sie ihn, ihrer Willkür ausgesetzt, gleich dabehielten. Der brotlos gewordene Lehrer fand für einige Wochen im Letzlinger Sägewerk Erwerb, dort erlitt er jedoch einen Arbeitsunfall durch Baumstämme (Kniequetschung - Thrombose) und konnte deshalb nicht mehr weiterarbeiten; aber in dieser Notlage ging ein Türchen auf: Der Nachbar, Bäckerei Karl Lüders, ermöglichte ihm, gegen ein Entgelt Brot in die umliegenden Dörfer auszufahren; Ernst stellte Pferd und Wagen zur Verfügung. Aber hauptsächlich war der Lehrer nun landwirtschaftlicher Arbeiter - die meiste Zeit auf dem sandigen Acker seines Bruders tätig.
Hier lag der Anfang einer leidenschaftlichen Beschäftigung mit der Form und Herkunft der Feldsteine, wobei ihm schließlich die rätselhaften Windkanter nicht nur Erfüllung, sondern auch Leiden verschaffen sollten.
Seine Schreibecke im Wohnzimmer:
Walter Schwenecke schrieb bereits ab März 1946 mit Schreibmaschine unter dem Titel „FELDSTEINE – Ein neuer Kreislauf in der Natur“ in an sich selbst gerichteten Briefen, was ihm an den Steinen aufgefallen war, und was ihn am Stand der Wissenschaft stutzig machte, wobei er seine Gedanken in Schriftsprache formulierte und sehr Persönliches zum Ausdruck brachte. Einige Zitate zur Illustrierung: „Erinnerst Du Dich des Bauern, der einst am Feldrain Steine maß? - Weißt Du noch, wie wir lachten, als er vom Wachstum der Steine sprach und behauptete, dass unser Herrgott die Steine wie das Unkraut einstmals gesät hätte, und dass beide nun wüchsen, die Steine zwar sehr langsam und nur auch dann, wenn sie nicht gestört würden. Er zeigte uns die Samenkörnchen in Form der Milliarden winziger Sandkörner, die auf seinem steinigen Acker lagen. Inzwischen bin ich anderen Landleuten begegnet, die mir dasselbe erzählten. Das hat mir doch zu denken gegeben; ein Wachstum der Steine scheint hier Volksglaube zu sein. Wurde nicht schon oft im Volksglauben ein Kern Wahrheit entdeckt, die die Wissenschaft übersehen hatte? - In unserem Falle ist es so: unser Bauer hat jahraus, jahrein Steine in ungezählten Mengen vor den Augen und in den Händen gehabt; sie lagen ihm vor der Sense, unterm Pflug, vor der Hacke und zwischen den Früchten. Sie haben ihn zum Beschauen und Betasten gezwungen. Äußerlich kann sie niemand besser kennen als er. Seine Ansicht muss deshalb billiger Weise auch ernst genommen werden. - Ich bin nun selbst ein Jahr über den Acker gegangen, nicht der Steine, wohl aber des Brotes wegen. Ich habe gehackt, gepflügt, gemäht und geerntet. Dabei habe ich viele Tausend Steine genau betrachtet, Hunderte gesammelt und sortiert. Mein Freund, ich urteile nicht leichtfertig, wenn ich Dir sage, hier hat der Bauer die bessere Nase gehabt. Kann nicht auch die Wissenschaft mal irren?“
Wir lesen, dass er sich über Entstehung und Herkunft der Steine in seinem Heimatkreis informiert hat, „wie es die Bücher lehren“, „daß sich die Gelehrtenwelt über diese Sache sogar auch einig sei.“ Und weiter: „Es ist nur schade, daß die Steine trotzdem nicht von den Felsen stammen und trotzdem nicht ihre Form durch Fluss und Gletscher erhalten haben; denn das steht für mich fest.“ Über Windkanter lesen wir: „Beim Sortieren der gesammelten Steine ist mir gestern eine Anzahl aufgefallen, die sich in Form und Zeichnung sehr ähnlich sehen. Die scharfen Kanten waren auf Vorder- und Rückseite von großer Regelmäßigkeit. In einem geologischen Buch werden sie als Windkiesel und Windkanter bezeichnet. Der Verfasser sieht in ihnen die 'auffallendsten Resultate der Winderosion'. Auf den Gedanken wäre ich nicht gekommen!“ (…) „Freilich, ein Stein kann Dir wenig sagen; Du müsstest das ganze Dutzend sehen.
Ich habe sie noch einmal in Reih' und Glied aufgebaut und sie mir immer wieder von allen Seiten besehen und betastet. Sieh mal, das Merkwürdigste an diesen Steinen ist die Form, und gerade die Form verursacht meine Zweifel. Der Bauer hat sich nie um ihre stoffliche Beschaffenheit gekümmert. Daß sie leben und wachsen, folgert er aus ihrer Form. Ich habe auch noch keine Steine stofflich untersucht und bezweifle nicht, daß sie aus demselben Stoff bestehen wie das Gestein. Wie hätte man sie sonst überhaupt als Abtrünnige des Gesteins ansehen können.“ (…) „Der stoffliche Befund spricht nicht dagegen, die Ursache ihrer Entstehung wo anders zu suchen.“ (…) „Ich bemühe mich, vor der Hand gar nichts 'anzunehmen', sondern nur Steine zu sammeln und sorgfältig zu betrachten. Vielleicht kommt der Zeitpunkt, wo die Steine anfangen zu reden.“
(…) „Da muss ich Dir zunächst gestehen, daß ich zum ersten Male in meinem Leben von einer Sache regelrecht 'besessen' bin. Weißt Du wie das ist? - Ob Du stehst oder liegst, ob Du arbeitest oder ruhst, ob Du Menschen um Dich hast oder nicht, Du kommst von bestimmten Gedanken einfach nicht los; Du musst Dich mit einer Sache ununterbrochen beschäftigen, ob Du willst oder nicht. Das bringt Freude und auch Qual, Vorteil und Nachteil. Der Nachteil besteht darin, dass unentwegt dieselbe Blickrichtung gilt Geist und Auge nur nach dieser Richtung hin offen sind. Ist aber die Richtung falsch, so hat sich der Mensch 'verrannt'; er sieht keinen Ausweg und findet auch schwer zurück. Hier ist ein Freund nötig, der sich einen guten Abstand und einen freien Blick bewahrt hat, und der nicht müde wird, immer neue Gesichtspunkte aufzuzeigen; denn wo fände sich sonst wohl der Mensch, der unermüdlich auf Dinge eingeht, die für ihn und unsere Zeit zunächst belanglos erscheinen müssen? - Die Steine habe ich zwischen Sommer und Herbst beim Ackern gesammelt. Sie stammen also ausnahmslos von wenigen Äckern unserer Feldmark. Sie können deshalb hier nicht selten sein. Die kleine Sammlung genügt, um einen geheimnisvollen Zusammenhang zwischen Steinen und dem organischen Leben anzudeuten.“
Der gedachte Freund, an ihn hatte er im Verlaufe des Erkenntnisflusses fünfunddreißig „Briefe“ gerichtet, konnte letztendlich keinen fachkundigen unvoreingenommenen Gesprächspartner (mit schöpferischen Ideen) ersetzen. Es war an der Zeit, seine umwerfende auf Erkenntnis beruhende Meinung nicht hinter den Berg zu halten sondern kundzutun, um Bewegung in das Windkanterphänomen zu bringen. Es kamen eigentlich nur Fachleute aus den geologischen Wissenschaften infrage; aus Unsicherheit und zudem als Laie, geschah die Suche nach zuständigen Ansprechpartnern noch tastend und in einem für ihn typischen diplomatischen Stil.
„Kanter Sswönje“ (Letzlinger Platt) war eine hochgeschätzte Persönlichkeit, was er sagte, galt wie geschworen; auch Bauern aus der Nachbarschaft respektierten seine völlig abseits der täglichen Arbeit liegende Beschäftigung mit Feldsteinen, wie er sie anging und darbot, obwohl sie seine Arbeitsmethode (messen, zig Werte in Tabellen darstellen, maßstäblich skizzieren etc.) nicht nachvollziehen wollten und wohl auch nicht konnten.
Selbst sein Bruder Wilhelm, ein äußerst rational denkender Werkzeugmaschinen–Ingenieur, horchte auf. Wilhelm vermittelte im August 1946 den ersten Kontakt nach außen über einen ihm von früher her guten Bekannten (Maschinenfabrik in Weimar) - und zwar zu Professor Deubel vom geologischen Institut Jena. Aus dem Internet erfahren wir, dass Fritz Deubel Leiter der Reichsanstalt für Bodenkunde war und 1949 den Lehrstuhl für Geologie innehatte. Dem Wissenschaftler wurden zwanzig Steine zur Beurteilung vorgelegt. In einem Schriftstück kam seine Meinung zum Ausdruck: Es handelt sich um normale Kieselsteingebilde. „(…) Interessant ist Stein Nr. 11 mit Dreiecksbildung als sogenannter Windschliff, der dadurch entsteht, dass feinster Sand an einem festliegenden Kieselstein dauernd vorbeigestrichen ist. (…)“ So sehr der Professor den Forscherdrang begrüßte, empfahl er jedoch nicht, irgendwelche besonderen Kosten bei weiterem Steinsammeln aufzuwenden, da ein finanzielles Ergebnis letzten Endes kaum zu erwarten bleibt. Trotz dieses ernüchternden (oder gerade wegen des Konflikt schaffenden?) Urteils richtete der Feldsteinliebhaber seinen Blick hauptsächlich auf Windschliffe, also Windkanter. Die noch allgemein veranlagte Feldsteinsammlung vergrößerte sich in kurzer Zeit zu einer stattlichen Windkantersammlung, da nun auch Ein- und Zweikanter sowie Mehrkanter hinzukamen.
Herbst 1947. Der „landwirtschaftliche Arbeiter“ (diesen selbst gewählten Berufstitel verwendete Walter Schwenecke auch in den folgenden Jahren wohl aus rein taktischem Grund wegen der herrschenden Ideologie in der sowjetischen Besatzungszone) suchte nunmehr Kontakt zu Publikationsorganen. Zuerst wandte er sich, ahnungslos stellend, leicht provokativ, an: „DER FREIE BAUER das illustrierte Blatt, Organ der Vereinigungen der gegenseitigen Bauernhilfe und Publikationsblatt der Deutschen Verwaltung für Land- und Forstwirtschaft, Berlin“. Auf angeblichen Wunsch der Leser hin richtet er an den „Freien Bauer“ die Bitte, ob er Genaues über die Entstehung der Feldsteine schreiben könnte, obwohl jener mit brennenden Zeitfragen genug zu tun hätte. Wenn dafür in der Zeitung kein Platz wäre, möge er ihm eine briefliche Nachricht zukommen lassen. Bereits nach zwei Wochen antwortete die Landwirtschaftsredaktion ausführlich in einem Brief: Die Frage wäre nicht ganz klar gefasst, (…) „ob Sie wissen möchten, wie die Feldsteine einmal in den Acker gekommen sind, oder ob Sie wissen möchten, wie trotz alljährlichen Entfernens der Steine aus dem Acker, dieselben stets wieder von neuem vorgefunden werden. Deshalb müssen wir Ihnen kurz beide Fragen beantworten.“ - „Feldsteine der norddeutschen Tiefebene sind skandinavischen Ursprungs. (…) Eiszeit, mit den Eismassen als Granitblöcke verfrachtet worden, Ablagerung in Moränengebieten, größere Kaliber unter der Bezeichnung 'Findlinge' bekannt.“ Zur zweiten Frage: „Für dieses dauernde Zutagetreten neuer Steine gibt es zwei Gründe. Einmal ist es nicht unmöglich, daß im unebenen Gelände dauernd Boden von den Höhen abgeschwämmt und abgepflügt wird, so daß sein Steininhalt freigelegt wird. Zum anderen ist es die Erscheinung des Hochfrierens im Boden, die auch im ebenen Gelände eine Rolle spielt. Die Bodenfeuchtigkeit gefriert im Winter unter den Steinen, dehnt sich dabei aus und hebt infolge ihrer Ausdehnungskraft selbst zentnerschwere Blöcke in unzähligen winzigen Schüben im Laufe der Jahre zutage bzw. so weit, daß die Pflugschar anstößt.“
Am 15. November 1947 wurde sein Sohn Reinhard in Letzlingen geboren; das soll an dieser Stelle erwähnt sein; ansonsten geht es im Text gleich weiter mit der Feldsteinproblematik.
Mit seinem jüngsten Sohn Reinhard
Januar 1948. Unter dem Vorwand, im altmärkischem Dorfe gäbe es immer noch strittige Ansichten über die Entstehung der Feldsteine, schrieb der Laienforscher (Als solchen darf man ihn inzwischen schon bezeichnen, denn er befand sich auf dem Weg, neues Wissen zu erwerben.) einen Brief an „NATUR und TECHNIK Halbmonatsschrift für alle Freunde der Wissenschaft, Forschung und Praxis“ in der Hoffnung, in ihr einen sachkundigen Streitrichter gefunden zu haben. Die Klärung dieser Frage wäre für die Bauern sehr wichtig, weil sie seit Generationen jährlich Steine ohne spürbaren Erfolg abgesucht haben und fügte hinzu: „Wir Landarbeiter jedenfalls sind aufgrund unserer Erfahrung und Beobachtungen geneigt, zwischen Feldsteinen und anderem Gestein einen Unterschied zu machen.“ Drei Meinungen stellte er mit jeweils kurz dargestellten Beweismitteln in seiner Anfrage gegenüber:
1. Feldsteine sind Teile nördlicher Gesteinsmassen, die von den Gletschern aus Skandinavien in unsere Gegend verfrachtet wurden. (…)
2. Feldsteine wachsen wie organische Wesen im Erdreich, wenn sie unberührt bleiben. In jedem Sandkorn liegen daher gesetzmäßige Entwicklungsmöglichkeiten hinsichtlich der Form und Gestalt. Beweismittel – Lebensvolle Formen und Farben der Feldsteine; die vergeblichen Leistungen, ein Stück Feld steinfrei zu machen. Und
3. Feldsteine sind Versteinerungen früherer Lebewesen.
Ich weiß aus seinem Nachlass, dass sich mein Vater über „lebensvolle Formen“ bereits mehr Gedanken gemacht und naturphilosophisch belesen hatte, als er durchblicken ließ, weshalb er sich getraute, sie hier der Wissenschaft gegenüber offen als Beweismittel anklingen zu lassen; es war jedoch erst der Anfang einer vor allem inneren Beschäftigung (Auseinandersetzung) mit Gestaltstufen der Natur, die vom Anorganischen bis hoch zum organischen Leben reichen.
Schon nach einer Woche antwortete die Redaktion aus Berlin; sie untermauerte ausführlich die Auffassung 1 und weiter heißt es: „Ihre Auffassung 2 ist nicht haltbar, gerade im Gegenteil wird ein Teil der Feldsteine durch Verwitterung zersprengt und zerkleinert. Dagegen ist Ihre Auffassung 3 teilweise richtig, denn unter den Feldsteinen, besonders unter den Feuersteinen, finden sich Versteinerungen aus früheren Erdzeiten z.B. Seeigel, Donnerkeile usw., aber diese Versteinerungen sind mit den Eisströmen zu uns gebracht worden.“
Der acht Schreibmaschinenseiten