Martin Werlen

Wo kämen wir hin?

Für eine Kirche, die Umkehr nicht
nur predigt, sondern selber lebt

Neuausgabe 2019

© Verlag Herder GmbH Freiburg im Breisgau 2016

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © Kellenberger Kaminski Photographie, Uster

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ISBN E-Book 978-3-451-81568-3

ISBN Print 978-3-451-03167-0

Für alle Getauften, die mutig den Glauben leben statt
ängstlich die Konfessionsgrenzen zu hüten –
als Dank und als Ermutigung.

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Wir alle sind schon in Sackgassen geraten. Niemandem würde es einfallen, in einer solchen Situation stehen zu bleiben und zu warten, bis die Umgebung sich verändert. Oder doch? Stellen wir uns vor: Eine Reisegruppe hat sich verfahren. Plötzlich versperren Häuser die Weiterfahrt. Die Gruppe ist nicht bereit, umzukehren. Früher waren sie schließlich auch immer hier durchgefahren. Die Leute schimpfen. Sie warten und warten. Wut und Resignation machen sich breit. Einige fordern eine andere Reiseleitung. Aber es ist schwierig, in dieser Situation Menschen zu finden, die Verantwortung übernehmen. Einzelne machen Vorschläge, wie es weitergehen könnte. Sofort werden sie von anderen zurechtgewiesen. Wenn es ihnen nicht passe, könnten sie ja aussteigen. Niemand hindere sie daran. Die Devise lautet: Einfach warten, bis die Hindernisse verschwinden. Unzufriedenheit verbreitet sich. Immer wieder werden die Leute zur Geduld ermahnt. Trotzdem verabschieden sich mehr und mehr Menschen aus der Gruppe und gehen eigene Wege.

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Dieses Bild lässt sich ohne große Mühe auf die Kirche anwenden. Die Kirche ist in verschiedenen Bereichen in Sackgassen: die einzelnen Getauften genauso wie die Gemeinschaft aller Getauften. Umkehr ist gefordert. Immer wieder. Von Umkehr ist in der Kirche tatsächlich oft die Rede. Die ersten Worte Jesu im Markusevangelium heißen: „Erfüllt ist die Zeit, und genaht das Königtum Gottes. Kehrt um! Und: Glaubt der Heilsbotschaft!“ (Mk 1,15).

Was für eine Übersetzung?!, werden jetzt bestimmt einige denken. Da stolpert man ja darüber. Genau das ist beabsichtigt. Warum? Die ausführliche Antwort wird später folgen. Zuvor muss noch ein paarmal gestolpert werden. Soviel sei aber bereits verraten: Die möglichst wortgetreuen Übersetzungen aus dem Urtext lassen aufhorchen. Und das Aufhorchen ist bereits ein wichtiger Schritt in Richtung Umkehr. Es lohnt sich, die angegebenen Bibelstellen auch in der vertrauten Übersetzung nachzuschlagen.

Bei Umkehr denken wir oft an die anderen. Aber: Müssten wir nicht bei uns selbst beginnen? Von uns ist Umkehr gefordert: Die persönliche Umkehr, die Umkehr der Familien, Gemeinschaften, Pfarreien, Diözesen, ja die Umkehr der ganzen Kirche. Das geht uns aber erst dann auf, wenn wir Sackgassen als solche wahrnehmen. Darum müssen sie auch konkret angesprochen werden. Zudem fordert die Umkehr unsere Offenheit für das, was Gott von uns will. Dann werden wir realisieren, dass wir zuerst nicht die anderen zur Umkehr bewegen müssen, sondern uns selbst. Das hat Papst Franziskus mit dem Jahr der Barmherzigkeit 2015/2016 beabsichtigt: „Es ist ein Jubeljahr – und ich sage das, indem ich an unsere Heilsgeschichte erinnere – für die Umkehr, damit unser Herz größer werde, großzügiger, mehr Sohn Gottes, mit mehr Liebe.“1 Umkehr ist nicht Einschränkung unseres Lebens. Wahre Umkehr ist Umkehr zum Leben (vgl. Apg 11,18).

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Umkehr ist immer konkret. Theoretische Umkehr ist noch keine Umkehr. Darum ist auch dieses Buch über Umkehr geprägt durch persönliche Erfahrungen. Der Autor selber ist genauso Tag für Tag zur Umkehr herausgefordert wie die Leserin und der Leser. Aus dieser Situation heraus sind diese Zeilen geschrieben, nicht aus der Perspektive des schon Angekommenen. Sie sind ein Weiterdenken und Weitergehen zweier früherer Publikationen.2 Das Buch will keine systematische Aufarbeitung anstehender Themen sein. Das geschieht in hervorragender Weise in verschiedenen Fachpublikationen.

Umkehr ist vielfältig und spannend wie das Leben. Nichts für Softies. Sie fordert den Mut, Neues zu denken und Vergangenes hinter sich zu lassen. Sie ist täglich überraschende Herausforderung. Darum stehen über den einzelnen Schritten in diesem Buch keine Titel. Sie wollen in erster Linie nicht Themen abhandeln, sondern Menschen auf einen Weg der Umkehr mitnehmen.

Theoretische Abhandlungen interessieren die kirchlichen Insider, aber bewegen die Menschen auf der Straße kaum. Überlegungen werden oft ohne große Auseinandersetzungen auf die Seite geschoben oder totgeschwiegen. Konkrete Schritte aber lassen nicht gleichgültig. Sie können Angst auslösen oder Freude. Wo kämen wir denn da hin? So warnen angsterfüllte kirchliche Autoritäten, die zwar Umkehr predigen, aber dafür sorgen, dass alles beim Alten bleibt. Wo kämen wir denn da hin? So fragen aber auch visionäre Menschen, die sich vom Evangelium und vom Alltag herausfordern lassen. Letzteren wollen wir uns mit diesem Buch anschließen, ermutigt vom Dichter und reformierten Pfarrer Kurt Marti (*1921):

Wo kämen wir hin,

wenn alle sagten, wo kämen wir hin,

und keiner ginge, um zu sehen,

wohin wir kämen, wenn wir gingen.

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Wo kämen wir hin? Wagen wir doch einfach neue und ungewohnte Schritte der Umkehr, um es zu erfahren! Dabei geht es sowohl um die Entdeckung von Selbstverständlichkeiten, die uns aber die Augen für neue Wege öffnen können, aber auch um Gewagtes, das uns die Größe unseres Glaubens erahnen lässt. Zu solchen Schritten ermutigt Papst Franziskus unermüdlich. In Mexiko ermahnte er die Bischöfe: „Ich bitte euch, nicht in die Erlahmung zu fallen, alte Antworten auf neue Fragen zu geben.“3 Damit ist ein großes Problem in der Kirche angesprochen. Wir haben uns an vieles gewöhnt in unserem Glauben. Der renommierte deutsche Geigenbauer Martin Schleske sagt dazu: „Es ist eine subtile Form des Unglaubens, wenn man sich an das, was man glaubt, gewöhnt hat. … In der Gewöhnung ist die Seele ohne Hoffnung und der Geist ist ohne Fragen.“4 Ja, die Gewohnheit sitzt tief in unseren Knochen: in unserem eigenen Glaubensleben, in unseren Pfarreien und Gemeinschaften, in unseren Diözesen, in der Universalkirche. Hier ist Umkehr gefordert. Aber: „Die Tür aus der Gewohnheit klemmt“, wie es der deutsche Aphoristiker Manfred Hinrich (1926–2015) treffend formuliert. Das kennen wir alle aus eigener Erfahrung. Woran können wir uns halten, um Schritte aus dem Gewohnten hinaus zu wagen? Wie bringen wir es fertig, „das bequeme pastorale Kriterium des ‚Es wurde immer so gemacht‘ aufzugeben“?5 Wir folgen hier einem einfachen und zugleich herausfordernden Rezept der christlichen Umkehr: Leben, was wir sagen; leben, was wir beten; leben, was wir feiern. Da wird deutlich: Umkehr hat nichts zu tun mit liberal oder mit konservativ, wie das einige meinen – und damit Umkehr verhindern. Umkehr hat mit unserer Orientierung an Jesus Christus zu tun. Umkehr hat zu tun mit dem Wesentlichen unseres Glaubens. Umkehr hat zu tun mit Liebe. Umkehr hat zu tun mit Glaubwürdigkeit und Authentizität.

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Bei der Umkehr geht es nicht einfach um Kleinigkeiten. Es geht um alles. Wie wir mit dem Kleinen umgehen, so gehen wir auch mit dem Großen um (vgl. Mt 25,21). Wenn wir im Kleinen versagen, versagen wir wohl auch im Großen. Das betrifft in besonderer Weise unseren Umgang mit Menschen. Jeder Mensch ist ein Geschenk Gottes. Durch jeden Menschen tritt Gott in unsere Mitte. Diese Einsicht war in den ersten Jahrhunderten des christlichen Glaubens das Revolutionäre. Die heidnische Elite fühlte sich durch die Demokratisierung des philosophischen Milieus geradezu bedroht. „Hier kam es nicht auf edle Geburt, auf kostspielige Bildung und Standesbewusstsein an, hier wurde dem Sklaven das gleiche Heil versprochen wie seinem Besitzer und einer Frau nicht weniger als dem pater familias – wo sollte das enden?“6

Durch jeden Menschen tritt Gott in unsere Mitte – im Großen und im Kleinen. 1488 begann der damals 13-jährige Michelangelo beim Maler Domenico Ghirlandajo (1449–1494) seine Lehrzeit. Was der große Lehrmeister dem jungen Michelangelo am ersten Tag sagte, vergaß dieser sein Leben lang nicht mehr: „Bringt dir eine Bauersfrau einen Korb, den sie bepinselt haben will, tue es, so schön du’s kannst, denn in seiner bescheidenen Weise ist das ebenso wichtig wie ein Fresko auf einer Palastwand.“7

Umkehr ist Glauben, nicht nur mit den Worten, sondern mit der ganzen Existenz, mit Körper, Geist und Seele. Umkehr bewegt. Um das zu zeigen, braucht der große Theologe Romano Guardini (1885–1968) ein eindrückliches Bild: „Glauben bedeutet mit dem Denken, mit dem Herzen, mit dem Gefühl für Richtig und Unrichtig, mit allem, was Menschendasein ausmacht, in Christi Schule zu treten. Denken wir daran: das ganze Schiff fährt falsch. Da hilft es nicht, im Schiffe von rechts nach links zu gehen, oder für einen Apparat einen anderen einzusetzen; das Ganze muss anders fahren. Glauben ist also ein Vorgang, eine Unterweisung, eine Umformung, worin die Augen neu geschaffen, die Gedanken anders gerichtet, die Maßstäbe selbst umgemessen werden.“8 Zur Umkehr versucht Papst Franziskus die Getauften zu bewegen. Wie wenig das verstanden wird, zeigen die Erwartungen von links und rechts, dass er einzelne Stühle auf dem Schiff Petri umstellt. Das aber ist nicht Glaube, sondern Organisation.

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Glaube ist mehr! Gott legt uns das jeden Tag ans Herz. Das 15. Kapitel des Lukasevangeliums ist eine besondere Perle des Evangeliums. Es beginnt mit den Worten: „Es nahten sich ihm aber all die Zöllner und die Sünder, um ihn zu hören. Und es nörgelten die Pharisäer und die Schriftgelehrten und sagten: Der da – er nimmt Sünder an und speist mit ihnen“ (Lk 15,1–2). Ist das nicht unerhört? „Es nahten sich ihm aber all die Zöllner und die Sünder, um ihn zu hören.“ Die Zöllner waren diejenigen, die von den Menschen Geld nahmen, viel mehr, als ihnen eigentlich zustand. Sie waren Abzocker. Darum waren sie von der Gesellschaft verachtet. Und die Sünder? Dazu gehören Mörder, Prostituierte, Diebe, Leute, die nie in den Tempel gehen. Es sind Menschen, mit denen wir nichts zu tun haben wollen. Und von diesen heißt es: „Es nahten sich ihm aber all die Zöllner und die Sünder, um ihn zu hören.“ Da dreht es einem ja den Magen um. So können wir auch den nächsten Satz nachvollziehen: „Und es nörgelten die Pharisäer und die Schriftgelehrten und sagten: Der da – er nimmt Sünder an und speist mit ihnen.“ Wer sind die Pharisäer und Schriftgelehrten? Leider haben wir von ihnen ein negatives Bild und legen sie sofort in der Schublade der „Schlechten“ ab. Nein, so ist es nicht. Die Pharisäer und Schriftgelehrten sind die religiöse Elite der damaligen Zeit. Heute wären es der Papst, die Bischöfe, Priester, Ordensleute, Pastoralassistentinnen und Pastoralassistenten, Katechetinnen und Katecheten, ja alle Getauften, die sich in der Kirche engagieren. Pharisäer und Schriftgelehrte wissen, was sich gehört. Sie tun, was sich gehört. Sie sind die Anständigen. Sie kennen das Gefängnis nicht von innen. Die Pharisäer und Schriftgelehrten von heute, das sind wir.

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„Es nahten sich ihm aber all die Zöllner und die Sünder, um ihn zu hören. Und es nörgelten die Pharisäer und die Schriftgelehrten und sagten: Der da – er nimmt Sünder an und speist mit ihnen“ (Lk 15,1–2). Leben wir als Kirche heute so, wie Jesus uns das vorgelebt hat? Nehmen Menschen Kirche heute so wahr? Nein, im Gegenteil! Wir sorgen uns vor allem um diejenigen, die noch da sind. Wir schauen, dass sie zufrieden sind und nicht auch weggehen. Jesus selbst aber sagt gerade zu diesen, die noch da sind: „Wollt auch ihr davongehen?“ (Joh 6,67). Diese Frage atmet Freiheit, nicht Angst. Und zu den Sündern gehen? Über sie sprechen wir lieber – verächtlich von oben herab -, als dass wir wirklich zu ihnen gehen und mit ihnen sprechen. Sehr oft kennen wir ihre Not nicht einmal. Als ich einmal davon erzählte, wie ich einen in der Öffentlichkeit vorverurteilten Menschen in eine Religionsstunde eingeladen habe, um über ‚urteilen und verurteilen‘ zu sprechen, schrieb mir ein Lehrerkollege: „Du würdest mich besuchen kommen, oder in deine Klasse einladen, wenn ich ein Mörder, oder Verbrecher wäre? Da ich aber ein ‚normaler‘ Pharisäer bin, bin ich weiter nicht interessant und Gott braucht sich nicht um mich zu kümmern. Ist es denn nicht so, dass glücklicherweise der Großteil der Menschheit ‚normale‘ Pharisäer sind und wir deshalb nicht in der Anarchie versinken, weil die sich größtenteils an die 10 Gebote halten und ein ‚vernünftiges‘ Leben führen? Oder darf ich auch noch Paulus zitieren: ‚Soll ich also sündigen, damit die Gnade umso größer werde?‘ Röm 6.1.“ Das ist eine verständliche Reaktion. Diese Haltung ist in der Kirche fest verankert. Umso wichtiger ist es, dass wir hören, was Jesus dazu sagt. Ansonsten haben wir Sündern nichts mehr zu sagen. In ihrem Elend kommen sehr viele Menschen gar nicht auf die Idee, die Kirche könnte ihre Zuflucht sein. Und Jesus, wie antwortet er auf diese unerhörte Situation: „Es nahten sich ihm aber all die Zöllner und die Sünder, um ihn zu hören. Und es nörgelten die Pharisäer und die Schriftgelehrten und sagten: Der da – er nimmt Sünder an und speist mit ihnen“? Er antwortet mit drei Gleichnissen. Ein Gleichnis ist eine von Jesus erfundene Geschichte. Sie knüpft an den Erfahrungen der Menschen an, die ihm zuhören. Er erzählt die Geschichte, um den Menschen den Blick zu öffnen für eine größere Wirklichkeit. In einer konkreten Situation will er den Menschen, die ihm zuhören, die Augen öffnen für Gottes Gegenwart. Er will ihnen Leben schenken, das sie aus dem Blick verloren haben. „Ich bin gekommen, dass sie Leben haben – ja es haben überreich“ (Joh 10,10).

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Das Gleichnis vom verlorenen Schaf (Lk 15,3–7) zeigt die große Liebe des Hirten zu jedem einzelnen Schaf, besonders zum verlorenen Schaf. Er wartet nicht, bis es umkehrt. Der Hirt geht dem Schaf nach und nimmt es aus Liebe auf seine Schultern! Jesus geht zu den Sündern und hört ihnen zu. So kommen sie auch zu ihm und hören ihm zu. Das ist auch der Weg der Kirche, eindrücklich dargelegt vom heiligen Papst Johannes Paul II. in seiner ersten Enzyklika: „Es geht also hier um den Menschen in seiner vollen Wahrheit, in all seinen Dimensionen. Es geht nicht um einen ‚abstrakten‘ Menschen, sondern um den realen, den ‚konkreten‘ und ‚geschichtlichen‘ Menschen. Jeder ‚einzelne‘ Mensch ist gemeint; denn jeder ist vom Geheimnis der Erlösung betroffen, mit jedem ist Christus für immer durch dieses Geheimnis verbunden. … Die Kirche darf am Menschen nicht vorbeigehen; denn sein ‚Geschick‘, das heißt seine Erwählung, seine Berufung, seine Geburt und sein Tod, sein ewiges Heil oder Unheil sind auf so enge und unaufhebbare Weise mit Christus verbunden. Dabei geht es wirklich um jeden Menschen auf diesem Planeten … Es geht um jeden Menschen in all seiner unwiederholbaren Wirklichkeit im Sein und im Handeln, im Bewusstsein und im Herzen. Der Mensch in seiner Einmaligkeit – weil er ‚Person‘ ist – hat seine eigene Lebensgeschichte und vor allem eine eigene Geschichte seiner Seele. … Er ist der erste und grundlegende Weg der Kirche, ein Weg, der von Christus selbst vorgezeichnet ist und unabänderlich durch das Geheimnis der Menschwerdung und der Erlösung führt.“9

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Das zweite Gleichnis handelt von der Frau, die zehn Drachmen hat und eine davon verliert (Lk 15,8–10). Sie durchsucht das ganze Haus, bis sie die Drachme gefunden hat. Was heißt das für uns Getaufte, was heißt das für die Kirche, die Gemeinschaft der Getauften? Sehr viele Menschen verabschieden sich von der Kirche. In kirchlichen Feiern und Veranstaltungen fehlen die Kinder und die Jugendlichen oft ganz. Menschen in großer Not denken nicht daran, bei Seelsorgenden Hilfe zu suchen. Als Getaufte sind wir aber besonders berufen, Notleidende zu suchen, sie wahrzunehmen, auf sie zuzugehen und ihnen zuzuhören. Die deutsche Schriftstellerin Ida Friederike Görres (1901–1971) nennt diese Haltung ein Werk der Barmherzigkeit: „Mir scheint deshalb, als ob der Ratende vor allem einer Kunst bedürfe, die ich fast ein selbständiges Werk der Barmherzigkeit nennen möchte: die Kunst des Hörens. … Hören heißt: sein Herz auftun und das, was ein andrer zu sagen hat, wie einen Gast einlassen; mit Ehrfurcht, ohne Hast, dass das Fremde sich ‚niederlassen‘ kann, ohne gleich mit Entgegnungen überschüttet, in Vergleiche gequetscht zu werden, – ohne es augenblicks mit meinen Marken zu bekleben und meinem Bestand einzuverleiben.“10 Diese Haltung finden wir als Kirche wieder, wenn wir realisieren, dass wir nicht in erster Linie etwas zu verteidigen haben. Wir haben Menschen zu suchen und dürfen uns freuen, wenn wir sie finden.

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„Es nahten sich ihm aber all die Zöllner und die Sünder, um ihn zu hören. Und es nörgelten die Pharisäer und die Schriftgelehrten und sagten: Der da – er nimmt Sünder an und speist mit ihnen“ (Lk 15,1–2). Das dritte Gleichnis (Lk 15,11–32), das Jesus in dieser Situation erzählt, ist das bekannteste und das längste überhaupt. Das kann leicht dazu führen, dass wir denken: Das kenne ich – und wir schalten unsere Aufmerksamkeit aus. Oder wir haben nicht die nötige Konzentration, dabeizubleiben. Versuchen wir es trotzdem. Es lohnt sich.

„Ein Mann hatte zwei Söhne.“ Hier sind bereits die drei Hauptpersonen genannt: Der Vater und seine beiden Söhne. „Und zum Vater sprach der jüngere von ihnen: Vater! Gib mir den mir zukommenden Teil des Vermögens. Und er machte ihnen auseinander, was er zum Leben hatte.“ Der Vater lässt dem Sohn seine Freiheit – weil er ihn liebt. „Wenige Tage danach, als er alles beisammen hatte, reiste der jüngere Sohn in ein fernes Land. Und dort verschleuderte er sein Vermögen in heillosem Lebenswandel.“ Das Schlimmste, was Eltern erwarten können, tritt ein. Heillos ist sein Lebenswandel. „Nachdem er aber alles vergeudet hatte, kam eine schwere Hungersnot über jenes Land, und er begann zu darben. Und er ging und hängte sich an einen der Mitbürger jenes Landes. Und der schickte ihn auf seine Felder zum Schweinehüten. Und er gierte danach, sich den Bauch mit den Schoten zu stopfen, welche die Schweine fraßen – aber keiner gab sie ihm.“ Der Sohn ist so richtig heruntergekommen. Spätestens hier ist klar: Er vertritt die Gruppe der Zöllner und der Sünder, die zu Jesus gekommen sind und ihm zuhören. „Zu sich selbst gekommen sprach er: Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben Brot in Hülle und Fülle – ich aber gehe hier vor Hunger zugrunde. Aufstehen will ich, zu meinem Vater gehen und ihm sagen: Vater! Ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen. Stell mich einem deiner Taglöhner gleich. Und er stand auf und ging zu seinem Vater.“ Seine Not treibt ihn zurück nach Hause, nicht etwa die Liebe zu seinem Vater. Er will wenigstens wieder etwas zu essen haben. Anders ist es beim Vater: „Als er noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater. Und es ward ihm weh ums Herz. Und er lief und fiel ihm um den Hals und liebkoste ihn.“ Er hat ihn erwartet, hat nach ihm Ausschau gehalten, seine Liebe ist nicht erloschen. Im Gegenteil. Ihm ist es weh ums Herz. Er rennt dem Sohn entgegen, diesem Sünder. Das ist Prävention gegen allen Schrecken (lat. terror) in dieser Welt: Den Menschen aus seiner Verzweiflung herausholen, aus seiner Isolation, ihm Gastfreundschaft gewähren. Es ist tragisch, wenn politische Kräfte die Angst schüren, um eine ausschließende Haltung einzunehmen, die zwar im Moment beruhigt, aber langfristig den Nährboden für den Terrorismus bereitet. „Der Sohn sprach zu ihm: Vater! Ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen.“ Und er hört vom Vater keine Schelte. „Der Vater aber sprach zu seinen Knechten: Schnell! Holt einen Talar heraus, den vornehmsten; den zieht ihm an. Steckt ihm einen Ring an die Hand und Schuhe an die Füße. Und bringt das Mastkalb; schlachtet es. Dann wollen wir essen und fröhlich sein. Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder aufgelebt; er war verloren und ist wieder gefunden. Und so begannen sie fröhlich zu sein.“ Das beste Gewand, einen Ring, Schuhe, Mastkalb, fröhliches Fest: All das für den misslungenen Sohn! Ist das nicht zu viel des Guten? Eines ist in der Zwischenzeit vielleicht klar geworden: Der Vater, das ist Gott. Er freut sich, dass ein verlorener Mensch wiedergefunden wurde und schenkt ihm in seiner Liebe Leben in Fülle. Hier könnte die Geschichte zu Ende sein.

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Der verlorene Sohn hat die Kirche immer sehr beschäftigt. So erhielt das Gleichnis auch den am weitesten verbreiteten Titel ‚Der verlorene Sohn‘. Liegen uns die verlorenen Söhne und Töchter auch so am Herzen, wie es uns das Gleichnis nahelegt? Müssen sie nicht vielmehr vonseiten der Getauften Vorwürfe hören oder spüren, dass sie uns überhaupt nicht mehr interessieren? Bei der Vorbereitung einer Versöhnungsfeier für die Schülerinnen und Schüler, die Lehrpersonen und die Angestellten unseres Gymnasiums dachte ich zuerst an eine Hilfe zur Gewissenserforschung. Das ist in kirchlichen Kreisen eine Selbstverständlichkeit. Aber: Müssen wir den Menschen wirklich sagen, was nicht gut ist in ihrem Leben? Genau das hat Jesus nur gegenüber den Schriftgelehrten und Pharisäern getan. Den Zöllnern und Sündern musste er das nicht sagen. Sie litten unter ihrer Situation. Müssten nicht auch wir zuerst das Mühsame im Leben der Menschen wahrnehmen? Jeder Mensch hat Mühsames zu tragen. So erhielt die Versöhnungsfeier den Titel: „Mühsames loslassen.“ Mühsames ist uns allen bekannt, Steine, die wir ständig mittragen. Sie beschäftigen uns tagsüber bei der Arbeit, in unseren Beziehungen mit Menschen, in Zeiten der Erholung, aber auch in der Nacht – vor dem Einschlafen oder wenn wir aufwachen. Anstelle einer detaillierten Liste zur Gewissenserforschung gab ich nur folgende Impulse zum Nachdenken: Mühsames in meiner Beziehung mit Gott, mit mir selbst, mit anderen Menschen, mit der Schöpfung. Und die große Frage, die sich bei diesen Überlegungen aufdrängt: Wie werde ich das Mühsame los? Da tönt plötzlich das uns vertraute Jesuswort ganz anders: „Heran zu mir alle, ihr Mühenden und Überbürdeten: Ich werde euch aufatmen lassen. Mein Joch nehmt auf euch und lernt von mir. Denn: Sanft bin ich und von Herzen niedrig, und ihr werdet Aufatmen finden für euer Leben. Mein Joch ist ja gut, und meine Bürde ist leicht“ (Mt 11,28–30). Übrigens: Das Interesse für die ausgeschriebene Versöhnungsfeier war sehr klein. Zu viert saßen wir in der Magdalenenkapelle. Und doch: Wir gingen tief berührt von dort. Einiges ist uns aufgegangen: Einen Mitmenschen um Entschuldigung bitten; das Gespräch suchen bei einem Menschen, der zuhören kann; selbst ein Mensch sein, der sich die Mühe nimmt, zuzuhören; das Mühsame im Gebet Gott anvertrauen; das Sakrament der Versöhnung empfangen.

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Das Wichtigste, was ich jungen Menschen im Religionsunterricht mitgeben kann, ist nicht das Glaubenswissen. Das Wichtigste ist auch nicht das Lernen von Gebeten. Wenn Jugendliche entdecken, dass sie ein Original sind, dass sie auch zum Mühsamen in ihrem Leben stehen können, dass sie zusammen mit anderen Menschen auf dem Weg sind, dann ist schon sehr viel passiert. Jeder Mensch ist ein Geschenk Gottes, ob er nun Glaubenswissen hat oder nicht, Gebete kennt oder nicht. Sobald Menschen die Botschaft des Auferstandenen existenziell erfahren und hören: „Und er legte seine Rechte auf mich und sagte: Ängstige dich nicht. Ich bins: Der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, und da! Ich bin lebend im All der Weltzeiten“ (Offb 1,17), geschehen auch heute Wunder. Die größte Freude in meinen vielen Jahren als Religionslehrer bereitete mir eine Schülerin mit einer E-Mail. Sie war mir in den Stunden nie besonders aufgefallen. Nach bald einem Jahr gemeinsamem Unterricht schrieb sie mir: „Ich wollte Sie fragen, ob es möglich wäre, ein Gespräch mit Ihnen zu haben. Ich habe eine Sache, die mich schon seit längerer Zeit sehr belastet und möchte gerne mit Ihnen darüber sprechen. Ich habe jede Woche Schule bei Ihnen, und ich komme immer sehr ruhig aus Ihrer Lektion. Ich habe das Gefühl, ich kann Ihnen vertrauen.“

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In meiner Zeit als Leiter des Internats der Stiftsschule unseres Klosters kam eines Tages nach dem Frühstück Armando zu mir. Er fragte mich, ob er für vier Stunden das Kruzifix haben könnte, das in meinem Büro hing. Zu diesem Kreuz hatte Armando offensichtlich in den vergangenen Wochen eine besondere Beziehung aufgebaut. Aufgrund verschiedener unglücklicher Umstände hatte ich gegen Armando ein Entlassungsverfahren einleiten müssen, das aber schlussendlich durch äbtliche Begnadigung aufgefangen werden konnte. Bei den vielen – nicht sehr angenehmen – Sitzungen sah er notgedrungen immer das Kruzifix, das hinter mir an der Wand hing. Nun wollte er es für den Zeichenunterricht mitnehmen. Ich gab es ihm. Nach zwei Stunden kam der Schüler wieder zu mir – wutentbrannt. Die Kunstlehrerin hatte die Aufgabe gegeben, eine Bleistiftzeichnung zum Thema ‚Dialog‘ zu machen. Während die meisten Schülerinnen und Schüler sich in ein Café zurückzogen, um Menschen im Dialog zu skizzieren, zeichnete Armando mein Kruzifix und darunter eine betende Person, die sich geradezu ans Kreuz klammerte. Die autobiografischen Hintergründe waren offensichtlich. Die Lehrerin wollte die Arbeit nicht akzeptieren, weil sie ihrer Ansicht nach nichts mit Dialog zu tun hatte. Ich gab Armando einen Zettel mit einem Gruß an diese Lehrerin und schrieb darauf ein Zitat von Teresa von Ávila: „Beten ist wie mit einem guten Freund sprechen.“ Armandos Idee hatte mich gleichzeitig gefreut und beschämt. Ehrlich gesagt: Ich wäre nie auf die Idee gekommen, Dialog auf diese Weise darzustellen. Und dies, obwohl ich immer wieder Gebet als Höchstform des Dialogs betrachtet hatte. Armando gehört seither zu meinen wichtigsten Lehrern für mein Gebetsleben.

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Die Geschichte vom Vater und seinen beiden Söhnen geht weiter. Sie bleibt nicht bei den Sündern und Zöllnern stehen. „Sein älterer Sohn aber war überfeld. Und als er kam, dem Haus sich nahte, hörte er Musik und Reigenlieder. Und er rief einen von den Burschen herbei und erkundigte sich, was das bedeute. Der sprach zu ihm: Dein Bruder ist da! Und dein Vater hat das Mastkalb geschlachtet, weil er ihn gesund zurückbekommen hat. Und er wurde zornig und wollte nicht hineinkommen.“ Das können wir nachvollziehen. Und spätestens jetzt merken wir: Dieser ältere Sohn vertritt die Gruppe der Pharisäer und Schriftgelehrten. Er ist rechtschaffen. Ohne ihn hätte der Vater seinen Landwirtschaftsbetrieb nicht führen können. Und da passiert Unerwartetes: Wie dem jüngeren Sohn geht der Vater auch dem älteren Sohn entgegen. „Sein Vater aber kam heraus und ermutigte ihn.“ Auch hier keine Schelte, sondern Ermutigung. Doch die Vorwürfe kommen vonseiten des älteren Sohnes. „Er antwortete dem Vater und sprach: Da! So viele Jahre mache ich dir den Knecht, und niemals habe ich eine Weisung von dir übertreten. Und du hast mir nie auch nur ein Böcklein geschenkt, damit ich mit meinen Freunden hätte fröhlich sein können. Als aber der da kam – dein Sohn, der, was du zum Leben hattest, mit Huren aufgefressen hat – hast du ihm das Mastkalb geschlachtet.“ Die Reaktion des älteren Sohnes ist uns vertraut. Sie ist mehr als selbstverständlich. Weil wir uns vorschnell mit dem jüngeren Sohn identifizieren, merken wir oft kaum, was der ältere Sohn mit uns zu tun hat. Als das Kloster Einsiedeln zur sogenannten Clinch-Wallfahrt Menschen einlud, die sich von der Kirche verabschiedet hatten, kam eine vorwurfsvolle Anfrage: „Muss man jetzt aus der Kirche austreten, damit man überhaupt noch nach Einsiedeln kommen kann?“

Bei einem Vortrag über dieses Gleichnis versuchte ich die hier dargestellte Betrachtungsweise zu vermitteln. Aufgrund einer Reaktion merkte ich, wie schwierig es ist, aus festgefahrenen Denkbahnen herauszufinden. Eine Frau schrieb, es sei für sie anklagend, nicht ermutigend, dass die Kirche – als älterer Bruder – alles falsch mache. Das Gleichnis ist aber nicht anklagend. Jesus erzählt es uns, damit wir den Weg aus den eingefleischten Selbstverständlichkeiten herausfinden und den Paradigmenwechsel aus der Tiefe unseres Glaubens entdecken. Die Pharisäer und die Schriftgelehrten sind nicht die Schlechten. Sie sind die Engagierten im Glaubensleben. Zu lange haben wir uns beim ‚verlorenen Sohn‘ aufgehalten. Die im Kontext der Erzählung wichtigere Figur ist der ältere Sohn. Auf ihn geht der Vater genauso zu wie auf den jüngeren Sohn. Die Botschaft überrascht: Gott geht den Sündern und den Pharisäern entgegen. Er will sie alle in seine Arme schließen. Lassen wir das zu? Wagen wir die Umkehr? Treten auch wir zum Fest ein? Das erfahre ich als sehr ermutigend. Der Vater versucht seinem Sohn die Augen zu öffnen für das tiefste Geheimnis seines Lebens: „Er aber sprach zu ihm: Kind, du bist allezeit bei mir, und all das Meine ist dein. Doch es gilt fröhlich zu sein und sich zu freuen, weil dieser, dein Bruder, tot war und wieder aufgelebt ist, verloren war und gefunden ist.“

Gehen wir noch einmal in die Ausgangssituation zurück, die Anlass für Jesus war, diese Geschichte zu erzählen: „Es nahten sich ihm aber all die Zöllner und die Sünder, um ihn zu hören. Und es nörgelten die Pharisäer und die Schriftgelehrten und sagten: Der da – er nimmt Sünder an und speist mit ihnen.“ Er erzählt die Geschichte nicht so sehr für die Zöllner und Sünder, wie wir das meistens wahrnehmen. Die Zöllner und Sünder haben ja den Weg zu ihm bereits gefunden. Er erzählt die Geschichte den Pharisäern und Schriftgelehrten, also auch denen, die sie im Gottesdienst hören.

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