Renate Welsh

...UND RAUS BIST DU

Renate Welsh

...UND RAUS BIST DU

Neue Rechtschreibung 2006

© 2008 by Obelisk-Verlag, Innsbruck Wien

Covergestaltung: Jacqueline Godany

Lektorat: Inge Auböck

Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2009

Print ISBN: 978-385197-570-3
E-Book ISBN: 978-3-85197-776-9

Österreichischer Kinder- und Jugendbuchpreis 2009 (Kollektion)

www.obelisk-verlag.at

Inhalt

An Stelle eines Nachworts

Mit vierzehn bist du alt genug zum Sterben

Was Lehrerinnen berichten

Haruns aus Georgien

Magomed aus Tschetschenien

Wenn die Frau stirbt, kriegen sie sowieso Visa für die Kinder

Splitter aus Texten von Wiener Schülerinnen und Schülern

connecting people

Jeder Schritt in meinem Leben nach dem 1. Juli 2001

Woos host du gemocht?

Wieder kam ihr Bruder mit Blut auf dem Hemd heim. Zum dritten Mal in dieser Woche. Die Haare standen zerrauft von seinem Kopf ab, in seinen Augen war dieses gefährliche Glitzern, das Pino Angst machte.

Esad riss den Schlüssel mit solcher Wucht vom Haken, dass der Nagel herunterfiel und über den Steinboden klirrte.

Mit angehaltenem Atem wartete Pino. Nach einer Ewigkeit schlich sie hinaus auf den Gang, klopfte an die Klotür, wieder und wieder. Auch als sie seinen Namen flüsterte, rührte er sich nicht.

Sie begann an die zerschrammte Tür zu trommeln, zuerst mit den Fingern, dann mit den Fäusten, bis ihr Bruder brüllte: „Verschwinde!“

Im Weggehen sah sie, dass die Tür nebenan einen Spalt offen stand. Die Nachbarin hatte bestimmt wieder alles gehört und sich ihre Gedanken dazu gemacht. Sie bestand darauf, dass Pino und Esad Tante Grete zu ihr sagten. Womöglich stand sie jetzt am Telefon und erzählte einer ihrer Freundinnen, dass es nebenan Streit gab.

Tante Grete war freundlich, großzügig, wirklich nett, aber sie war auch entsetzlich lästig. Vor ihrer Hilfsbereitschaft war kein Mensch sicher. Und natürlich musste man alles ganz genauso machen, wie sie es vorschlug, sie meinte es ja so gut.

Wenn Mama sagte, sie meint es so gut, verdrehte Esad die Augen.

Pino hasste es, wenn ihr Bruder die Augen verdrehte, bis man nur mehr das Weiße sah.

Danach stand Esad tagelang immer wieder mit diesen seltsam toten Augen vor ihr, auch in der Schule, stand immer genau dort, wo sie gerade durchgehen wollte, immer im Weg. Wie konnte man da denken?

Pino setzte sich an den Küchentisch und schlug ihr Hausaufgabenheft auf.

Das erste Beispiel war leicht, die Lehrerin gab immer ein leichtes Beispiel zum Eingewöhnen.

Pino hatte eben fertig gerechnet, als Esad zurückkam. Er schrubbte jeden Finger einzeln mit der Bürste, schaufelte sich Wasser ins Gesicht, verlangte ein Handtuch. Jetzt erst sah sie die Platzwunde unter seinem linken Auge.

„Starr mich nicht so an“, knurrte er. „Wasch lieber mein Hemd.“

Er zog es vor ihr aus, sie beeilte sich wegzuschauen, aber da hatte sie schon die rötlichen Flecke auf seinen Armen und auf seiner Brust gesehen.

So sehr sie sich bemühte, das Blut hinterließ gelbliche Flecke auf dem weißen Stoff.

Die Mutter schleppte schwer an einem Sack Zwiebeln, ließ ihn in die Ecke zwischen Herd und Schrank fallen. „War ein Sonderangebot“, sagte sie, als müsse sie sich entschuldigen.

Ihr Blick fiel auf die Wange ihres Sohnes, sie schlug sich mit der Hand auf den Mund, dann fragte sie doch: „Was ist passiert?“

„Nasenbluten“, sagte er.

Vom Nasenbluten bekam man keine Platzwunden. Das wusste die Mutter genauso gut wie Pino. Wie konnte Esad etwas so Dummes sagen?

Er merkte es offenbar selbst, seine Augenbrauen schienen zusammenzuwachsen. „Gibt es heute nichts zu essen?“

Die Mutter begann sofort Zwiebeln zu schälen und klein zu hacken. Tränen liefen ihr über die Wangen, ihre Augen wurden rot, sie griff blind nach einem Tuch, wischte ihre Nase ab, sah, dass sie ein Geschirrtuch erwischt hatte, warf es mit Schwung auf den Boden, bückte sich, um es aufzuheben, und stieß mit dem Kopf an den Küchentisch.

Tinte spritzte auf Pinos Heft. Sie bemühte sich, den riesigen Klecks mit dem Tintenkiller wegzumachen und verschmierte ihn nur. Das gab morgen ganz sicher Ärger. Außerdem verstand Pino nicht mehr, was sie überhaupt rechnen sollte.

Sie legte das Heft weg.

„Bist du fertig?“

Pino schüttelte den Kopf.

Nun würde die unvermeidliche Frage kommen: „Warum nicht?“

Sie kam.

Und natürlich sagte die Mutter, Esad solle seiner Schwester helfen, und natürlich hatte Esad keine Zeit, und natürlich kämpfte die Mutter mit den Tränen, und natürlich brannten die Zwiebeln an, und natürlich begann die Mutter zu schreien, und natürlich stürmte Esad aus der Wohnung und schmetterte die Tür hinter sich zu.

Die Töpfe auf dem Regal über dem Herd schepperten, die Gläser im Schrank klirrten.

Die Mutter setzte sich an den Tisch, stützte den Kopf in die Hände. Ihre Finger beschrieben kleine Kreise auf ihrer Stirn. Jetzt waren auch die Handrücken rot. Bis gestern waren es nur die Handflächen gewesen, hellrot mit merkwürdig gezackten brandroten Flecken.

Pino nahm ihr Heft wieder auf. Sie las die Aufgabe und verstand kein Wort. Buchstaben waren das, nackte Buchstaben, und sie bedeuteten nichts.

„Lies laut“, sagte die Mutter. „Manchmal hilft das.“

„Du verstehst ja nicht einmal deutsch.“ Kaum hatte sie das gesagt, hätte es Pino gern zurückgenommen. Sie wusste, wie sehr die Mutter darunter litt, dass sie so wenig Deutsch konnte.

Leider gab es keinen Radiergummi und keinen Tintenkiller, der löschen konnte, was einmal gesagt war.

Die Mutter presste die Handflächen aneinander. „Es geht nicht darum, ob ich es verstehe. Du verstehst besser, wenn du dir selbst laut vorliest.“

Pino wollte der Mutter sagen, dass es ihr leid tat.

Pino wollte der Mutter überhaupt nicht sagen, dass es ihr leid tat. Es war doch die Wahrheit, nichts sonst.

Die Mutter verschränkte die Finger ineinander, bis ihre Knöchel weiß hervortraten aus dem hässlichen Rot. Sie sah so furchtbar traurig aus.

Die Mütter der anderen Mädchen lachten und schwatzten miteinander, wenn sie vor der Schule warteten. Pinos Mutter schaute fast immer drein, als würde sie gleich anfangen zu weinen.

Pino begann laut zu lesen.

Es klopfte an die Tür.

Die Mutter zuckte zusammen, verkroch sich zwischen ihre Schultern. Als sie sah, dass es Tante Grete war, brachte sie ein jämmerliches Lächeln zustande.

Vier Stück Apfelstrudel auf einem Teller mit rosaroten Rosen und blauen Vergissmeinnicht stellte die Nachbarin auf den Tisch.

Die Mutter hob den Teller auf, wischte mit dem Geschirrtuch über die Platte. Die war ohnehin sauber. Dann wischte sie auch noch über den Stuhl, bevor sie Tante Grete zum Sitzen aufforderte.

Tante Grete betrachtete Mutters Hände. „Meine Güte, das wird ja immer schlimmer. Ich glaube, Sie sind allergisch gegen die Putzmittel, die sind bestimmt viel zu scharf. Sie müssen das melden. Verlangen Sie wenigstens Gummihandschuhe für die Arbeit.“

Die Mutter schüttelte den Kopf. Mit einer Mischung aus Worten und Gesten erklärte sie, wie ungeschickt sie mit Handschuhen sei. „Alles fällt, alles zerbricht. Kündigung.“

Pino kehrte zurück zu ihrer Rechenaufgabe. Die war gar nicht so schwer.

„Du schreibst aber wirklich schön“, sagte Tante Grete.

Pino bedankte sich und ging ins Zimmer, wo Esad auf dem Bett lag, Stöpsel in den Ohren und mit den Fingern schnipsend.

„Ist die alte Kuh weg?“, fragte er.

Pino schüttelte nur den Kopf, er würde sowieso kein Wort verstehen über dem Trommeln und Wummern in seinen Ohren. Sie hätte gern gewusst, was er hörte. Sie hätte auch gern gewusst, woher er den iPod hatte. Die Platzwunde unter seinem linken Auge starrte sie an.

In der Küche hörte sie Tante Gretes hohe Stimme und zwischendurch das eine oder andere Wort von ihrer Mutter. Chefin kam oft vor, Polizei, und noch öfter Angst. Die Frauen in der Küche konnten Pino jetzt nicht brauchen, das wusste sie, Esad konnte sie ebenso wenig brauchen. Schon zum dritten Mal winkte er in Richtung Tür.

Pino setzte sich auf das Bett, das sie mit der Mutter teilte, kreuzte die Beine, wandte Esad den Rücken zu.

Sie schloss die Augen, stellte sich das Holzhaus vor mit der Veranda aus krummen Knüppeln direkt neben dem riesigen Baum mit den lockigen Lianen, die bis zum Boden reichten. An diesen Lianen konnte man auf die Veranda klettern. Das blutige Fleisch in der Blechschüssel umsummt von einer ganzen Traube Fliegen blinzelte sie schnell weg, legte ein großes Büschel Bananen an seine Stelle. Bananen mochte sie gern. Auf der Veranda würde sie sitzen mit ihren Freundinnen. Natürlich würde sie Freundinnen haben, alle mit schwarzen Haaren und bunten Blumen darin. Sie wusste nicht mehr, von welchem Land der Film gehandelt hatte, aber die Schmetterlinge größer als die Hand eines Erwachsenen sah sie noch vor sich. Sie würde das Haus schon finden. Irgendwo in einem tropischen Wald. Eine weiße gehäkelte Hängematte würde sie an einem dicken Ast festmachen und an dem Pflock, der die Veranda trug. In dieser Hängematte würde sie schlafen und niemand würde sie schubsen.

„Pino!“ Warum schrie Esad in ihr Ohr, das tat ja weh! „Du sollst einkaufen gehen!“

„Warum gehst nicht du?“, fragte sie.

„Na, hör einmal!“ Er klang ehrlich empört, als hätte sie etwas furchtbar Unanständiges gesagt.

Das Ärgerlichste war, dass auch sie es für selbstverständlich hielt, vom großen, klugen, schönen Bruder herumkommandiert zu werden.

„Immer ich“, murrte sie trotzdem.

„Natürlich du. Wer sonst?“ Er lachte.

Wenn er lachte, tanzten grünliche Pünktchen in seinen Augen. Plötzlich verzog er das Gesicht. Die Wunde klaffte.

„Da muss ein fester Verband drauf“, sagte Pino. „Damit es zuheilt. Sonst hast du eine ganz hässliche Narbe und kein Mädchen schaut dich mehr an!“

„Ja, Frau Doktor.“

Er lachte sie aus. Sie hatte gewusst, dass er sie auslachen würde.

Pino sperrte den Briefkasten auf, der wieder einmal überquoll von Werbung. Mama weigerte sich, die Post zu holen. Sie fürchtete bestimmt, es könnte ein Brief von der Fremdenpolizei dabei sein.

Esad sagte immer wieder, wenn der Brief da ist, ist er da, egal ob du ihn gelesen hast oder nicht, aber Mama schüttelte nur den Kopf und weigerte sich darüber zu reden. Esad konnte noch so viele Gründe dafür anführen, dass die Mutter alles nur schlimmer machte, wenn sie den Kopf in den Sand steckte.

Pino hatte sich schon beinahe daran gewöhnt, dass Esad tat, als wäre er der Mann im Haus, seit Tata nicht mehr da war. Obwohl Esad in vieler Hinsicht strenger war als der Vater. Tata hatte sie wenigstens hin und wieder um den Finger wickeln können, bei Esad gelang ihr das nie.

Mama biss sich auf die Unterlippe, als sie Pino mit dem Packen Post sah. Sie rührte so heftig in der Pfanne, dass Zwiebelstückchen über den Herd spritzten, ein paar blieben an der Wand kleben.

Pino teilte die Prospekte in zwei Häufchen, auf eines kamen die mit Bildern von schönen Orten, schönen Kleidungsstücken, Möbeln und Autos. Die würde Pino später ausschneiden und zu Bildern zusammenstellen, die ihr beim Träumen halfen. Maschinen, technische Geräte und Hausrat interessierten sie nicht, nur die aus festem Papier verwendete sie als Unterlage für ihre Klebebilder.

Zwischen den Prospekten steckte ein Brief, aber der war gewiss nicht von der Fremdenpolizei, die Adresse war mit der Hand geschrieben und auf der Marke prangte ein Blumenstrauß. Das Amt schickte keine Blumen. Auch nicht auf Briefmarken.

Pino reichte der Mutter den Brief. Die wischte sich die Hände an der Schürze ab, obwohl sie sie gerade gewaschen hatte, bekam diesen furchtbar fahrigen, verschreckten Blick, der Pino wütend machte, nahm den Brief mit spitzen Fingern, als würde er beißen oder explodieren. Dann erkannte sie die Schrift, atmete lange aus.

„Mach du auf!“, bat sie, als hätte sie nicht mehr die Kraft dazu.

Der Brief war von ihrer Schwester. Wenn Pino so krakelig schreiben würde und die Zeilen wie Wasserwellen über das Papier liefen, würde die Lehrerin schimpfen.

„Lies mir vor.“

Es gehe ihr gut, schrieb Tante Sosa. Ihrem Mann und ihrem Sohn gehe es auch gut.

Als stünde er neben dem Tisch, sah Pino Javer vor sich: seine lockigen Haare, seinen schiefen Vorderzahn, sein Grinsen. Javer konnte schon gut Englisch, seit drei Monaten war er im Fußballteam seiner Schule und trug jeden Tag vor dem Frühstück Zeitungen aus.