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© 2020 Christine Preißmann

Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783752634075

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Menschen im Autismus-Spektrum und die Corona-Pandemie

Seit einigen Monaten erleben wir eine Situation, die neu und ungewohnt ist und die für alle Menschen eine große Herausforderung darstellt.

Fast alle von uns durften in unserem bisherigen Leben – oder zumindest in den letzten dreißig Jahren davon – ganz selbstverständlich Freiheit genießen. Aus dem Haus gehen, wann und wie es uns gefällt, Menschen treffen, einkaufen, was wir uns leisten können, einen Kaffee trinken, Ausflüge machen, verreisen, Kultur erleben. Eigentlich selbstverständlich, aber fast alles davon war und ist nun, in diesem denkwürdigen Jahr 2020, reglementiert, weil es da plötzlich eine weltweite Bedrohung gibt, die unser aller Leben auf den Kopf stellt.

Viele Menschen mit Autismus und ihre Angehörigen erleben die Coronakrise tatsächlich als eine schwere Krisensituation, und während für zahlreiche andere problematische Lebenssituationen bereits hilfreiche Strategien beschrieben wurden, sind wir nun darauf angewiesen, regelrecht „Pionierarbeit“ zu leisten und neue Hilfen zu überlegen. Dies ist eine spannende Herausforderung, die wir nicht ungenutzt lassen sollten. Es macht also Sinn, die Überlegungen von Menschen mit Autismus, die erlebten Schwierigkeiten und vor allem die gefundenen Strategien im Hinblick auf die Coronakrise zu erfragen und so gemeinsam Hilfen auch für künftige Ausnahmesituationen zu erarbeiten.

In einer Umfrage wurden deshalb Menschen im Autismus-Spektrum und Angehörige von mir zu ihren Gedanken, Erfahrungen und Vorschlägen befragt. Einige Ergebnisse sollen nachfolgend dargestellt werden. Sie beinhalten zahlreiche Anregungen und wertvolle Erinnerungen – an eine ganz besondere Zeit im Jahr 2020.

Gleiche Ängste, Sorgen und Nöte wie alle

Menschen mit Autismus berichteten von denselben Ängsten und Sorgen, die auch andere Menschen beschäftigten.

Da war die Angst, zu erkranken und vor allem die Menschen anzustecken, die uns lieb und wichtig sind. Die Sorge, wie schlimm es in den Krankenhäusern wohl werden würde. Bei den Berufstätigen gab es eine besondere Anspannung, weil so vieles neu bedacht und geregelt werden musste, in nahezu jedem Betrieb. Und von Mitarbeitern im Gesundheitswesen wurde das täglich ungute Gefühl beschrieben, zur Arbeit zu fahren, sowie die Anspannung und Aufregung – würde alles klappen?

Selbstverständlich aber sorgten sich auch viele Betroffene um die Zukunft. Wie wird es nach der Krise wohl in unserem Land, in Europa, in der Welt weitergehen? Wie wird die Wirtschaft wieder auf die Beine kommen? Wird es eine Weltwirtschaftskrise geben („Ich erwarte, dass das persönliche Erkrankungsrisiko relativ gering ist, aber die Folgen der Wirtschaftskrise werden wir vermutlich alle spüren“)? Was wird aus all den Menschen, die keine Arbeit mehr haben? Wie wird die Welt „danach“ aussehen? Und – wer soll das bloß alles bezahlen? Werden wir irgendwann schließlich vielleicht sogar vor dem Virus kapitulieren müssen, weil es sich mit den Maßnahmen, die uns möglich und zumutbar sind, nicht eindämmen lässt?

Irgendwann werden uns unsere Kinder oder Kindeskinder vielleicht nach den Erfahrungen dieser Zeit fragen. Sie fragen schon längst nicht mehr nach dem Zweiten Weltkrieg, aber sie werden uns vermutlich nach Corona fragen, und wir müssen ihnen dann Rede und Antwort stehen: „Wie war das denn damals?“, werden sie wissen wollen, „als unser Land, ja die ganze Welt, mehr oder weniger stillstand, als nichts mehr ging, als wir uns ständig die Hände waschen mussten, daheim eingesperrt waren und nicht mehr draußen spielen durften? Wie war es, als Ihr Eltern Eure Arbeit verloren hattet, als Vater so wütend und genervt war, getrunken und uns Kinder manchmal geschlagen hat, weil er so verzweifelt war? Und wie war das noch gewesen, als wir nicht mehr das Geld hatten, um den Bankkredit zu zahlen und dann aus dem schönen Haus ausziehen mussten?“ - Solche und ähnliche Fragen könnten dann kommen. „Aber vielleicht war es ja gar nicht so schlimm, und vielleicht war es ja auch sehr schön, als die Familien während der Krise beisammen waren wie sonst nur an Weihnachten oder im wohlverdienten Jahresurlaub?“

Krisen sind immer auch Chancen. Nutzen wir sie. Was mich betrifft, werde ich vielleicht einige „Corona-Geschichten“ schreiben. Ob sie sich tatsächlich ereignet haben, spielt dabei gar nicht die entscheidende Rolle. Hauptsache, sie sagen uns die Wahrheit. Und gute Geschichten tun das immer. Sie können uns gar nicht belügen, weil sie uns vom Leben erzählen, wie es wirklich war und ist, denn das Leben lässt sich nicht täuschen. Leben wir dieses Leben nur ganz bewusst und seien wir offen für seine Geschenke und Gaben. (Hubert Michelis)

Aber neben den Sorgen und Nöten, die vermutlich alle Menschen in diesen Tagen umtrieben, gab es bei autistischen Menschen noch einige weitere Besonderheiten.

Autismusspezifische Aspekte der Coronakrise und Auswirkungen auf das Befinden der Betroffenen

In der Befragung unter betroffenen Erwachsenen wurde deutlich, dass zahlreiche unterschiedliche Aspekte im Zusammenhang mit der Coronakrise von Bedeutung sind, die sich auf unterschiedliche Weise auf das Befinden autistischer Menschen auswirken – positiv genauso wie negativ.

Notwendigkeit von Flexibilität, Verlust von Strukturen und Routinen

Die zahlreichen Veränderungen und Neuerungen vor allem zu Beginn der Pandemie wurden als große Herausforderung erlebt. Es wurde eine ganze Menge an Flexibilität verlangt, die Fähigkeit, sich täglich (oder manchmal gefühlt auch stündlich) an sich verändernde Bedingungen neu anzupassen. Viele Betroffenen beschrieben eine große Erschöpfung und Überforderung.

Liebgewordene Routinen konnten so nicht mehr ausgeführt werden, man musste sich ständig neu erfinden und sich neue Strukturen überlegen:

Mich an die Regeln zu halten, fiel mir überhaupt nicht schwer – stressig waren jedoch die Veränderungen und dass so vieles, was mir Struktur und Halt gab, plötzlich wegfiel. Mein fester Wochenplan brach zusammen und damit meine psychische Verfassung. (Martina Meigen)

Am Freitag, dem 13. März ist es soweit, passend für alle abergläubischen Menschen: Der Lockdown! Es trifft mich wie ein Schlag, auf einmal bricht alles weg von 100 auf 0. Mit äußerst schlechtem Gewissen gehe ich abends ein letztes Mal zum Sport, bei der Arbeit wird ein Monat Zwangsurlaub angeordnet. Dadurch fallen alle Aktivitäten flach, die meine Tage strukturieren, mich bereichern und unter Menschen bringen. (Stephanie Walter)

Ich litt darunter, den Tag nicht wie sonst mit den Aktivitäten beschließen zu können, die mir lieb und wichtig sind – einen Kaffee trinken in einem netten Café, der Besuch eines Museums, der Leseraum der Bibliothek, meine Eltern treffen und vieles mehr.

Veränderungen und alles Unerwartete fallen Menschen mit Autismus ja generell sehr schwer, deshalb zeigten sich viele Betroffene zu Beginn sehr verunsichert und berichteten von großem Stress, bis es manchen von ihnen schließlich nach einer Weile (oft mit Unterstützung) gelang, ihre neue Routine zu finden (s.u.).

Viele andere autistische Menschen aber waren auch noch nach mehreren Wochen und Monaten mit der neuen Situation überfordert und erlebten die Corona-Pandemie als eine „Zeit der totalen Verunsicherung“. Sie berichteten, „die Kontrolle über mein Leben verloren“ zu haben: „Es ist alles Chaos“, weil die vorherige Struktur nicht mehr aufrechterhalten werden konnte. Oft haben sie feste Rituale für den Alltag, machen bestimmte Erledigungen und Wege, die ihnen Halt geben - und diesen Halt haben sie nun verloren. Der Ablauf ist ein anderer, die so wichtigen Tages- und Wochenpläne funktionieren nicht mehr, es gibt keine Sicherheit mehr.

Körperliche Distanz und persönliche Kontakte

Man weiß schon lange, dass es stressmindernd wirkt, auf angenehme Weise berührt zu werden. Es werden dann weniger Stresshormone ausgeschüttet, die Angst löst sich, das Gefühl einer Grundsicherheit stellt sich ein.

Auch viele Menschen mit Autismus haben Berührungen entdeckt, die ihnen guttun - der zufällige enge körperliche Kontakt in Alltag gehört jedoch in den meisten Fällen nicht dazu. Daher gelang es den meisten Betroffenen recht problemlos, die Abstandsregel zu befolgen und die körperliche Distanz zu wahren. Der Verzicht auf Händeschütteln und Umarmungen wurde sogar als äußerst angenehm erlebt. Schwierigkeiten bereitete eher die stressauslösende Ungewissheit, ob denn auch die anderen Menschen den notwendigen Abstand einhalten würden. Und jeder Mitmensch ist noch weniger als sonst zu durchschauen:

Ist er ein freundlicher Helfer, der mich unterstützt, oder jemand, der, ohne es zu wissen, das Virus in sich trägt und mir die Infektion bringt? Wem kann ich noch vertrauen?

Probleme mit dem Alleinsein hatten anfangs vor allem solche Menschen, die es gewohnt waren, sich durch soziale Kontakte zu stabilisieren. Wer dagegen einsame Zeiten in seinem Leben kennt, dem machte das erzwungene Alleinsein zu Beginn der Pandemie in vielen Fällen nicht so viel aus, denn er hat ja geübt, damit zurechtzukommen.

Längerfristig jedoch zeigte sich deutlich, dass die aktuelle Bedrohungslage für ohnehin einsame Menschen besonders belastend zu sein scheint. Dies betrifft ja auch zahlreiche Menschen mit Autismus. Einsamkeit steigert generell die Wahrnehmung von Angst und Stress. Und nun fällt der stressmindernde Effekt sozialer Nähe für die, die allein sind, weg:

Ich lebe allein - und das sehr gern. Bei der Arbeit habe ich ein paar Kontakte, danach genieße ich die Zeit in meiner Wohnung mit mir selbst. Ich muss auf niemanden Rücksicht nehmen, keine Kompromisse eingehen in der Alltagsplanung. Aber jetzt, in der Krise, fällt mir manchmal doch die Decke auf den Kopf, wie man so sagt. Seit Anfang April arbeite ich von zu Hause aus, die wöchentliche Arbeitszeit hat mein Arbeitgeber deutlich reduziert.

Mir bleibt also gerade viel, zu viel Zeit, mich mit mir selbst zu beschäftigen. Deshalb gehe ich täglich raus, fahre Fahrrad, laufe, gehe spazieren. Wenn mir Paare begegnen, steigt manchmal so etwas wie Neid in mir auf. Natürlich weiß ich von anderen Menschen, wie konfliktbehaftet die Corona-Zeit für so manches Paar sein kann, weil man einfach so viel mehr Zeit füreinander hat und oftmals gar nicht daran gewöhnt ist. Ich selbst aber sehe beim Blick auf die Paare in erster Linie zwei Menschen, die sich berühren dürfen, die Hand in Hand gehen und sich in der Krise unterstützen können. In solchen Momenten wird mir oft schmerzlich bewusst, wie allein ich mich fühle.

Psychische Instabilität und fehlende Unterstützung

Die Kontaktbeschränkungen hatten einerseits zur Folge, dass man anderen nicht mehr mühsam erklären musste, weshalb man am liebsten zuhause sitzt, oder dass spontane Überraschungsgäste, die eine große Herausforderung bedeuten, wegfielen, was häufig als „großes Glück“ empfunden wurde. Gleichzeitig jedoch – und das war das eigentliche Drama – brach in dieser Zeit nahezu die gesamte Unterstützung zusammen. Autismus-Therapie-Zentren mussten vorübergehend den Betrieb einstellen, persönliche Assistenzleistungen fielen meist ebenso weg wie Physio- und Ergotherapie. Psychotherapeuten arbeiteten bevorzugt mit Videositzungen statt mit persönlichen Kontakten, Selbsthilfegruppen und andere Gesprächs- oder Freizeitangebote für autistische Menschen durften nicht stattfinden. In dieser Zeit voller Angst und Unsicherheit, in der viele Betroffene deutlich mehr Hilfe gebraucht hätten als sonst, gab es häufig gar keine Unterstützung mehr. Einige autistische Menschen, die üblicherweise längst alleine lebten, zogen wieder bei ihren Eltern ein, weil sie dort zumindest noch ein bisschen Hilfe erhalten konnten. Gleichzeitig aber wurde auch dies oft als schwierig beschrieben, weil man sich in der eigenen Wohnung mit den eigenen Routinen so eingerichtet hat, dass es für die eigene Person passt – aber eben nicht immer für die Eltern. Vor allem zu Beginn war das Miteinander häufig durch viele Spannungen geprägt, bis man sich meist ein bisschen an die aktuelle Situation gewöhnen und gemeinsam Kompromisse finden konnte.

Viele Betroffene fürchteten aber doch eine deutliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustands, sollte die Krise länger anhalten. Bei einigen von ihnen führte die Pandemie zu länger anhaltender seelischer Instabilität mit verstärkten Sorgen. Aufgrund der Schließung der Hilfsangebote verloren sie wichtige Möglichkeiten der Tagesstrukturierung sowie des Austauschs mit anderen Menschen. Die krisenbedingt negativen Botschaften aus den Medien wurden häufig noch deutlich pessimistischer interpretiert als von anderen Personen, was manchmal zu einer zunehmend negativen Weltsicht führte. Alle diese Faktoren können bereits bestehende Depressionen verstärken; manchmal kommt es auch zu einer paranoiden Verarbeitung der Ängste.

Man vermutet, dass insgesamt die Menschen, die emotional stabil sind, sich unter Corona relativ sicher fühlen; diejenigen aber, die zuvor schon keine Grundsicherheit erleben konnten, es nun in der Pandemie besonders schwer haben werden.

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