Für alle, die
irgendwann mal an sich gezweifelt haben.
Für
alle, die auch jetzt an sich zweifeln.
Du
bist wertvoll.
Du
bist einzigartig.
Du.
Bist.
Schön!
Piiieeeep.
Das aufdringliche Fiepen saß tief in seinen Gehörgängen. Aus weiter Ferne war ein Husten zu hören. Sein Mund war trocken, Staub verstopfte seine Atemwege. Vielleicht war es besser so. Nicht zu atmen. Jeder Atemzug schmerzte. Er spürte seinen Herzschlag in der Brust, als wolle er ihn daran erinnern, dass er noch am Leben war. Er schloss die Augen. Alles um ihn war grau, doch selbst wenn die Luft von sauberer Klarheit gewesen wäre, er wollte die Wahrheit nicht sehen.
Also blieb er liegen, versuchte zu vergessen. Schlaf lockte ihn, aber etwas hielt seinen Geist zurück. Der schlaffe Körper neben ihm, auf dem seine Hand ruhte. Ihm war, als würde er unter seinen Fingern stetig kälter werden.
Wieder hatte er sie ihm Ohr. Die Explosion. Obwohl sie nur in seiner Erinnerung stattfand, kniff er die Augen zusammen. Ashers Hand, innig verbunden mit seiner. Eben noch da, im nächsten Augenblick brutal entrissen. Stattdessen spürte er jetzt den Tod an seinen Fingern. Diese Wahrheit zu akzeptieren, dafür war er noch nicht bereit.
Vielleicht sollte er Ashers Namen rufen, vielleicht wachte er auf, sobald er ihn schüttelte. Doch Crish blieb liegen. Niemals wieder würde er sich bewegen. Der Sinn dafür war ohnehin verloren. Der lange Gegenstand, der aus dem Bauch des Körpers ragte, hatte jeden Wunsch nach Leben in ihm getötet. Er spürte ihn an seinen Fingerspitzen, Feuchtigkeit verklebte seine Hand.
Obwohl er die Augen davor verschloss, reichte diese kleine Berührung, um Bilder in seinem Kopf hervorzurufen und dort einzubrennen. Bilder, die er verweigerte. Aber sie waren stärker.
Asher. Kein Atem. Blut.
Crishs Herz zersplitterte in Millionen kleine Scherben. Er glaubte zu ersticken. Alles schmerzte. Asher.
Inakzeptabel.
Er ließ sich fallen. Es gab nichts, was ihn hielt. Eine neue Dunkelheit verschlang ihn, und er war gern bereit, sich für immer in seine Bestandteile aufzulösen …
Stimmengewirr. Stimmen. Sie waren wie Hände, die ihn an Armen und Beinen aus der Dunkelheit hoben. Mühsam öffnete er die Augen. Nur einen Blick, mehr brauchte er nicht. Grelles Licht bohrte sich in seine Augäpfel und er wollte seine Hände schützend davorhalten. Doch seine Arme waren zu schwer, jemand hatte sie mit Blei gefüllt. Also schloss er sie wieder.
Ein neues Bild erwartete ihn dort in der Finsternis, und ihm war, als wäre es eine flüchtige Erinnerung. Asher, der sich über ihn beugte. Asher, mit seinem blonden Haar, das im Sonnenlicht leuchtete wie flüssiges Gold. Seine smaragdgrünen Augen, die besorgt auf ihn hinabblickten. Ein seltsamer Frieden befiel Crish. Ja, das war ein Bild, das er mit in die Dunkelheit nehmen wollte. Es würde ihm alles einfacher machen, auch wenn es bloß ein Trugbild war. Sein Gehirn, das die Realität nicht akzeptierte und deshalb Bilder produzierte, die seine Seele schützten. Asher war tot, aber Crish war bereit, sich täuschen zu lassen.
Als er das nächste Mal die Augen öffnete, nur kurz, war es nicht mehr hell. Ein seltsames Schunkeln ließ seinen wunden Körper schmerzen. Wieder drangen Stimmen an sein Ohr, dieses Mal geflüstert und dumpf. Richtig, die Explosion. Er erinnerte sich. Das Piepen war leiser geworden, dafür hatte nun jemand seine Ohren mit Watte gefüllt. Sollte ihm recht sein. So würde er leichter hinabsinken können, das Einzige, wonach er sich sehnte. Schlafen. Und am besten niemals wieder aufwachen.
Asher. Die erneute Erkenntnis war wie ein Eimer kaltes Wasser. Er verzerrte sein Gesicht, sein Magen krampfte sich zusammen und er konnte sich gerade noch rechtzeitig zur Seite drehen, ehe er sich hustend erbrach.
Es wäre besser gewesen, wenn er Asher gefolgt wäre. Gemeinsam in den Tod.
AM ABEND ZUVOR
Crish hatte noch nie in seinem Leben Fingernägel gekaut. Bis jetzt. Rhodes hatte ihm erst vor einer halben Stunde den neuen Chip unter die Haut gesetzt, mit unverfänglichen Daten für einen risikoreduzierten Weg zurück. Es tat ein bisschen weh, der Schmerz zwischen Zeigefinger und Daumen strahlte in die ganze Hand.
Seit er wusste, dass Asher in die Villa von Aleena Runa gehen würde, war Crish ein nervliches Wrack. Mehrere Stunden war Asher nun schon mit Graey im Leuchtturm, um ihren Plan zu besprechen, und in der Zwischenzeit hatten bereits Crishs rechter Zeigefinger und beide Daumen daran glauben müssen. Nun sprang er von der Couch auf und durchquerte zum gefühlten tausendsten Mal das Zimmer in der alten Pension. Da war dieses beklemmende Gefühl, als umgebe ihn eine Wolke des Unheils, drang durch seine Poren in seinen Blutkreislauf und vergiftete sein Herz. Aleena Runa. Sie kehrte alles ins Gegenteil um. Aus Licht wurde Schatten. Aus gut wurde schlecht. Aus Hoffnung wurde Angst.
Nach einer weiteren nervösen Runde durchs Zimmer ließ Crish sich abermals aufs Sofa fallen. Er hatte es versucht, aber er konnte den nächsten Fingernagel nicht länger verschonen.
Als endlich die Tür aufging, sprang er erleichtert auf. Asher sah müde aus, ein wenig blass.
»Wo ist Graey?«, fragte er, als Asher die Tür hinter sich schloss. Er hatte erwartet, dass Graey bei ihm sein würde, immerhin war dies auch sein Zimmer.
»Bei Novalee. Ich glaube, die brauchen etwas Zeit für sich.« Ohne weitere Umschweife zog er Crish in eine Umarmung. Erleichterung wärmte seine Brust und er vergrub sein Gesicht in Ashers Halsbeuge. Seine plötzliche Nähe trieb seinen Puls in die Höhe, als wäre es das erste Mal. Ashers ganzer Körper strahlte Zuneigung aus – und Verunsicherung. Langsam löste Crish sich aus seinen Armen, blickte ihn an und strich fürsorglich eine blonde Haarsträhne aus Ashers Augen.
»Ist euer Plan gut?«, fragte er leise, seine Stirn an die von Asher gelegt.
»So gut, wie ein Plan in der Theorie sein kann.«
Doch seine Gelassenheit war nicht echt. Crish zog seinen Kopf zurück und betrachtete ihn eingehend. Asher versuchte, aufmunternd zu lächeln, doch sein rechter Mundwinkel zuckte nervös. Crish berührte sachte seine Lippen und Ashers aufgesetztes Lächeln verblasste. Nun konnte Crish den echten Asher sehen. Den entschlossenen Asher, der sich der Gefahr ebenso bewusst war wie der Notwendigkeit, sich Aleena Runa zu stellen.
Schließlich zog Crish seine Hand zurück und senkte den Blick. »Wann müssen wir los?« Wir. Denn auch Crish würde gehen, gezogen von dem Wunsch, das Geheimnis um seinen verschwundenen Vater zu lüften. Sie würden gemeinsam getrennte Wege gehen.
Asher zog eine Augenbraue in die Höhe, seine Wangen wirkten mit einem Mal erhitzt. »In sechs Stunden«, antwortete er.
»Wir sollten vermutlich etwas schlafen.« Er wandte sich von Asher ab. Sicher, sie hatten sich geküsst, die Erregung des anderen gespürt. Bei der Vorstellung, in dieser Nacht noch weiterzugehen, herauszufinden, wie sie ihre Erregung steigern, auf die Spitze treiben konnten, bekam er vor ängstlicher Aufregung feuchte Hände.
»Ja, das klingt vernünftig«, sagte Asher hinter ihm, eine unausgesprochene Herausforderung.
Er spürte Ashers Hand an seinem Arm, mit vorsichtiger Entschiedenheit zog er Crish wieder zu sich, zwang ihn, sich ihm zuzuwenden. Unter heftigem Herzklopfen begegnete er seinem Blick, bis Asher sich vorbeugte, bis seine Lippen Crishs Ohr streiften. Sein warmer Atem kitzelte an seiner Haut.
»Oder …«, flüsterte er heiser, »… ich könnte dich berühren. Überall, wo du es möchtest.«
Allein die Vorstellung brachte ihn fast um den Verstand. Seine Wangen brannten und er schloss die Augen. Ein nervöses Lächeln schlich sich auf seine Lippen.
»Das könnte mir gefallen«, sagte er mit erstickter Stimme. In seinem Bauch explodierte ein Feuerwerk und ein Prickeln des Staunens überzog seinen ganzen Körper, als Asher begann, erst seinen Hals, dann seinen Nacken und seine Schulter bis zum Ausschnitt seines T-Shirts mit sanften Küssen zu bedecken. Er meinte es wirklich ernst! Crish legte die Arme um Ashers Schultern, vergrub seine Finger in seinem langen Haar und konnte es kaum erwarten, dass seine Lippen seinen Mund fanden.
Doch so sehr er es auch versuchte, es gelang ihm nicht, sich fallenzulassen. In seinem Kopf wirbelten Gedanken umher und in seiner Brust kämpfte sich eine lähmende Angst in den Vordergrund, die seine Muskeln verkrampfen ließ und ihn handlungsunfähig machte. Asher entging das nicht, denn plötzlich spürte er seine Lippen nicht mehr an seinem Hals.
»Sprich mit mir, Crish.« Seine Bitte klang so eindringlich, dass Crish verstört die Augen öffnete.
»Was?«
In Ashers Blick lag keine Enttäuschung, kein Vorwurf. Bloß Verunsicherung. »Wenn es dir zu schnell geht, sag es mir. Oder wenn dich etwas fertigmacht. Das ist alles okay, verstehst du? Aber bitte sprich mit mir.«
Alles in Crish sträubte sich dagegen und doch zog er sich von Asher zurück. Nervös befeuchtete er seine Lippen. »Ich möchte es wissen, Asher«, sagte er entschiedener, als er sich fühlte. »Ich muss wissen, was Aleena gemacht hat.« Er verzog sein Gesicht, als er ihren Namen aussprach.
Ashers Blick zuckte.
Angespannt fuhr Crish sich mit den Händen durchs Haar. »Es tut mir leid, ehrlich, aber ich kann das nicht vergessen. Morgen wirst du zu ihr gehen und ich verstehe einfach nicht, warum. Du hast gesagt, damit sie aufhört mit den Dingen, die sie macht. Aber was ist das? Wenn ich dich schon gehen lassen muss, wenn ich dich schon …«, er stolperte über seine Worte, »… verlieren könnte, dann will ich wenigstens wissen, wofür.«
Asher nahm seine Hand. »Du wirst mich nicht verlieren.«
Crish schüttelte langsam den Kopf, seine Finger mit denen von Asher verschränkt. »Das kannst du nicht wissen.«
Ashers Augenbrauen zuckten und ihr Blickkontakt riss ab. Ganz egal, was er behauptete, auch Asher spürte, dass ihre Zeit bald abgelaufen sein könnte.
»Uns bleiben nur ein paar Stunden. Willst du sie wirklich damit verbringen? Mit hässlichen Geschichten?«
Crish dachte an die Küsse an seinem Hals, seinem Nacken, und spürte die Reue, sich nicht einfach fallengelassen zu haben. Aber diese unausgesprochene Wahrheit würde immer zwischen ihnen stehen, wenn sie weiter schwiegen. »Nein, das will ich eigentlich nicht. Und dein Vorschlag ist wirklich … Aber die Unwissenheit macht mich fertig.« Hilflos griff er nach Ashers anderer Hand.
Asher presste seine Lippen aufeinander, dann nickte er. An einer Hand zog er Crish ans Bett.
»Setz dich.«
Crish zögerte, dann setzte er sich zu ihm. Asher ließ auch jetzt seine Hand nicht los. »Ich mache dir einen Vorschlag«, begann er und seine plötzliche Entschlossenheit irritierte Crish. »Du stellst mir drei Fragen, die ich dir ehrlich beantworten werde. Dann stelle ich dir drei Fragen, die du beantwortest. Und danach reden wir nie wieder darüber.«
Crish blickte ihn entgeistert an, sein Herz raste. »Du willst mir Fragen stellen?« Hitze stieg aus seinem Innersten auf, kroch seinen Hals hoch bis in seine Wangen und seine Ohren.
»Was denkst du denn?« Asher klang versöhnlich und legte seine Hand an Crishs Hals. Seine Finger waren kalt, sein Gesicht blass, aber seine Stimme war ohne Zweifel. »Ich frage dich schon seit Wochen, was Xander mit dir angestellt hat, so verstört, wie du warst. Wenn wir schon hässliche Wahrheiten voreinander ausbreiten, dann alle.«
Aus der Nummer kam er nicht raus und fast hätte er es vorgezogen, dass sich ein schwarzes Loch vor ihm auftat, in das er sich vorsorglich stürzen konnte. »Okay«, sagte er dennoch mit belegter Stimme.
Asher musterte ihn eingehend. Schon immer hatte er ein Gespür für seine Sorgen gehabt. »Es wird zwischen uns nichts verändern. Versprochen.« Er suchte Crishs Blick, sein angedeutetes Lächeln vertrieb beinahe alle Bedenken.
»Bist du sicher?«, fragte Crish.
Asher legte seine Stirn in Falten. »Bist du dir sicher?«
War er sich sicher? Dass er die Wahrheit über Aleena wissen wollte und auch mit ihr umgehen konnte? Was wäre für ihn das Schlimmste, das Asher ihm erzählen könnte? Dass er mit Aleena geschlafen hatte, flüsterte eine fiese Stimme in sein Ohr. Mit dieser Erkenntnis kam das Gefühl von Wut und Eifersucht. Aber nicht auf Asher. Er war nur das Opfer dieser Frau, niemals könnte er ihm das vorwerfen.
»Ja, versprochen.«
Asher musterte ihn, dann stahl sich ein Grinsen auf sein Gesicht. Ehe Crish sich versah, packte Asher ihn am Hinterkopf und zog ihn zu einem Kuss heran. Überrascht schloss er die Augen, erwiderte die Bewegung der stürmischen Lippen und spürte innerhalb kürzester Zeit wieder dieses verräterische Pochen. Als sie sich voneinander lösten, schmunzelte Asher verwegen und Crish war froh, dass er über dieses ganze Chaos hinweg seine Leichtigkeit nicht verloren hatte.
»Okay. Das musste sein. Und jetzt schieß los.«
Ihre Rückkehr entwickelte sich immer mehr zum reinsten Chaos. Noch immer hing Schutt und Staub von der Explosion an ihren Kleidern, in ihrem Haar, und noch immer konnte sie den Anblick des toten Körpers neben Crish nicht vergessen. Das viele Blut, die starren Augen. Ihr Cousin tat ihr furchtbar leid, doch ein wenig beneidete sie ihn auch um seine Ohnmacht.
Als der abgedunkelte Transporter kam, um sie zu holen, ein Bus, in dem sonst Waehrners befördert wurden, hatten sie keine andere Wahl gehabt, als Crish zu packen und die Leiche liegen zu lassen. Alles war so schnell gegangen, sie hatten nicht gewusst, ob noch weitere Bomben am Ausgang lagen oder ob ein Trupp Hummels bereits auf dem Weg zu ihnen war.
Der Bus kurvte eine Weile durch Liga 2, bis er irgendwann die Grenze zu Liga 1 überquerte. Novalee tauschte einen nervösen Blick mit Derron, der gerade zufällig neben ihr an einem der hohen Fensterschlitze stand und die Umgebung betrachtete, die an ihnen vorbeizog. Stacheldraht war an den Grenzen zwischen den Ligen gezogen worden. An gesonderten Übergängen standen Hummels und überprüften die ID-Chips. Noch nie hatte es in AurA Eupa Grenzkontrollen gegeben! Ihr Herz raste, als sie der Grenzkontrolle näherkamen. Doch sie wurden einfach durchgewunken. Wie es aussah, galten die neuen Regeln nicht für Fahrzeuge der Regierung.
»Hier hat sich einiges geändert, seit ihr weg seid«, sagte Camp, der plötzlich neben Novalee auftauchte.
»Du wusstest davon?«, fragte sie und kam sich in seiner Gegenwart schrecklich naiv vor.
»Natürlich! Das ist schließlich mein verdammter Job!«
Novalee wandte sich von Camp ab und setzte sich auf die Bank unter dem Fenster. Der Wagen schunkelte unaufhörlich, und ihr Magen zog sich zusammen. Angespannt sah sie sich im Bus um. Einige hatten sich auf dem Boden oder den Sitzgelegenheiten ausgestreckt und versuchten, nach der Explosion und dem Schock, etwas Ruhe zu finden. Ein gespenstisches Schweigen hüllte sie ein und niemand wagte es, diese andächtige Stille zu durchbrechen. Die Luft war abgestanden und schwer, sie selbst hatten den Gestank nach Qualm und Zerstörung in das Fahrzeug getragen.
Plötzlich traf ihr Blick den von Graey. Beim Gedanken an die letzten Stunden vor ihrem Aufbruch spürte sie die Verlegenheit in ihren Wangen glühen. Sie waren verliebt, das stand außer Frage und erfüllte Novalee mit einer kribbeligen Dankbarkeit. Doch in der letzten Nacht waren so viele verwirrende Dinge geschehen, die ihr das Herz schwer machten. Was gäbe sie darum, einfach aufstehen, den Bus durchqueren und Graey in ihre Arme nehmen zu können. Doch die verstörende Spannung zwischen ihnen lähmte sie, raubte ihren gerade erst so hart erkämpften Mut. Graeys Blick heftete sich auf sie, und doch wirkte er abwesend, als würde er noch einmal die gemeinsamen Momente der vergangenen Nacht durchleben, und er lächelte nicht. Natürlich nicht. Es brach Novalee beinahe das Herz.
Sie war es schließlich, die als Erstes wegsah, und zufällig bemerkte sie, dass Leilani sie beobachtete. Als fühle sie sich ertappt, grinste Leilani aufgesetzt. Doch der bekümmerte Ausdruck in ihren Augen blieb.
Als Leilani die Augen schloss, um ein wenig zu schlafen, tat Novalee es ihr gleich.
***
Jemand rüttelte sanft an Novalees Schulter. Verstört schlug sie die Augen auf.
»Wir sind da«, flüsterte Leilani gehetzt und hielt Novalee eine Hand entgegen. Novalee fiel es schwer, ihre Verwirrung abzuschütteln. Niemand war mehr im Wagen, selbst Crish mussten sie bereits rausgetragen haben. Sie ließ sich von Leilani auf die Füße helfen.
»Los jetzt, komm mit.« Sie zog Novalee am Arm durch den Bus, hin zum Ausgang neben dem Fahrersitz, wo Camp sich angespannt mit dem Fahrer unterhielt.
Die Tür stand offen direkt vor einem Eingang, von dem eine Treppe nach unten führte. Kühle Feuchtigkeit und der Geruch nach Keller stiegen zu Novalee empor, und etwas in ihr sträubte sich dagegen, hinabzusteigen. Der Transportbus parkte zu dicht an der Hauswand, um zu erkennen, um was für ein Gebäude es sich überhaupt handelte. Immerhin blieben sie so ungesehen. Mit unruhigem Magen gab sie schließlich ihren Widerstand auf und stieg die spärlich beleuchtete Treppe hinab, spürte Leilani in ihrem Rücken und zwang sich zu etwas mehr Vertrauen.
Unten angekommen erwartete sie eine fensterlose Wohnung. Mehrere kleine möblierte Zimmer, wie Relikte aus der Zeit lange vor den Bomben. Der Geruch nach Feuchtigkeit kroch ihr auch hier in die Nase. Neugierig blickte Novalee sich um. Sie hatten Crish auf ein dunkelbraunes Sofa gelegt und ein großer Mann mit breiten Schultern und ordentlich seitengescheitelten blonden Haaren beugte sich über ihn.
»Wer ist das?«, wisperte sie Leilani zu.
Leilani schmunzelte kurz und deutete dann ernst mit dem Kinn auf den Mann, der sich in diesem Moment aufrichtete und sich ihnen zuwandte. »Keine Panik, Novalee, er gehört zu uns. Ein Verbündeter – und Arzt.«
Der Anblick des jungen Mannes erinnerte sie in aller Deutlichkeit noch einmal daran, dass sie in Liga 1 waren. Er kam auf sie zu und streckte wie selbstverständlich die Hand aus. »Dr. Angus van der Meide«, stellte er sich vor.
Unschlüssig betrachtete sie seine Hand. Offenbar wusste er, dass ihre Chips nicht mehr aktiv waren. Novalee verwarf ihre letzten Zweifel und nahm seine Hand an. Obwohl sie seine ebenmäßigen Gesichtszüge ausgesprochen attraktiv fand, senkte sie nicht verlegen den Blick. Selbst das Zählen in ihrem Hinterkopf war nur ganz leise. Als sich ihre Hände wieder lösten, fühlte sie sich seltsam befreit. Weil sie noch ein Stück mehr der alten Novalee, die ihr immer mehr zuwider geworden war, abgelegt hatte. Unwillkürlich suchten ihre Augen den nur spärlich beleuchteten Raum ab. Sie hatte das Bedürfnis, Graey davon zu erzählen. Ihm zu zeigen, dass sie kämpfte. Doch er war nicht zu sehen.
Als sie sich wieder dem Arzt zuwandte, schüttelte er gerade Leilani die Hand und sie lächelte ihn unverbindlich an.
Camp tauchte hinter ihnen auf und auf seinem von Narben verzogenen Gesicht meinte Novalee einen missbilligenden Ausdruck zu erkennen.
»Ihr habt euch schon bekannt gemacht, wie ich sehe?« Mit seiner kratzigen Stimme klang selbst diese einfache Feststellung bedrohlich.
»Komm runter, Camp«, maulte Leilani.
Er schnaubte verächtlich und ballte seine Hand zu einer Faust. Angus lachte und tat es ihm gleich, dann schlugen sie mit den Fäusten aneinander. Diese Form der Begrüßung hatte Novalee noch nie gesehen. Musste wohl so ein Liga-1-Ding sein.
»Ihr kennt euch gut?«, fragte Leilani ein wenig schnippisch.
»Wir sind damals im InsE in einem Zimmer gewesen. Seitdem haben wir einander irgendwie ständig an der Backe«, erklärte Angus.
»Ihm habe ich mein Gesicht zu verdanken«, meinte Camp griesgrämig und zog eine Grimasse.
Gespielt empört griente Angus. »Es sah vorher deutlich schlimmer aus.«
»Nicht vor dem Feuer, versteht sich«, ergänzte Camp an Leilani gerichtet.
Angus nickte fachmännisch. »Ich habe einfach etwas Haut von seinem Hintern …«
»Hey!«, unterbrach Camp ihn. »Zu viel Information, Angus.«
Verstört wechselte Novalee einen Blick mit Leilani.
Ein Stöhnen drang von der Couch zu ihnen, auf der Crish lag.
»Was ist mit ihm?«
Angus sah Novalee ernst an, der alberne Kumpel von Camp schien verschwunden. »Schwer zu sagen. Solange er nicht bei Bewusstsein ist, kann ich ihn nicht ausreichend untersuchen.« Er sah zu Crish hinüber. »Ich gehe davon aus, dass ein paar Rippen angeknackst sind, vielleicht sogar gebrochen. Hat er sich übergeben?«
Novalee nickte.
»Dann hat er vermutlich auch eine Gehirnerschütterung. Aber wie gesagt …« Er zuckte entschuldigend mit den Achseln. »Sicher kann ich das ohne Untersuchung nicht sagen.«
Es tat ihr leid, was Crish durchgemacht hatte und sie bezweifelte, dass er nun noch in der Lage war, irgendwelche Nachforschungen über seinen Vater anzustellen.
»Wie lange wollt ihr hierbleiben?«, fragte Angus an Camp gewandt.
»In zwei Stunden kommt der Bus, um uns abzuholen.«
Novalee wurde mulmig zu Mute. Wie es aussah, hatten sich Camps eigene Pläne aufgrund von Crishs Gesundheitszustand nicht geändert.
Ohne ein weiteres Wort eilte Novalee davon. Das Nebenzimmer war leer, auch hier sahen die Möbel aus wie aus einer anderen Zeit. Ein muffiger Geruch ging von den Sitzmöbeln aus, also zog sie es vor, sich auf den Boden an eine Wand gelehnt zu setzen, anstatt womöglich in einer Staubwolke zu verschwinden.
Völlig erschöpft legte sie ihren Kopf auf die Knie und schloss die Augen. Im Nebenzimmer führten Leilani, Camp und der hübsche Dr. Angus ihr Gespräch fort, doch sie hörte ihnen nicht zu. Sie wusste auch so, dass Angus nicht zaubern konnte. Dass er Crish nicht schnell heil machen konnte, als wäre er ein zerrissenes Kleidungsstück.
Eine bleierne Schwere legte sich auf ihre Brust und sie fragte sich, wo die anderen abgeblieben waren.
Sie hörte leise Schritte und blickte auf. Das Licht war schlecht und dunkle Ringe zeichneten sich unter Graeys Augen ab. Trotzdem traf es sie wieder einmal, wie gut er aussah, völlig gleichgültig, was zwischen ihnen vorgefallen war. Ein zögerliches Lächeln huschte über seine Lippen, seltsam unsicher, dann setzte er sich neben sie auf den Boden. Seine Schultern berührten ihre und obwohl so viel Stoff zwischen ihnen lag, jagte diese Berührung kleine Stromstöße durch ihren Körper.
Neugierig sah sie ihn von der Seite an. Sie wusste nicht, was in ihm vorging, aber in der vergangenen Nacht hatte sie eine dunkle Ahnung davon bekommen. Die letzten Stunden, die sie miteinander verbracht hatten, hingen wie eine bittersüße Erinnerung zwischen ihnen.
Eine Weile umgaben sie nur die gedämpften Stimmen aus dem Nebenzimmer, ein unregelmäßiges Pochen, das aus irgendwelchen Rohren kam, und der Geruch einer vergessenen Vergangenheit. Doch je länger sie neben ihm saß, desto mehr wurde ihr bewusst, dass dies alles, dieses seltsame Versteck, ihre Mission, über ihre Zukunft entscheiden würde.
»Findest du, wir sollten über letzte Nacht reden?«, brach Graey irgendwann den Bann.
Ein Kloß bildete sich in Novalees Rachen und sie musste den Impuls unterdrücken, sich an den Hals zu fassen. »Ich weiß nicht. Was würdest du denn sagen wollen?«
Graey sah sie eindringlich an. »Dass es mir leidtut.«
Ein Schluchzen wuchs in Novalees Kehle, doch sie schluckte es hinunter. »Dir muss nichts leidtun, Graey, ehrlich«, sagte sie mit brüchiger Stimme.
»Ich bin sonst nicht so«, versicherte er ihr bedrückt und es brach Novalees Herz.
»Das weiß ich doch.« Sie nahm seine Hand und drückte sie sanft. Sie war kalt, doch sie erwiderte ihre Geste.
Mit einer dankbaren Melancholie sah er auf ihre Hände, dann in Novalees Augen. »Du bist nicht wütend auf mich?«
»Niemals.«
Die Erleichterung in seinem Blick berührte sie tief und ohne nachzudenken führte sie seine Hand an ihre Wange. »Es ist aber auch schwierig mit uns«, wisperte sie gedankenverloren.
»Was meinst du?«
Novalee atmete tief durch, ließ ihre Hand sinken, ohne seine loszulassen, und blickte ihn an. »Das alles. Mit uns. Mit Aleena Runa. Ich verstehe das. Irgendwie. Also zumindest versuche ich es. Aber es ist halt …«
Sein Mundwinkel zuckte. »… schwierig?«
Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter, inhalierte seinen Duft und schloss die Augen. »Graey, ich … ich weiß auch nicht. Ich habe das Gefühl, dass zwischen uns alles falsch gelaufen ist.«
»Findest du?«
Sie dachte an ihre erste Begegnung, als sie glaubte, er sei Brijon, der Junge, bei dem sie nie eine Chance gehabt hatte. Wegen eines Mädchens aus Liga 1, das so viel schöner gewesen sein musste als sie. An die Schuld, die sie trug. Dieses Gefühl, dass das Schicksal es ihnen schwermachte, um sie zu bestrafen, hatte sie seither unterschwellig begleitet.
»Das zwischen uns war von Anfang an zum Scheitern verurteilt.«
Graeys Hand zuckte bei ihren Worten und sie öffnete ihre Augen. »Dann sind wir gescheitert?«, fragte er.
Entsetzt sah sie ihn an und schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Graey, nein! Ich hoffe nur, dass … dass wir irgendwie von vorn anfangen können. Du weißt schon. Mit einem Date. Die erste Berührung, der erste Kuss.« Ihre Gedanken schweiften ab und ließen ihre Wangen brennen. »Und, na ja, du weißt schon.« Lächerlich, dass sie nicht aussprechen konnte, was sie meinte. Wütend und verlegen darüber verzog sie das Gesicht. »Heiraten, Kinder kriegen, jeden Tag nebeneinander aufwachen, jede Nacht zusammen einschlafen, jeden Tag uns darüber erfreuen, dass wir ein langweiliges, gewöhnliches Leben führen.«
Graey sah sie an. In seinem Ausdruck lag eine sehnsüchtige Traurigkeit, die ihr Angst machte. Er streckte seine Hand aus und schob eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. In ihrem Bauch explodierten tausende Seifenblasen.
»Das wünschst du dir?«
Novalee öffnete gerade den Mund, als ein Geräusch aus dem Nebenraum sie zusammenfahren ließ. Ein hustendes Würgen. Wie es sich anhörte, war Crish aufgewacht, und es ging ihm nicht gut.
AM ABEND ZUVOR
Sie hatte es sich so einfach vorgestellt. Entscheidungen zu treffen und nur noch das zu tun, was sie selbst für richtig hielt. Was sie wirklich wollte. Und dann kam auf einmal Graey daher und machte ihr einen Heiratsantrag!
Das war nicht fair!
Wie ein Baby hatte sich Novalee auf ihrem Bett zusammengerollt und suchte nach einer Antwort auf Graeys Frage.
Wollte sie seine Frau werden?
Die Antwort darauf war eigentlich ganz einfach. Ja, sie wollte es. Niemals hätte sie zu träumen gewagt, einen Mann zu finden, der ihren völlig übertriebenen Vorstellungen entsprach, und sie dachte da nicht einmal nur an sein Aussehen. Er war so freundlich und fürsorglich. Und er liebte sie! Das allein kam einem Wunder gleich.
Doch die Antwort auf seine Frage schien nur auf den ersten Blick einfach. Denn ihr Bauch krampfte sich schmerzhaft zusammen, wenn sie sich vorstellte, diese Entscheidung überstürzt zu treffen. Sich die Chance auf eine angemessene Hochzeit zu verwehren. An einem Ort, den sie nicht so sehr hasste wie diese Insel. Wie konnten sie angesichts der greifbaren Gefahr durch die Rückkehr zu Aleena Runa eine solche Hauruckaktion angehen, nur um … ja, was? Nicht unverheiratet zu sein, bevor man starb?
Unruhig drehte sich Novalee auf die andere Seite. Nein, das sollte kein Grund zum Heiraten sein. Nicht die Aussicht auf den nahenden Tod, sondern allein die Zuversicht auf eine gemeinsame Zukunft.
Abermals drehte sie sich auf die andere Seite, ohne die Absicht, einzuschlafen. Je länger Graey fort war, irgendwo im Leuchtturm, vermutlich um mit Asher wahnwitzige Pläne zu schmieden, wurde ihr seine Abwesenheit schmerzlich bewusst. Womöglich kam er nicht zurück, weil er sich vor ihrer Antwort fürchtete.
Als sie die Tür hörte, schreckte Novalee benommen hoch. Sie musste doch eingeschlafen sein. Es war dunkel, doch der Mond brachte genug Licht in den Raum. Graey stand an der Tür. Ihr Herz hüpfte und gleichzeitig zog sich ihr der Hals zu. Ganz blöde Kombination.
Langsam setzte sie sich in dem Bett auf und rieb sich verschlafen das Gesicht. Ihre Haare fühlten sich verknotet an.
Graey regte sich nicht und Novalee wurde nervös. »Graey? Alles in Ordnung?«
Mit ihren Worten kehrte das Leben in seinen Körper zurück. »Mir geht es gut«, sagte er und kam auf sie zu, als wäre nichts gewesen. Als hätte er eben nicht wie erstarrt an der Tür gestanden. »Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte er scheu.
»Ja … ja, natürlich.« Mondlicht fiel durch das Fenster auf sein Gesicht, als er sich zu ihr auf die Matratze sinken ließ. Noch nie hatte sie ihn so blass gesehen. Schon seit Tagen wirkte er abgekämpft und kränklich, doch in dieser Nacht sah er aus wie der Tod. Dunkelviolette Schatten lagen unter seinen Augen. »Geht es dir wirklich gut?«
Fahrig rieb er sich die Stirn. »Ich bin nur etwas müde.«
Novalee wollte ihm glauben. Sie spürte ihren Puls in ihrem Hals und rutschte näher an Graey heran.
»Seid ihr mit eurer Planung fertig? Du und Asher?«
Der Blick, mit dem er sie traf, zuckte wie ein Blitz durch ihren Körper. Verzweifelte Angst las sie darin. Er versuchte zwar, sie mit einem müden Grinsen zu verstecken, doch seine Augen konnten sie nicht anlügen. »Wir sind vorbreitet, so gut es geht. Das Problem mit Aleena Runa ist, dass sie unberechenbar ist.«
Und da war sie wieder. Aleena Runa. Sie drängte sich in jedes Gespräch, vergiftete jeden Moment, und obwohl Novalee wusste, dass es schlechte Gedanken waren, wünschte sie sich, jemand würde die Hexe Aleena verbrennen.
»Nova«, sagte Graey sanft.
»Graey.« Sein Name in ihrem Mund fühlte sich gut an.
Ein jungenhaftes Schmunzeln zuckte in seinen Mundwinkeln. Es erinnerte sie an den Graey, den sie kennengelernt hatte. Wie Lichtjahre erschien es ihr nun entfernt, als sie noch nichts wusste von seiner Vergangenheit.
»Wie lange wollen wir noch so tun, als hätte ich dir keinen Heiratsantrag gemacht, bis wir endlich darüber sprechen?«, fragte er bemüht gelassen, doch Novalee entging seine Unsicherheit nicht. »In ein paar Stunden müssen wir uns auf den Weg machen. Ich weiß, es war nicht der romantische Antrag, den du dir gewünscht hast, und die Umstände könnten auch besser sein …«
»… du meinst mit Schimmeln am Strand und Schmetterlingen über unseren Köpfen?« Es sollte ein Scherz sein, doch in ihrem Magen hatte sich ein Klumpen festgesetzt. Sie wollte Graey nicht verlieren. Sie hatten noch nichts miteinander erlebt. Ein paar ängstliche Küsse, das ein oder andere Massaker, aber sie wollte mehr. Sie wollte alles, mit ihm, nur mit ihm. Liebe, Kinder, romantische Dates, vielleicht nicht in der Reihenfolge. Sex. Ihre Wangen wurden heiß und der Gedanke machte sie kribbelig. Doch so war es. Sie wollte es. Das alles. Und die Vorstellung, das alles zu verlieren, fühlte sich falsch an. Vielleicht sollte sie es tun. Ihn heiraten und ihr Bauchgefühl ignorieren.
Nein, flüsterte eine kleine Stimme. Wenn er dich wirklich liebt, wird er es verstehen. Wird er auf dich warten.
Ja, vielleicht. Doch manchmal war Liebe einfach nicht genug.
Es war entschieden. Sie würde es nun herausfinden.
Graey blickte sie verstört an, dann zuckten seine Mundwinkel. »So stellst du dir das vor? Weiße Pferde und Insekten?«
»Graey, ehrlich? Nein. Ich bin nur …«, begann sie zögerlich.
»Nervös?«
»Ja, wahnsinnig«, gab sie zu.
»Dann wirst du mich heiraten?«
Sie schloss die Augen. Sie konnte ihn einfach nicht ansehen und am liebsten hätte sie ihren Körper verlassen. Doch dann öffnete sie ihre Augen, zwang sich, ihrer Angst gegenüberzutreten. »Ich will es, wirklich, Graey. Ich will dich.« Ihre Stimme zitterte und sie griff nach seiner Hand.
Die dunkle Sorge ließ ihn noch zerbrechlicher aussehen. »Aber?«
Novalee strich mit dem Daumen über seinen Handrücken, spürte die Wärme, das leichte Kribbeln, das ihren Arm hochwanderte und schon bald ihren ganzen Körper befiel. Ihr war nach weinen zu Mute. Betreten biss sie sich auf die Unterlippe, suchte seinen Blick. »Nicht hier. Nicht überstürzt. Nicht aus Verzweiflung.«
»Und was ist mit Liebe?«
Dieses eine Wort durchzuckte sie. »Ändern denn ein paar Tage etwas? Meinst du nicht, wir könnten auch heiraten, wenn Aleena in der Hölle schmort?«
Seine Finger zuckten und Novalee befürchtete, Graey würde seine Hand zurückziehen. Doch er tat es nicht. »Dann liegt es an ihr? An Aleena?«, fragte er gequält.
Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände, ignorierte ihre Angst, die kleinen Explosionen in ihrer Brust, das rasende Herz, und zwang ihn, sie anzusehen.
»Graey«, sagte sie eindringlich. »Ich … ich will dich heiraten, unbedingt. Aber lass uns damit warten, bis wir etwas Frieden gefunden haben. Ich will nicht …«
Nun machte er sich von ihr los. Sanft und doch entschieden.
»Warum klammerst du dich so an diese Hochzeit?« Erst als sie sprach, fiel es ihr auf.
»Weil ich dachte, du willst sie.«
Enttäuscht schlang sie die Arme um ihren Körper. »Ich? Und was ist mit dir? Willst du sie?«
Er nickte.
Novalee wollte ihm glauben, doch etwas an seinem Verhalten kratzte wie ein Wollpullover auf ihrer Haut. »Dann lass uns heiraten. Aber nicht heute, Graey. Es müssen keine Schmetterlinge sein, aber ein Kleid, Freunde und Familie. Bitte lass uns heiraten, sobald wir alles geregelt haben.«
Graey sah sie eine Weile an und Novalee spürte ihre weichen Knie, obwohl sie saß. Sein Wesen hatte sich in den letzten Tagen dramatisch geändert, doch nicht seine Wirkung auf sie. Die Traurigkeit, die plötzlich von ihm ausging, fuhr direkt in ihre Knochen.
»Okay«, nickte Graey und stand auf. Der Blickkontakt riss ab.
Sie sah ihm nach, als er sich ein paar Schritte von ihr entfernte. Eine betäubende Angst befiel sie. »Okay? Heißt das ja?«
Graey drehte sich zu ihr um und zuckte mit den Schultern. »Das heißt es wohl.«
Auch sie war aufgestanden, doch ihre Füße waren wie am Boden festgeschraubt. »Du bist enttäuscht.«
Sein Gesicht lag im Schatten und so blieb ihr seine Reaktion verborgen. »Ich wünschte, du hättest anders entschieden, aber … wenn es das ist, was du willst …« Er lächelte schwach, in seiner Mimik lag ein trauriges Sehnen. Dann drehte er sich um und ging zur Zimmertür.
»Was tust du?« Endlich lösten sich ihre Füße vom Boden.
»Ich gehe«, sagte er unnötigerweise, ohne sie anzusehen.
Wieder nahm sie seine Hand. »Graey, bitte bleib hier.« Überrascht blickte er auf. Er sah schrecklich müde aus. Seine Finger waren kalt, sein Blick stumpf und im schwachen Schein des Mondes bemerkte sie seine feucht schimmernden Augen. Gequält presste er die Lippen aufeinander. Er wirkte unentschlossen.
»Du zitterst.« Die Sorge ließ ihre Stimme fast verschwinden.
»Mir ist nur kalt.« Doch er wartete, dass sie ihm die Entscheidung abnahm. Verloren, gequält.
Die Erkenntnis traf Novalee so heftig, dass sie sie beinahe von den Füßen riss. Nach außen gab er sich unbekümmert und optimistisch. Doch das war nur der Schein. Sie hatte unaussprechliche Dinge mit ihm getan. Keine Seele überstand so etwas unbeschadet. Sie konnte vielleicht heilen, langsam, mühsam. Aber sie würde nicht vergessen. Und nun würde Graey zurückkehren. Zurück zu dem Ort, der lange Zeit sein Gefängnis gewesen war. Zurück so dieser Frau. Aleena Runa. Novalee hatte nicht darüber nachgedacht, was diese Rückkehr für ihn bedeutete. Und nun stand er vor ihr, hilflos, am ganzen Körper zitternd und erzählte ihr, ihm sei bloß kalt.
»Hast du Angst?«, fragte sie vorsichtig, doch sie kannte die Antwort.
Sein Gesicht nahm einen harten Ausdruck an, als sein Blick sie traf. »Angst kann ich mir nicht erlauben. Nicht bei Aleena.«
Sie strich mit ihrem Daumen vorsichtig über sein Gesicht. Überrascht sah er sie an.
»Das ist morgen«, flüsterte sie. »Jetzt bist du hier. Jetzt ist es noch in Ordnung, Angst zu haben.«
Graey nickte starr. Er gab seinen Kampf gegen die Angst auf und sein Körper reagierte. Stumme Tränen liefen über seine Wangen und er zitterte noch mehr. Novalee zog ihn zu ihrem Bett. Als er unter die Decke kroch, folgte sie ihm und nahm ihn in den Arm. Das Bett war schmal, doch das war ihr egal. Sie wollte ihn beschützen, ihn von dem Schlechten der Welt fernhalten. In ihren Armen entspannte er sich, das Zittern ließ nach. Die Tränen versiegten nur langsam. Aber das musste vielleicht sein, um seine Seele zu reinigen. Novalee lag nur da, ihr Gesicht ihm zugewandt, den Arm um seine Taille geschlungen und sah ihm dabei zu, wie er friedlich einschlief.
Was nützte Schönheit, wenn sie schändlich behandelt wurde? Was nützten Privilegien, wenn sie zur Strafe wurden? Und während sie dalag, seine Wärme spürte und ihn betrachtete, sein entspanntes Gesicht, seine Brust, die sich gleichmäßig hob und senkte, wurde ihr klar, dass seine Angst auch ihre Angst war. Die Vorstellung, ihn durch Aleena Runa zu verlieren, betäubte sie. Jemanden zu vermissen, den sie liebte, wie schon damals bei Brijon, würde sie nicht noch einmal überleben.
Nachdem Crish sich übergeben hatte, war er wieder ruhig eingeschlafen, ohne den Wachzustand ganz erreicht zu haben. Er tat Leilani leid, doch sie spürte auch Camps steigende Unruhe. Sie wusste, dass er ohne zu zögern alle zurücklassen würde, solange er nur in seinem Rachefeldzug gegen Muerfie vorwärtskam. Leilani hatte nur noch nicht entschieden, ob sie ihre Freunde einfach im Stich lassen würde.
Sie bereute es, dass sie sich von Camp hatte um den Finger wickeln lassen. Sie hätte auf der Insel bleiben sollen und sich nicht von einem kurzweiligen Kribbeln und dem Wunsch, ihn zu einem besseren Menschen zu machen, leiten lassen dürfen. Ihn davor bewahren, sich in einen Abgrund zu stürzen, konnte sie ohnehin nicht. Es war eine bescheuerte Idee gewesen, doch nun gab es kein Zurück mehr.
Als er sie irgendwann aufforderte, ihm ins Nebenzimmer zu folgen, war sie dankbar, mit ihm unter vier Augen sprechen zu können. Doch dort drückte er ihr nur eine Tube Abdeckcreme in die Hand, die für gewöhnlich für die Tattoos diente, und forderte sie auf, die Narben in seinem Gesicht damit abzudecken. Die Vorstellung, sich so intensiv mit seinem Gesicht zu beschäftigen, ließ sie vergessen, warum sie eigentlich mit ihm sprechen wollte. Und so saß sie ihm nun auf einem Stuhl gegenüber und betupfte sein Gesicht mit der beigen Paste. Immer wieder streiften ihre Finger sein Kinn, seine Wange, seinen Hals, und jedes Mal wurde ihr die drückende Stille bewusst. Sie wagte es kaum, ihm in die Augen zu sehen, in die tiefe See des Blaus, das sie daran erinnerte, wer er hätte sein können, wenn das Schicksal es nur zugelassen hätte. Das Schweigen waberte dickflüssig durch den ganzen Raum. Sie wollte etwas sagen, doch sie wusste nicht was.
»Danke«, sagte Camp völlig überraschend und Leilani zuckte zusammen.
»Wofür?«, fragte sie mit belegter Stimme und räusperte sich.
»Oh, du weißt schon. Dass du mich nach Angus' lockerer Zunge nicht Arschgesicht genannt hast.«
Als sie aufblickte, zog sie spielerisch eine Augenbraue hoch. »Wir sind ja noch nicht lange unterwegs. Ich bin mir sicher, dass der richtige Zeitpunkt dafür kommen wird.« Dann setzte sie den kleinen Schwamm wieder an.
Es war schwer, die Narben um seinen Mund unsichtbar zu machen. Doch noch viel schwerer fiel es ihr, die ganze Zeit auf seine Lippen zu starren. Obwohl sie seltsam aussahen, so verwischt, machten sie Leilani nervös. Als der Schwamm keine Farbe mehr hergab, lehnte sie sich zurück und begutachtete ihr Werk.
»Gefällt dir Angus?«, fragte Camp unwillkürlich.
Schockiert begegnete sie seinem Blick. »Wie bitte?«
»Mir ist aufgefallen, wie du ihn angesehen hast.« Er wirkte nicht eifersüchtig, viel mehr, als wolle er sie damit aufziehen.
»Wie habe ich ihn denn angesehen?«
Seine verbliebene Augenbraue zuckte nach oben. »Wie einen gut aussehenden Mann.«
Genervt verdrehte sie die Augen. »Er ist ein gut aussehender Mann.«
Dann wandte sie sich wieder seinem Mundwinkel zu. So richtig zufrieden war sie mit der Stelle noch nicht.
»Ich weiß, was du denkst«, behauptete Camp, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass sie gerade versuchte, ihn wieder gut aussehen zu lassen.
Unbeirrt machte Leilani weiter. »Ach. Wirklich?«
»Ja, wirklich.«
Sie gab frustriert auf, lehnte sich zurück und sah ihn erwartungsvoll an. »Und, was denke ich?«
»Du fragst dich, ob du mich wieder schön finden wirst, sobald meine Narben nicht mehr zu sehen sind.« Ein wenig ertappt wich sie seinem Blick aus. War es wirklich so? Hoffte sie, den alten Camp hervorzuzaubern, der unter all den Narben steckte, indem sie ihn mit einer dicken Schicht Make-up bedeckte? So paradox es auch klang, ganz von der Hand zu weisen war es nicht. Auch wenn es nicht ihre Idee gewesen war.
»Nicht ganz richtig«, wiegelte sie halbherzig ab. Doch eine andere Frage drängte sich ihr auf. »Warum machst du das nicht jeden Tag?«
Völlig ungerührt sah er sie an. »Ist verdammt aufwändig. Außerdem … es fühlt sich falsch an. Verkleidet. Das Zeug spannt auf der Haut … ich fühle mich damit einfach so widerlich, wie ich ohne aussehe.«
Eine ungewohnte Wut überkam sie. Frustriert knallte sie die Dose mit der Abdeckcreme auf den Holztisch. »Hör auf damit!«
»Über mein Aussehen zu jammern?«, fragte er unbeeindruckt. Ihre Wut schien ihn bestens zu unterhalten.
»Ja!«, rief sie und verschränkte die Arme. Seit sie ihn kannte, war er ununterbrochen damit beschäftigt, sich selbst niederzumachen – wenn er nicht gerade dabei war, ein unausstehliches Arschloch zu sein. Leilani verstand nicht, was sie zu ihm hinzog. Sie musste völlig den Verstand verloren haben!
»Ich bin ganz schön anstrengend, oder?«, fragte Camp nach einer Weile.
»Du hast ja keine Ahnung«, stöhnte Leilani und ein Grinsen schlich sich auf ihre Lippen.
Camps Züge entspannten sich, er wirkte ruhig und in sich versunken, doch er nahm seinen Blick nicht von ihrem Gesicht.
Leilani fühlte sich unwohl, und doch blieben auch ihre Augen an ihm hängen. Sein Gesicht war noch nicht fertig geschminkt, überall konnte sie die Narben durchblitzen sehen. Und dennoch … er sah dem Mann ohne Narben, vor dem Feuer, ähnlicher als jemals zuvor. Sein Anblick erinnerte sie daran, wie sehr sie für ihn geschwärmt hatte, und das nicht nur, weil er traumhafte Klamotten entworfen hatte.
Mehrere Herzschläge lang sahen sie einander wortlos an.
Schließlich griff sie wieder nach der Tube mit der Abdeckcreme. Seine Mundwinkel bekam sie nicht mehr besser hin, also würde sie Wange, Auge und Schläfe nachbessern.
Camp grinste stumm, als wisse er genau, dass er Leilani in Verlegenheit gebracht hatte, dann schloss er die Augen und ließ sie gewähren.
»Wie muss ich dich jetzt eigentlich ansprechen?«, fragte er nach einer Weile. Die Narben an Schläfe und Wange hatte sie inzwischen gut überdeckt, doch das wulstige Gewebe um seinen Augenwinkel herum bereitete ihr Schwierigkeiten. Im Grunde überall da, wo die Unebenheiten der Haut stark ausgeprägt waren, zeigte die Abdeckcreme nicht den gewünschten Effekt.
»Wie bitte?«, fragte sie irritiert und hielt inne.
Er öffnete die Augen. »Dein neuer Chip. Wie ist dein Name?«
Leilani ließ den Schwamm sinken und verzog das Gesicht. »Nika Szulz.«
»Hübscher Name«, erwiderte Camp, ohne die Miene zu verziehen. »Welche Liga?«
»Eins.« Unwillkürlich strich sie über den neuen Chip in ihrer Hand. Im Gegensatz zu ihrem ersten, der ihr kurz nach der Geburt eingepflanzt und vor ein paar Tagen entfernt worden war, fühlte dieser sich wie der Fremdkörper unter der Haut an, der er war. Wie alle Chips es waren.
»Dann sollten wir dich gleich ein bisschen aufhübschen«, feixte er.
Leilani verzog das Gesicht. »Was soll das denn heißen?« Leuten wie Camp sollte man den Umgang mit Menschen nur unter Aufsicht gestatten. Vermutlich hatte er nicht einmal eine Ahnung, wie verletzend seine Worte gewesen waren.
»Du siehst noch viel zu natürlich aus, im Vergleich zu den Frauen da viel zu unauffällig.« Er zwinkerte ihr zu.
Sie wandte sich ab und legte die Tube auf den Tisch. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich das als Kompliment oder Beleidigung auffassen soll«, grummelte sie.
Auf einmal waren seine Finger an ihrem Kinn und mit einer Sanftheit, die sie nicht erwartet hatte, hob er ihr Gesicht, damit sie ihn ansehen musste. »Dann denk ein bisschen nach. Ist ganz einfach«, flüsterte er mit rauchig-rauer Stimme und Leilani bekam eine Gänsehaut. Wieder drohte sie, in seinen Augen zu ertrinken. Sein Gesicht … es erinnerte sie an den Camp, den sie aus den Zeitschriften kannte.
Verlegen räusperte sie sich und befreite ihr Kinn aus seinen Fingern. »Wie ist dein Name?«
Camp schnaubte entrüstet. »Balduin Grummel.«
Leilani brach in schallendes Gelächter aus. Es war so befreiend, sie lachte, bis ihr die Tränen kamen.
»Das ist nicht witzig«, hörte sie ihn zwischen ihren Lachanfällen maulen.
»Finde ich schon«, sagte sie atemlos, als sie sich ein wenig beruhigt hatte, und wischte sich die Tränen weg.
»Rhodes hasst mich«, motzte Camp weiter, doch seine Augen funkelten amüsiert.
»Ich frage mich, warum.«
Camp legte eine Unschuldsmiene auf. »Ich mich auch. Immerhin hasst du mich nicht.«
Leilani schoss das Blut in ihre Wangen. »Camp, hör auf damit.«
»Wieso?«
Sie spürte das wilde Pochen ihres Herzens bis in ihren Hals. »Du bringst mich in Verlegenheit.«
Camp zog seine Augenbraue hoch. »Als ob das möglich wäre.«
Misstrauisch lehnte sie sich zurück. »Woher willst du das wissen?«
»Ich kenne dich besser, als du denkst.«
Leilani presste ihre Lippen aufeinander. »Nur weil ich gestern …«
»Ich rede nicht von gestern.« Camp schüttelte den Kopf.
»Gut. Weil darüber will ich nicht reden.«
Theatralisch griff er sich an die Brust. »Das trifft mich jetzt aber.«
Grinsend verdrehte sie die Augen. »Du wirst es überleben.«
»Das ja.«
Leilani zuckte innerlich zusammen. Aus der verspielten Neckerei, die sie zugegebenermaßen genossen hatte, wurde wieder bittere Realität. »Lass das, okay? Es gibt gewisse Ängste, über die macht man keine Witze. Der Tod gehört dazu.« Ihre Stimme war belegt und das lag nicht nur am Tod ihrer Eltern, den sie noch immer nicht ganz verarbeitet hatte. Es lag auch an Camp. Denn obwohl er ein zynischer Misanthrop war, wollte sie nicht, dass ihm etwas passierte. Obwohl er seinen eigenen Tod offenbar einkalkulierte, zog sich ihr Herz bei der Vorstellung zusammen, ihn sterben zu sehen.
Sie fühlte sich auf einmal wieder unwohl. Sie wollte weg von ihm, sich nicht mehr mit Dingen beschäftigen, die ihr Unbehagen bereiteten.
»Ich glaube, wir sind hier fertig.« Mit diesen Worten stand sie auf, drehte sich um und verließ den schummerigen Raum. Zurück zu den anderen, die sie für einige Augenblicke einfach vergessen hatte.
***
Leilani konnte gar nicht genau sagen, warum sie wütend auf Camp war. Vielleicht, weil ihm sein Leben so egal war, ihr aber nicht. Sie hasste es, dass seine Gegenwart sie so verwirrte, obwohl sich in ihr alles gegen ihn sträubte. Ein Grund mehr, sich von ihm fernzuhalten.
Sie saß in dem Zimmer, in dem Crish noch immer bewusstlos war oder sich einfach weigerte, in diese verfluchte Realität zurückzukehren. Sie hockte an der Wand, die Beine angezogen, und beobachtete sein gleichmäßiges Atmen. Novalee hatte sich an die Armlehne der Couch gelehnt, auf der Crish lag, und blickte abwesend in die Staubwolken, die im diffusen Licht einer Stehlampe durch die Luft waberten. Von Graey war keine Spur zu sehen. Beim Gedanken an ihn schnürte sich ihr der Hals zu. Ob Novalee inzwischen wusste, dass Graey sterben würde? Das Flackern zwischen ihr und Graey, das Leilani mit ihrer lästigen Fähigkeit wahrnahm, hatte sich verändert. Sie waren noch immer verliebt, daran bestand kein Zweifel, doch die Schwingungen hatten sich verfärbt. Als läge ein dunkler Schatten über dem sonst hellen Flirren. Noch nie war Leilani so etwas aufgefallen, aber sie hatte auch noch nie so viel Zeit mit Verliebten verbracht.
Möglicherweise war Leilani auch deshalb wütend. Graey musste sterben und es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Und Camp? Er war bereit, sein eigenes Leben wegzuwerfen – und wenn er Muerfie dabei mit in den Abgrund riss, umso besser. Doch das fühlte sich verkehrt an.
Leilani war jegliches Zeitgefühl abhandengekommen. Irgendwann fing Camp an, fluchend auf- und abzuwandern. Ihr Fahrer, der sie zu Muerfies Residenz bringen sollte, tauchte nicht auf.
»Dieser verdammte Penner ist spät dran«, polterte Camp zum wiederholten Male.
Leilani verschränkte genervt die Arme. »Ununterbrochen darüber zu schimpfen, ändert die Sache natürlich.«
Camp blieb stehen und blickte Leilani herablassend an. »Ja, das tut es. Es geht mir besser, wenn ich Dampf ablasse.«
Seine abfällige Art machte sie wütend. Er streckte ihr die Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen, doch Leilani rappelte sich ohne seine Hilfe auf.
»Was sollen wir jetzt tun, Camp?« Es war Derron, der als Einziger auf Camps Hasstiraden einstieg.
»Wir haben einen Zeitplan, an den wir uns halten müssen. Wenn der verdammte Wagen nicht kommt, müssen wir eben laufen«, sagte Camp grimmig.
»Was ist mit Crish?«, fragte Leilani verständnislos.
Camp blickte sie ungerührt an. »Himmel, Leilani. Manchmal bist du aber auch wirklich …«
»Was?«, fuhr sie ihn an.
Er sah sie überrascht an. »Was soll mit ihm sein? Er bleibt hier, egal. Er gehört ohnehin nicht zu unserem Team.«