Oliver von Schaewen
Schillerhöhe
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
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Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung / Korrektorat: Susanne Tachlinski / Katja Ernst
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Bildes von Werner Kuhnle
eISBN 978-3-8392-3436-5
Für Martina
Peter Struve nippte an seinem Lemberger. Der Kommissar trank gerne ein Glas Wein in dem Biergarten am Marbacher Bootshaus, wenn der Tag sich neigte. Gedankenverloren blickte er auf die Wellen des Neckars, die in der Abendsonne des Spätaugusts glitzerten. In der Ferne sah er ein Schiff auf die Schleuse zufahren. Es lag tief im Wasser, hatte Schotter geladen. Struve überlegte, ob er mit dem Kapitän tauschen wollte. Er reiste gerne mit leichtem Gepäck – was man dem schmalen Endvierziger mit dem Kurzhaarschnitt und den grau melierten Schläfen schon äußerlich ansah, denn er trug meistens Wanderhalbschuhe, in die Jahre gekommene Jeans und bügelfreie karierte Flanellhemden. Nein, wie ein Kapitän sah er nun wirklich nicht aus, und er fühlte sich auch nicht wie einer. Der Kommissar verwarf deshalb auch schnell den Gedanken, auf die Kommandobrücke des Frachters springen zu wollen. Die Arbeit dort wirkte nur auf den ersten Blick entspannt.
Urlaub hatte er nötig, dringend sogar. Sein Beruf ließ ihm kaum Zeit für eigene Interessen. Er spielte gerne die Schachpartien großer Meister nach oder las Biografien historischer Persönlichkeiten wie etwa Friedrich Schiller oder Winston Churchill – aber dazu war er schon seit Monaten nicht mehr gekommen. Auch seine mehrtägige Wandertour auf der Schwäbischen Alb, die er sich zu Beginn der Sommerferien vorgenommen hatte, musste er immer wieder kurzfristig absagen. In ihm schrie alles nach Erholung, nach den komplexen Mordfällen, die er in diesem Sommer im Stuttgarter Revier lösen musste. Struve hörte die Glocken der nahen Alexanderkirche und schaute auf seine Armbanduhr. Marie würde sicherlich bald eintreffen. Den Ort für das kleine Rendezvous hatte er mit Bedacht gewählt. In dem Biergarten hatten sich ihre Wege vor genau zehn Jahren zum ersten Mal gekreuzt. Auch jetzt staunte er manchmal noch, wie wenige Augenblicke das Leben zweier Menschen komplett ändern konnten. Heute lebten sie zusammen. In einer Doppelhaushälfte, manche mochten das für spießig halten. Er aber freute sich an dem Gedanken, dadurch Heizkosten zu sparen. Struve schaute auf das Frachtschiff, das direkt vor ihm vorüberfuhr. Die Sonne hatte ihren Lauf vollendet, sie ging als roter Feuerball hinter dem Kahn unter. Nachdenklich blickte er auf das Glühen. Wenn er ehrlich war, hatte er in jungen Jahren nie an die romantische Liebe geglaubt. Zwei Menschen ließen sich aufeinander ein, um ihre Bedürfnisse zu erfüllen, aber Liebe auf den ersten Blick? Struve schüttelte den Kopf und blickte dem Kahn nach, der eine kräftige Rußwolke in die Dämmerung hinausblies. Auch heute noch hielt er sich für viel zu realistisch, um den Don Juan zu mimen. Trotzdem würde er den Abend nutzen, um Marie zu beeindrucken. Die Vorfreude auf das kleine Jubiläum an diesem 29. August hatte er in den vergangenen Wochen im Stillen gehegt. Sie waren seit vier Jahren verheiratet, und Struve beobachtete manchmal kleinere Reibereien, wie sie der Alltag einer Ehe wohl überall mit sich brachte. Da konnte es nicht schaden, an das Eigentliche einer Liebesbeziehung zu erinnern.
Der Kommissar schreckte auf. Eine Hand legte sich warm auf seine linke Schulter. Er hatte Marie gar nicht bemerkt. Struve wunderte sich über sich selbst, denn er hatte den Eingang des Biergartens im Blick behalten wollen. Offenbar war seine Frau zuvor noch in die Gaststätte gegangen, möglicherweise, um sich nach einem schweißtreibenden Tag kurz frisch zu machen. Sie beugte sich über ihn und küsste ihn kurz, aber intensiv.
»Hallo, Schatz, wartest du schon lange?«
»Nein.« Er log ungern, aber warum sollte er sie damit belasten, dass er seit einer halben Stunde hier saß. Bewusst hatte er sein Büro in Bietigheim früher verlassen, um die Ruhe am Neckarufer zu genießen und sich einen Platz am Wasser zu sichern. Marie Struve trug ein leichtes seidenes Sommerkleid in dezenten Terrakottatönen. Vorteilhaft betonte es ihren sonnengebräunten Teint wie auch ihre südländische Art mit den schulterlangen schwarzen Haaren. Nein, wie eine 45-Jährige sah sie nun wirklich nicht aus, fand er. Um ihre schmalen Hüften hatte sie einen schwarzen Wollpullover gebunden, um auf die Abendkühle vorbereitet zu sein. Wieder spürte er ihre Wärme, als sie sich zu ihm setzte und ihn erwartungsvoll anblickte.
»Nun erzähl schon, wie ist dein Tag gelaufen?«
Peter Struve pflegte ihr wenig von seinen Ermittlungen mitzuteilen. Das hatte nichts mit fehlendem Vertrauen zu tun. Er hielt Schweigsamkeit für eine der zentralen Fähigkeiten eines Kriminalbeamten. Auch hatte er im Jesuitenkolleg in seiner Heimatstadt Münster gelernt, von eigenen Befindlichkeiten abzusehen, und seine Zuhörer nicht mit Nebensächlichkeiten zu belasten. Wahrscheinlich hatte er den richtigen Beruf erwischt, denn er hasste es, in Abendgarderobe einen Schaulauf hinlegen zu müssen. Das kam zum Glück nur einmal im Jahr beim Ball der Polizeigewerkschaft auf ihn zu. Dort ging er nur hin, weil er fand, dass Polizisten zusammenhalten und an der Gewerkschaftsidee festhalten mussten. Früher hatte er sich oft für seine strenge jesuitische Sozialisation verflucht, insbesondere wenn bei abendlichen Gesellschaften andere das Wort führten und auch auf ihn durchaus unterhaltsam wirkten. Aber Struve hatte gelernt, mit seiner ruhigen, zurückhaltenden Art Frieden zu schließen. Er mochte kein Blender sein. Keine Verkäuferseele. Vielleicht konnte er gerade deshalb auch Kriminelle relativ leicht erkennen. Struve, der Bluthund, dachte er und lachte still in sich hinein. Es war dunkel geworden. Hinter Marie sah er die Positionslichter des Frachtkahns auf dem Neckar allmählich in einer Flussbiegung verschwinden. Freundlich lächelte er seiner Frau zu.
»Nur Bürokram, ein paar kleine Fälle, alles so weit okay – wie hast du den Tag verbracht?«
Im Gegensatz zu ihm würde Marie viel zu erzählen haben. Sie war erfrischend anders, das gab ihrer Beziehung Halt, denn Struve hörte seiner Frau gerne zu. Sie erfuhr als Mitglied des Marbacher Stadtinfoladens allerhand Neuigkeiten. Den Job in dem Tourismusbüro in der Nähe des Rathauses hatte sie neben einigen anderen Ehrenämtern angenommen, nachdem ihr erster Mann vor 15 Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Arbeiten musste sie seitdem nicht mehr, denn ihr Mann hatte ihr ein beträchtliches Vermögen hinterlassen. Freilich wirkte das Leben seiner Frau auf Struve eher müßiggängerisch. Er gönnte ihr diesen kleinen Luxus, schließlich hatte sie oft für ihn Zeit, aber er war sicher: Für ihn wäre es ein goldener Käfig. Viel zu gerne schnüffelte er im Milieu herum, stellte Halunken nach, löste komplizierte Fälle wie andere Kreuzworträtsel. Etwas Unbestimmtes trieb ihn an. War er ein Jäger, oder doch nur das Opfer eines diffusen Gerechtigkeitswahns? Oder suchte er das Abenteuer? Oft schon hatte er sich das gefragt. Struve kannte die Antwort nicht. Vor zwei Monaten hatte er nachts in Untertürkheim einen Junkie erschossen. Es war Notwehr, aber ein schaler Beigeschmack blieb. Natürlich hätte er eine Pause einlegen müssen. Aber er hatte weitergemacht, gegen den Rat des Polizeipsychologen. Auch im Nachhinein fand er seine Entscheidung richtig. Vermutlich hätte er die Sache zu nah an sich rangelassen, wenn er irgendwo auf der Welt die Zeit zum Grübeln gehabt hätte.
Im Vergleich zu ihm pflegte Marie vergleichsweise harmlose Kontakte. Sie arbeitete nicht nur im Stadtinfoladen mit, sondern auch im Empfang des Schiller-Geburtshauses. Dort traf sie fast ausschließlich Leute, die sich in Marbach einen schönen Tag machten. Die gute Laune der Tagesgäste musste ansteckend wirken. Wenn er sich abends mit seiner Frau traf, brachte sie von dort ständig neue Geschichten mit.
»Stell dir vor«, holte Marie aus, »wir haben heute im Geburtshaus endlich wieder echte Blumen für die Schiller-Büste bekommen.« Sie nestelte in ihrer Handtasche herum, kramte eine Zigarette und ihr perlmuttbesetztes Feuerzeug hervor. Aufgeregt zündete sie den Tabakstängel an.
»Ach ja?«, entgegnete Struve überrascht, und ein verschmitztes Lächeln glitt über sein Gesicht. Er erinnerte sich an den bitterbösen Leserbrief im Marbacher Kurier, mit dem sich eine Schiller-Verehrerin über die ersatzweise platzierten Plastiklilien beschwert hatte. Der empörte Zwischenruf hatte die Verantwortlichen offenbar zum Einlenken bewegt. Der Amtsbote musste nun wieder zur Gärtnerei fahren und regelmäßig einen frischen Strauß in die Niklastorstraße bringen.
»Wahrscheinlich gäbe es in Marbach keinen gewaltigeren Frevel, als den großen Stadtsohn mit falschen Blumen zu ehren«, witzelte Struve über diese Provinzposse.
»Das Plastikzeugs sah aber auch furchtbar aus.«
»Warte mal!« Er lief eilig zur Getränkeausgabe und kam mit zwei Gläsern kühlem Prosecco zurück. »Jetzt lass uns über etwas Erfreuliches reden.«
Marie Struve blickte ihn überrascht an. Er überreichte ihr ein Glas: »Auf unser Zehnjähriges, hier wie damals an der Sektbar beim Coconut-Konzert, am 29. August 1998.«
Ihre Verblüffung nutzte Struve, um anzustoßen und sie zärtlich zu küssen. Dann trank er den Prosecco in einem Zug aus, während sie immer noch mit dem vollen Glas vor ihm saß. Plötzlich lachte sie laut, nahm verschämt die Hand vor den Mund und blickte sich kurz um. Niemand hatte von der Szene Notiz genommen. »Auf uns«, flüsterte sie gerührt und nahm einen tiefen Zug von dem Perlwein.
Wie sich herausstellte, hatte Marie Struve für dieses Treffen auch eine kleine Überraschung vorbereitet. Nach dem zweiten Glas traute sie sich aus der Deckung, um die Gunst der Stunde zu nutzen.
»Eigentlich müsstest du von Tag zu Tag besser gelaunt zur Arbeit gehen.«
Peter Struve stutzte. Er dachte noch immer an die schreckliche Nacht in Untertürkheim und hielt die Bemerkung von Marie doch eher für einen schlechten Scherz. Merkte sie denn nicht, dass er sich in diesem heißen Sommer mit seiner phlegmatischen Art auch körperlich geradezu von einem Tag zum anderen schleppte?
»Wie kommst du denn darauf?«
»Na, dein Jahresurlaub naht mit Riesenschritten – und dann können wir drei Wochen lang wegfahren. Zieht es dich nicht mal in die Ferne?«
Ihm schwante Schlimmes. Das Fernweh seiner Frau hatte schon öfter zu heftigen Diskussionen geführt. Er wollte aber an dem schönen Abend keinen Streit riskieren.
»Na ja. Mal etwas anderes als Marbach und das Bottwartal, Bietigheim und Stuttgart wäre schon nicht schlecht«, antwortete er diplomatisch, zumal er Reisen innerhalb Europas durchaus aufgeschlossen gegenüberstand.
Sie blickte herausfordernd. »Na also, du freust dich auch schon!« Sie hob ihr Glas und prostete ihm zu.
Tatsächlich wollte der Kommissar möglichst jeden Urlaub mit seiner Frau verbringen. Ihre Kinder aus erster Ehe waren schon erwachsen, sie hatten also bei der Wahl ihres Ziels freie Hand. Besonders Marie genoss diese Freiheit. Auf ihr Betreiben hatte er in den vergangenen Jahren die Akropolis, die Cheops-Pyramide und den Felsendom in Jerusalem jeweils im Spätsommer bei 40 Grad im Schatten besucht. Immer war er in der Notaufnahme gelandet. Nicht, dass er prinzipiell etwas gegen Krankenhäuser gehabt hätte. Aber diese Kräfte zehrenden Ausflüge hatte er wahrlich in keiner guten Erinnerung behalten. Wie es dazu kommen konnte, dass er im Jahr darauf jedes Mal wieder mitflog, konnte er sich selbst nicht genau erklären. Diesmal aber, so hatte er sich geschworen, wollte er auf keinen Fall seine lichtempfindliche helle Haut den zerstörerischen UV-Strahlen des Südens preisgeben. Ihn ermüdeten einfach diese endlosen Fußmärsche durch die Überreste vergangener Äonen. Marie hingegen blühte bei den Exkursionen regelrecht auf und überschüttete ihn mit Wissen, das sie sich in den Wochen zuvor angelesen hatte.
»Sag mal, kann es sein, dass du dir schon ein neues Reiseziel ausgesucht hast – ich meine eins, von dem ich langsam etwas wissen sollte?« Struve hatte das Glas abgesetzt. Nervös trommelte er mit den Fingern seiner rechten Hand auf dem Tisch herum. Marie lächelte verlegen.
»Nein, aussuchen wollen wir es doch gemeinsam. Aber vielleicht kann ich dir ja die eine oder andere Anregung geben.«
Das war der springende Punkt. Er hatte sich tatsächlich noch nicht überlegt, wohin sie fahren könnten. Vielleicht hatte sie ja den Norden im Sinn. Er überlegte, ob nicht sogar ein einsamer Ostseestrand ausreichen würde, um die Seele baumeln zu lassen.
»Ich bin schon ganz gespannt. Lass hören.«
Marie Struve kannte die Bedenken ihres Mannes, aber bestärkt durch seine wohlwollenden Reaktionen geriet sie ins Schwärmen: »Du, ich habe da neulich ein ganz tolles Buch über die Frida Kahlo gelesen – du weißt doch, diese geniale Malerin, die in Mexiko gelebt hat. Ich finde, da sollten wir unbedingt mal hin. Ich habe vorhin auch gleich die DVD mit dem Film über ihr Leben gekauft.«
Aha! Ein Höllentrip in die mexikanischen Subtropen, und das Ganze noch mit einem Klima killenden Interkontinentalflug. Peter Struve sah sich schon in Thrombose-Strümpfen eingezwängt im Airbus sitzen, um später in einer Wüste halb verdurstet am letzten Tropfen seiner Feldflasche zu nuckeln.
»Schön«, antwortete er etwas zögerlich. »Finde ich toll, dass du dich für eine so bedeutende Künstlerin begeisterst.«
»Ja, aber wie ist es mit dir? Du klingst, als ob sie für dich nicht so interessant wäre.«
»Och, ich kenne sie ja noch zu wenig, dass ich gleich – sagen wir – abheben würde.«
Das Wortspiel ihres Mannes irritierte sie. Dass er unter Flugangst litt, hatte sie schon längst bemerkt, auch wenn er es zu kaschieren versuchte. Bisher hatte er die Angst aber immer überwunden. »Du würdest also mitfliegen, wenn du sie vorher kennenlernen könntest«, fasste sie seine Bedenken in ihrem Sinne zusammen.
»Schatz, die Kerosinpartys da oben passen nicht zu Treibhauseffekt und Klimakatastrophe. Frida Kahlo würde da vielleicht auch nicht hemmungslos mitmachen.«
Marie Struve kannte diese Einwände, aber sie würde ihren Peter schon rumkriegen. »Du, für eine Traumreise muss man schon mal über den eigenen Schatten springen – außerdem sind wir noch nie nach Asien oder Amerika geflogen.« Sie streichelte zärtlich sein Kinn, worauf er behutsam ihre Hand nahm und sie mit seinen Händen auf dem Tisch umschlossen hielt.
»Lass mir noch etwas Zeit, Liebling.«
Der Ventilator surrte leise. Schweiß perlte Luca Santos von der Stirn. Er konzentrierte sich auf seinen Artikel. Noch 20 Zeilen, dann würde er genug über ›Hundesteuersätze im Bottwartal‹ geschrieben haben.
»Eine Tasse Kaffee gefällig?« Die Redaktionssekretärin Lisa Blume stand lächelnd in der Tür. Es war 11.30 Uhr, und Luca merkte, dass er an diesem schwülen Vormittag im August einen kleinen Muntermacher gut gebrauchen konnte.
»Lass nur, ich geh schon.« Luca ließ seinen Arm theatralisch kreisen. Für Lisa spielte er gerne den Kavalier. Er mochte seine Kollegin, die ihm schon so manchen Pott Kaffee an den Platz gebracht hatte. Außerdem würde ein kleiner Spaziergang vielleicht seine Fantasie anregen.
»Na, wer könnte einem solchen Angebot schon widerstehen?« Lisa klimperte mit den Wimpern. Luca stand auf und nahm grinsend ihre schmuddelige Tasse mit dem Kaffeerest vom frühen Morgen entgegen. Mit federndem Gang lief er in die kleine Teeküche im oberen Stockwerk.
Schade, dass bald für mich Schluss ist, dachte er. Er würde Lisa vermissen. Aber nicht nur sie. Das Praktikum beim Marbacher Kurier in den Sommerferien hatte ihm viel gebracht. Freilich wusste er nicht, wie es danach weitergehen würde. »Du bist die Generation Praktikum«, murmelte er vor sich hin und füllte den Kaffee aus einer großen Thermoskanne in die Tassen. Na, wenigstens konnte man ihm den Magister für Spanisch, Deutsch und Geschichte nicht mehr nehmen. Den Abschluss hatte der 29-Jährige seit zwei Wochen in der Tasche – nach 16 launigen Semestern in Tübingen, der Mindestzahl an Seminaren und einem Maximum an Partys. Eilig hatte er es eigentlich nur gehabt, wenn es darum ging, lästige Hausarbeiten schnell abzugeben. Vielleicht war er wegen seiner Ungeduld auf die Idee gekommen, es bei der Zeitung zu probieren. Die plötzliche Selbsterkenntnis ließ ihn schmunzeln. Er brachte Lisa den Kaffee und setzte sich mit seiner Tasse wieder an den Schreibtisch.
Eine dicke Rauchwolke aus dem Nebenzimmer nebelte inzwischen seinen Platz ein. Santos hustete und fluchte leise. Der Redaktionsleiter Gustav Zorn gönnte sich an jedem Vormittag eine Zigarre, die er genüsslich rauchte, während er die Zeitungen aus dem Großraum Stuttgart las. Zorn nutzte seit 20 Jahren seinen kompletten Jahresurlaub, um sich in der Karibik einen Vorrat an Tabakwaren zu besorgen. Natürlich flog er nicht nur deshalb in die DDR, wie er die Deutsche Dominikanische Republik wegen der vielen Landsleute dort scherzhaft nannte. Er entfloh damit vor allem dem nebligen November am Neckar. »Der deutsche Spätherbst ist nichts für mich«, pflegte er bereits im Sommer den Kollegen zu sagen, wenn er den Flug buchte. Die Redakteure fieberten der Reise ihres Chefs mindestens genauso entgegen wie ihr strenger Vorgesetzter. Wenn Zorn weg war, leerten sie einen Kasten Bier, denn seine Abwesenheit musste gefeiert werden. Das kam nicht von ungefähr: Der Oberleutnant der Reserve duldete keinen Widerspruch und ließ nicht nur mit seinen Zigarren gerne Dampf ab. Luca Santos hielt sich zurück – was nicht einfach war: Das andalusische Blut seiner mütterlichen Linie wallte mächtig auf, vor allem wenn Zorn ihn mal wieder bei Dauerregen zu einer Straßenumfrage losschickte.
Dichter Rauch umhüllte jetzt den Kopf von Santos. Er spürte, dass Zorn hinter ihm stand und drehte sich um. Der Redaktionsleiter grinste ihn überheblich an.
»Na, was machen die lieben kleinen Kläffer?«
»Denen geht es aber so was von gut. Die Hundesteuer liegt bald auf Ihrem Tisch«, antwortete Santos. Er bemühte sich, motiviert zu wirken, obwohl er sich gedanklich schon im freien Wochenende bewegte. Er wollte sich am Abend mit seiner Freundin Julia in Tübingen treffen. Sie sahen sich in letzter Zeit kaum, er hatte deshalb einen Tisch in einem bezahlbaren Restaurant der oberen Mittelklasse bestellt. Diese Art der Romantik würde zwar nicht unbedingt seinem Geldbeutel guttun, dafür aber hoffentlich ihrer Beziehung.
»Herr Santos, ich bräuchte Sie für eine wichtige Geschichte«, meinte Zorn mit argloser Miene. Er blies den Zigarrenrauch diesmal rücksichtsvoll in Richtung Decke. »Rellink, unser Feuilletonist, hat sich krankgemeldet. Können Sie heute Abend eine Lesung im Schlosskeller übernehmen? Ich plane mit 80 Zeilen und einem Bild mit Erika Scharf. Sie wissen schon, diese Ossi-Schreiberin, die jetzt gerade durch die Republik tourt, nachdem einige dieser abgedrehten Literaturexperten sie in den Himmel gehoben haben.«
Luca Santos schluckte. Inständig hatte er gehofft, dass er nicht doch noch einen Abendtermin verpasst bekam. Diese Lesung war freilich nicht irgendein Termin, mit Erika Scharf kam eine ambitionierte Schriftstellerin. Sie galt als eine Frau mit einer wunderbaren Ausstrahlung, die es verdient hätte, zu den ganz Großen der gesamtdeutschen Literaturgeschichte gezählt zu werden. Aber tatsächlich hatte sie erst jetzt, im reifen Alter von etwa 70 Jahren, den Durchbruch geschafft. Viel zu lange hatte sie ihre Manuskripte in der Schublade gelassen. Erst jetzt, 20 Jahre nach dem Mauerfall, wagte sie sich an das Licht der Öffentlichkeit – und ihr erster Roman, entstanden aus einer Sammlung lange gehegter Tagebucheinträge aus ihrem Leben in der ehemaligen DDR, zeigte ihre Größe. Eine solche Gelegenheit, sich beim Marbacher Kurier zu profilieren, konnte der Praktikant auf keinen Fall ablehnen.
»Na klar, die 80 Zeilen sind fix«, hörte er sich antworten.
»Schön, mein Junge. Sie wissen ja, wie man solche Sachen anpackt: Kein Germanistengesäusel – wir wollen den Menschen kennenlernen.«
Zorn bog zufrieden um die Ecke. Luca erschrak. Er stellte sich vor, wie Julia vor Wut ins Handy schnauben würde, wenn er ihr die Hiobsbotschaft mitteilte. Aber er tröstete sich damit, dass ihnen noch der Samstagabend blieb. Dann würde er eben einen Tag später mit ihr ins Restaurant gehen und sie anschließend noch mit einem Theaterbesuch überraschen. Es kam nur darauf an, ihr die kleine Terminverschiebung schonend beizubringen.
Luca Santos betrat gegen 19.50 Uhr den Schlosskeller. Er hatte am Nachmittag mit Julia telefoniert. Sie war wie erwartet aus allen Wolken gefallen. Fast stotternd erzählte er ihr von dem Abendtermin. Es gehe nicht anders, dringende Bitte des Chefs, kranker Kollege – er mochte noch so jammern, Julia reagierte sauer, wie immer in diesem Sommer, wenn er gemeinsame Pläne kurzfristig absagte. Luca schlug ihr zum Trost vor, mit ihm gemeinsam die Lesung von Erika Scharf zu besuchen. Sie bestand jedoch darauf, in Tübingen zu bleiben. Er solle nicht versuchen, sie wieder auf seine Termine zu zerren. Luca hingegen wollte ihr mit solchen Angeboten einen Gefallen tun, und diesmal war er überzeugt, ihr etwas durchaus Interessantes zu bieten. Julia studierte Germanistik, und gemeinsam hatten sie einmal ein Seminar über die Literatur in Ostdeutschland besucht. Es gelang ihm dann doch noch, sie für einen späten Absacker im Café Provinz in Marbach zu gewinnen. Die Nacht würden sie in der kleinen Dachwohnung bei Julias Eltern in Erdmannhausen verbringen. Luca hatte sich dort für die Dauer seines Praktikums einquartiert. Freilich mochte Julia die Rückkehr ins heimische Nest überhaupt nicht. Ihre Zweifel zerstreuten sich jedoch im Laufe des Sommers, zumal ihre Eltern, beide Lehrer am Marbacher Friedrich-Schiller-Gymnasium, die Besuche zwar mit Interesse, aber ohne übertriebene Neugierde tolerierten.
Im Schlosskeller traf Luca Santos sofort auf Erika Scharf. Sie stand bei einer Gruppe, in der er den Kulturamtsleiter Fabian Rösler bereits von Weitem erkannte. Rösler galt als kreativer Kopf der Marbacher Verwaltung. Er trug ein grelles hellgrünes Hemd. Seine blank polierte Glatze verlieh ihm eine weltmännische Aura. Rösler unterhielt sich angeregt mit Siegfried Derwitzer, einem Marbacher Selfmade-Autor, der bei Lesungen immer anzutreffen war und sich dabei meistens so stark betrank, dass seine Stimme deutlich herauszuhören war.
Erika Scharf hatte sich von den beiden Männern abgewandt. Sie stand, gekleidet in einem einfachen, aber elegant wirkenden dunkelvioletten Kostüm, da, und wartete mit angespanntem Gesichtsausdruck auf ihren Auftritt. Der Mann neben ihr blickte nervös auf die Uhr. Das musste ihr Ehemann Dietmar Scharf sein, vermutete Santos. Scharf war in der deutschen Literaturszene über Nacht fast genauso bekannt geworden wie die Frau, die er überallhin begleitete, regelte er doch für sie das Geschäftliche. Luca erkannte neben ihm den ziemlich steif wirkenden, ältlichen Sven Dollinger, den Leiter des Deutschen Literaturarchivs, einer Einrichtung, die in Marbach kurz ›das Archiv‹ genannt wurde. In dem Institut wurden die Nachlässe von renommierten Schriftstellern aufbewahrt.
Luca Santos kannte von all diesen Personen nur Fabian Rösler näher. Mit ihm hatte er sich hin und wieder am Rande von Presseterminen unterhalten. Rösler moderierte die Kulturveranstaltungen im Schlosskeller. Santos hatte für den Marbacher Kurier schon öfter von dort berichtet. Es überraschte ihn, dass Fabian Rösler jetzt so tat, als kenne er ihn nicht. Eigentlich bin ich als Journalist für das Gelingen dieses Abends nicht wirklich wichtig, tröstete er sich. Er hätte allerdings gerne Erika Scharf begrüßt. Ein Wunsch, den er sich selbst erfüllte.
»Herzlich willkommen in Marbach, Frau Scharf.«
Santos verbeugte sich umständlich vor der Schriftstellerin, errötete und reichte ihr schüchtern die Hand. Er fühlte sich nicht ganz wohl in seiner Haut, aber wenn er sein Ziel erreichen wollte, musste er auf sie zugehen. Erika Scharfs Gesicht entspannte sich bei den freundlichen Worten des jungen Mannes etwas. Endlich wachte auch der Kulturbeamte Rösler auf.
»Darf ich vorstellen: Herr Santos vom Marbacher Kurier. Er wird sicherlich über Ihre Lesung bei uns berichten.«
»Ach ja?«
Erika Scharf hielt ihr Lächeln, es wirkte jedoch nicht mehr ganz so natürlich. Mochte sie keine Journalisten? In einem Artikel der Frankfurter Umschau hatte Luca gelesen, dass die Scharf grundsätzlich keine Interviews gab. Der Autor der Umschau führte das auf ihre unglückliche Vergangenheit im SED-Staat zurück. Aus Angst vor Bespitzelungen hatte sie ihre Notizen sogar im Garten vergraben. Späte Funde auf dem Bauerngrundstück ihrer Eltern in der Nähe von Potsdam trugen zum Scharf-Hype bei, der sich in den vergangenen Jahren in der deutschen Literaturszene entwickelt hatte. Und noch etwas beförderte den Mythos des spät entdeckten Genies: Auch heute noch ging Erika Scharf Interviews beharrlich aus dem Weg. Ein Schutzmechanismus, der aus alter Zeit nachwirkte? Luca war sich nicht sicher, ob er die Wortverweigererin verstehen wollte. Sie wirkte bei ihren Lesungen keineswegs verschüchtert. Und die Fragen würden ihr ja schließlich keine Stasi-Offiziere, sondern durchaus verständnisvolle, freiheitsliebende Journalisten stellen.
»Ich würde Sie nachher noch gerne sprechen«, bat Luca. Gespannt wartete er auf ihre Antwort.
»Aber natürlich«, säuselte die Scharf. »Ich muss allerdings erst noch Bücher signieren. Sie können sich dann noch zu mir setzen – vorausgesetzt, Sie stellen mir keine Fragen.«
Luca schluckte. Er war sich nicht ganz sicher, sie richtig verstanden zu haben, seine Gedanken rotierten: Ein Interview ohne Fragen, wie sollte das denn wohl funktionieren? Immerhin war er nicht auf völlige Ablehnung gestoßen. Er nahm sich vor, sie später mit Alkoholischem zu versorgen, dann würde sie schon auftauen.
»Auf ein Glas Wein gegen später«, rief er.
Sie lächelte ihm zu und nickte.
»Meine Frau wird sicherlich kaum Zeit für lange Gespräche haben«, zischte plötzlich Dietmar Scharf, als die Dichterin bereits auf dem Weg zum Podium war. Scharf überreichte Luca eine Visitenkarte. »Wenn Sie noch Fragen haben, können Sie mich morgen auf dem Handy anrufen.«
»Na, besten Dank für das Angebot«, antwortete Santos mit gespielter Freundlichkeit. Er dachte überhaupt nicht daran, sich das Glas Wein mit der Schriftstellerin entgehen zu lassen. Zu neugierig war er auf das Interview, bei dem keine Fragen gestellt werden durften.
Die Lesung hielt, was sich die Veranstalter versprochen hatten. Erika Scharf beeindruckte die Zuhörer in dem Kellerraum, der bis auf den letzten Platz gefüllt war. Ihre Lektüre, einige Gedichte aus den späten 60er-Jahren, wirkte auf Luca keineswegs antiquiert. Mit ihren Worten überzeichnete sie bewusst eine untergehende Mondlandschaft. Die ›kalten Krater der Zerstörung‹ lenkten ›die Menschheit in friedvolle Bahnen‹. Luca fand den Versuch, den Wahnsinn des atomaren Wettrüstens in einen apokalyptisch anmutenden astronomischen Horizont zu rücken, durchaus gelungen. Wahrscheinlich wäre Erika Scharf von vielen Westdeutschen noch vor 40 Jahren als Pazifistin im Dienste des Sozialismus bezichtigt worden, dachte der junge Journalist. Er kannte diese Zeit eigentlich nur aus Erzählungen seiner Eltern, die sich während der 68er-Unruhen in Paris kennengelernt und deshalb immer in den höchsten Tönen vom ›bewegenden Kampf gegen das Establishment‹ geschwärmt hatten.
Luca fiel auf, dass der Schlosskeller mit seiner dichten Atmosphäre einen vorzüglichen Rahmen für die Lesung einer Schriftstellerin abgab, die vor dem Fall des Eisernen Vorhangs nirgendwo gelesen hatte, weil sie die innere Emigration bevorzugte, aber an ihrem Lebenswerk festhielt und unbeirrt im Namen der Freiheit weiterschrieb.
Im Café Provinz am Marbacher Cottaplatz wartete Julia bereits seit einer halben Stunde auf Luca. Sie saß an der Bar, alle um sie herum unterhielten sich, aber niemand redete mit ihr. Sie war sauer auf Luca und wollte schon gehen, überlegte es sich aber anders und holte sich noch einen Krimi aus ihrer Handtasche. Darin las sie, bis ihr ein Glas Prosecco gebracht wurde.
»Woher kommt denn das?«, fragte sie verdutzt den Barmann, der grinsend auf einen älteren, schlampig gekleideten Mann zeigte, der sie von der hinteren Ecke der Bar aus anschaute und schüchtern einen Zeigefinger hob.
»Oh Gott!«, fluchte Julia und blickte den Spender mit einer Mischung aus Ärger und Entsetzen an. Sie schob das Glas von sich und schüttelte energisch den Kopf. Sie bildete eine Faust und streckte den Daumen nach unten. Ihr stiller Verehrer verschwand. Wenig später tippte ihr jemand auf die Schulter. »Jetzt platzt mir doch bald der Kragen!«, schimpfte sie, im selben Moment erkannte sie aber, dass nicht der ungebetene Spender hinter ihr stand, sondern ein junger, gut aussehender Mann. Julia hielt verdutzt inne und überlegte. Dann fiel es ihr ein. Es handelte sich um einen ehemaligen Mitschüler aus dem Marbacher Friedrich-Schiller-Gymnasium.
»Julia?«
»Ralf! Hey, was für eine Überraschung. Dass du immer noch hier herumhängst.«
»Na klar, ich habe all die Jahre nur auf dich gewartet«, antwortete er und verzog scherzhaft seine Mundwinkel. »Jeden Abend habe ich Ausschau gehalten.«
Sie lachten. Julia errötete leicht, sie hatte Ralf damals wohl gemocht, aber so richtig gefunkt hatte es zwischen ihnen nicht. Damals trafen sie sich mit ihren Freunden regelmäßig im Provinz, vor allem, um sich die Gigs von lokalen Bands anzuhören. Auch Ralf spielte in einer Gruppe. Sie erinnerte sich daran, dass er cool gewirkt hatte und einige ihrer Freundinnen ziemlich auf ihn abgefahren waren. Julia selbst ging in dieser Zeit mit Rico, einem introvertierten Mathematik-Genie. Ungern dachte sie daran zurück. Mit Rico hatte sie mehr ein kumpelartiges Verhältnis. Er war ziemlich stur und sie hatten sich nach zwei Monaten auch schon wieder getrennt. Dann war ihr bei einer Studentenparty Luca über den Weg gelaufen. Wo er jetzt nur blieb?
Ralf überging ihr verlegenes Schweigen einfach. »Na, erzähl doch mal: Wie geht es dir so?«
»Bin an der Uni in Tübingen, Germanistik und Romanistik, viele Hausarbeiten, meistens langweilige Seminare, du weißt ja, wie das ist.«
Ralf setzte sein Weizenbierglas ab: »Klar, hab selbst mal mein Studium abgebrochen.« Er grinste frech.
»Aber nicht jeder schmeißt die Brocken hin«, protestierte sie lächelnd. Auch wenn sie schon öfter mit dem Gedanken gespielt hatte, ihr Lehramtsstudium für ein paar Semester ruhen zu lassen, hatte sie doch nie den Mut dazu gehabt. Vielleicht würde sie für ein Jahr nach Italien gehen. Sie fand, dass sie nach dem Grundstudium eine kleine Belohnung verdient hatte.
Als ob Ralf ihre Gedanken gelesen hätte, erzählte er ihr von seinen eigenen Italienprojekten.
»Du, ich habe ein kleines Unternehmen gegründet, wir produzieren jetzt auch in Bologna. Diese süßen Sonnenschirme, die man ins Eis steckt, sind jetzt europaweit wieder unheimlich gefragt.« Er zeigte ihr einen der bunten Papierschirmchen. Bologna, diese schöne Stadt in der Emilia Romagna. Sie kannte sich dort unten aus, hatte mal mit Luca ein verlängertes Wochenende in der Gegend verbracht.
»Erzähl mir doch ein bisschen von Bologna«, sagte sie, jetzt schon fast ein bisschen trotzig, als ob sie Luca damit heimzahlen könnte, dass er sie versetzte.
Und Ralf erzählte von Italien, seine Augen leuchteten. Julia bestellte sich noch ein Glas und genoss das unverhoffte Beisammensein. Ralf war alles andere als ein Langweiler. Wenn sie ehrlich war, fand sie ihn sogar immer noch ziemlich sexy.
Ihre Körper warfen tanzende Schatten in dem dunklen Zimmer. Von draußen hallte die Musik eines nahen Festes leise herein. Der Inhalt des Titels kam ihm bekannt vor: Sie versprach ihm ihre Liebe, er ging unbeirrt seinen Weg. Norbert Rieker hielt gierig ihre Brüste in seinen Händen. Er begehrte sie. Sie jauchzte leise auf, ruckartig drang er in sie ein. Sie stöhnte auf.
Sie warf den Kopf mit den langen roten Haaren wild nach hinten. Er mochte diese Momente, auch wenn sie ihm den Schweiß auf die Stirn trieben. Rieker bemerkte die Anstrengung des Augenblicks. Nur wenige Wimpernschläge später jedoch glaubte er sich unendlich weit entfernt von ihr. Der Gipfel der Lust würde bald erreicht sein, aber das Ganze erschien ihm ungewohnt vorhersehbar. So vorhersehbar wie die Tatsache, dass er sie in dieser Nacht verlassen würde. Nicht für immer, dazu hatten sie sich in den vergangenen sechs Monaten zu sehr kennen- und liebengelernt. Aber doch einmal mehr für diese Nacht. Erneut würde er die Tür des Hotelzimmers hinter sich schließen und sich zu Fuß in sein, wenige hundert Meter entferntes, Eigenheim begeben. Seine Frau Paula würde, schon längst schlafend, ihn höchstens mit einem müden Grummeln von ihrer Seite des Bettes grüßen. Der Seite des Schlafgemachs, die er schon seit Jahren mied. Nicht etwa, weil Paula im Laufe der Jahre unansehnlich geworden wäre. Noch immer zog sie die Blicke der Männer auf sich, das wusste er, auch wenn sie nie davon erzählte. Einzig die Art, wie sie morgens vor dem Spiegel stand und sich betrachtete, verriet etwas davon. Es schien ihm, als ob sie sich durch und durch kannten – nach 15 gemeinsamen Jahren. Seit ihrer Studienzeit verstanden sie sich hervorragend, und er hätte bestimmt noch jahrelang täglich seinen Fußweg von seinem Haus in der Danneckerstraße über die Schillerhöhe ins Rathaus glücklich und zufrieden zurückgelegt, wenn nicht eines Abends ein roter Ferrari vor dem Parkhotel Schillerhöhe seine Aufmerksamkeit erregt hätte. Nicht, dass er sich jemals viel aus Sportwagen gemacht hätte – aber die beiden wohlgeformten Schenkel, die er sah, als sich die Beifahrertür geöffnet hatte, die braun gebrannte Haut, die durch einen tief geschlitzten schwarzen Lederrock ihm geradezu aufgenötigt wurde. Diese Schenkel ließen seine Schritte ebenso stocken wie seinen Atem. Rieker erinnerte sich noch später an dieses Initial ihrer Bekanntschaft: an seine schnellen, unsicheren Blicke, mit denen er die wie ausgestorben erscheinende Umgebung taxierte; an die dichten Büsche auf dem kleinen Spielplatz, die ihm als Versteck dienten; und an die Spannung, mit der er in diesen, mit quälender Langsamkeit verrinnenden Sekunden erwartete, wie die Frau aussehen mochte, die aus dem feuerroten Ferrari immer noch nicht ausstieg.
Jetzt, als er sich mit ihr erneut vereinigte, erinnerte er sich an diesen Moment. Er schloss die Augen und ließ das Bild in sich aufsteigen. Wie er sich verflucht hatte, als ihr Blick ihn traf. Hinter dem Busch stehend, hübsche Frauen angaffen, für eine Amtsperson ein Unding! Was wäre, wenn ihn jemand gesehen hätte? Nein, es gab damals keinen Zweifel: Sie hatte ihn gesehen, er überlegte sich noch Ausreden, falls er von ihr oder einem Dritten angesprochen würde. Vielleicht hätte er es mit einem entrüsteten Hinweis auf die Vermüllung der öffentlichen Plätze probiert. Eigentlich grotesk, an Abfall zu denken, wenn man eine der rassigsten Frauen der Stadt gesehen hatte, so überlegte er beim weiteren Nachhauseweg. Was ihn damals aber noch nachdenklicher machte: Sie hatte ihm zugelächelt, Verständnis für seinen Voyeurismus bekundet, ihn damit geradezu eingeladen. Wie ihn das verrückt machte.
Norbert Rieker verfügte als Marbacher Bürgermeister über genügend Mittel, sich unauffällig über die Frau zu erkundigen, die er da abends beobachtet hatte. Keine zwei Tage später besuchte er das Hotel. Es hatte ihn nur einen kurzen Anruf gekostet, er faselte etwas davon, dass er als Rathauschef die Sorgen der Gewerbetreibenden aus erster Hand kennenlernen müsse und deshalb schon bald mit Gianna Signorini sprechen wolle. Er gab vor, tagsüber vielbeschäftigt zu sein und bat um einen Abendtermin. Sie bot ihm ein gemeinsames Essen an. Er dachte nicht lange nach und nahm die Einladung an. Seiner Frau Paula erzählte er damals, er wolle sich im Hotel mit einigen Managern treffen, die das Schillerjahr 2009 und den 250. Geburtstag des Dichters für die Stadt vermarkten wollten. Diese Lüge konnte er verantworten, zumal er in diesen Tagen ständig Gespräche zu diesem kulturellen Höhepunkt im kommenden Jahr führte. Und warum sollte er sie erschrecken, mit etwas, das noch gar nicht passiert war. Natürlich ahnte er, dass etwas Entscheidendes passiert war. Etwas, das ihm – zumindest in den vergangenen sieben Jahren seiner Zeit in Marbach – noch nicht widerfahren war. Dass er an jenem Abend erst sehr spät nach Hause kam, führte er auf die interessanten Perspektiven zurück, die sich im Gespräch mit ›bemerkenswerten Persönlichkeiten der Kulturszene‹ ergeben hätten. So drückte er es jedenfalls am nächsten Morgen aus, als er mit Paula frühstückte.
Die Lüge, die er seiner Frau am nächsten Morgen auftischen wollte, würde sich um die Lesung von Erika Scharf drehen, der Schriftstellerin. Er würde die vielen Begegnungen am Rande erwähnen und wie wichtig die Kontakte zu Dollinger, dem Chef des Literaturinstituts, seien und wie viele andere Große und Kleine des kulturellen Sektors da gewesen wären, um zu sehen und gesehen zu werden.
»Warum bleibst du nicht noch ein bisschen, Norberto?« Gianna Signorini, jetzt immerhin mit einem Seidennegligé bekleidet, legte zärtlich ihren Arm um seinen Hals und küsste ihn auf die rechte Wange. Rieker nahm ihre Hand, er saß auf der Bettkante und rückte sich die Krawatte zurecht.
»Geht nicht, weißt du doch, Liebste.« Er küsste sie auf den Mund, aber sie wandte sich ab.
»Geht nicht, geht nicht – du sagst schon seit Monaten das Gleiche. Glaubst du, dass wir so eine Zukunft haben?« Sie schaute ihn gereizt an.
»Hör mal Gianna, ich kann dir nichts über die Zukunft sagen, ich bin momentan einfach zu voll – ich weiß nur eins: Ich liebe dich, alles Weitere wird sich fügen.«
Rieker hasste sich für diese Vertröstungen. Natürlich wusste er, dass eine Frau wie Gianna Signorini mit solchen billigen Sätzen nicht zu halten war. Es erschien ihm fast wie ein Wunder, dass sie noch zusammen waren. Aber irgendetwas zog sie beide magnetisch an. Was es war, wollte er, sooft es ging, herausfinden.
»Hör zu, Norberto, es ist wahrscheinlich für dich schwieriger als für mich, dieses Doppelspiel durchzuhalten. Was hältst du davon, wenn wir uns eine Weile nicht sehen?«
Sie mochte sein Lächeln, das sie entfernt an die smarte Nonchalance eines George Clooney erinnerte. Er stand vor dem Spiegel und kämmte seine kräftigen braunen Haare nach hinten. Gianna strich ihm mit dem Handrücken sanft über den Nacken und umarmte ihn von hinten. Sie legte ihren Kopf an seine Schulter. »Wir können so nicht weitermachen, diese Heimlichtuerei tötet unsere Liebe.«
Sie drehte sich von ihm weg: »Das sagst du jetzt schon seit Monaten – ich möchte nicht länger warten. Geh jetzt bitte, und komm erst wieder, wenn du Klarheit hast.«