Bernd Franzinger
Sinnenrausch
Tannenbergs ungewöhnlichster Fall
Zitiert wurde aus folgenden Werken:
Heinrich von Kleist Penthesilea. München: dtv 1998
Sigmund Freud: Bruchstück einer Hysterie-Analyse. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1905.
Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Stuttgart: Reclam 1995.
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
info@gmeiner-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2015
Lektorat: Isabell Michelberger
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Comugnero Silvana – Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-4810-2
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Sonntag, 4. Dezember, Mitternacht
Ich kann nicht mehr.
Seit gestern Morgen habe ich nicht mehr geschlafen.
Keine Sekunde lang.
Wie soll ich bloß damit leben?
Kann man denn damit überhaupt leben, weiterleben?
Nein, das geht nicht!
Nein!
Vorhin habe ich versucht, Schluss zu machen.
Aber es ging nicht.
Ich konnte es einfach nicht.
Diese verdammte Hand wollte ums Verrecken nicht loslassen.
Sie hat meinem Kopf nicht gehorcht und sich verkrampft am Geländer festgeklammert.
Diese bodenlose Tiefe.
Diese Kälte.
Diese Scheißkälte.
Schreiben ist vielleicht das Einzige, was mir jetzt noch helfen kann.
Aber ich kann diesen Satz nicht schreiben.
Mir zittern die Hände.
Aber ich muss ihn schreiben.
Sonst kann ich nicht weiterleben.
Mutter ist tot.
Was für ein Satz!
Er hat nur drei Worte.
Aber er ist so brutal, so endgültig.
Und die Frage, die dahintersteht.
Diese verdammte Frage!
Ich kann an nichts anderes mehr denken.
Immer nur an diese eine Frage: WARUM?
Immer und immer wieder.
WARUM musste Mutter sterben?
WARUM hat dieses elende Dreckschwein sie umgebracht?
Ich verstehe es einfach nicht!!!
Kann man solch einen Wahnsinn überhaupt verstehen?
Schluss mit emotionalen Ausbrüchen! Ich muss mich am Riemen reißen, muss mich rational mit der schrecklichen Situation auseinandersetzen. Auch wenn es mir noch so schwerfällt. Deshalb werde ich von jetzt an alles, was wichtig ist, chronologisch und wortgetreu aufschreiben.
Heute war die Kripo bei mir. Sie haben mich gefragt, ob ich eine Erklärung dafür hätte. »Nein, ich habe keine«, habe ich ihnen ins Gesicht gebrüllt. Kann es denn für so etwas Abartiges überhaupt eine Erklärung geben?
»Gab es Konflikte zwischen Ihren Eltern?«, hat einer dieser blöden Bullen gefragt.
»Nein, es gab keine«, hab ich geantwortet. »Mutter war so ein sanfter, gutmütiger Mensch. Sie ist jedem Streit aus dem Weg gegangen. Sie hat diesen Scheißkerl doch abgöttisch geliebt. Warum hat er das gemacht?«
Aber die Bullen wussten auch keine Antwort darauf. Wie denn auch? Die kannten Mutter doch gar nicht und der Scheißkerl macht anscheinend sein Maul nicht auf. Zum x-ten Mal musste ich diesen dilettantischen Bullen erzählen, was ich gesehen habe, als ich an diesem verfluchten Morgen unser Haus betreten habe.
»Ist Ihnen irgendetwas Besonderes aufgefallen?«, wollte der Oberbulle wissen.
»Was sollte mir denn aufgefallen sein? Es war alles wie immer, wie tausendmal zuvor. Mein Auto habe ich direkt vor meinem Elternhaus abgestellt und bin durchs Gartentor aufs Grundstück. Dann habe ich die Haustür aufgeschlossen.«
»Mit Ihrem eigenen Schlüssel?«
»Ja, Herr Kommissar, mit meinem eigenen Schlüssel.«
»Haben Sie irgendwelche Geräusche gehört?«
»Nein, Herr Kommissar, ich habe keine Geräusche gehört.«
»Haben Sie irgendjemanden gesehen? Im Vorgarten? Auf der Straße? Im Garten hinter dem Haus?«
»Nein, Herr Kommissar, ich habe niemanden gesehen.«
Dann haben sie gefragt, ob ich ihn nicht mal besuchen könnte. »Vielleicht spricht er ja mit Ihnen«, hat der Oberbulle gesagt.
»Was? Ich soll den Mörder meiner Mutter besuchen? Mit ihm sprechen?«
»Ja, genau.«
»Nein! Und nochmals nein!«
»Sie könnten es doch wenigstens versuchen. Damit wir endlich wissen, warum er es getan hat. Das ist schließlich auch wichtig für Sie.«
»Nein! Das kann ich nicht! Und das will ich auch nicht. Nein, das werde ich niemals tun!«
»Das würde Ihnen aber bei der Verarbeitung dieses schrecklichen Ereignisses helfen.«
»Nein – und nochmals nein!«
»Interessiert Sie denn gar nicht, welches Motiv dahintersteckt?«
»Nein! Lassen Sie mich endlich in Ruhe! Ich kann mit dem Scheißkerl nicht reden. Der ist für mich gestorben. Für alle Zeiten. Ich will ihn nie mehr sehen!«
Klar, habe ich die Bullen angelogen. Natürlich möchte ich wissen, WARUM er es getan hat. Aber ich werde nicht mit ihm reden! Nie mehr!
Kann es für solch einen Wahnsinn überhaupt ein Motiv geben?
Nein, das ist unmöglich!
Jetzt klopft Hannah schon wieder an der Tür. Wann kapiert sie denn endlich, dass sie mich in Ruhe lassen soll?
»Was machst du da drin?«, ruft sie. »Schließ die Tür auf! Komm ins Bett. Du musst doch endlich mal wieder schlafen.«
Ins Bett? Schlafen? Die dumme Kuh versteht rein gar nichts! Soll ich etwa so weitermachen wie bisher, als sei überhaupt nichts geschehen?
»Wie kann ich dir nur helfen?«, fragt sie.
Sie geht mir derart auf den Wecker mit ihrem Gesülze. Mir kann niemand helfen! Höchstens der Wein. Aber die Flasche ist schon wieder leer. Ich hole mir eine neue.
Verdammt, ich brauche zuerst noch ein Passwort für die Datei. Sonst liest das noch irgendjemand. Hannah zum Beispiel.
Nur was für eins? Ich brauche ein Passwort. Ein Passwort. Nur welches?
Ich hab’s: Enigma.
Warum nervt Hannah nur so unglaublich? Warum kann sie nicht einfach akzeptieren, dass ich zurzeit keinen Menschen ertrage, vielleicht nie mehr werde ertragen können. Auch sie nicht. Niemanden. Sie hat sich eben fest an mich geklammert, wollte mich nicht mehr in mein Arbeitszimmer gehen lassen. Dabei hat sie hysterisch geschrien. Dann hat sie plötzlich nur noch gejammert. Mit Gewalt musste ich mich von ihr losreißen.
Sie sagt, sie ist völlig fertig. Sie weint. Das ist alles so irre!
Aber jetzt habe ich die Tür abgeschlossen. Jetzt bin endlich wieder allein. Gott sei Dank!
Es ist schon merkwürdig. Ich habe eben noch einmal gelesen, was ich bisher geschrieben habe. Da taucht wie aus dem Nichts dieser Begriff auf: Enigma. Das griechische Wort für »Rätsel« oder »Geheimnis«. Für einen Mathematiker gibt es wohl kaum ein besseres Passwort. Vor allem in meiner Situation. Es ist komisch, welche genialen Dinge einem die graue Masse manchmal zuflüstert.
Was habe ich da eben bloß für einen ausgemachten Schwachsinn geschrieben!
Dieses verfluchte Ding da oben! SEIN Hirn hat ihn schließlich nicht davor zurückgehalten, Mutter umzubringen, ihr ein Messer ins Herz zu rammen.
Ja, ins Herz!
Mitten hinein in das Herz meiner Mutter.
Wahnsinn!
Das ist alles so irre!!!
Montag, 5. Dezember, 1 Uhr
Es goss in Strömen. Obwohl die Scheibenwischer trotzig gegen die enormen Wassermassen ankämpften, gelang es Hannah Wildberger nur mit großer Mühe, sich innerhalb der kaum erkennbaren Fahrbahnmarkierungen der Hohenecker Straße zu halten. Unter normalen Umständen wäre sie niemals auf die Idee gekommen, sich mitten in der Nacht bei diesen schlechten Sichtverhältnissen ins Auto zu setzen. Aber der Leidensdruck, der zentnerschwer auf ihrem Gemüt lastete, hatte ihr keine andere Wahl gelassen. Sie hatte es einfach tun müssen.
Kurz bevor Hannah den Parkplatz vor dem Wohnblock auf dem Bännjerrück erreichte, hatten sich die prallen Regentropfen wie durch Zauberhand in fette Nassschneeflocken verwandelt. Kaum waren sie auf der Windschutzscheibe gelandet, schmolzen sie in Windeseile zu kleinen versprengten Wassertröpfchen.
Durch diese Laune der Natur war mit einem Male das laute Prasseln, das die von einem böigen Wind vor sich hergetriebenen, dicken Tropfen auf Scheibe und Karosserie erzeugt hatten, verschwunden. Plötzlich waren um Hannah herum alle Geräusche verstummt.
Es war still, totenstill.
Hannah atmete einmal tief durch, dann zog sie den Zündschlüssel ab, stieg aus, verriegelte die Fahrertür und spurtete hinüber zu der in der Merseburgerstraße gelegenen mehrgeschossigen Wohnanlage. Die hinter nahezu jeder Fensterscheibe blinkenden bunten Lichterketten nahm sie dabei ebenso wenig wahr wie die an leuchtenden Strickleitern kletternden oder an Balkonbrüstungen angebrachten Weihnachtsmänner.
Irene Trautschke empfing ihre Tochter an der Wohnungstür. Sie trug einen zweiteiligen Hausanzug aus flauschigem Fleece. Das Oberteil war bis auf die aufgenähten bordeauxfarbenen Kontrastpaspelierungen rosé, die Hose dagegen gänzlich in Bordeaux gehalten. Der Reißverschluss war bis zum Brustansatz geöffnet und gab solariumgebräunte, von einem feinen Fältchengeflecht durchsetzte Haut frei. Trotz der fortgeschrittenen Nachtstunde erweckte sie keineswegs einen müden, abgeschlafften Eindruck. Sie war noch nicht abgeschminkt und sehr gut frisiert.
Nach einer kurzen, innigen Umarmung packte Irene ihre Tochter bei den Schultern und musterte sie mit einem prüfenden Blick. »Mein Kind, du siehst sehr schlecht aus«, sagte sie und strich ihrer Tochter mit einer flüchtigen Geste eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du gefällst mir überhaupt nicht.«
»Ich mir doch auch nicht, Mama«, entgegnete Hannah mit gepresster Stimme. »Ich weiß, dass ich zurzeit ziemlich mitgenommen aussehe. Aber was soll ich bloß machen? Das mit Jonas und seinen Eltern ist so schrecklich.« Sie schluchzte herzzerreißend. »Die Mutter tot – und der Vater ein Mörder!«
Hannah Wildberger konnte ihre aufgestauten Emotionen nicht mehr zurückhalten. Ein heftiger Weinkrampf überwältigte und schüttelte sie. Verzweifelt umklammerte sie den Hals ihrer Mutter, presste ihr zuckendes Gesicht in deren schulterlange, blondgefärbte Haare.
Irene Trautschke zog den bebenden Oberkörper ihrer Tochter fest an sich, so wie früher, wenn ihr einziges Kind sich bei ihr aus irgendeinem Grunde ausgeheult hatte. Und Gründe hatte es damals zuhauf gegeben. Liebevoll streichelte sie Hannahs kastanienbraune Lockenpracht, während sie geduldig wartete, bis sie sich beruhigte.
»Auch dieser Schmerz wird vorübergehen«, versuchte sie mütterlichen Trost zu spenden. Irene seufzte. »Wir haben schon so vieles miteinander durchgemacht. Gemeinsam schaffen wir auch das.«
»Ich halte diesen Wahnsinn nicht länger aus«, wimmerte Hannah kaum hörbar.
»Doch, mein Kind, du hältst das aus«, meinte Irene, während sie aufmunternd nickte. »Da bin ich mir ganz sicher. Wir Frauen sind zum Leiden geboren. Wir ertragen weit mehr, als viele Männer glauben.«
Irene Trautschke umfasste die Taille ihrer Tochter und führte sie behutsam zu einem Fernsehsessel, auf dem blau-weiß karierte Kissen sich türmten und der gemeinsam mit einem Dreier-Sofa die gemütliche Plausch- und Entspannungsecke des Wohnzimmers bildete.
»Komm, setz dich hin«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Ich mach uns jetzt erst mal einen schönen starken Kaffee. Du wirst sehen, wie schnell er dich beleben wird. Koffein wirkt bei depressiven Verstimmungen wahre Wunder. Dann geht’s dir gleich wieder besser. Schlafen können wir beiden Hübschen jetzt ja sowieso nicht.« Irene ging in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine ein, in die sie bereits Wasser und Kaffeepulver gefüllt hatte. Währenddessen ließ sich Hannah in den Sessel fallen.
Mit zitternden Händen bedeckte Hannah ihr Gesicht und wiegte monoton den Kopf hin und her. Sie fühlte sich wie ein Häuflein Elend. Als aus der Küche gurgelnde Geräusche ertönten, wich sämtliche Spannung aus ihrem Körper. Sie senkte den Kopf und legte ihre Hände in den Schoß. Einige Sekunden verweilte sie erschlafft in dieser Sitzposition.
In der Küche klapperte Geschirr. »Alles klar bei dir, mein Schätzchen?«, rief Irene. »Ich bin gleich wieder bei dir.«
Erschrocken zuckte Hannah zusammen. »Ja-ha«, antwortet sie, obwohl das natürlich nicht stimmte.
Hannahs leerer Blick wanderte den Teppichboden entlang hinüber zu einem niedrigen Glastisch, auf dem ein modernes, stummgeschaltetes Fernsehgerät stand. Den Inhalt der Werbespots nahm sie genauso wenig wahr wie das Röcheln der Kaffeemaschine. Sie war gedanklich in einer anderen Welt versunken. In einer Welt, in der es für sie nur Verzweiflung gab, nichts als pure Verzweiflung.
Hannahs Augen lösten sich von dem flimmernden Fernseher und schweiften zu einer messingfarbenen Stehlampe, die den Deckenbereich über der Couchecke mit grellem Halogenlicht flutete. In etwa einem Meter Höhe war am Gestänge der Metallleuchte eine kleine Glasplatte angebracht, auf der es sich ein hellbrauner Plüschbär bequem gemacht hatte.
Er war nur einer von vielen, denn Irene Trautschke hatte einen regelrechten Bärentick. Überall in ihrer Wohnung lagen, standen, hingen, saßen alle nur erdenklichen Exemplare der kuscheligen Stofftiere herum. Waren die Schmusebären einmal nicht in ihrer gegenständlichen Form präsent, so begegneten sie dem Besucher in jedem Winkel der Wohnung in Form eines Posters oder gerahmten Fotos.
Entsprechend der Vorweihnachtszeit hatte Irene die Wohnung ein wenig umdekoriert. Rechtzeitig vor dem ersten Advent waren diejenigen Bärchen zum Einsatz gekommen, die ansonsten im unteren Regal der Glasvitrine ein ziemlich unbeachtetes Dasein fristeten: Am Garderobenspiegel hing nun ein auf einen goldbestickten Stern aufgenähter Mohair-Teddybär und an der Küchentür ein mit Flügeln versehener, roséfarbener Engelchen-Bär mit einem Schleifchen über der Stirn.
Auf der Wohnzimmerkommode hatte Irene ihre Lieblingsfiguren platziert: ein 30 Zentimeter großer, prächtig ausgestatteter Nikolaus-Bär, der in seinem Inneren eine Spieluhr beherbergte. Man musste lediglich den Bischofsstab ein wenig anheben, schon erklangen die schönsten Weihnachtsmelodien. Eine Handbreit davon entfernt wartete eine mit mehreren kleinen Bärchen besetzte Weihnachtspyramide darauf, dass jemand die Kerzen entflammte und dadurch die Drehpyramide in Bewegung setzte.
Irene kehrte mit einer Kaffeekanne, zwei Henkeltassen und einer Schüssel mit Weihnachtsgebäck ins Wohnzimmer zurück und setzte sich ihrer Tochter gegenüber auf den mittleren Platz des Dreier-Sofas.
»Du siehst wirklich unheimlich blass aus, Kind«, bemerkte Irene Trautschke mit sorgenvoller Miene.
Plötzlich ging ein Ruck durch ihren Körper. Sie richtete sich auf und eilte mit fliegenden Schritten zu einer Regalwand, in deren Innenleben eine Getränkebar versteckt war, an der sie sich regelmäßig bediente.
»Cognac am Abend, erquickend und labend«, fabulierte sie. »Möchtest du auch einen?«, fragte sie über die Schulter hinweg.
»Nein, danke, Mama.«
Mit Kristallkaraffe und Cognacschwenker bewaffnet nahm Irene Trautschke wieder Platz. Sie füllte das Glas zwei Finger breit mit bernsteinfarbenem Weinbrand und trank es in einem Zug aus. Dann schenkte sie sich nach. Anschließend nahm sie eine Schachtel mit Zigarillos vom Tisch und bot ihrer Tochter einen an, doch Hannah lehnte auch dieses Angebot ab. Irene entzündete einen Zigarillo und inhalierte genüsslich.
In düstere Gedanken versunken nagte Hannah an der Fingerkuppe ihres linken Zeigefingers herum. Diese merkwürdige Angewohnheit begleitete sie seit frühesten Kindertagen durch ihr Leben.
Irene Trautschke erhob ihr Glas. »Auf uns beide! Und darauf, dass wir diese schreckliche Sache hoffentlich bald hinter uns haben.«
Erneut verleibte sie sich die hochprozentige Flüssigkeit auf ex ein. »Komm, trink endlich deinen Kaffee«, forderte sie in eindringlichem Ton. »Der ist so stark, dass er selbst Tote zum Leben erwecken kann.«
Schlagartig wurde ihr der makabre Inhalt ihres unbedachten Geplappers bewusst. Sie räusperte sich verlegen. »Pardon, Liebes, der Vergleich ist momentan wohl ziemlich unpassend.«
Hannah Wildberger reagierte wie in Trance auf die Worte ihrer Mutter: In Zeitlupe hob sie den Kopf, richtete den Oberkörper ein wenig auf, ergriff die Tasse und führte sie zum Mund. Sie nippte einmal kurz an der heißen, tiefschwarzen Brühe, dann stellte sie die Henkeltasse zitternd zurück auf die gläserne Tischplatte. Das spitze, klirrende Geräusch dabei ließ Hannah zusammenzucken.
Irene warf ihr zwar umgehend einen vorwurfsvollen Blick zu, enthielt sich jedoch jeglichen Kommentars.
»Mama, tut mir leid«, wimmerte Hannah mit tränenerstickter Stimme. »Aber ich bin völlig fertig. Was soll ich bloß machen?«
»Gibt es inzwischen irgendetwas Neues?«, fragte Irene mit merklich verändertem, wieder bedeutend freundlicherem Gesichtsausdruck. »Wir haben doch erst vor zwei Stunden miteinander telefoniert.«
Hannah stieß einen Stoßseufzer aus und schüttelte den Kopf. »Nein, eigentlich nicht«, erwiderte sie.
Ein bitteres Lächeln zeigte sich auf ihren farblosen Lippen. »Es hat sich wirklich nichts verändert, leider. Seit das mit Helga passiert ist, ist Jonas noch verschlossener als sonst. Er redet kaum mehr ein Wort mit mir. Und wenn, schnauzt er mich nur an. Er isst nichts mehr, jedenfalls bekomme ich davon nichts mit.«
Irene Trautschke reagierte verständnislos. »Wieso bekommst du davon nichts mit?«, fragte sie. »Du bist doch Jonas’ Ehefrau.«
Hannah atmete schwer und breitete die Arme zu einer hilflosen Geste aus. »Ja, schon, aber was soll ich denn machen? Jonas ist den ganzen Tag über unterwegs und ich erreiche ihn nicht, denn sein Handy ist immer abgeschaltet. Wenn er dann mal nach Hause kommt, holt er sich eine Flasche Wein und zieht sich sofort in sein Arbeitszimmer zurück. Dort schläft er dann auch. Nehme ich jedenfalls an. Falls er überhaupt schläft.«
Hannah bedeckte ihr aschfahles Gesicht mit den Händen. »Mama, du würdest Jonas nicht wiedererkennen. Er lässt sich total gehen. Er sieht aus wie ein Penner: die Kleider verdreckt, unrasiert, fettige Haare. Und dann riecht er auch noch nach Alkohol. Und wie!«
»Es ist doch wirklich kein Wunder, dass Jonas sich zurzeit so hängen lässt. Nach alldem, was er seit vorgestern hat durchmachen müssen. Schließlich hat er beide Elternteile verloren. Seine Mutter ist tot. Brutal ermordet von seinem eigenen Vater, der jetzt dafür im Gefängnis sitzt – oder vielmehr in der Klapsmühle.«
»Mama, bitte rede nicht so abschätzig über Ansgar«, protestierte Hannah.
Irene Trautschke zeigte sich davon unbeeindruckt. Sie zuckte mit den Achseln und hob die Augenbrauen. »Warum sollte ich das denn nicht tun? Das sind nun mal leider die nackten Tatsachen.«
Hannah trank einen Schluck Kaffee und tupfte sich den Mund mit einem Papiertaschentuch ab. »Ich fühle mich unglaublich hilflos«, jammerte sie. »Ich würde Jonas so gerne helfen, aber ich weiß nicht wie.«
Irene legte die Hand auf den Unterarm ihrer Tochter und streichelte ihn. »Kind, durch solch ein Stahlbad muss ein Mann ganz alleine gehen«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Männer verarbeiten Stresssituationen anders als wir Frauen. Die wollen gar nicht, dass wir ihnen helfen. Jonas ist da bestimmt nicht anders. Der will garantiert nur seine Ruhe haben. Das solltest du akzeptieren. Okay?«
Ein stummes Nicken als Antwort.
»Jeder Mensch trauert eben anders«, fügte Irene nach einer kurzen Pause hinzu. »Du wirst sehen: Schon in ein paar Tagen wird er sich ein klein bisschen mit den schrecklichen Dingen abgefunden haben. Und dann jeden Tag ein bisschen mehr. Die Zeit heilt viele Wunden.«
Irene Trautschke warf einen nachdenklichen Blick an die Decke und schob sogleich nach: »Die Zeit heilt alle Wunden.«
»Hoffentlich hast du recht, Mama.«
»Ja, bestimmt, mein Schatz«, sagte Irene und tätschelte Hannahs Arm. »Es wird alles gut werden. Du musst nur ganz fest daran glauben.«
Für einen kurzen Moment kehrte andächtige Stille im Wohnzimmer ein.
»Heute war übrigens die Polizei bei uns zu Hause. Die wollten von …«
»Ja, ja, ich weiß«, warf Irene dazwischen. »Das hast du mir vorhin schon alles am Telefon erzählt.«
Hannah war sichtlich irritiert. Sie zog das Kinn zum Hals und zog die gezupften Brauen zusammen. »Wirklich?«
»Ja, mein kleiner Schatz, wirklich«, erwiderte Irene freundlich.
»Ich bin total durcheinander.«
»Das ist in deiner Lage nur allzu verständlich. Du brauchst einfach ein wenig Abstand. Und vor allem brauchst du eins: Ruhe. Was hältst du davon, wenn du heute Nacht hier bei mir bleibst? Du kannst auf der Couch schlafen.«
»Das geht doch nicht.«
Irene Trautschke runzelte die Stirn. »Wieso geht das nicht?«
»Na ja, wegen Jonas. Was ist, wenn er mich sucht, weil er mich braucht?« Ihre Augen leuchteten hoffnungsvoll auf. »Vielleicht braucht er mich ja gerade heute Nacht. Und ausgerechnet dann wäre ich nicht für ihn da.«
»Das glaube ich eher weniger«, entgegnete Irene scheinbar emotionslos. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass er im Augenblick viel lieber alleine ist.«
Mit schlurfenden Schritten ging sie zu einem der Fenster, schob die schweren Gardinen zur Seite und schaute gedankenversunken hinunter in eine kleine Parkanlage, die von mehreren Laternen in schummriges Licht getaucht wurde. Alles war wie mit Puderzucker bestäubt: die Bänke, die Rasenflächen, die immergrünen Sträucher. Selbst die winterkahlen Äste der Bäume waren mit einer dünnen Schneeschicht überzogen.
»Der Schnee bleibt jetzt liegen. Bei diesem Wetter lasse ich dich nicht alleine nach Hause fahren. Und dann auch noch in deinem Zustand.«
»Aber, Mama …«
»Nix aber«, würgte Irene ihre Tochter schroff ab. »Du rufst jetzt zu Hause an und sagst Jonas, dass du wegen der Straßenverhältnisse heute Nacht bei mir bleibst. Basta!«
Widerspruchslos fischte Hannah ihr Handy aus der Handtasche und wählte zuerst Jonas’ Mobilfunk-, dann die gemeinsame Festnetznummer. Doch sie konnte ihren Ehemann nicht erreichen.
»Was soll ich denn jetzt machen?«, fragte sie weinerlich. »Jonas ist nicht da. Oder er geht nicht ans Telefon.«
»Na, dann sprich doch einfach auf euren Anrufbeantworter beziehungsweise auf seine Mailbox«, empfahl Irene. »Das reicht ja wohl als Nachricht aus. Irgendwann hört er sie bestimmt ab.« Hannahs Mutter öffnete ein Fenster und sog mit tiefen Zügen die eisige Nachtluft ein. »Komm mal zu mir«, forderte sie.
»Nein, besser nicht«, lehnte Hannah ab. »Mir ist schon kalt genug. Sonst erkälte ich mich noch.«
Irene duldete keinen Widerspruch. »Stell dich nicht so an und komm her.«
Widerwillig schob sich Hannah aus dem Fernsehsessel in die Höhe und trottete zu ihrer Mutter.
Irene Trautschke legte den ausgestreckten Zeigefinger auf die Lippen und wisperte: »Hörst du das?«
»Was?«
»Die Schreie der Eulen.«
Hannah spitzte die Ohren. »Ja, ich höre sie.«
»Unser Hausmeister sagt, es handelt sich um ein Waldkauz-Pärchen. Diese Vögel bleiben oft ein Leben lang ihren Partnern und ihren Nistplätzen treu. Das musst du dir einmal vorstellen. Ein ganzes Leben lang.« Sie seufzte ergriffen. »Wie romantisch.«
»Mama, mir ist wirklich kalt«, beschwerte sich Hannah. »Bitte mach das Fenster zu.«
»Gleich, mein Schatz, gleich«, wiegelte ihre Mutter ab. »Hörst du ihr ›Kju-Wit‹?«
»Ja, Mama, dieses schrille Geräusch ist kaum zu überhören«, gab Hannah genervt zurück. »Die Vogelschreie klingen richtig unheimlich. Da gruselt’s einen ja.« Sie schüttelte sich wie ein nasser Pudel. »Mir läuft es eiskalt den Rücken runter.«
»Siehst du, da geht es dir nicht anders als vielen abergläubischen Menschen. Bei denen gelten die Eulen nämlich als Vögel des Todes und des Unheils. Das kommt anscheinend daher, weil sie die Kju-Wit-Rufe als ›komm mit‹ deuten.«
Montag, 5. Dezember
Nach der Dienstbesprechung, die kurz vor 10 Uhr endete, zogen sich Wolfram Tannenberg, seines Zeichens Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission, und sein bester Freund, der Rechtsmediziner Dr. Rainer Schönthaler, in das Büro des Kriminalbeamten zurück.
»Da hast du denkfauler alter Knochen endlich mal den klaren Fall, den du dir schon so lange gewünscht hast«, sagte Dr. Schönthaler mit einem unglaublich breiten Grinsen.
»Abwarten«, bemerkte Tannenberg trocken.
Der Rechtsmediziner zog das Kinn zum Hals und rückte seine Fliege zurecht. »Ich für meinen Teil bedauere dagegen sehr, dass sich uns diesmal der Täter quasi selbst auf dem Silbertablett präsentiert hat.« Er seufzte tief. »Für einen begnadeten Hobbydetektiv wie mich ist das natürlich Langeweile pur, ödeste Tristesse.«
Tannenberg nippte an seinem Espresso und stellte die dickwandige kleine Tasse zurück auf den Unterteller. »Von wegen, mein lieber Rainer«, bemerkte er gelassen. »Solange uns der werte Herr Professor den Mord an seiner Ehefrau nicht gestanden hat, können wir den Fall nicht ad acta legen.«
»Quatsch«, zischte der Rechtsmediziner. »Das Geständnis des durchgeknallten Professors brauchst du überhaupt nicht. Die Indizien sprechen schließlich eine eindeutige Sprache.«
»Du immer mit deinen voreiligen Schlüssen.«
»Von wegen«, konterte Dr. Schönthaler. Er schnaubte verächtlich. »Oder glaubst du etwa an den großen Unbekannten, der in die Küche hineingeflogen ist, die Frau ermordet hat und dann wieder durch die offene Verandatür hinausgeflogen ist? Und das, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Sag, glaubst du das?«
Tannenberg antwortete nicht, sondern rang sich ein gequältes Lächeln ab.
Der Pathologe fasste sein Gegenüber fest ins Auge. »Junge, finde dich endlich damit ab: Es gibt bis dato kein einziges Indiz, das auf einen anderen Täter als den schweigsamen Herrn Professor hindeuten würde.«
Wolfram Tannenberg presste die Handflächen aufeinander und legte die Fingerkuppen an die Lippen. Mit einem schmatzenden Geräusch entfernte er sie wieder. »Ja, das weiß ich natürlich, mein lieber Rainer. Aber irgendetwas ist nicht koscher an der Sache. Das hab ich im Urin.«
Dr. Schönthaler schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Ojemine, du und deine Körpersäfte. Wann hast du mir eigentlich zum letzten Mal eine Urinprobe abgegeben?«
Sein Freund verdrehte die Augen.
»Was passt dir denn eigentlich nicht an deinem neuen Fall? Sonst jammerst du immer rum, dass die Ermittlungsarbeit im K 1 oft viel zu komplex sei für dein armes kleines Kriminalistenhirn. Und jetzt hast du endlich …«
»Ich verstehe einfach nicht, warum Wildberger den Mund nicht aufmacht«, fiel ihm Tannenberg ins Wort. »Warum schweigt er wie ein Grab?«
»Na, warum wohl, Wolf? Hast du schon einmal das Wort ›Schock‹ gehört?« Als der Chef-Ermittler nicht reagierte, schob Dr. Schönthaler nach: »Der Mann ist völlig paralysiert. Kein Wunder, schließlich hat er seiner Ehefrau ein Fleischermesser ins Herz gerammt. Solch eine Wahnsinnstat muss man erst mal verarbeiten. Und das braucht seine Zeit.«
»Warum hat er das getan? Was ist sein Motiv?«, fragte Tannenberg mehr sich selbst. »Warum hat er seine Frau getötet?«
Der Pathologe zog die Mundwinkel nach unten und hob die Schultern. »Na ja, vielleicht hat sie ihn bis zur Weißglut geärgert. So etwas soll selbst in den besten akademischen Kreisen vorkommen.«
Der Kriminalbeamte stieß abschätzig Luft durch die Nase. »Nein, das glaube ich nicht. Wegen einem kleinen Streit ermordet man doch nicht gleich seine Ehefrau.«
»Wieso? Vielleicht haben sich an diesem Tag bei unserem schweigsamen Herrn Professor einige gravierende Dinge summiert. Vielleicht hat irgendetwas das Fass zum Überlaufen gebracht und dann eine Affekthandlung ausgelöst.«
Tannenberg wiegte skeptisch den Kopf hin und her. »Trotzdem, Rainer. Irgendetwas ist faul an der Sache.«
»Du siehst Gespenster, Wolf! Du willst nur nicht wahrhaben, dass du es diesmal mit völlig unspektakulärem, hundsgewöhnlichem Totschlag zu tun hast.«
»Du wiederholst dich.«
Dr. Schönthaler wies mit dem ausgestreckten Arm Richtung Zimmertür. »Ganz im Gegensatz zu deinen Kollegen, die allesamt meiner Meinung sind«, behauptete er.
Tannenberg grinste herausfordernd. »Es wäre nicht das erste Mal, dass meine Mitarbeiter und du falsch liegen.«
»Apropos Kollegen«, zeigte sich der Rechtsmediziner von dem Einwurf unbeeindruckt. »Ich fand es übrigens ausgesprochen kollegial und nett von dir, dass du vorhin freiwillig Sabrinas Bereitschaftsdienst übernommen hast. Ist ja eine ganz neue Seite an dir. So kenne ich dich ja gar nicht.«
»Da staunst du, gell?«
»Ja, das kann man mit Fug und Recht behaupten.«
»Du könntest mir übrigens heute Abend ein wenig Gesellschaft leisten.«
Dr. Schönthaler versetzte seinem Freund einen kräftigen Prankenhieb auf die Schulter. »Das hätte ich auch ohne diese überflüssige Nötigung getan, mein alter Junge. Und du weißt auch, warum, gell, mein liebes Wölfchen?«
»Nee«, gab Tannenberg schmunzelnd zurück.
»Weil ich dir dringend mal wieder deine Grenzen aufzeigen muss.«
»Für Übermut hast du keinen Grund, du Angeber«, entgegnete der Leiter des K 1. »Schließlich habe ich dich aus purem Mitleid die letzten beiden Partien gewinnen lassen.«
»Was, du hast mich gewinnen lassen?«, prustete der Rechtsmediziner. »Pah, dass ich nicht lache. Bereite du dich lieber schon mal mental darauf vor, dass du heute Abend eine vernichtende Niederlage erleben wirst. Nicht umsonst bezeichnet man mich in Profikreisen als Schachgott.«
Tannenberg faltete die Hände und bewegte sie beschwörend auf und ab. »Bitte lieber Gott, lass Frustrationstoleranz vom Himmel regnen, sonst überlebt mein alter Freund diesen Abend nicht.«