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1. Auflage 2016
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© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
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ISBN 978-3-17-030265-5
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Vor ein paar Jahren wollten wir untersuchen, wie das Gehirn beim Betrachten von abstrakten, bewegten Mustern reagiert, wie sie manchmal in Filmen mit virtuellen Umgebungen vorkommen (Bösel 2007). Wir wählten die Simulation einer Rutschfahrt, wie sie so ähnlich in einer Wasserrutsche in einem Schwimmbad erlebt werden könnte. Ein Kollege stellte freundlicherweise einen Computer-animierten Film zur Verfügung, in dem sich abstrakte schwarz-weiße Muster so bewegten, als ob der Betrachter in einem gewundenen Tunnel schräg nach unten rutscht. Nun sind die Hirnareale bekannt, mit deren Hilfe bewegte Bilder analysiert werden. Eine Mitarbeiterin aus unserer Arbeitsgruppe, Mareike Heß, wollte einen solchen Befund zunächst wiederholen – das Material bestand ja erst einmal nur aus sich bewegenden Punkten. In anderen Experimenten sollten dann weitere Effekte, möglichst zu täuschend echt wirkender, virtueller Realität untersucht werden.
Zu unserer Überraschung reagierten die meisten Personen, die sich die Bewegung ansahen, anders als erwartet. Zwar war das bekannte, bewegungsempfindliche Areal des Gehirns aktiv, allerdings in geringerem Ausmaß als erwartet. Dagegen erschien auf den Hirnbildern, die der Hirnscanner erzeugte, ein nachgeordnetes Areal in weit größerem Maße gefärbt. Da gab es also noch eine weitere, rätselhafte Aktivität im Gehirn. Und bei einer großen Anzahl von Betrachtern war zusätzlich noch ein drittes Areal aktiv. Dieses lag weit ab von den Seharealen im Stirnhirn. Wir waren völlig verblüfft, weil es sich bei dem Stirnhirnareal um ein Areal handelte, das Bewegungen steuert. Das schien deshalb widersinnig zu sein, weil die betreffenden Personen während des Experiments bewegungslos im Hirnscanner lagen und nichts anderes taten, als die vorgeführte Computeranimation zu betrachten. Warum reagiert das Gehirn auf diese Weise? Denkt es entgegen der Wahrnehmung an wirres Zeug?
Eine zuverlässige Antwort auf die Frage, warum das Betrachten von Punktmustern zu geringfügigen Bewegungsimpulsen im Gehirn beigetragen hat, ließ sich aufgrund anderer Untersuchungen von Frau Heß ermitteln. Offenbar wirkte der durch das Punktmuster erzeugte Bewegungseindruck äußerst suggestiv. Manche Personen erleben eine simulierte Rutschfahrt so, als wäre sie real. Sie machen dabei sogar kleine, unwillkürliche Ausgleichsbewegungen, die tatsächlich als unwillkürliche Muskelanspannung gemessen werden konnten (Heß 1998).
Im Grunde kennt man den beschriebenen Effekt, der beim Betrachten suggestiver Filmszenen auftreten kann. Dennoch ist es faszinierend zu sehen, wie das Gehirn dabei vorgeht. Indem man moderne Verfahren der Bilderzeugung für Hirnprozesse einsetzt, ist unter den genannten Bedingungen im Hirnbild erkennbar, dass ein weit hinten im Gehirn verarbeiteter Seheindruck automatisch zu den im Gehirn vorne liegenden, motorischen Zentren durchgeschaltet wird. Wir wissen aus vielen anderen Untersuchungen, dass Dinge, die wir sehen, im Grunde ihre Bedeutung durch die jeweilige Brauchbarkeit erhalten. Wir nehmen nur das wahr, womit wir etwas anfangen können und was unter Umständen für unser Handlungsrepertoire bedeutsam ist. Man kann den Effekt in der geschilderten Untersuchung nicht einfach als harmlose, optische Täuschung abtun. Vielmehr muss man zur Kenntnis nehmen, dass das Gehirn unter Umständen sehr gezielt auf Eindrücke reagiert, die erkennbar fiktiv sind. Warum hat die Natur das zugelassen? In unserem Beispiel hält das Gehirn sogar einen völlig unrealistischen Bewegungseindruck für wichtig und veranlasst unwillkürlich eine entsprechende Bewegung. Das Gehirn kann die Welt offenbar nicht immer zutreffend abbilden. Es handelt aber so, als ob die von ihm konstruierte Welt die Wirklichkeit wäre.
Es ist mehr als hundert Jahre her, dass der geniale Denker und Kantverehrer Hans Vaihinger (1852–1933) sein Werk über die Philosophie des Als Ob veröffentlichte (Vaihinger 1911). Darin erklärte er, dass Menschen den Wahrheitsgehalt von Sachverhalten gar nicht mit letzter Sicherheit überprüfen können und mitunter auch nicht festzustellen brauchen. Trotz logischer Wiedersprüche und aufgrund weitgehend fantasievoller Annahmen käme man zu Fiktionen, von denen sich viele in der Lebenspraxis bewähren und insofern brauchbar und nützlich sind. Die Lebenspraxis würde also letztlich über richtig und falsch entscheiden, denn der eigentliche Zweck des Denkens ist das Handeln (S. 93). Allerdings bleibt im Hintergrund der Argumentation, ob es sich bei der angeführten Lebenspraxis jeweils um einen generellen Lebenszweck oder bloß um die sich gerade stellenden Aufgaben handelt. Zahlreiche Auflagen und Übersetzungen belegen jedenfalls das bis heute ungebrochene Interesse an Vaihingers Schrift.
Vaihinger gilt als erster exponierter Vertreter einer konstruktivistischen Sichtweise, weil er keinen Anspruch auf die Existenz einer allgemein gültigen Wahrheit erhebt. Ob etwas stimmig ist, würde stets der Erfolg entscheiden. Unter diesen Voraussetzungen hätte sich zum Beispiel die Fiktion eines höheren Wesens oder des freien Willens immer wieder durchgesetzt. Vaihinger erklärte darüber hinaus, dass Denken auf einer sehr großen Zahl von Operationen beruht, die für sich unverständlich sind. Er zählt zu den Fiktionen unter anderem alle Arten von Klassifizierungen, sowie induktive Schlussfolgerungen und physikalische Grundbegriffe wie Zeit und Raum. Diese Fiktionen »sind nur Vehikel zur Einleitung und Führung des Prozesses der Vorstellungsbewegung« (S. 327). Es handle sich also um Hilfsbegriffe, »welche aber, ohne wahren Erkenntniswert zu besitzen, nur praktische Bedeutung haben« (S. 324). Wenn jedoch »die praktischen Zwecke erreicht sind, bleiben jene Formen als Residuen und Hüllen zurück« und würden, obwohl im Grunde unlogisch und falsch, immer wieder verwendet (S. 324). »Trotzdem haben wir dieses Verfahren der Psyche als ein äußerst praktisches Hilfsmittel zu betrachten« (S. 323) und mit dem letztlichen Erfolg »entsteht das Lustgefühl des Begreifens« (S. 322).
Mittlerweile haben verschiedene konstruktivistische Schulen Mechanismen aufgedeckt, wie fiktionale Konstruktionen entstehen. Wenig Literatur gibt es bisher allerdings zur Würdigung all der Mechanismen, die bei der neurokognitiven Konstruktion beteiligt sind. Ein sogenannter Realitätsverlust kann unter sehr verschiedenen Bedingungen auftreten, zum Beispiel unter Flüssigkeitsmangel, Schock oder Drogenwirkung, nach einem Trauma oder im Verlauf von Psychosen. Bisher konzentrierte sich das allgemeine psychologische Interesse in diesem Punkt hauptsächlich auf die Entstehung von Täuschungen, und zwar im Sinnesbereich, im Gedächtnis und bei Halluzinationen, sowie auf die Diskussionen um die Willensfreiheit. Doch wie kann ein Fantasie-produzierendes Gehirn überhaupt überlebensfähig sein? Mittlerweile kennen wir sowohl im Bereich des Problemlösens wie auch bei Fehldeutungen in der Wahrnehmung innere Kontrollprozesse, die den Realitätsgehalt und die Brauchbarkeit der mentalen Konstruktionen noch vor einer Handlung prüfen. Diesen Mechanismen wollen wir hier unter Bezugnahme auf das fiktionale Denken unsere Aufmerksamkeit schenken. Dabei werden wir uns insofern auf Vaihingers Fragestellung beziehen, weil wir heute davon ausgehen müssen, dass die Hirnmechanismen, ebenso wie die Sinnesorgane oder die Motorik, gegenüber exakten Rechenoperationen grundsätzlich unscharf und unpräzise arbeiten. Dies hat die Natur möglicherweise deshalb in Kauf genommen, weil diese Mechanismen eine hohe Anpassungsfähigkeit an sehr verschiedenartige Probleme besitzen.
Die vorliegende Schrift über die Konstruktion der Wirklichkeit ist der dritte Titel nach den beiden von mir bereits erschienen Essay-Bänden über die Funktionen des Stirnhirns (Bösel 2012 und 2014). Bisher wurden die sozialen und problemösenden Funktionen des Stirnhirns besprochen – soweit sie nach dem gegenwärtigen Stand der Neurowissenschaften überhaupt schon verstanden werden können. Zu diesen Funktionen kommt nun eine weitere, die man als deutende Funktion des Stirnhirns bezeichnen kann, vielleicht sogar als seine philosophische Funktion. Wir interessieren uns also dafür, wie es das Gehirn schafft, sich Dinge vorzustellen, über die es kaum etwas weiß.
In vielen Kunstprodukten, vor allem in der Literatur, auf der Bühne, auf Bildern oder im Film, werden Teile einer besonderen Welt wiedergegeben, die zumindest eine gewisse Ähnlichkeit mit der realen Welt besitzen oder sogar versuchen, bestimmte Aspekte der realen Welt zu verwenden. Dennoch haben Kunstprodukte große Anteile von Erfundenem. Sie sind zwar selbst real, und ihr Thema mag einen realen Hintergrund besitzen, wie das zum Beispiel bei historischen Berichten der Fall ist. Dennoch stellt jede Übertragung von Realität in ein Kunstprodukt eine Entfernung von der dargestellten Realität dar und ist insofern Fiktion. Dies gilt selbstverständlich auch dann, wenn ein Filmset sorgfältig nachgebaut oder mit dem Computer nachkonstruiert wurde und durch handelnde Personen lebensecht gestaltet wurde.
Fiktionen lassen sich von realitätsbeschreibenden Berichten nicht immer unterscheiden. Manchmal ist die mangelnde Übereinstimmung mit den Erfahrungen, die man von Realität besitzt, sehr augenfällig, etwa wenn im Bericht Tiere zu sprechen beginnen. Oft wird bei fiktionalen Kunstprodukten der Anspruch auf genaue Realitätsbeschreibung gar nicht erst erhoben. Fiktionen können jedoch sehr anschaulich sein und unter Umständen sogar pädagogische Zwecke erfüllen. Dieser doch recht erstaunliche Effekt muss eng mit den Mechanismen zusammenhängen, mit denen unser Gehirn arbeitet. Dabei muss man sehen, dass es offenbar eine subjektive »Wirklichkeit« gibt, in der die Wirkungen einzelner Handlungskomponenten vorstellbar sind, auch wenn die die Erreichung eines Ziels ungewiss ist. Diese ist von einer intersubjektiven Wirklichkeit zu unterscheiden, der viele Menschen vertrauen.
Unser Gehirn muss die Eindrücke von der Wirklichkeit in jedem Augenblick neu ordnen. Also muss in der Art, wie das Gehirn die Welt konstruiert, auch der Schlüssel dazu zu finden sein, wodurch sich Fiktion von Realität unterscheidet und unter welchen Umständen Urteile als wirklichkeitsbeschreibend gelten dürfen. Um zu verstehen, wie sich das Gehirn die Welt konstruiert, wollen wir zunächst davon ausgehen, dass das Gehirn im Grunde nicht allzu viel von der Welt verstehen kann. Es besteht aus Nervennetzwerken, die nur wenig über die Wirklichkeit wissen und hauptsächlich Informationen hin- und herschieben. Dabei kann es durchaus zu Fehldeutungen kommen, wie es die bekannten optischen Illusionen demonstrieren.
Eine dieser optischen Illusionen ist das sogenannte Farb-Phi-Phänomen. Dieses wurde schon früh zum Anlass genommen, über die Mechanismen des Bewusstseins bei der Deutung von Wahrgenommenem nachzudenken (Dennett 1991). Zwei Lichtpunkte, die abwechselnd aufleuchten, können unter bestimmten Bedingungen den Eindruck erzeugen, dass es sich um einen einzigen Lichtpunkt handelt, der hin- und herspringt. Diesen Effekt bezeichnet man als Phi-Phänomen. Schon vor über hundert Jahren wurde die Vermutung geäußert, dass das Phi-Phänomen auf die Trägheit der verarbeitenden Nervenzellen beim An- und Abklingen der Erregung in benachbarten Netzhautstellen zurückzuführen ist (Wertheimer 1912). Später entdeckte man jedoch einen noch verblüffenderen Effekt, in dem man eine rote und eine grüne Lichtquelle verwendete, die abwechselnd aufleuchteten. In diesem Fall entsteht der Anschein, dass ein Lichtpunkt grün gefärbt abspringt und rot gefärbt landet, was sich anschließend umkehrt. Überraschenderweise wird als Ort des Farbwechsels nicht einer der beiden leuchtenden Punkte, sondern ein Ort dazwischen angegeben, der dunkel geblieben ist und an dem objektiv überhaupt nichts geschah (Kolers & Grünau 1976). Der fiktive Ort des Farbwechsels stellt einen real nicht existierenden »Erwartungswert« dar. Offenbar spielt bei dieser verblüffenden Illusion ebenfalls die Trägheit der Netzwerkverarbeitung eine Rolle. Die Analyse der Farben ist nämlich gegenüber der biologisch weitaus wichtigeren Bewegungserkennung ein besonders aufwendiger Vorgang. Ist jedoch Bewegung und Farbe gleichermaßen bedeutsam, entsteht offenbar ein Problem bei der Rückrechnung und Zuordnung von Beobachtungszeitpunkten. Das hat zwar nicht direkt mit Bewusstheit zu tun, lässt jedoch eine wichtige Eigenschaft der Bewusstwerdung erkennen. Wir werden das später im Zusammenhang mit »Zeit und Kausalität« näher betrachten. Jenseits solcher Ungenauigkeiten ist es dennoch erstaunlich, was das Gehirn innerhalb kürzester Zeit alles zu leisten vermag.
Das Wissen, dass das Gehirn mit dem Verhalten von Menschen zu tun hat, war schon seit der Antike bekannt. Der im heutigen Kalabrien tätig gewesene Arzt Alkmaion hat, wie aus verschiedenen Quellen überliefert worden ist, um 500 v. Chr. erstmalig öffentlich die Ansicht vertreten, dass die Gehirntätigkeit für den Verstand verantwortlich wäre. Dieser Ansicht schlossen sich sehr bald auch die Verfasser der dem Arzt Hippokrates zugeschriebenen Schriften und der Physiker Demokritos an (Aetios IV, 5, 1; vgl. Capelle 1968, S. 427). Wenig später konnte der römische Gladiatorenarzt Galenus in Pergamon Verhaltensänderungen als direkte Folgen von Hirnverletzungen beobachten.
1845 schrieb Wilhelm Griesinger in Tübingen ein vielbeachtetes psychiatrisches Lehrbuch, in dem er von der Maxime ausging, dass Geisteskrankheiten Gehirnkrankheiten wären. Wenig später dominierte jedoch Charles Darwin mit seiner Evolutionstheorie die Diskussion über geistige Fähigkeiten. Darwins Cousin Francis Galton diskutierte bereits ab 1859 die Frage der Vererbung geistiger Eigenschaften. In Verbindung mit Darwins Evolutionstheorie führte diese Diskussion jedoch in die Sackgasse des Sozialdarwinismus.
Etwa an der Wende zum 20. Jahrhundert begann man, systematisch an Tieren zu forschen, um mehr über den spezifisch menschlichen Geist zu erkunden. Die dabei gewonnen Erkenntnisse prägen seither unser Verständnis vom menschlichen Denken. Für unseren Ansatz ist ein Befund des Neuroanatomen Korbinian Brodmann (1868–1918) besonders bedeutsam: Bei Menschen ist nämlich das Stirnhirn etwa dreimal so groß ist wie bei Schimpansen, wenn man die rein motorischen Anteile ausklammert. Die Funktionen des Stirnhirns scheinen also für spezifisch menschliche Eigenschaften besonders bedeutsam zu sein. Später kamen Forscher wie Konrad Lorenz (1903–1989) und Burrhus Frederic Skinner (1904–1990) trotz höchst unterschiedlicher Forschungsansätze in einem anderen Punkt zu einem ebenfalls höchst wichtigen Ergebnis: Es ist das ungleich höhere Lernvermögen gegenüber Tieren, das beim Menschen so enorme Kulturleistungen ermöglicht.1
Heute müssen wir davon ausgehen, dass die Fähigkeit, die Welt immer wieder neu zu konstruieren, darauf beruht, dass beim Lernen ständig kleine Veränderungen in der neuronalen Informationsverarbeitung stattfinden. Durch Stoffwechselprozesse, Verletzungen oder Lernen werden, formal betrachtet, in den Netzwerken Gewichtsfaktoren verändert. Dadurch werden assoziative Verknüpfungen entweder enger oder schwächer. Das Wesen von Netzwerken besteht ja darin, dass jede einzelne Einheit einerseits viele Nachbareinheiten beeinflusst und andererseits durch viele Nachbareinheiten beeinflusst wird. Dadurch steht die einzelne Aktivität stets im Verhältnis zur Aktivität der Umgebung, und es kann durch die Wechselwirkung zu einer relativen Verstärkung oder Abschwächung von Einzelaktivitäten kommen. So entstehen zum Beispiel Effekte der Kontrastbildung. Das geschieht vor allem, wenn Farbflächen aneinanderstoßen. Oder es kommt zum Effekt des Referenzierens, den wir im Kapitel 5 Vergleichen und Analogien bilden noch ausführlich behandeln werden. Durch das Referenzieren erzielen Reize relativ zu ihrer Umgebung einen besonderen Effekt. Reichen jedoch solche Prozesse schon dafür aus, dass plötzlich eine neue Perspektive oder sogar ein neues Weltbild entsteht, ein Selbstbild kippt oder sich eine ganze Persönlichkeit verändert? Sicherlich nicht.
Prozesse der Kontrastabschwächung oder der Kontrastüberhöhung kennen wir hauptsächlich von den der Wahrnehmung dienenden Netzwerken. Ohne Zweifel gelten solche Gesetze jedoch auch in Netzwerken der höheren Informationsverarbeitung. Stets wird es sich allerdings in den Fällen, die mit dem Modell einer Kontrastwirkung beschrieben werden können, um lokale Effekte handeln, also um Veränderungen, die jeweils nur kleine Teile der informationsverarbeitenden Struktur betreffen.
Dennoch können unter bestimmten Umständen bereits kleinere Veränderungen in den Verarbeitungsgewichten zu einer größeren Verschiebung in der Bewertung von bedeutsamen Sachverhalten beitragen. Dies trifft vor allem dann zu, wenn Gewichte in den »kognitiven« Aufmerksamkeitsarealen verschoben werden oder wenn Netzwerkteile betroffen sind, die man als »emotionale« Bewertungsareale ansehen muss. Alle diese Areale liegen im Stirnhirn. Warum ist das Stirnhirn so verletzungs- und lernsensitiv? Welche Bedeutung haben Aufmerksamkeits- oder Bewertungssysteme? Diese und andere Fragen, zum Beispiel zur Verortung von Geist, Fantasie und nicht-zielgerichteter Zuversicht werden uns im Folgenden beschäftigen.
Den Bauplan des Gehirns kann man wohl am besten verstehen, wenn man sich die Funktionen der zwei großen, parallelen Verarbeitungswege vergegenwärtigt, die das Gehirn durchziehen: Ein oben gelegener Verarbeitungsweg verarbeitet Reizinformationen und die damit verbundenen Bewegungsimpulse (»wo« bzw. »wohin«). In diesem Weg ist auch die Steuerung der Skelettmuskulatur eingebunden. Ein seitlich und basal gelegener Verarbeitungsweg berücksichtigt körperinnere Prozesse in Verbindung mit möglicherweise vital bedeutsamen Reizen, z. B. von Farben oder Gerüchen (»was«). Daraus resultiert letztlich eine Revision vorhandener Bewegungsimpulse in Form von Verstärkung, Hemmung oder Umleitung). Faktoren, die zu einer Verhaltensveränderung führen, bestehen daher in erster Linie aus der Energetisierung von Zu- oder Abwendungsreaktionen, aber auch aus einer Spiegelung von Verhaltensweisen anderer Personen, sowie aus dem Abruf von Informationen aus dem Langzeitgedächtnis und dessen Aktualisierung. Zahlreiche Leistungen des Gehirns entspringen den Funktionen von mehr oder weniger senkrecht verlaufenden Verbindungen, die diese beiden Verarbeitungspfade verknüpfen. Solche Verbindungen existieren auch im Stirnhirn, wobei in diesem Zusammenhang vor allem die mittlere und die untere Stirnhirnwindung beachtenswert erscheint. Das Stirnhirn unterstützt unter anderem Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsprozesse.
Lernen, Aufmerksamkeit-Zuwenden und Bewerten sind zwar elementare Prozesse. Wir werden darüber hinaus sehen, dass in den dafür verantwortlichen Systemen die Fähigkeit ihren Ursprung nimmt, Gedanken zu entwickeln, die hypothetischen, unrealistischen oder auch schöpferischen Charakter besitzen. In erster Näherung hat es zwar den Anschein, als wäre das Verständnis für Realität und Fiktion an den Wahrnehmungsapparat gebunden. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Rolle der Wahrnehmung in der Lebenswirklichkeit von Organismen stets im Dienste der Orientierung von Handlung steht. Selbst einfachste Organismen verfügen über ein Repertoire von Verhaltensweisen, die dem Überleben dienen. Einige dieser Verhaltensweisen benötigen, sofern sie zielorientiert sind, eine Steuerung oder Kontrolle durch bestimmte Reize. Hierbei spielen die Sinnesorgane und eine entsprechende datenverarbeitende Wahrnehmung eine zentrale Rolle. Reize müssen jedoch vor allem in Bezug auf ihre Bedeutung für das Handeln gedeutet werden. Damit tritt eine weitere Fähigkeit in den Vordergrund, für die die Hirnmechanismen die Voraussetzung liefern müssen: die Fähigkeit zu deuten.
Manchmal ist die Handlungsbeeinflussung durch die Wahrnehmung ganz elementar. Nehmen wir ein gut untersuchtes Beispiel aus der einfachen Welt einer Kröte. Ein kleiner schwarzer Fleck, der in der Wahrnehmungswelt plötzlich auftaucht, könnte ein Beutetier sein. Die Kröte wendet sich diesem Fleck zu, um in der Folge genauere Informationen über die Verwertbarkeit dieses Objektes zu erhalten. Taucht jedoch in der Umwelt der Kröte ein großer schwarzer Fleck auf, so könnte es sich um eine mechanische oder biologische Bedrohung handeln, etwa durch ein feindliches Tier. Die Kröte wendet sich ab und sucht unter Umständen sogar das Weite. Die Größe von Objekten sowie auch das Größer- oder Kleinerwerden von Objekten sind Eigenschaften, die leicht zu erkennen sind. Sie erzielen sogar beim Menschen manchmal ähnliche Wirkungen wie eben beschrieben und tragen leicht zu Täuschungen bei. So wirkt ein schnelles Größerwerden leicht als Annäherung und mitunter sogar als Bedrohung. Derartige Effekte finden häufig in Filmen Verwendung.
In der komplexen Welt von Menschen muss die Wahrnehmung jedoch noch um ein Vielfaches mehr leisten: Innerhalb von wenigen Millisekunden erkennen wir bekannte Gesichter, und nur wenig länger brauchen wir, um die Intentionen von Handlungen anderer an Mimik oder Gestik abzulesen und vorherzusehen. Hierbei sind wir pfiffiger als Schimpansen, und dabei hilft uns das hochentwickelte Stirnhirn. Solche Befunde liefern Argumente für Vertreter der hermeneutischen Philosophie. Zwar konzentriert sich die Hermeneutik meist auf die Interpretation schwer zu verstehender Texte. Vielfach wird jedoch argumentiert, dass man sich bei jeder Art von Deutung auf die Gesamtheit der Assoziationen verlassen muss, die das Gedächtnis liefert, also auch auf ungewöhnliche. Und hierbei ist auch Fantasie gefragt. Letztlich müsse und könne eine Passung mit angeborenen oder bisher erworbenen Gestalten oder Schemata hergestellt werden. So erst ließen sich dann bestimmte Zusammenhänge ihrem Wesen nach durchschauen. Allerdings ist festzustellen, dass die Informationsverarbeitungsprozesse im Gehirn komplizierter sind, als sie einem solchen Erkenntnismodell zugrunde liegen. Dieser Komplexität wollen wir im Folgenden in kleinen Schritten nähertreten. Ein wichtiger Punkt wird sein, dass wir zwischen automatisch erfolgenden Deutungen, bewusst vorgenommenen, individuellen Erklärungen und kollektiven, regelgeleiteten Interpretationen unterscheiden werden.
Machen wir uns klar, dass bereits einfache Sinneswahrnehmungen keineswegs das Abbild einer Realität darstellen, sondern selbst bereits mentale Konstruktionen sind. Das gilt sogar für elementare Wahrnehmungen, die den eigenen Körper betreffen. Ein Beispiel dafür sind Phantomschmerzen, ein anderes liefert ein Experiment mit einer Gummihand. Legen Sie ihre rechte Hand vor sich auf den Tisch. Dann schieben Sie einen Gegenstand so vor ihren Körper, dass Sie diese Hand nicht mehr sehen. Hierauf platzieren Sie symmetrisch zu Ihrer rechten Hand einen Gummihandschuh, sodass er so liegt, wie wenn Sie auch Ihre linke Hand auf dem Tisch hätten. Nun soll eine andere Person beide »Hände« mehrmals gleichzeitig antippen, also Ihre rechte Hand und die Gummihand. Alsbald wird unter diesen Bedingungen das Gefühl einer Berührung auch dann auftreten, wenn nur der Gummihandschuh angetippt wird. Die entsprechende Körperwahrnehmung entsteht unter Beteiligung des Stirnhirns. Es kann sogar sein, dass Sie heftig zucken, wenn auf die Gummihand ein unerwarteter Schlag erfolgt – eine wohl nur wenig nützliche Konstruktion von »Wirklichkeit« (Ehrsson u. a. 2005).
Betrachten wir nun die allerersten Prozessen, die beim Anblick eines Gesichtes eine Rolle spielen. Angenommen, man betrachtet das Foto eines nicht näher bekannten Menschen: Wie alt könnte er sein? Scheinbar unwillkürlich wandert der Blick ins Gesicht und sucht dort nach Falten, oder er springt zum Haar, um zu sehen, ob es schütter oder gar grau ist. Tatsächlich bewegt sich der Blick hierbei nicht automatisch, sondern folgt bestimmten Strategien. Personen mit Verletzungen im oberen Stirnhirn versagen bei einer solchen Vorhersage. Stattdessen kommt es zu abenteuerlichen Schätzungen, die vermuten lassen, dass die Verletzten die Kontrolle über bestimmte Aspekte der Realität verloren haben. Doch auch, wenn die Augenbewegungen kontrolliert die Umgebung abtasten, kann es zu höchst waghalsigen und spekulativen Einschätzungen des Gesehenen kommen. Wenn man die deutenden Funktionen des Gehirns verstehen will, muss man nun zwei Dinge berücksichtigen, die wir am Beispiel der Wahrnehmung eines unbekannten Gesichts besprechen wollen.
Erstens erfolgt die Ausbreitung der visuellen Daten im Gehirn ziemlich unspezifisch, solange nicht eine bestimmte Verarbeitungsbahn durch Aufmerksamkeitsmechanismen breiter geöffnet worden ist. Die Daten gehen erst einmal in verschiedene Regionen des visuellen Systems. Sie werden sich mehr oder weniger erfolgreich ausbreiten, je nachdem, welches Echo sie in den jeweiligen Netzwerken erzeugen können. Auch dort, wo bereits einschlägige Informationen vorliegen, im Beispiel in Regionen, die auf die Gesichtswahrnehmung spezialisiert sind, ist die Anflutung der Daten anfangs recht spärlich. Letztlich muss ja das Gehirn in der gleichen Sekunde möglicherweise eine ganze Menge anderer Dinge tun, eine Bewegung ausführen oder auf bestimmte Laute achten. In unserem Beispiel gehen wir jedoch davon aus, dass die Gesichtsregion deutlich reagieren kann. Das hat üblicherweise zur Folge, dass eine Reihe von benachbarten Regionen, die etwa auf Werkzeuge oder Buchstaben spezialisiert sind, für den Augenblick gehemmt wird. Wenn das Gesicht eine gewisse Auffälligkeit besitzt, also zum Beispiel besonders hübsch ist, kann sich die Hemmung sogar auf Bewegungen oder das Gehör auswirken. Gleichzeitig werden ab diesem Moment Assoziationen aktiv, mit denen bestimmte Merkmale des wahrgenommenen Gesichts verbunden sind und die von sich aus weitere assoziierte Gedächtnisteile aktivieren. Die Attraktivität eines Gesichtes kann Sympathie und unter Umständen das Bedürfnis nach näherer Bekanntschaft erwecken.
Der zweite und wichtigere Punkt, der jeder Deutung einer Wahrnehmung zugrunde liegt, ist die Tatsache, dass Wahrnehmung grundsätzlich dem Handeln dient. Wir sehen nur Dinge, mit denen wir etwas »anfangen« können. Das ist insbesondere bedeutsam, wenn es sich um die Wahrnehmung von Menschen oder genereller um soziale Situationen handelt. Dabei spielt die Theorie somatischer Marker eine Rolle. Diese Marker sollen, wenn sie angesprochen werden, verschiedene Teile des Gehirns mit emotional reagierenden, vegetativ-motorischen Körpersystemen verbinden (Damásio 1994). Darüber hinaus sind viele Punkte in den Netzwerken der höheren Verarbeitung direkt mit verschiedenen anderen Punkten in exekutiven und motorischen Netzwerken verbunden. Im Beispiel des unbekannten Gesichtes folgt die visuelle Verarbeitung bereits von Beginn an dem Erfordernis zu prüfen, was einem dieser Anblick sagt, bzw. wie zu reagieren sein wird. Im Dorf grüßt man auch Unbekannte. In der Stadt weicht man in der Regel Unbekannten auch dann aus, wenn sie direkt auf einen zukommen. Möglicherweise hat die enorme Vielfalt menschlicher Gesichtsformen einen sozial-evolutionären Hintergrund: Sie erlaubte, vielleicht in der selektions-intensiven Nacheiszeit vor etwa 40 000 Jahren, die Einschätzung, welcher Sippe ein Mensch angehört und was von ihm zu erwarten wäre.
An dieser Stelle wird deutlich, dass die »deutende Funktion« des Gehirns mehreren anderen Funktionen dient. Dabei sind in erster Linie die außerordentlichen sozialrelevanten Leistungen des menschlichen Gehirns zu nennen. Viele Autoren sehen hierin sogar den evolutiven Ursprung von höheren Intelligenzleistungen, sowohl in Bezug auf individuelle Problemlösefähigkeiten als auch in Bezug auf kollektive und kulturelle Entwicklungen. Dass dabei Fantasie und Produktivität eine Rolle spielen, liegt auf der Hand. Fiktionen stellen sich als außerordentlich nützliche Instrumente bei der Erkundung der Realität heraus. Wir werden auch zeigen, dass sich die entsprechenden Funktionen nicht zuletzt deshalb entwickeln konnten, weil etwaige nachteilige Effekte durch den sozialen Raum kontrolliert werden. Jenseits der biologischen Determinanten beruht die Kategorisierung von Wahn und Wahrheit also auf sozialen Vereinbarungen. Im Folgenden werden wir jedoch schwerpunktmäßig die Faktoren berücksichtigen, die auf der Architektur des Gehirns beruhen.
Indem wir naturwissenschaftlich argumentieren und vor allem auch die biologische Evolution und die Informationsverarbeitung in den Netzwerken des Gehirns als gegeben annehmen, ist unser Weltbild also naturalistisch. Allerdings reichen diese Voraussetzungen nicht aus, um menschliches Denken hinreichend zu beschreiben. Über diese Voraussetzungen hinausgehend gibt es Denkweisen, die nicht auf wohldefinierten Begriffen beruhen. Damit im Zusammenhang muss auch das eigene Herangehen kritisch beleuchtet werden. Näherungen und Extrapolationen im Denken, die nach menschlichem Ermessen situationsangemessen und unmittelbar handlungsleitend sind, werden wir als transnaturales Denken bezeichnen. Dieses Phänomen sehen wir als ein Grundphänomen menschlichen Denkens an. Mit der auf diese Weise konstruierten Wirklichkeit werden wir uns beschäftigen müssen, sobald besprochen wurde, in welcher Form üblicherweise Wahrscheinlichkeiten beachtet werden. Erst unter Berücksichtigung des transnaturalen Denkens wird es letztlich möglich sein, alle sozialen, intellektuellen und fiktional-gedanklichen Leistungen einzuordnen und zu erklären.
Bei alldem ist stets zu berücksichtigen: Das Denken, auch das philosophische Denken, also das Nachdenken über das Denken, ist nicht eine besondere oder vertiefte Form von Wahrnehmung. Vielmehr steht das Denken im Dienste des Handelns, insbesondere des Vorstellens, des Planens und des Sprechens. Denken erfährt seine Bestätigung nach dem Handlungsvollzug.
Bleiben wir beim Bespiel der Gesichtswahrnehmung. Speziell die Beurteilung von Gesichtern ist ein in hohem Grade sozial bedeutsamer Prozess. Und er wird wie viele, besonders für den Menschen wichtige Prozesse durch das Stirnhirn unterstützt. In einer Untersuchung (Mitchell u. a. 2005) wurden Menschen Fotos von Gesichtern gezeigt und dabei gefragt, ob man der dargestellten Person eine bestimmte Aussage zutrauen würde (»… würde unter bestimmten Umständen mit dem Rauchen aufhören«). Bei solchen Gedanken ist ein bestimmtes Gehirnteil besonders aktiv, und zwar ein an den Hemisphären der Großhirnrinde innen liegender Teil, der sich allerdings ziemlich weit oben, nämlich in der Nähe der Blickfunktionen befindet. Dieses Areal2 wird mit einer Art »inneren« Blickführung in Verbindung gebracht, also mit der Vorstellung einer bestimmten Blickperspektive oder der Übernahme der Perspektive einer anderen Person. Die entsprechende Region der Großhirnrinde ist auch aktiv, wenn Personen zum Beispiel gefragt werden, ob Christoph Columbus wüsste, was eine CD ist (Goel u. a. 1995). Sie ist auch aktiv, wenn man während einer Untersuchung nichts anderes macht als ruhig zu liegen und mit geschlossenen Augen über die momentane Situation nachzudenken – ebenfalls eine virtuelle, in diesem Fall jedoch selbst-referentielle Perspektive (Gusnard u. a. 2001).
Freilich stellt sich die Frage, ob Einschätzungen, die in der geschilderten Weise erfolgen, nicht einfach auf stereotypem Wissensabruf beruhen: Ein netter junger Mann wird es wohl schaffen, das Rauchen aufzugeben. Columbus hat mit Computern nichts zu tun. Um derartige Feststellungen zu treffen, so könnte man meinen, muss man sich doch nicht in die Perspektive einer anderen Person versetzen. Man kann jedoch die virtuelle Perspektive, die Menschen mitunter einnehmen und in der sie spekulative Stereotypen verwenden, gut von anderen Formen des Wissensabrufs unterscheiden. Zum Beispiel wurden in einer Untersuchung Personen gebeten, bestimmte stereotype Aussagen (»sieht gerne romantische Filme«) oder bestimmte Eigenschaften Männern oder Frauen zuzuordnen (John oder Mary). Die dabei beobachteten Hirnaktivitäten wurden dann mit der Zuordnung von anderen Formen des Wissens (»hat vier Saiten«) zu Gegenständen (Gitarre oder Violine) verglichen. Nur bei den Stereotypen, die eine personale Perspektive erforderten, war das oben erwähnte Areal aktiv (Contreras u. a. 2012). Das zeigt, dass bedeutsame Funktionen des Gehirns eine soziale Spezialisierung aufweisen. Außerdem wird nach dem transnaturalen Denken ein weiteres Grundphänomen menschlichen Denkens sichtbar: Das soziale Denken setzt Personen voraus, die selbstständig handeln und die dabei bestimmte Eigenschaften erkennen lassen.
Wenn wir durch wenige Blicke oder aufgrund spärlicher Informationen einen raschen Eindruck gewinnen wollen, verlassen wir uns also gerne auf eine Spekulation. Eine solche, auf Stereotypen beruhende Spekulation ist offenbar immer noch besser, als völlig unvorbereitet in eine Situation zu gehen. Die Stereotypen können auf eigenen Erfahrungen oder – in den meisten Fällen – auf Hören-Sagen-Wissen beruhen. Vielfach werden wir auch durch markante Vorbilder, also zum Beispiel durch Eltern und Lehrer, durch Personen des öffentlichen Lebens oder durch Filmfiguren geprägt. Diese werden gewissermaßen als Prototypen unserem Gedächtnis einverleibt.
Einer der großen Meister des Films, die mit Prototypen hervorragend umgehen konnten, war Walt Disney. Seinen internationalen Durchbruch verdankte er seinem Trickfilm Schneewittchen und die sieben Zwerge, wo er Aussehen und Charaktere der gezeichneten Hauptfiguren einigen damals bekannten Schauspielern nachformte. Einer der Zwerge wurde zum Beispiel dem Charakter des damals bekannten Stummfilmstars Harpo Marx nachempfunden. Der Schwerpunkt lag nicht auf einer fotorealistischen Replikation. Obwohl, gelegentlich versuchte das Disney sogar, dann aber keineswegs immer mit treffendem Erfolg. Er hatte dazu sogar eine spezielle Technik entwickelt, mit der er eine fotorealistische Simulation komplizierter Bewegungen vornehmen konnte. Den eigentlichen Effekt seines Films erzielte er letztlich jedoch durch bewährte, prototypische Assoziationen, die die Zeichentrickfiguren erweckten.
Während bei Fiktionen der Anspruch auf eine genaue Realitätsbeschreibung oft gar nicht erhoben wird, ist dies bei virtuellen Realitäten anders. Der Begriff der virtuellen Realität wird meist im Zusammenhang mit der Orientierung in visuell dargebotenen Situationen eingeführt. Allerdings verwendet man ihn manchmal auch in allgemeineren Zusammenhängen, zum Beispiel für literarisch beschriebene soziale Szenen. Virtuelle Realitäten versuchen, einen Realitätseindruck zu erwecken. Meist sollen sie gleichzeitig ein Agieren ermöglichen. Wenn man davon ausgeht, dass in der Fiktion der Kunst Elemente der Realität für Fiktionales verwendet werden, so soll dieser Anspruch durch die virtuelle Realität gewissermaßen auf den Kopf gestellt werden: Der Anspruch der virtuellen Realität besteht darin, durch die interaktive Gestaltung tatsächlich Realität zu erzeugen, obwohl Elemente der Fiktion verwendet werden. Der berühmte Film Matrix von 1999 handelt davon, dass fast die gesamte Menschheit in einer künstlichen, von Computern geschaffenen Welt lebt. Nur wenige Menschen wissen dort über die Virtualität ihrer Welt Bescheid. Wir werden Phänomene des Erlebens in virtuellen Realitäten vor allem im letzten Kapitel behandeln.
Effekte von Simulationen kann man zum Beispiel an der Simulation des »Ichs« studieren, wobei das beste Beispiel für einen solchen »Ich-Simulator« ein Spiegel ist. Die Erfahrung zeigt, dass Menschen mit den Funktionen des Spiegelbildes sehr unterschiedlich umgehen. Manche verbringen sehr viel Zeit davor – nicht nur, um ihr Äußeres zu optimieren, sondern auch, um das eigene Aussehen und die eigenen Reaktionen besser kennenzulernen. Andere halten sich vor dem Spiegel nicht besonders lange auf und testen ihr Verhalten lieber in Interaktion mit anderen Menschen. Wir wissen, dass sich auch Tiere vor dem Spiegel nicht immer gleich verhalten.
Kommen wir zu den anatomischen Verhältnissen der Informationsverarbeitung im Gehirn zurück. Während die Wahrnehmung hauptsächlich Sache der hinteren Gehirnteile ist, erfolgt die handlungsorientierte Deutung in den vorderen Gehirnteilen: im Stirnhirn. So spielt sich die Deutung visuell-räumlicher Gegebenheiten, sowie die Ergänzung und Weiterführung von Bewegungen in der Vorstellung im oberen Teil des Gehirns unter maßgeblicher Beteiligung und Aufmerksamkeitslenkung der oberen Stirnhirnteile ab. Die Ausschmückung und Deutung in zahlreichen sozialen Situationen ist außerdem eine Funktion der basalen Hirnteile und insbesondere des basalen Stirnhirns. Darüber hinaus hat das Stirnhirn eine große Zahl weiterer Funktionen, die im Zusammenhang mit dem Denken »als ob« und dem Handeln in virtuellen Umgebungen bedeutsam sind. Insofern werden wir uns im Folgenden vor allem mit dem Stirnhirn beschäftigen, also mit dem Gehirnteil unmittelbar hinter der Stirn. Dieses Hirnteil ist beim Menschen im Verhältnis zum restlichen Gehirn größer als bei jedem Tier. Wenn man den rein motorischen Teil wegrechnet, ist das menschliche Stirnhirn, wie bereits eingangs erwähnt, proportional sogar etwa dreimal so groß wie das eines Schimpansen.
An der Oberfläche des Gehirns lässt sich bei Säugetieren gut erkennen, wie weit das Stirnhirn reicht, weil es nach hinten durch eine oberflächliche Furche abgrenzt ist. In den neurowissenschaftlichen Lehrbüchern wird darauf hingewiesen, dass die oberflächliche Schicht des Gehirns, die sogenannte Rinde, im Stirnhirn Netzwerke besitzt, die von den weiter hinten gelegenen Rindenteilen weitgehend unabhängig arbeiten. Die Netzwerke des Stirnhirns sind allerdings über meist lange Faserstränge mit den hinteren Teilen des Gehirns verbunden. Gegenüber den hinteren Teilen der Hirnrinde werden dem Stirnhirn sogenannte exekutive Funktionen zugeschrieben. Damit meint man in erster Linie, dass der Schwerpunkt der Funktionen nicht auf der Wahrnehmung, sondern auf der Vorbereitung und Überwachung von Handlungen liegt. Menschen sind stolz darauf, dass sie mitunter denken, bevor sie handeln, ja sogar oft lange überlegen, um zweckmäßig und insofern möglichst richtig zu handeln. Zwar führen auch Wahrnehmungen zu Erkenntnissen, die beim Denken helfen. Die sogenannten höheren Denkprozesse, die intelligente Handlungen unterstützen, gehören jedoch überwiegend zu den exekutiven Funktionen und benötigen ein intaktes Stirnhirn.
Was sind eigentlich intelligente Handlungen? Im Grunde haben sich Menschen wahrscheinlich schon seit den ältesten Zeiten immer wieder über »richtiges« Verhalten Gedanken gemacht. Derartige Überlegungen dürfte es schon in der Frühgeschichte der Menschheit gegeben haben, schließlich bilden sie die Grundlage jeder pädagogischen Motivation. Leider fehlen uns dazu jegliche Quellen. Die ältesten Nachrichten stammen erst aus dem 6. vorchristlichen Jahrhundert und sind meist auch nur als Berichte aus zweiter oder dritter Hand überliefert. Diese beziehen sich auf Aussprüche und Regeln, die einflussreichen Personen des öffentlichen Lebens, angesehenen Bürgern, Adeligen, Anwälten, Beamten, Politikern oder Despoten zugeschrieben wurden. Regeln ergeben jedoch erst dann einen Sinn, wenn sie auf das eigene Selbst bezogen werden können. Insofern setzt intellektuelles Verhalten stets ein Denken voraus, das intentionale, also auf »Ich handle« bezogene Tätigkeiten beinhaltet. Das ist neben dem transnaturalen Denken und dem Denken über »Personen« ein drittes Grundphänomen bei Denktätigkeiten, die auf Funktionen des Stirnhirns beruhen.
Entsprechende Grundsätze (Maximen) und Lebensweisheiten aus dem Altertum wurden zu einem großen Teil als kompakte Sinnsprüche (Gnome) überliefert und sind im Wesentlichen zum Beispiel in Platons Protagoras dokumentiert. In freier Übersetzung und indem wir einen Ausspruch des von Platon ungeliebten Tyrannen Periandros ergänzen, lauten diese Maximen:
• Jeder macht Fehler, also orientiere dich sorgfältig!
• Verwende Gelerntes und mache einen Schritt nach dem andern!
• Berücksichtige Wahrscheinlichkeiten, um alles zum richtigen Zeitpunkt zu tun!
• Versuche, mit dir selbst im Reinen zu sein, und engagiere dich!
• Nutze Beispiele und Maßstäbe, damit du Zusammenhänge erkennst!
• Lege nie die Hand für etwas ins Feuer und zweifle Erfahrungen an, auch eigene!
• Nimm Bewertungen vor, aber ohne Zorn oder Eifer!
Es handelt sich um sieben Themenkreise, die letztlich grundlegende Fähigkeitsbereiche charakterisieren und – neben der Fähigkeit zum Sprachgebrauch – zentrale Mechanismen für Intelligenzleistungen und Problemlösen beschreiben. Moderne Intelligenztests prüfen die Leistungsfähigkeit in einigen dieser Fähigkeitsbereiche. Verblüffend ist, dass die Sammlung von »Weisheiten« der sogenannten sieben Weisen des griechischen Altertums letztlich auf Mechanismen verweist, die wir heute als eine zutreffende Beschreibung von einzelnen Funktionen des menschlichen Stirnhirns wiederkennen können (vgl. Bösel 2014).