Inhalt

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Aufwärmen und einstimmen
  7. 1 – Und täglich grüßt der Saal
  8. 2 – Aus Spaß wird Ernst
  9. 3 – Fremde Welt, Frösche und Körperwahn
  10. 4 – Pubertät und andere Hindernisse
  11. 5 – Milch trinken
  12. 6 – Abstiegskampf
  13. 7 – In den letzten Zügen
  14. 8 – Stadt der Ginkgos
  15. 9 – Immer wieder Auditions
  16. 10 – Frankfurt-Papa-Caspar-Schmerz
  17. 11 – Die etwas anderen Schlägertypen
  18. 12 – Die Praktikantin
  19. 13 – Clara und der kleine Tod
  20. 14 – Anfang vom Ende, Ende vom Anfang
  21. 15 – Der Bruch
  22. 16 – Lost in France
  23. 17 – »Du bist verrückt, mein Kind! Du musst nach Berlin!«
  24. 18 – ¡Viva España!
  25. 19 – Heilungshafen
  26. Ausklang
  27. Dank

Über dieses Buch

Als Marie von der renommierten Berliner Ballettschule angenommen wird, ist sie überglücklich; das Sportinternat gilt als Kaderschmiede für junge Talente und auch sie strebt eine tänzerische Laufbahn an. Doch der Alltag ist ganz anders als erhofft und die Lehrer gängeln ihre Schützlinge von früh bis spät, insbesondere das Gewicht ist ein brisantes Dauerthema. Marie steht den gnadenlosen Drill bis zum Abschluss durch, droht aber schließlich an dem Erlebten zu zerbrechen. Ein leidenschaftlicher Kampf um Selbstbehauptung beginnt …

Über die Autorin

Marie Sophie Budek, 31 Jahre, begann mit dreieinhalb Jahren zu tanzen, ging mit neun Jahren an die Berliner Ballettschule und tanzte nach ihrem Abschluss in verschiedenen Kompanien und Projekten. Mit dem Tod ihres Vaters und unter starkem beruflichen Druck erlitt sie ein Burnout, aus dem sie dank einem Wechsel in die Performance-Szene herausfand. Inzwischen ist sie Personaltrainerin, Heiltherapeutin – und sie tanzt immer noch. Denn trotz aller schlimmen Erfahrungen ist ihre Liebe zum Tanz immer geblieben.

Aufwärmen und einstimmen

Ich bin keine Primaballerina, die schwärmerisch auf ihre traumhafte Karriere zurückschaut und selbst entscheidet, nun die Bühne zu verlassen, bevor ich »gegangen werde«. Ich habe gekämpft, vor allem gegen mich selbst, und der Schmerz über den verlorenen Traum ist noch so stark spürbar, dass mir fast übel wird, wenn das Gespräch darauf kommt, warum ich aufgehört habe.

Doch ich habe es so gewollt. Ich wollte auf die Ballettschule. Meine Mutter sagte mir: »Du hast dadurch ein Stück deiner Kindheit verloren«, und das stimmt auch. Es war zwar meine Entscheidung, doch wenn man mit zehn Jahren erst einmal in der Welt des Tanzes drinsteckt, kann man nicht einschätzen, was passieren, welche Folgen es haben wird. Man ahnt nicht, auf was man sich da einlässt.

Ich habe mich an der Ballettschule in Berlin, einer Eliteschule für Tanz, oft unglücklich gefühlt. Dabei habe ich immer gedacht, dass ich unglücklich bin, läge an mir, ich wäre einfach zu emotional.

Emotionen hatten im Ballettsaal nichts zu suchen. Fing man vor lauter Erschöpfung an zu weinen, weil man immer wieder korrigiert wurde und es trotzdem nicht klappte, flossen aber schon mal die Tränen. Was wollte die Lehrerin eigentlich von mir? Sie forderte und forderte – und mein Körper machte nicht mit. Doch wenn ich weinte, musste ich auf die Bank oder flog schon mal aus dem Saal.

»Du bist viel zu sensibel«, hieß es dann.

Aber sollten Tänzerinnen nicht sensibel sein, war das nicht von ihnen gewünscht?

Im ersten Jahr weinte ich mindestens einmal am Tag, danach mehrmals pro Woche.

So habe ich gelernt, meine eigenen Gefühle zu hassen, mich zu hassen. Es war eine besonders krasse Form des Selbsthasses. Ich war nicht in der Lage, ein gesundes Selbstbewusstsein aufzubauen, weil die Verzweiflungsmomente überwogen. In meinem Körper schien nichts so zu funktionieren, wie ich es gerne gehabt hätte.

Ich stellte mir viele Fragen, stellte mich infrage. Warum war ich so schwach? Warum war mein Körper so schwach? Warum war ich so schnell traurig? Warum war ich so oft krank? Warum hatte ich so viele Schmerzen, die andere offenbar nicht hatten? Warum konnte ich den Schmerz nicht ignorieren, über ihn hinwegtrainieren? Warum war ich nicht perfekt? Warum gingen mir all die Sachen so nahe?

Sosehr ich mich auch anstrengte, mein Körper machte mir immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Es war sehr schwierig, schon in so jungen Jahren gegen mich selbst zu sein. Ich wurde wütend, wenn ich nicht die volle Leistung erbrachte, und auch dann hieß es, dass ich auf die Bank, mich hinsetzen und zuschauen dürfe. Wir nannten das »hospitieren«, und die Lehrerin strafte mich mit Blicken, die voller Verachtung waren.

Als Mädchen war das die Hölle. Ich wollte doch gefallen! Wieder und wieder riss ich mich zusammen, machte weiter und hörte nicht mehr auf meinen Körper. Ich musste einfach funktionieren, es so machen, dass meine Lehrerin mich lobte, ich wollte ihre Aufmerksamkeit. Ich war süchtig danach, dass sie das, was ich tat, auch für gut befand. Denn ich wollte unbedingt Tänzerin werden, und das war mein Weg dorthin.

Ich trainierte härter und härter, machte mir selbst Druck. Dabei war es die Schule, die den Druck ausübte, aber mir fehlte die Distanz, um das zu erkennen. Niemand sagte uns, dass es völlig normal ist, mal einen schlechten Tag zu haben, dass man nicht immer alles auf die Reihe kriegen kann, schon gar nicht an sechs Tagen die Woche – so oft trainierten wir. An solch einem miesen Tag wurde man nur angeschrien und bekam ein negatives Feedback. Wussten die Lehrer denn nicht, wie wichtig Motivation war? Man sagte uns: »Ihr müsst tanzen wollen«, aber diejenigen, die an der Ballettschule waren, die wollten ja tanzen, ich wollte tanzen. Viel besser wäre es gewesen, mit der jeweiligen Tagesform zu arbeiten, in den Körper hineinzuhorchen, selbst wenn er nicht in Höchstform war.

Eine weitere prägende Erfahrung: Je dünner ich wurde, desto mehr Lob bekam ich. »Marie, du sieht jetzt aber toll aus!« Das mochte ja in ihren Augen stimmen, aber innerlich fühlte ich mich nur beschissen.

Kein Wunder, dass manche Mädchen nur noch einen Teller Suppe oder eine einzige Scheibe Toast aßen. Einige wurden regelrecht magersüchtig, die meisten hatten, wie ich auch, anorektische Phasen.

Klar, in der Welt des Balletts muss man eine bestimmte Figur haben und der Vorstellung von einer Ballerina entsprechen. Eine Ballerina sieht zart und zerbrechlich aus, sie soll schweben, man soll sie auf Händen tragen können. Eigentlich ist das ein völlig veraltetes Bild von einer Frau, aber nun gut.

Doch was ist, wenn der Körper in der Pubertät plötzlich weiblicher wird? Wichtiger noch: wie kommuniziert man Dinge wie das Frauwerden im Klassischen Tanz?

Niemand sagte uns, wie ein Körper sich verändert, wenn er in die Pubertät kommt. Dass auf einmal die Regelblutung einsetzt und man sich anfangs hilflos und schwach fühlt, weil man noch nicht damit umgehen kann. Keiner ging damit konstruktiv um, ständig nur dieses Hinsetzen. Oder man musste sich den Vorwurf gefallen lassen: »Du bist zu dick geworden! Wie bescheuert siehst du denn aus? Du musst unbedingt abnehmen!« Dass dabei möglicherweise die Hormone eine Rolle spielten, wurde ignoriert.

Wir wollten keinen Ei-ei-Streichelkurs, kein Softie-Programm. Wir waren Leistungssportlerinnen und daran gewöhnt, hart zu trainieren; das hatten wir akzeptiert. Doch entscheidend ist das »Wie« einer Kommunikation. Wird man eher gecoacht, oder muss man Befehle befolgen? Wir kannten nur Befehle.

Fast all unsere Tanzlehrerinnen hatte ihre Ausbildung als Tänzerin in der DDR, in Bulgarien, Ungarn oder sogar noch in der Sowjetunion gemacht. Sie alle übersahen geflissentlich, was man schon über Leistung wusste: dass sie abhängig war von einem Zusammenspiel von Körper und Psyche. Viele ergötzten sich daran, andere zur Schnecke zu machen, einfach weil sie in der Position waren, es tun zu können. Sie missbrauchten ihre Macht, weil sie selbst einmal ohnmächtig gewesen waren. Letztlich taten sie das, was sie schon immer getan und selbst gelernt hatten; nur das gaben sie weiter. Sie waren Tanzmaschinen gewesen und wollten auch aus uns Tanzmaschinen machen. Überbelastung, Verschleiß und Zerstörung waren in diesem System vorprogrammiert.

Die Selbstablehnung wurde dadurch immer schlimmer. Dankbarkeit und Liebe gegenüber dem eigenen Körper für das, was er alles kann, kamen schließlich nicht mehr vor. Stattdessen: »Ich bin zu fett!«, »Ich sehe scheiße aus!«, »Ich bin nicht beweglich genug!«, »Meine Technik ist nicht ausgereift!« Es wurden nicht mehr die Stärken gesehen, sondern nur noch das Destruktive – insbesondere dann, wenn man einen hohen Anspruch an sich hatte. Und den hatte ich. Ich wusste: Entweder du entsprichst den Anforderungen und Normen, auch den technischen, oder du fliegst von der Schule.

Viele leben nicht im Moment, sondern streben stattdessen nach einem Immer-weiter, Immer-höher, Immer-mehr. Doch im Leben geht es nicht nur darum, die Quartalszahlen noch höher zu treiben, den Chef oder die Chefin noch glücklicher zu machen, immer besser zu werden.

Beim Tanzen geht es nicht anders zu. Auch hier geht es einzig und allein um das Ergebnis – nicht darum, wie jemand dort hingekommen ist. Und wenn jemand auf der Strecke bleibt und untergeht? Kollateralschaden, das passiert.

Wer sich nur über Leistung definiert, kann daran kaputtgehen, sich daran aufreiben.

Ein Gedanke ist nur gefährlich, solange wir glauben, dass er wahr ist. Unsere Gedanken geben immer vor, die einzig richtigen und wichtigen zu sein. Aber wir dürfen uns ruhig zwischendurch die Frage stellen, wer hier eigentlich das Sagen hat, wer hier wen beherrscht. Beherrsche ich meine Gedanken – oder meine Gedanken mich? Was hat Macht über mich?

Ich wollte Tänzerin werden und bin enttäuscht worden. Aber ich habe dadurch eine ganze Menge über mich gelernt – über meine Gedanken und meinen Körper.

1

Und täglich grüßt der Saal

»Beeil dich, du musst dich aufwärmen!«, rief mir Anne zu, die in Richtung Ballettsaal lief.

»Hab irgendwie keine Lust«, antwortete ich. »Es ist Montag und noch viel zu früh.«

»Du kriegst einen Anschiss von Frau Horthy. Die brüllt dich nur wieder an, wenn du deinen Körper vor dem Ballettunterricht nicht aufwärmst.«

Frau Horthy war unsere Lehrerin für Klassischen Tanz. Technisch gehörte sie noch zu den guten Lehrerinnen, aber pädagogisch war sie eine Niete. Sie hatte ein paar Lieblingsschülerinnen, doch ich war keine davon. Und weil das so war, schrie sie mich fast jeden Tag an.

»Wenn du es aus der Hüfte nicht packst, dann mach sie aus dem Knie«, hatte sie mich am Tag zuvor angepfiffen, weil ich die Auswärtsdrehung nicht gekonnt hatte.

So ein Schwachsinn! Das war das absolute Todesurteil für die Kreuzbänder, das wusste doch jeder! Aber nein, Frau Horthy musste korrigieren, sie konnte nicht anders, auch wenn ihre Korrekturen manchmal fragwürdig waren. Mich brachten sie jedenfalls nicht weiter. Einige meiner Mitschüler sahen das genauso, doch niemand wagte es, ihr zu widersprechen.

»Los, mach schon.« Anne war stehen geblieben, um auf mich zu warten. Währenddessen überprüfte sie ihren dunkelbraunen Dutt, kontrollierte, ob auch alles richtig saß.

»Wieso müssen wir uns eigentlich aufwärmen, was soll daran gut sein?« Irgendwie wollte ich meine Freiheit noch eine Weile ausdehnen, bevor der Unterricht begann.

»Marie, du nervst gerade. Ich weiß es auch nicht, wahrscheinlich ist es gesünder. Was weiß ich. Ist doch egal. Wir sollen das nun mal tun.«

»Aber man hätte es uns auch erklären können.«

»Hätte man. Wäre sicher sinnvoll gewesen. Ist aber nicht geschehen. Es sind nur zehn Minuten. Hab dich nicht so.«

Langsam trottete ich von der Garderobe hinüber zu Anne.

»Du hast noch deine Straßenschuhe an. Das geht nicht. Man, wo hast du heute bloß deine Gedanken?«

Herrje. Ja, wo hatte ich sie nur? Wieder zurück zu meinem Schrank, um in die Hausschuhe zu schlüpfen, denn nur in diesen durften wir den Saal betreten, eine Maßnahme, um den Tanzboden nicht zu schädigen, der übers Parkett gelegt war. Die wärmenden Überziehsachen hatte ich schon über mein Trikot gezogen, denn in den Glasgängen war es jetzt im Winter ziemlich kalt und zugig, und auf dem dunklen Steinfußboden konnte man sich ohne kuschelige Puschen schnell eine Erkältung einfangen. Wenn wir Mädchen so eingemummelt in den Saal gingen, sahen wir aus, als hätten wir uns gerade mit Sachen aus einem Altkleidercontainer eingedeckt. Wir hatten eine erkennbare Liebe zu »Schlabberklamotten« im Zwiebellook.

Meine Freundin Anne mit dem schmalen Gesicht und den hohen Wangenknochen hüpfte inzwischen von einem Fuß auf den anderen, ihre Beine steckten dabei in einer weiten und zerschlissenen Pyjamahose.

»Ich bin gleich ein Eiszapfen, wenn du dich nicht sputest. An der Stange wird mein Bein abbrechen.« Sie kicherte.

»Ich komm ja schon.«

Frau Horthy war noch nicht im Saal. Großes Aufatmen. Alle zwölf Mädchen liefen umher, machten gymnastische Übungen, dehnten die Muskeln und mobilisierten die Gelenke. Unmotiviert folgte ich ihnen.

Ich dachte daran, dass ich morgens um 5:45 Uhr aufgestanden war. Meine Mutter hatte mich geweckt, mir ein Frühstück gemacht und mich dann zum Bahnhof Birkenwerder gefahren. Die Fahrt hatte fünfundvierzig Minuten gedauert, bis Greifswalder Straße, ohne geringste Morgendämmerung, nur graue Gesichter und müde Passagiere, die von Station zu Station mehr wurden.

Zum Glück hatte ich die Bahn noch erwischt, sie fuhr nur im Vierzig-Minuten-Takt. Das Trikot hatte ich schon nach dem Aufstehen angezogen, damit ich mit dem Umziehen nicht so viel Zeit verlor.

Auf einmal rannten alle Mädchen zur Stange, ich ihnen hinterher. Frau Horthy hatte den Saal betreten, und man tat gut daran, schnell an seinem Platz zu stehen, um Extra-Aufforderungen zu vermeiden. Die Lehrerin wollte sehen, dass man bereit war, wissbegierig und fleißig. Sie hatte sich, wie üblich ohne Begrüßung, auf einen Stuhl gesetzt, um von ihrem Logenplatz aus alles genauestens beobachten zu können – auch das, was hinten an der Wand im Spiegel zu sehen war.

Die zugeteilten Plätze gaben Auskunft darüber, ob man zu den besonders guten oder weniger herausragenden Schülerinnen gehörte. An der Mittelstange, genau gegenüber der Lehrerin, standen natürlich nur die Besten – oder die Lieblingsschülerinnen, das mussten nicht immer die Besten sein. Links und rechts verliefen die Seitenstangen. Wer dort platziert war, konnte sich aufgrund der U-Form nicht so gut im Spiegel beobachten und nicht entsprechend korrigieren. Hier standen die schwächeren Schülerinnen, für die es sicher ganz nützlich gewesen wäre, sich auch mal intensiver zu betrachten – aber ein Rotationsprinzip war nicht vorgesehen.

Alle wussten von dieser »Stangenverteilung«, sodass schulinterne Zuschauer oder Prüfer kaum unvoreingenommen die jeweiligen Leistungen beurteilten, wenn sie uns an den jeweiligen Positionen sahen. Wer an einer »schwachen« Position stand, konnte keine exzellenten Ergebnisse bringen. Bekanntlich war der erste Eindruck entscheidend.

Ich stellte mich zur Verbeugung an meinen Platz an der Mittelstange – ich zählte demnach aktuell zu den besseren Schülerinnen, was sich aber immer mal wieder änderte –, durfte die Stange allerdings noch nicht berühren. Es war kalt im Saal – dabei war es am Vortag zu heiß gewesen, die Temperaturregulierung in dem alten Gemäuer war eine Katastrophe –, und eine Neonröhre über mir tauchte uns in nicht minder kaltes Licht.

Nun starteten unsere beiden Ballettstunden, insgesamt neunzig Minuten. Wir begannen mit einer réference – Französisch ist die Sprache des Balletts –, einer Verbeugung vor Frau Horthy und dem Korrepetitor am Klavier; meist wurden unsere Übungen von Klaviermusik begleitet. Danach hatte man mit beiden Händen die Stange anzufassen.

»Balance halten«, tönte Frau Horthy laut in den Raum.

Wir nannten sie nur »die Hexe«, ihr Äußeres lud förmlich dazu ein. Mit ihrer kleinen Statur, ihren roten Haaren und der ausgeprägten Nase hätte sie der Hexe in dem Grimm’schen Märchen von Hänsel und Gretel Konkurrenz machen können. Einziger Unterschied: Auf ihren langen Fingernägeln schimmerte ein lachsfarbener Nagellack, und da sie Raucherin war, versuchte sie den Zigarettengeruch mit einem ungemein blumigen Parfüm zu übertönen. Achtung: Ohnmachtsgefahr!

»Freundliche Ausstrahlung, aber ja nicht zu viel grinsen. Fließende Bewegungen. Synchronisiert den eigenen Körper mit dem eigenen Atem, mit dem Atem aller anderen. Spürt die Länge bis in die Zehen und Fingerspitzen. Erfüllt den Raum mit eurer Präsenz.«

War ich vorhin noch völlig unmotiviert gewesen, war ich nun wie verwandelt. Ich wollte Frau Horthy beweisen, dass ich energetisch voll da war und bereit, alles zu leisten, was ich an Kraft aufbringen konnte.

Anschließend begab ich mich mit beiden Händen an die Stange hinter mir, das Holz fühlte sich weich und glatt an, unzählige Ballettschülerinnen hatte hier schon ihre schwitzigen Hände aufgelegt. Ja, wir sollten sie nur leicht auflegen, kein Festkrallen, denn später würden wir unsere Übungen in der Mitte des Saals ausüben, im freien Raum, ohne Möglichkeit, uns festzuhalten.

Mist, die Balance war schwer zu halten. Übers Wochenende hatte meine Mutter meine Schläppchen gewaschen, wodurch sie beim ersten Tragen noch kleiner und enger waren als ohnehin schon. Außerdem waren durch die Nässe die Ledersohlen hart geworden, was zur Folge hatte, dass die Balance wirklich ein Akt war, die Zehen schmerzten und lange kalt blieben.

Die erste Übung an der Stange widmete sich mehr der Fuß- und Beinarbeit. Ich hatte die Grundposition eingenommen, erste Position genannt, bei der die Fersen zueinander zeigten. Die Zehen waren nach außen gedreht, und die Füße bildeten möglichst eine 180-Grad-Linie, so versuchte ich den gesamten Körper zu spüren und unter Kontrolle zu bringen. Füße ausgedreht. Zehen lang. Innenkante hochziehen, Knie durchgestreckt und nach außen gedreht. Po klein und angespannt – und das sollte er auch bleiben, nie locker lassen. Das Gleiche galt für die Beinstreckung. Der Bauch sollte dann flach sein, die Taille schmal, den Rippenbogen hatte man kleinzuhalten. Doch durch die Anspannung und weil ich versuchte, mich ganz lang zu machen, zog ich am Anfang die Schultern leicht hoch und vergaß zu atmen. Auch bei den anderen konnte ich das im Spiegel beobachten. Der gewünschte leichte Ausdruck war noch nicht erreicht, man sah mir die Anstrengung an … und das blieb nicht unbemerkt.

Frau Horthy erhob sich und kam auf mich zu, ich konnte es riechen: Rauch und Parfüm.

»Marie, bist du übers Wochenende dicker geworden?«, fragte sie unüberhörbar. »Es sieht aus, als hättest du eine Wampe. Und dein Po sollte auch straffer sein.« Dabei kniff sie mir mit ihren extravaganten Fingernägeln nicht gerade zimperlich in den Hintern. »Merkst du es denn selbst nicht? Das ist alles faules Fleisch. Da sollte nichts sein außer Muskeln.« Dabei schlug sie wie zur Bestätigung noch mit der flachen Hand auf meine Oberschenkel, damit ich meine Muskeln anspannte. »Nimm dir mal ein Beispiel an Tatjana, die ist für uns alle ein Vorbild.«

Es reichte also ein einzelner Tag, um »faules Fleisch« anzusetzen? Da wir auch samstags Training bei ihr gehabt hatten, hatte ich nicht viel Zeit gehabt, um zuzulegen. Den Schokoriegel, den ich zu gern gegessen hätte, hatte ich mir versagt. Eine innere Stimme hatte mich in einem Gedankenkarussell gefangen gehalten: Achte auf dein Gewicht. Du darfst nicht so viel essen, pass auf. So ein Schokoriegel geht gar nicht.

Diese Stimme hallte noch jahrelang in mir nach. Selbst als ich die Schule längst verlassen hatte, wollte sie einfach nicht verschwinden.

Und Tatjana ein Vorbild? So sollte man aussehen? Tatjana aß fast überhaupt nichts, um so dünn zu bleiben, sie war ein Hungerhaken. Man sah sie nur an Möhren herumknabbern oder an einer Scheibe Brot ohne Käse, ohne Butter. Sie selbst hatte uns gesagt, ihr gehe es ganz mies, sie schaffe gerade noch das Tanzen, für alles andere habe sie keine Kraft. Sie fühle sich depressiv, Freude am Leben empfinde sie nicht mehr. Kein Wunder, ihr fehlten die Nährstoffe. Und das sollten wir uns als Vorbild nehmen?

Am liebsten hätte ich mal wieder geweint, aber das war nicht möglich, wenn ich meine Position an der Mittelstange nicht verlieren wollte. Also weitermachen.

Während der Beinbewegungen drückte ich einen Fuß in den Boden, als würde ich ihn massieren wollen. So konnte ich feinste Artikulationen in allen Gelenken und Muskeln von Füßen und Zehen gewinnen. Dabei durfte sich der Rest des Körpers nicht bewegen. Puh, war das schwer, eine solche Isolation zu erlangen. Marie, das Atmen nicht vergessen! Immer wieder musste ich mich innerlich ermahnen, denn oft genug vergaß ich es.

Ich streckte meine Beine und Füße, so gut ich es vermochte, wollte Frau Horthy zeigen, dass ich es konnte und besser werden wollte. Verdammt, ein kleiner Krampf in der Wade. Aber, so beruhigte ich mich, das geht wieder vorbei. Hauptsache, meine Lehrerin sah mich, lobte mich.

Alle Mädchen lechzten danach, von ihr gelobt zu werden, aber nur selten verließ ein solches Lob ihre Lippen. Stattdessen bohrte sie ihre Fingernägel auch zwischen Schulter und Schlüsselbein. »Damit ihr eure Schultern senkt«, hieß es dann.

»Miriam, deine Oberschenkel werden immer dicker!« Wieder die laute Stimme von Frau Horthy. Aber Miriams Beine wurden nicht dicker, sondern weiblicher, wir alle waren dreizehn, vierzehn Jahre alt und in der Pubertät.

»Ich kann dir nur raten, deine Oberschenkel in Klarsichtfolie einzuwickeln, dann schwitzt du das Fett raus. Hast du das verstanden?«

Da Miriam weder nicken noch antworten durfte, machte sie einfach mit ihrer Übung weiter. Denn so erschreckend Frau Horthy auch war, sie spornte auch an, noch mehr in der Spannung zu bleiben.

Jede Woche bekamen wir neue Reihenfolgen vorgeführt, die wir uns möglichst schnell merken sollten, sonst gab es Ärger. Gemeinsam wiederholten wir sie dann vor Beginn der Stunde, um uns zu erinnern. Einige Schülerinnen schrieben sich die Abläufe auch auf, um nichts zu vergessen, doch zum Glück konnte ich mir alles gut einprägen – wenn ich konzentriert war.

Erste Übung beendet, unsere Vorübung, noch mit zwei Händen zur Stange gewandt. Danach starteten wir den Wechsel von rechter und linker Seite, wobei wir uns jeweils nur mit der gegenüberliegenden Hand seitlich an der Stange hielten.

Frau Horthy gab Anweisungen: »Petit battement tendu (das Öffnen und Schließen des gestreckten Beins auf dem Boden). Und nun petit battement jeté (wie das battement tendu, nur schon etwas in der Luft, nicht mehr am Boden).« Es folgten petit und grand rond de jambe (kreisförmige Bewegungen des Beines am Boden), battement fondu, bei dem das Stützbein langsam gebeugt wurde, und das größere port de bras, die wichtigste Armhaltung im Ballett, das »Tragen der Arme«.

Die Übungen folgten einer bestimmten Logik und bauten aufeinander auf, trotzdem gab es unterschiedliche Ballettstile, bei denen sich die Arm- und Fußhaltungen stark unterschieden.

»Grand adagio an der Stange«, bellte Frau Horthy. Hier war ein langes Halten der Beine gefragt, in alle drei Richtungen, nach vorne, zur Seite und nach hinten.

Nach einer Weile fingen meine Beine an zu zittern, ich kämpfte gegen die Schwerkraft und die Schwäche meiner Muskeln. Doch nicht nur die Beine sollten schön und lang aussehen, auch die Arme sollten weich und unverkrampft mitfließen.

So erst entsteht das ästhetisch perfekte Bild: Arme und Beine, die sich in den Positionen ergänzen, vervollständigen, die Linien fortführen und so den Körper zu einer lebenden plastischen Figur machen, die mit Atem, Energie und virtuoser Technik den Betrachter in seinen Bann zieht. Leicht soll es aussehen, dabei verlangt man seinem Körper das Härteste ab. Denn eigentlich lebt das Ballett von Überhöhung, es geht über das Natürliche hinaus. Eine fast übernatürliche Beweglichkeit wird gefordert, alle Bewegungskomplexe müssen so filigran ausgearbeitet sein, dass sie schwebend wirken. Es geht ja nicht darum, dass eine Bewegung gelingt, sondern darum, wie sie gelingt, mittels einer bestimmten Technik, die auf einem strengen System beruht. Klassischer Tanz eben.

»Halbzeit, jetzt weg von der Stange und zur Mitte des Raums.« Von Höflichkeit hatte Frau Horthy anscheinend noch nie etwas gehört. Ebenso wie sie uns nie begrüßte oder verabschiedete, kannte sie auch kein »Bitte«. Wir hatten einfach zu gehorchen. »Trinkt noch etwas, aber nicht zu viel, das bläht nur den Bauch auf.«

Schweigend nahmen wir einige Schlucke aus unseren Wasserflaschen, hätten wir einige Worte gewechselt, hätte unsere Lehrerin eine Schimpfkanonade losgelassen. Bloß nicht! Ballett, so war uns eingebläut worden, baute auf Disziplin auf. »Das ist Tradition.« Zur Disziplin gehörten Gehorsam und Unterwürfigkeit.

Später sollte mir eine Freundin, die als Tänzerin für einen Seriendreh gebucht worden war, erzählen, dass die Schauspieler bei den Proben immer plapperten, Quatsch machten und wild unterwegs waren, während die Tänzer stumm und aufmerksam alles verfolgten.

»Nehmt in der Reihe eure zugewiesenen Plätze ein!«

Wir folgten Frau Horthy und stellten uns hintereinander versetzt auf unsere Positionen, sodass sich alle im Spiegel sehen konnten. Plötzlich fand auch ich, dass ich zugenommen hatte. Früher war ich doch ein Strich in der Landschaft gewesen, jetzt kam ich mir vor wie eine Tonne.

So konnte das nicht bleiben! Ich musste etwas dagegen tun!

Zum Glück waren meine Brüste noch relativ klein. Wir wussten von Mädchen in höheren Klassen, bei denen sich der Busen so stark entwickelt hatte, dass sie extra abdrückende BHs unter ihrem Trikot anziehen mussten. Große Brüste waren beim Tanzen einfach hinderlich.

Wenn ich mein Essen reduziere, dachte ich, wird mein Busen sicher so klein bleiben wie bei Tatjana.

Alle Schülerinnen blickten sich um, weil die Position stimmen musste, sonst war uns ein Tadel gewiss. Die talentierteren Schülerinnen standen vorne, weil sie die Reihenfolge der Übungen besser im Kopf hatten und die hinteren Schülerinnen zum Abschauen tendierten.

Wir starteten wie an der Stange: langsam, aber mit größeren Arm- und Beinbewegungen. Ohne den geliebten Halt war es um einiges schwieriger, stabil auf einem Bein zu stehen.

»Tatjana, komm her, mach mal die Einzelbewegungen vor. Du kannst das so wunderbar.«

Unser Vorbild strahlte ob des seltenen Lobes und tat wie geheißen. Der Sinn dieser Solovorstellung war nur zu klar: Wir sollten dadurch motiviert werden, genauso gut zu werden. Durch die Konkurrenz sollten wir angestachelt werden, ähnlich wie bei den Hinweisen auf die Figur, die zu einem Vergleich führten, zu einem Wettbewerb unter uns Mädchen. Wer war die Dünnste im Land – und damit auch die Schönste?

Natürlich lernte man an den positiven Beispielen, wie es auszusehen hatte, aber jeder Körper war einzigartig und hatte seinen eigenen Weg, um zu seiner Ballettform zu finden. Das wurde nie berücksichtigt, so wie nie erklärt wurde, warum bestimmte Korrekturen notwendig waren. Und uns war auch nie erklärt worden, wie Knochen, Muskeln und Nerven sich entwickelten, dass sie unterschiedliche Wachstumsphasen hatten, was in letzter Konsequenz bedeutete, dass man in der Pubertät womöglich das bislang mühsam aufgebaute technische Können verlor. Plötzlich funktionierte das, was man einmal beherrscht hatte, nicht mehr.

Ich selbst war sehr, sehr schnell gewachsen. Inzwischen war ich eins siebzig groß, und es war, als müsste ich mich in meinem Körper neu zurechtfinden. Leider hatte ich keine Ahnung, wie das zu bewerkstelligen war.

Häufig pickte sich die »Hexe« aber auch die schlechteren Schülerinnen heraus, sozusagen als abschreckendes, mahnendes Beispiel. So, unterstrichen von ihren Fingernägeln, sollte man es auf keinen Fall machen. Das war ziemlich peinlich und schlimm, besonders für das Mädchen, das bloßgestellt wurde. Und das war es, nichts anderes: eine ziemlich gemeine Bloßstellung.

»Jetzt in die Diagonale. Und gebt hundertfünfzig Prozent, ihr seid noch nicht mal bei hundert angelangt. Ihr seid doch keine lahmen Hühner.«

Neben den Reihenübungen folgten Tanzschritte durch die Diagonale. Wir starteten in der hinteren rechten Ecke, nach vorne schauend, in kleinen Gruppen mit zwei oder drei Tänzerinnen.

»Verdammt, ihr habt doch Drehungen bei mir gelernt, habt ihr denn kein Hirn?« Frau Horthy schnaubte. »Wir bereiten hier die Pirouetten vor, dazu braucht es diese Drehübungen.«

Ich hasste die Drehungen durch den Raum, denn wenn viele hintereinanderfolgten, wurde mir schwindlig, manchmal sogar richtig übel. Die sehr tänzerischen Pirouetten-Folgen mochte ich hingegen sehr, sie fühlten sich wegen der verbindenden Schritte wie kleine Choreografien an.

»Zum Abschluss nun die Sprünge. Da will ich jetzt aber, dass ihr Leistung zeigt.« Die Stimme der »Hexe« war schrill geworden, außerdem hatte sich ihr Finger Richtung Nase bewegt. Würden wir nur einen Fehler machen, dann würde sie explodieren. Wir kannten das schon. Die Nase war unser Alarmsignal.

Es folgte der anstrengendste Teil, denn wir hatten uns durch die Stangenübungen – und erst recht durch das viele Drehen – bereits verausgabt. Auch hierbei fingen wir mit kleinen Sprüngen in der Grundtechnik an. Mit ausgedrehten Beinen zu springen, ohne die Fersen vom Boden zu heben, das brauchte viel Übung. Weich über die Füße abzurollen und lautlos zu landen, um sich dann scheinbar mühelos zum nächsten Sprung zu erheben, das war eine der schwierigsten Aufgaben im Ballett. Das merkte man daran, dass es in unserem Saal bei den Sprüngen noch ordentlich rumste und rumpelte.

»Ja, seid ihr denn alle Versager? Ihr schwitzt nicht richtig.« Frau Horthys Finger hatte jetzt die Nase erreicht – und schon griff sie sich einen der herumliegenden Hausschuhe und schmiss ihn durch den Raum. Nie warf sie gezielt, sie wollte keine bestimmte Person treffen, aber nur so konnte sie ihrer Wut Luft machen. Manchmal, wenn gerade keine Puschen zur Hand waren, griff sie in die Taschen ihrer weiten Kleider und holte einen Schlüsselbund heraus. Das war weitaus gefährlicher, denn auch wenn sie niemanden damit treffen wollte, konnte es dennoch ins Auge gehen.

Als die Stunde vorbei war, wurde sie beendet, wie sie angefangen hatte: mit einer Verbeugung. Eine Schulklingel gab es nicht, und Uhren in den Sälen bekamen wir erst später. Nach der Verbeugung rannten alle Mädchen flugs aus dem Saal, zu den Duschen und den Garderoben, keine zog sich vorher ihre Schlabbersachen über, bloß weg von der »Hexe«.

»Ich habe echt Angst vor ihr«, sagte ich zu Anne, als wir unsere Trikots auszogen, um zu duschen.

»Die hat sie nicht mehr alle, die ist verrückt«, bestätigte meine Freundin.

»Bei ihr heißt es nicht ›Ohne Fleiß kein Preis‹, sondern ›Ohne Schweiß kein Fleiß‹.«

»Was völlig idiotisch ist, denn Menschen schwitzen doch unterschiedlich. Ihrer Meinung nach hat sich nur diejenige richtig angestrengt, die auch stark schwitzt. Hat sie aber auch schon mal darüber nachgedacht, dass sie vielleicht nicht die richtige Technik benutzt?«

Ich trocknete mich ab, zog meine Sachen an, in denen ich zur Schule gefahren war, und löste meinen Dutt auf. Manche blieben auch in ihren »Schlabbersachen«, um so am »normalen« Unterricht teilzunehmen.

»Vergiss sie«, sagte Anne mit ihrer hellen, schönen Stimme. »Es hat keinen Zweck, wir kommen nicht gegen sie an. Außerdem haben wir hin und wieder auch viel Spaß, sonst würden wir das hier ja gar nicht durchhalten, oder?«