Jahr 2164
Der Sturm hatte zugenommen.
Das amoklaufende Klima war nicht der Auslöser der Katastrophe gewesen. Schuld war ein Virus, der das große Sterben auslöste, so sagte man. Und mit jedem Menschen, der sein Leben an den Erreger verlor, nahm das Wettrüsten Fahrt auf. Es kam zum großen Krieg. Ost gegen West, Nord gegen Süd, bis zum Schluss keine Macht mehr übrig blieb.
Das Sterben hatte die Erde bereits bedenklich entvölkert, aber die Klimakatastrophe und der große Krieg machten weite Teile vollends unbewohnbar. Südlich des Äquators wurde es so heiß, dass dort die Menschen, wenn sie nicht am Virus starben, vor Hitze umkamen. Die Gebiete von Europa, Russland und China waren ebenso atomar verseucht wie einige auf dem amerikanischen Kontinent. Staaten wie die USA und Kanada hatten einfach aufgehört zu existieren.
Wer überlebte, war zunächst auf sich gestellt, der Rest der Welt interessierte niemanden mehr. Aber die Menschen rafften sich auf und begannen von vorne. Da auch auf dem nordamerikanischen Kontinent bewohnbares Land kostbar geworden war, wurde es der neuen Regierung unterstellt, die die Überlebenden gründeten. Man nannte sie Entire World und sie schuf aus den Trümmern neu, was neu geschaffen werden konnte.
Doch das alles lag schon so lange zurück, dass bereits Generationen herangewachsen waren, die nur das Leben in der Neuen Welt kannten, von dem manche der Alten sagten, es sei besser als vor der Katastrophe. Andere wiederum erzählten gelegentlich eine ganz andere Geschichte und riskierten damit ihr Leben.
Um sich vor dem kalten Wind zu schützen, der durch die Straßenschluchten von District Burningheart wehte, schloss Caity Eyres ihren langen Wollmantel und band sich einen dicken grauen Schal so um, dass er ihre untere Gesichtshälfte vollkommen verdeckte.
Sie musste drei Häuserblocks weit laufen, um zum Club Heartbeat zu gelangen, in dem sie tanzte. Exotische Tänzerin war der genaue Begriff dafür. Sie tanzte an der Stange oder in einem der Käfige, behielt dabei aber ihre knappe Kleidung an. Strippen war schon lange verboten.
Die Lordships führten ein strenges und sehr konservatives Regime. Sie bedienten sich zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung der Saver. Sie waren allgegenwärtig und wurden von dem First Saver, ihrem Hauptmann eines Districts, geführt.
In der Vergangenheit hätte man die Saver wohl Polizisten genannt. Mittlerweile hatten sie an Macht gewonnen, denn sie hatten Gewalt über Leben und Tod erlangt. Sie verurteilten und bestraften und waren auch die Einzigen, die offiziell Waffen tragen durften, denn nach dem großen Krieg wurden alle Schusswaffen verboten. Was auf dem Schwarzmarkt zu bekommen war, stand auf einem anderen Blatt.
Wie auch immer, einem Saver ging man besser aus dem Weg. Gründlich. Denn sie verfügten über wenig Humor, waren stark, entschlossen und autoritär. Von ihnen hielt man sich also lieber fern und Caity ging ihnen nur zu gerne aus dem Weg.
Sie hätte auch die Hochbahn nehmen können, doch der Preis von drei Enti, war ihr einfach zu hoch. Es ging auf den Dreißigsten des Monats zu, da wurden ihre Entis knapp.
Da es nur noch bargeldlose Zahlungen gab, die über einen QR-Code am Handgelenk eines jeden Bürgers abgerechnet wurden, gab es auch keine Trinkgelder mehr, von denen die Alten so schwärmten. So verfügte Caity nur über das, was ihr einmal im Monat als Vergütung über den Strichcode ihres PIC gutgeschrieben wurde. Dieser PIC - Personal Identification Code - wurde jedem Menschen nach der Geburt implantiert. Damit wurde man registriert und überwacht. Der PIC sonderte aber auch über seinen Chip die lebensnotwendigen Stoffe ab, die vor dem tödlichen Virus schützten. Ohne einen gültigen PIC war man verloren. Starb nach wenigen Tagen an dem Virus, der die Lungen befiel und den gesamten Organismus verseuchte. Es wurde kein Sauerstoff mehr zum Herzen transportiert und man erlag nach wenigen Stunden der Krankheit. Sobald ein PIC von einem Saver deaktiviert wurde, war dies ein Todesurteil.
Quietschend öffnete Caity die Hintertür des Nachtclubs und schlüpfte schnell hinein. Missmutig dachte sie bereits jetzt schon an den Rückweg gegen drei Uhr nachts, wenn sie Feierabend hatte. Die Kälte würde dann so beißend sein, als lebte sie in der Arktis. Die Winter waren so kalt, dass die Gefahr bestand, zu erfrieren. Sie Sommer so heiß, dass man fast verglühte. Das war das neue Leben und man musste sich damit abfinden. Ein anderes gab es nicht. Ein anderes hatte Caity nie kennengelernt.
Sie zog den schwarzen Lederbikini an, drehte ihr dunkles Haar durch einen Lockenstab, sodass eine wellige Mähne entstand, und schminkte sich Smokey Eyes. Dunkelrote Lippen taten ihr Übriges dazu, sie wie einen Vamp aussehen zu lassen. Das turnte die Kerle an und vielleicht gab ihr einer einen Drink aus, denn selbst dafür musste Caity im Club bezahlen.
»Hi, Caity! Ab in die Tretmühle«, scherzte Mabel, eine ihrer Kolleginnen.
Mabel war eine dralle Blondine, die sich gerne von einem der Kerle abschleppen ließ. Sie hatte den Körper einer Sexbombe, aber den scharfen Verstand eines Buchhalters. Sie kam nicht nur körperlich bei diesen Treffen auf ihre Kosten, sie ließ sich auch gut dafür bezahlen. Denn wenn in der Neuen Welt etwas zählte, dann waren es Entis. Irgendwie war doch jede Welt gleich, egal wie ihr Name lautete.
»Komm, lass uns die Kerle verrückt machen.« Mabel riss Caity an sich und küsste sie auf beide Wangen. Sie trug das gleiche Kostüm wie Caity, sah darin aber noch heißer aus, wie Caity neidlos zugeben musste. Aber sie war nicht hier, um den Kerlen zu gefallen. Sie brauchte nur eins, und das begann mit dem Buchstaben E.
»Halte dir die Kerle vom Hals«, rief Mabel und öffnete die Tür, die in den Club führte. Luft, die man schneiden konnte, schlug ihnen entgegen und die Sicht war schlecht.
»Mann, wann repariert Dwayne endlich die Nebelmaschine? Das alte Ding ist schon seit Wochen kaputt, ich bekomme noch einen Asthmaanfall.« Mabel begann zu husten und sprang mit einem Satz auf die Bühne, um mit ihrer Show zu beginnen. Die Männer grölten und klatschten begeistert in die Hände.
Caitys Blick schweifte über die Menge. Mabel würde auch heute Abend wieder die freie Auswahl haben. Sie konnte sicher sein, dass es sich bei den männlichen Besuchern nur um ledige Männer handelte, denn Verheirateten war der Zutritt in diese Art Etablissements verboten. Die Lordships hatten ein Gesetz erlassen, das verheirateten Männern verbot, Clubs aufzusuchen. So versuchten sie, die Untreue einzudämmen, auf die die Todesstrafe stand. Sobald der Bund des Lebens geschlossen war, färbte sich der Code am Handgelenk dunkelrot, sodass für Außenstehende sofort sichtbar war, dass ein Mann oder eine Frau vergeben war. Die Türsteher achteten penibel darauf, wirklich nur Ledige einzulassen. Niemand wollte sich dem Vorwurf der Kuppelei aussetzen, die Strafen dafür waren einfach zu hart. Wer bei dem Versuch der Untreue erwischt wurde, dessen PIC wurde deaktiviert und was das bedeutete, lag auf der Hand.
»Hi, Honey, du bist spät dran!« Dwayne gab Caity einen Kuss auf die Wange. Der Besitzer des Heartbeat steuerte auf die siebzig zu. Zumindest nahm Caity es an, denn sein wirkliches Alter verriet Dwayne nicht. Mit seinem wettergegerbten Gesicht war er nicht leicht einzuschätzen.
»Wann lässt du die Nebelmaschine reparieren, Dwayne? Oder willst du, dass die Gäste ersticken?«, fragte Caity genervt.
»Na, wer wird denn gleich so kritisch sein?« Die Hände vor der breiten Brust verschränkt, oberhalb seines dicken Bauchs, grinste er, und half ihr auf die Bar. Sie hatte heute die Außenstange auf dem Tresen. Hier hingen immer die Typen rum, die sich in Ruhe volllaufen ließen und gerne mal mit der Hand nach einer Tänzerin griffen. Daher tanzten hier nur die Mädchen mit Erfahrung. Caity war eine von ihnen. Sie machte den Job fast schon zu lange. Die Mädchen hielten meist nicht lange durch. Einige tanzten ein paar Monate, dann verschwanden sie. Caity war bereits seit mehr als einem Jahr dabei. Etwas anderes war für sie nicht in Aussicht und irgendwie musste sie ihre Miete bezahlen. Hinzu kam, dass Dwayne gut auf seine Mädels achtete, es gab wirklich schlimmere Jobs als diesen hier.
Lasziv begann sie, sich auf ihren High Heels auf dem blanken Tresen zu bewegen, schlang ihre langen Beine um die Stange. Die Musik war rhythmisch, anregend. Sie beugte sich rücklings nach hinten, ließ ihr schwarzes Haar herunterhängen, bis es den Tresen berührte.
Als einer der Gäste unsanft in ihre Mähne griff, schrie sie auf. Eher vor Schreck als vor Schmerz. Sie wollte sich hochziehen, doch der Typ hielt sie unbeirrt fest, sodass sie sich nicht rühren konnte. Erschrocken verharrte sie in ihrer schmerzhaften Lage und rief laut nach der Security.
»Lass sie los!« Eine schwarz behandschuhte große Hand schoss vor und umfasste das Handgelenk des Typen, der Caity im Griff hatte. Aus ihrer Position konnte sie nicht sofort erkennen, wer ihr zu Hilfe kam, aber sie war ihm auf jeden Fall dankbar. Als der betrunkene Gast endlich ihr Haar losließ, richtete sich Caity mit einem Ruck wieder auf und drehte sich wutentbrannt um.
»Hast du sie noch alle?«, fauchte sie und winkte Dwayne zu sich, der direkt mit zwei Securitys anrückte, um den Gast nach draußen zu befördern. Er hatte wohl Liquidrom eingeschmissen, eine Designerdroge, die für wenige Entis erhältlich war.
»Wer sich nicht benimmt, fliegt raus!« Dwaynes donnernde Stimme übertönte die laute Musik und der betrunkene Gast wurde zur Tür bugsiert. Dwayne fuhr sich über seinen grauen Bart. »Mach ne kurze Pause, Caity«, sagte er und nickte ihr zu.
Caity sprang von der Bar und kam auf ihren hohen High Heels ins Straucheln. Wäre da nicht dieser Typ gewesen, der sie auffing und damit schon wieder rettete, wäre sie der Länge nach auf die Nase gefallen.
»Vielen Dank! Ich weiß auch nicht, was heute los ist«, meinte Caity stöhnend und bedankte sich bei dem Fremden, den sie nun erst richtig wahrnahm. Obwohl die Luft vom Pfefferminzduft erfüllt war, ein Duft den die Nebelmaschine versprühte, nahm sie seinen sauberen Duft wahr, der sie an Leder und dunkle Tannen erinnerte. Ihr Blick glitt von den Bikerstiefeln über die schwarze Lederhose hinauf zu der schwarzen Lederjacke. Das dunkelgrüne Shirt, das er darunter trug, unterstrich die Farbe seiner Augen, die Caity als azurblau beschrieben hätte.
»Wow!«, entfuhr es ihr leise. Der Fremde hatte schwarzes glattes Haar, dunkle Augenbrauen, die er fragend zusammenzog, eine gerade Nase und volle dunkelrote Lippen. Nicht weiblich, sondern männlich sinnlich.
»Caity also?«, fragte er und schaute an ihr herunter.
Sie spürte, wie ihr unter seinem Blick heiß wurde.
»Wir scheinen wohl beide auf Leder zu stehen«, meinte er mit einem leichten Grinsen auf den Lippen und blickte auf ihren Lederbikini.
»Ja, aber ich bezweifele, dass du in deinen Sachen tanzt«, gab sie frech zurück. »Darf ich dich für deine Hilfe auf einen Drink einladen?«
Er nickte und wandte sich wieder der Bar zu.
»Zwei Wodka-Martini. Gehen aufs Haus«, bestellte sie.
Der Barkeeper machte sich, ohne zu zögern, an die Arbeit und bereitete die Getränke zu. Er hatte den Vorfall wohl mitbekommen.
»Bist du zum ersten Mal hier? Ich habe dich noch nie gesehen.«
Liam, der Barkeeper, stellte die Gläser auf den Tresen und wanderte zum anderen Ende der Bar, wo bereits Gäste darauf warteten, ihre Bestellung aufzugeben.
»Kann man so sagen.«
»Wie ist dein Name?«
»Jackson.«
»Du redest wohl nicht viel?«
Er zuckte mit den Schultern. »Wohl eher nicht.«
Caity griff nach ihrem Glas und trank es in einem Zug aus. »Sorry, ich muss wieder rauf.« Sie nickte zur Stange, hielt sich an seinem Arm fest, um auf die Bar zu klettern. Dabei schob sie unabsichtlich den Schaft seines Handschuhs zurück und legte seinen PIC frei. Erschrocken schaute sie auf und begegnete Jacksons Blick - der PIC war rot.