ROMAN
Für, trotz und wegen E.
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
DANKSAGUNG
Mara suchte sich, wie so oft, den schlechtestmöglichen Zeitpunkt aus, um mich vor vollendete Tatsachen zu stellen. Der Antrag für das Asylprojekt war beinahe fertig, und das Institut war eine Zirkusmanege kurz vor dem Weltuntergang. Überall Clowns und Elefanten. Pommer war davon überzeugt, dass wir das Projekt verlieren würden; das Boltzmann-Institut hatte sich im letzten Moment entschieden, einen Konkurrenzantrag einzureichen, und Pommer machte mich persönlich verantwortlich. Es ist mir bis heute nicht klar, wie sie herausbekommen hat, dass ich einige Wochen davor mit den Kollegen vom Boltzmann-Institut etwas trinken war. Unser Antrag kam auch zur Sprache, das stimmt schon. Was sie nicht wusste: Der Konkurrenzantrag war schon damals beschlossene Sache, und ich versuchte lediglich zu retten, was zu retten war. Seit Tagen redete ich mir den Mund fusselig, um Pommer von meiner Integrität zu überzeugen, und ich feilte gerade an einem E-Mail, das sich in eine lange Reihe emotionaler elektronischer Kommunikation eingliedern sollte, als Mara mich anskypte.
Sie war noch in der Schweiz, irgendwo in den Alpen, und das Gespräch wurde von Skype derart verzerrt und gepixelt, dass ich zweimal nachfragen musste, bevor ich kapierte, worauf sie hinauswollte. Ich war etwas überrascht über ihren Anruf, schließlich hatte ich seit drei Wochen nichts von ihr gehört. Während ihrer Reise wollte sie keinen Kontakt mit daheim, und am wenigsten mit mir. Ich hatte das mehr oder weniger akzeptiert, nachdem sie mir versichert hatte, dass diese Auszeit – mitten im Semester – unserer Beziehung guttun würde. Eine Atempause, eine Einstellung der Kampfhandlungen. Sie hatte aufrichtig geklungen, als sie mir von ihren Plänen erzählte. Ihre Freundin machte gerade eine Meditationsausbildung, und Mara hatte plötzlich beschlossen, auf den Eso-Zug aufzuspringen. Obwohl sie sonst ein wirklich vernünftiges Mädchen war, mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Leistungsgesellschaft. Ich hätte Verdacht schöpfen müssen, als sie begann, die Anwaltei infrage zu stellen, ein halbes Jahr vor ihrer Rechtsanwaltsprüfung. Dabei hatte sie einen Job, für den sich ehrgeizige Juristen (zu denen ich sie gezählt hatte) die Schädel einschlugen. Bei einer bekannten Wirtschaftsrechtskanzlei, mit Göttergehalt und Berufsreisen nach New York und London, mindestens einmal pro Monat. In unserer Beziehung waren die Rollen klar verteilt; ich war der menschenrechtliche Träumer und sie die toughe Karrierefrau. Meinen Idealismus hatte sie immer an mir bewundert; vielleicht zu sehr, auf einmal wollte sie in die Schweizer Alpen, meditieren. Ein Schweigeseminar. Ja, wirklich, sie zahlte fast dreitausend Euro, um sich einen Monat lang in verkrampfter Bobo-Runde anzuschweigen, unter der Anleitung irgendeines Kroaten, der zehn Jahre in Kerala gelebt und dort den Schwarzen Gürtel im Nichts-Sagen gemacht hatte. Ich googelte den Typen, seine Website war mit Panflötengeseufze unterlegt und voller Rechtschreibfehler (sein Glück, dass er mit Schweigen sein Geld verdiente). An dem Tag vermisste ich Mara so sehr, dass mein Magen schmerzte, und die Panflöten brachten mich beinahe zum Kotzen.
Mara hatte gesagt, sie wollte sich selbst finden. Wie eine Studentin im ersten Semester. Aber nachdem unsere Beziehung momentan nicht gerade friktionsfrei war und sie sich Konflikten noch nie besonders gern gestellt hatte, war es vielleicht gar kein so abwegiger Plan. Sie wollte eine Pause, meinte sie, sofort. Meine Einwände, dass wir einen Urlaub doch dazu verwenden könnten, an unseren Problemen zu arbeiten, ließ sie nicht gelten. Sie bräuchte Ruhe, auch von mir. Nein, angenehm war es nicht, das aus ihrem Mund zu hören. Im Februar hatte sie mir noch unter Tränen versprochen, dass sich alles ändern würde; sie wollte eine Therapie machen, ihre Launen unter Kontrolle bringen. Oder mit Yoga beginnen. Dann hatte sie kurz mit dem Gedanken gespielt, nach Australien zu fliegen. Oder zu ihrer Schwester nach Palermo. Aus einer Woche waren zwei geworden, und dann ein Monat in den Schweizer Alpen. Jedenfalls wollte sie weg von mir. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, es hätte mich überrascht; sie hatte schon lange an dem Graben zwischen uns geschaufelt. Die Frage, wann sie den ersten Spatenstich gemacht hatte, setzte mir zu. Seit Wochen saß ich in der Küche und kippte ein Bier nach dem anderen, während sie im Wohnzimmer auf dem Laptop ihre dämlichen Ami-Serien schaute. Da hatte sie schon aufgehört, mit mir zu reden. Sie bräuchte das, sagte sie, nach dem Stress in der Arbeit und überhaupt, Ted und Lily von »How I Met Your Mother« konnten sie anscheinend besser verstehen als ich. Aber was brachte es, sich im Nachhinein den Kopf zu zerbrechen. Irgendwann hatte sie eben aufgegeben; es war ihr alles zu viel geworden, die Kanzlei und ich und der Tod ihrer Immi. Ich glaube, damit hatten unsere Probleme angefangen. Sie waren sich sehr nahe gestanden, ihre Großmutter und sie. Die alte Dame war ein Charakter gewesen: eine ehemalige Opernsängerin (und meiner Meinung nach etwas zu begeistert von sich selbst), aber wie dem auch sei, sie und Mara hatten eine ganz besondere Verbindung gehabt. Mara fuhr mindestens einmal die Woche in die vollgeräumte Altbauwohnung nach Baden, setzte sich ans Klavier, und ihre Immi sang Arien aus Romeo und Julia und der Zauberflöte, mit ihrer brüchigen Altfrauenstimme, ein Glas Rotwein immer in Reichweite. Alle waren überzeugt davon gewesen, dass Immi die Hundert erreichen würde, trotz Alkoholsucht und der diversen Todesfallen in ihrer Wohnung – die schlecht isolierten elektrischen Anschlüsse, die steile Treppe zum Schlafzimmer, die bis zum Umfallen polierten Kachelböden (kein Witz – Mara hatte sich einmal durch das Ausrutschen auf den glänzenden Fliesen den Knöchel gebrochen), und nicht zuletzt Immis zwei Dobermann-Mischlinge, die regelmäßig die Kinder in der Nachbarschaft anfielen. Ich hatte öfter vorsichtig versucht, auf diese Gefahrenquellen hinzuweisen. Ohne Erfolg. Alles wurde Immi und ihrer liebenswürdigen Exzentrik verziehen. Sie war ein Star, wenn auch ein faltiger. Mit perfektem Make-up und haarspraysteifer Frisur. Die Frau ging nicht aus dem Haus, ohne sich eine Stunde mit dem Fön zu bearbeiten. Und obwohl Immi mich nicht besonders mochte, muss ich ihr zugestehen, sie zog ihr Ding durch. Auch mit neunundachtzig. Als sie dann plötzlich verstarb – ihre Eitelkeit holte sie schließlich ein, sie elektrisierte sich mit dem Fön – brach Mara zusammen. Die alte Dame war ihr Vorbild gewesen, ihr Selbstbewusstseinsquell. Sie hatte sich heftige weltanschauliche Diskussionen mit Immi geliefert – unter anderem über mich, sie wollte Immi davon überzeugen, dass ich nicht der hoffnungslose Loser war, als den mich Immi darstellte. Nach ihrem Tod fehlte Mara, glaube ich, vor allem die Reibung mit ihrer Großmutter. Also begann sie, deren Stimme zu channeln, und warf mir alles vor, was Immi mir zu Lebzeiten an den Kopf geworfen hatte: Ich wäre hohl und selbstverliebt, ein Parasit, würde Mara als Lebenssinn missbrauchen. Irgendwann konnte ich nicht mehr. Bei allem Verständnis für Maras Schmerz … es war schwierig, ihr beizustehen, wenn ihre Trauer darin bestand, mich ständig anzupissen. Also zog ich mich zurück. Und Mara flog in die Schweiz.
»Erik«, sagte Mara und seufzte. Tief. Und noch einmal. »Ach, Erik.« Mara war eine große Seufzerin. Das war eines der ersten Dinge, die mir an ihr aufgefallen waren; ihr Gefühlszustand ließ sich an ihrer Art zu seufzen erkennen.
Tiefes Seufzen war definitiv kein gutes Zeichen. Noch dazu mit dem »Ach, Erik« als Verstärkung. Ich begriff, dass sie eine Entscheidung gefällt hatte. Eine, die mir nicht gefallen würde. Trotzdem hatte ich nicht damit gerechnet, dass es ihr so leicht fallen könnte, mich aus ihrem Leben zu entfernen. Nach drei Wochen Schweigen war ihr plötzlich die Idee gekommen, dass es mit uns nicht funktionieren würde. Sie saß im Trägerleibchen in einem Internetcafé (die Bergsonne hatte ihre hübschen Schultern goldbraun überzogen – Mara war ein dunkler Typ, ein paar Stunden ohne Ärmel, und sie sah aus wie frisch zurück aus der Karibik) und nippte an irgendeinem Getränk mit Eiswürfeln. Ihre Sonnenbrille steckte in den ungekämmten Locken … sie wirkte wie eine Schauspielerin in einem italienischen Film, und mir wurde klar, dass ich sie nicht einfach so loslassen konnte. Ich wollte ihre Erklärungen nicht hören, ich wusste auch, dass sie sich nicht entschuldigen würde. Hätte sie das getan, hätte ich einhaken können, meinerseits erklären, Lösungen vorschlagen, Erinnerungen heraufbeschwören: den Urlaub in Nordfrankreich, unsere erste Nacht in der gemeinsamen Wohnung, als wir bis zum Morgengrauen Kisten ausgepackt und über unsere gerade anbrechende Zukunft geredet hatten. Aber sie würde das alles nicht hören wollen, und sie saß am längeren Ast, sie konnte einfach die Verbindung unterbrechen, wenn es ihr reichte. Wäre nicht das erste Mal gewesen. Und nachher ein E-Mail schreiben, das Internet sei so unzuverlässig und es tue ihr leid, dies und das wolle sie mir noch sagen, und viel Glück auf meinem weiteren Lebensweg. Das konnte ich nicht zulassen. Gott sei Dank behalte ich in brenzligen Situationen die Nerven. Ich ließ sie ein paar Minuten reden, hörte absichtlich nicht zu, beendete die letzten zwei Sätze meines E-Mails an Pommer. Drückte auf »send«.
»… weil nur noch Vorwürfe kommen«, sagte Mara gerade.
»Mara«, unterbrach ich sie. »Mara. Hör mir zu.«
»Nein, Erik, ich muss dir das jetzt –«
»Scheiße, Mara. Du rennst weg, erzählst mir noch, dass du das für uns tust. Und machst über Skype Schluss, ist das dein Ernst? Und dann willst du dir nicht mal anhören, was ich zu sagen hab?«
Ich redete mich in Rage.
»Vorwürfe, sagst du. Mach ich dir vielleicht einen Vorwurf, dass du mitten im ärgsten Beziehungsstress einfach abhaust? Noch dazu bin ich grad in einer schwierigen Situation, in einer echt beschissenen Situation. Pommer will mich feuern.«
»Was?« sagte Mara.
»Ja, irgendein Arschloch hat Mist über mich geredet. Egal. Ich hab drei Monate an diesem bescheuerten Projektantrag geschrieben. Jetzt ist er fertig, da braucht sie mich ja nicht mehr.«
»Das tut mir leid«, sagte sie. Es klang wie: Leck mich am Arsch. Ich war mittlerweile wirklich sauer.
»Hör mal, ich will dich nicht mit meiner Scheiße belasten. Sonst verpasst du noch das stumme Gruppenstreicheln.«
»Nein, das hab ich so nicht gemeint … Was hat sie denn gesagt? Warum will sie …?«
»Ist doch egal«, sagte ich. »Dein Timing ist nur … na ja.«
»Nicht ideal?«
»Kann man so sagen.« Jetzt musste ich seufzen. »Ich hab das Gefühl, meine Welt bricht grad zusammen.«
Stille. Keine Reaktion. Ich wurde ungeduldig. Mittlerweile ahnte ich, dass es Mara gar nicht wirklich darum ging, Schluss zu machen – diese Aktion war offensichtlich einer ihrer Stimmungsschwankungen entsprungen, ihrer Sucht nach dramatischen Höhepunkten. Mara war ein impulsiver Mensch; das schätzte ich auch an ihr, ihr Enthusiasmus war anziehend. Wenn sie in der richtigen Verfassung war, war sie der Star jeder Party. Aber sie konnte auch ein Biest sein, wenn irgendwas mal nicht nach ihrem Kopf ging. Ihre Erwartungen waren von sterblichen Menschen nicht erfüllbar, und normalerweise sah sie das auch ein. Aber wenn sie in einer ihrer Launen steckte, dann war alles schwarz-weiß. Sie hatte mir erzählt, dass einer ihrer Ex-Freunde sie ein »Feuerwerk« nannte. Herrlich aus der Ferne, aber gefährlich aus der Nähe. Das war mir ohnehin relativ schnell klar gewesen, schon nach unserem zweiten oder dritten Date, als sie auf dem Nachhauseweg von einem netten Abendessen plötzlich mit dem Seufzen anfing und eine halbe Stunde kein Wort mehr sagte. Sie hätte sich plötzlich unsicher gefühlt, meinte sie ein paar Tage danach, konnte aber nicht sagen wieso. »Ich hab da meine Periode bekommen«, erklärte sie mir irgendwann, »da bin ich manchmal nicht ganz zurechnungsfähig«. In Wirklichkeit hatte sie Angst, weil sie begann, mich zu mögen. Sie war eine geschickte kleine Manipulatorin, meine Mara, und es sagte ihr gar nicht zu, dass ihr jemand so schnell wichtig wurde. Bevor sie noch wusste, wie er tickte und wie sie ihn kontrollieren konnte. Damals ahnte ich schon, dass ich es mit ihr nicht leicht haben würde. Aber um ehrlich zu sein, reizte mich das auch. Und Mara war mir das Risiko wert. Was dieser Ex-Freund, der sie mit einem Feuerwerk verglichen hatte, vermutlich nicht verstand – innen drin, unter all ihrer feuerspeienden Pracht, steckte ein kleines Eichhörnchen, das sich davor fürchtete, dass der Winter kommen und die leckeren Nüsse ausbleiben würden. Das alles dafür tat, um sich einen Vorrat an guten Momenten anzulegen, für karge Zeiten. Dieses kleine Wesen wollte gestreichelt werden, und es hatte panische Angst vor jemandem, der ihm die Nüsse verweigerte. Deshalb biss es schon mal präventiv in sich nähernde Hände, wenn sich diese nicht von ihr dirigieren ließen. Und fühlte sich gleich darauf schuldig, denn Mara war ja ein kluges Mädchen, das ihre eigenen Schwächen kannte oder zumindest erahnte. Ihre Angriffe waren Selbstverteidigung.
Sobald man das begriffen hatte, konnte man relativ gut mit ihr umgehen. Ich nahm ihre Ausbrüche normalerweise nicht persönlich; ich wusste, dass sie meistens nur versuchte, sich zu schützen. Aber hin und wieder ging sie zu weit. Zum Beispiel, wenn sie in die Schweiz flog und versuchte, über Skype mit mir Schluss zu machen.
Nach dem Stress der letzten Wochen brachte ich einfach nicht die Geduld auf, um mich mit ihren Launen auseinanderzusetzen.
»Mara«, sagte ich, und meine Stimme war ruhig, »ich weiß, dir geht grad einiges durch den Kopf. Du bist in einem anderen Land, lernst Leute kennen und machst eine Menge neuer Erfahrungen, aber bitte, wenn’s dir möglich ist – versuch mal, meinen Standpunkt zu verstehen. Ich bin in Wien, es regnet, und der Kater hat schon wieder Durchfall. Letzte Woche war ich beim Tierarzt, während der Arbeitszeit, und Pommer ist sowieso schon misstrauisch. Ich hab leider nicht den Luxus, mir existenzielle Fragen zu stellen – was ist der Sinn des Lebens, was bedeutet Liebe. Ich versuch vor allem, durch den Tag zu kommen. Also, wenn du’s schaffst – irgendwie – ein bisschen Fairness zusammenzukratzen: Genieß deinen Urlaub, und wir reden, wenn du wieder da bist.«
»Ich weiß nicht, ob ich das aushalte …« sagte sie, und ihre Stimme klang klein und traurig. Ich fühlte mich müde, aber auch zuversichtlich.
»Vielleicht ist es viel verlangt«, sagte ich, »ja, wahrscheinlich sogar. Aber du kannst heute in Ruhe über alles nachdenken und morgen ausschlafen. Ich nicht. Ich treff in einer halben Stunde Pommer, und ich hoffe, dass ich danach meinen Job noch hab. Also bitte … vertag die Entscheidung, okay? Ich hol dich am Freitag vom Flughafen ab.«
Mara sagte nichts. Und ich wusste, dass ich mir ein paar Tage erkauft hatte. Bis dahin würde ich mir etwas überlegen müssen.
Nach dem Gespräch mit Mara holte ich mir einen Kaffee. Stefan stand in der Institutsküche und strich Butter auf eine Scheibe Brot. Ich musste wohl angeschlagener ausgesehen haben, als mir bewusst war, denn als ich hereinkam, hörte er mit dem Butterschmieren auf und fragte: »Alles okay?« Ich zuckte mit den Schultern und sagte: »Private Geschichten.« Es klang weinerlicher als beabsichtigt. Stefans Buttermesser schwebte reglos zwei Zentimeter über der Brotscheibe – die Butter klebte in einem klobigen fetten Batzen an der Schneide und glitt langsam nach unten. Er öffnete die Lippen, aber er sagte nichts. Seine Stirn runzelte sich in Zeitlupe. Stefans Denkprozesse setzen sich eher schwerfällig in Gang, gerade, wenn er mit Unerwartetem konfrontiert wird. Außerdem hatte er ein Faible für Mara; die beiden hatten zusammen studiert, und es war Stefan gewesen, der uns einander vorgestellt hatte. Was er seitdem bitter bereute, da war ich mir sicher. Er war einer dieser stummen Bewunderer, die alles für das Mädchen ihrer Träume tun, ohne sich jemals zu trauen, Ansprüche zu stellen, aus Angst vor Zurückweisung. Keine unberechtigte Angst, in Stefans Fall. Er dachte, Mara wüsste nichts von seiner heimlichen Zuneigung, aber da lag er falsch. Mara und ich hatten schon oft über Stefan und seine treuen Hundeaugen gescherzt. Diese Hundeaugen musterten mich nun mit einer bohrenden Konzentration, als wollten sie sich aus seinem Gesicht herausgraben und in meinem einnisten. Ich verwünschte meine unbedachte Bemerkung. Stefans Mitgefühl (oder, realistischerweise, sein leiser Triumph) war wirklich das Letzte, was ich jetzt brauchte.
»Vergiss es, wird schon wieder«, murmelte ich und stellte eine Tasse unter die Espressomaschine. Der Kaffee gurgelte und dampfte, als wollte er uns was mitteilen, und ergoss sich endlich aggressiv in meine Tasse. Ich schaufelte zwei Löffel Zucker nach. Die Hälfte ging daneben, aber ich konnte mich nicht dazu aufraffen, ihn wegzuwischen. Ich wollte gerade die Küche verlassen, als Stefan seine Stimme wiederfand und mir, viel zu laut, nachrief: »Mara ist was ganz Besonderes. Du hast sie nicht verdient!«
Wusste er …? Ich drehte mich um, eine bissige Erwiderung auf den Lippen, aber im gleichen Moment löste sich der Butterklumpen von Stefans Messer und landete mit einem erstaunlich hörbaren Plopp auf seiner Hose.
Nach zwei Jahren am Institut waren Pommer und ich immer noch per Sie.
»Sie wissen, Erik« (sie war eine dieser Damen Mitte fünfzig, die glauben, dass Siezen in Kombination mit dem Vornamen einen akzeptablen Kompromiss aus Professionalität und persönlicher Wertschätzung darstellt), »Sie wissen, dass wir Sie hier alle sehr respektieren.«
Diese Einleitung machte mir Sorgen; das klang ernster, als ich erwartet hatte. Ich fragte mich, ob Pommer mein letztes E-Mail gelesen hatte; ich beugte mich unauffällig etwas vor und spähte auf ihren Bildschirm. Das E-Mail-Programm war geöffnet und mein E-Mail als gelesen markiert. Ich ließ den Text in meinem Kopf Revue passieren und merkte, dass ich nicht mehr wusste, wie ich das E-Mail beendet hatte. Das Gespräch mit Mara hatte mich abgelenkt, und ich war nicht einmal dazu gekommen, das E-Mail vor dem Abschicken noch einmal durchzulesen. Wirklich, grandioses Timing, Mara. Ich zwang mich, meinen Ärger zu unterdrücken und versuchte, mich an das E-Mail zu erinnern. Im Grunde war ich mir keines Fehlers bewusst; ich glaubte, einen höflichen und angemessen zerknirschten Ton hinbekommen zu haben, ohne gleichzeitig Schuld einzugestehen. Ich hatte darauf geachtet, an Pommers Ehrgefühl zu appellieren, mit einer Prise Emotion; Pommer stand auf ehrliche Gefühlsregungen am Arbeitsplatz. Sie haben mich immer aufrichtig behandelt, und ich hoffe, dass Sie mir nun meine eigene Aufrichtigkeit verzeihen – ich kann nicht umhin, mich etwas verletzt zu fühlen, hatte ich geschrieben. Es ist mir bewusst, dass Anschuldigungen gegen mich im Raum stehen, und ich hoffe, dass Sie mir die Chance geben, eventuelle Missverständnisse auszuräumen. Wie Sie wissen, liegt mir viel an einem offenen Umgang miteinander, und ich würde mir sehr wünschen, unsere zweijährige Arbeitsbeziehung nicht durch Gerüchte vergiftet zu wissen. Vielleicht war das eine Spur zu pathetisch? Und ich konnte mich partout nicht entsinnen, was ich danach geschrieben hatte. Pommer schaute mich an, als würde sie eine Entgegnung erwarten; aber ich kannte sie gut genug, um nichts zu sagen. Das ist ihre Masche, ihr Gegenüber durch Gesprächspausen zum Reden zu bringen und dann auf dem Gesagten herumzureiten. Da spielte ich nicht mit. Ich lächelte sie freundlich an.
»Erik …« begann sie wieder und warf einen Blick auf ihren Bildschirm. Ich grinste wie ein Fernsehmoderator. »Sie wissen, warum ich Sie heute sprechen wollte?«
Jetzt konnte ich nicht mehr schweigen, ohne unhöflich zu werden.
»Ich nehme an, es geht um den Antrag. Ich hoffe, Sie sind mit meiner Arbeit bisher zufrieden?«
Nun musste sie zuerst einmal meine Leistung würdigen, bevor sie mir was auch immer vorwarf. Ich hatte mich länger als die anderen im Team mit dem Antrag beschäftigt; ich hatte die Kontakte sowohl mit der Asylbehörde als auch mit dem Wissenschaftsministerium aufgebaut, und nachdem der zuständige Sachbearbeiter Pommer persönlich angerufen hatte, um ihr ein Loblied über mich zu singen (nach einem leichten Schubs meinerseits), musste sich Pommer jetzt zumindest ein, zwei Worte der Anerkennung abringen. Und das tat sie auch.
»Ihre Arbeit war ausgezeichnet, ohne Sie hätten wir das alles nicht hinbekommen, ich hoffe, das habe ich Ihnen auch so vermitteln können.«
Das war positiver, als ich erwartet hatte; aus Pommers Mund beinahe schon Verzückung. Ich bemühte mich um einen bescheidenen Gesichtsausdruck.
»Es freut mich, dass Sie zufrieden sind, der Antrag war mir auch persönlich sehr wichtig.«
»Das hat man gemerkt, Erik. Dr. Kuczynski hat sich übrigens sehr wohlwollend über Sie geäußert.«
»Das freut mich«, sagte ich und senkte meine Augen. Innerlich gratulierte ich mir zu meinem Schachzug; die Idee, Kuczynski am Institut anrufen zu lassen, war gar nicht so leicht zu bewerkstelligen gewesen. Es hatte drei Treffen und etliche Andeutungen gebraucht, bis er glaubte, sein zehn Jahre jüngeres Selbst in mir zu erkennen und mich gegen Pommers ungerechte Behandlung verteidigen zu müssen. Dafür hatte ich mir abwegige Gründe aus den Fingern saugen müssen, warum ein Praktikum im Ministerium für mich derzeit leider nicht infrage käme, ohne ihn vor den wohlmeinenden Kopf zu stoßen. Ich fragte mich, was genau er Pommer berichtet hatte, und war wirklich gespannt, was sie als nächstes sagen würde.
»Dr. Kuczynski hat mich gestern wieder angerufen«, sagte sie ernst und schaute mich an. Ich wurde kurz unsicher. War mir ein Fehler unterlaufen? Hatte ich Kuczynski irgendwie enttäuscht?
»Ich wollte, dass Sie es als Erster erfahren: Es ist noch nicht offiziell – aber wir haben das Projekt.«
Ich hatte Pommer noch nie mit offenem Mund lächeln gesehen. Sie sah aus wie ein trauriges geschminktes Krokodil, beinahe sympathisch. »Ha!« entfuhr es mir, ehrlich erstaunt. Pommer freute sich, dass ihr die Überraschung gelungen war; jetzt war auch ihre untere Zahnreihe zu sehen. Etwas Lippenstift hatte sich auf ihre Schneidezähne verirrt, es sah aus, als hätte sie gerade irgendetwas Blutiges verschlungen, was ihr Lächeln noch amphibienhafter machte.
»Sie wissen ja, Erik, wie wichtig dieser Antrag für uns ist.«
Ich brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass sie nicht den Pluralis Majestatis verwendete, sondern stellvertretend für das Institut sprach. »Ich habe ja leider so viel zu tun gehabt, dass ich gar nicht dazu gekommen bin, mich nach dem Fortschritt Ihrer Habilitation zu erkundigen?«
Das war wiederum eine Wendung im Gespräch, die mir gar nicht recht war. Ich wusste nicht, worauf Pommer hinauswollte; meine Habilitation dümpelte seit Monaten vor sich hin, vierzig Seiten stark und heillos verworren. Das Thema – Migrationsströme im 19. Jahrhundert aus rechtsgeschichtlicher Perspektive – hatte mich von Anfang an nicht sonderlich interessiert, aber es war die Eintrittskarte ins Institut gewesen. Seitdem quälte ich mich alle paar Wochen durch historische Texte und alte Zeitungsartikel, aber im letzten Jahr hatte ich nicht einen Strich an meinem Entwurf geändert. Pommer wusste das. Was wollte sie jetzt damit? Ich sagte sicherheitshalber nichts. Pommer war aber immer noch so begeistert über ihre guten Nachrichten, dass ihr das nicht weiter auffiel.
»Das Projekt eröffnet uns neue Möglichkeiten«, sagte sie. »Professor Berghammer kommt uns ja Anfang nächsten Jahres abhanden.«
Ich nickte, das war mir natürlich bekannt.
»Ich habe heute morgen ein langes Gespräch mit der Universitätsleitung geführt. Wir haben beschlossen, die Stelle nicht nachzubesetzen, sondern stattdessen zwei Post-Doc-Stellen zu schaffen. Eine dieser Stellen wird mit der Anbahnung und Leitung für diverse zukünftige Projekte betraut werden, und das Gehalt ist dementsprechend angesetzt.« Pommer hielt inne und zeigte mir ihr Krokodilslächeln. »Es ist höher als ein normales Post-Doc-Gehalt. Mit zusätzlichen Mitteln für Konferenzteilnahmen und dem Aufbau eines eigenen Forschungszweigs. Rechtliche Migrationsforschung.«
Sie lehnte sich zurück, eine Reaktion erwartend. Rechtliche Migrationsforschung. Pommers Baby. Die Tatsache, dass sie mir von diesen Entwicklungen erzählte, war eigentlich unglaublich. Sie vertraute mir offensichtlich genug, um mich für diese Stelle in Erwägung zu ziehen. Nicht schlecht. Und das alles dank Kuczynski … hätte ich gewusst, dass dieser Anruf einen solchen Eindruck bei ihr schinden würde, hätte ich das schon früher eingefädelt.
»Wissen Sie«, sagte Pommer, und ich konnte es kaum glauben, als ich den feuchten Schleier auf ihren Augen erkannte – »wissen Sie, Ihre E-Mails … besonders das letzte … ich hab mir ja immer schon gedacht, dass Sie eine solide Person sind. Aber Ihr persönlicher Einsatz … ich habe Sie, da muss ich jetzt ehrlich sein, unterschätzt. Ich wollte Ihnen das auch, persönlich sozusagen, also, das wollte ich Ihnen sagen. Sie haben gar nichts falsch gemacht. Und bitte …« Sie musste tatsächlich schlucken. »Sie müssen wissen, dass ich haltlosen Gerüchten keinen Glauben schenke. Ich kenne Sie seit zwei Jahren, und glauben Sie mir … ich erkenne Charakter, wenn ich ihn sehe. Es ist leider ein Symptom unserer Neidgesellschaft, dass Talent böse Zungen anzieht. Aber lassen Sie sich davon nicht abschrecken. Ich weiß, wie schwer das ist.« Sie schaute mich an, direkt und feucht und an irgendeiner Erinnerung kauend. Nicht nur im übertragenen Sinn. Ihre lippenstiftbefleckten Zähne rieben sich hörbar aneinander. Ein alterndes Krokodil mit Zahnbelag. »Sie sind noch jung, Sie wissen nicht, was da noch auf Sie zukommen wird. Sie haben … Sie haben Idealismus, und glauben Sie mir, den müssen Sie verteidigen. Ich weiß, wovon ich spreche.« Ich widerstand dem Drang, die Hand auszustrecken und ihre dürren benagellackten Finger in die meinen zu nehmen. Das wäre dann doch zu viel Intimität. Stattdessen nickte ich, ernst und langsam, und sagte: »Danke.« Wer hätte das gedacht.
»Zwei Tequila und zwei Bier!« rief Sebastian. Er hasste Tequila, und Bier bestellte er nur, wenn kein genießbarer Wein aufzutreiben war. Aber er war ein guter Freund. Ich trank den Tequila in einem Zug runter, er kippte seinen ins Bier. Scheußlich. Doch ich sagte nichts. Er grinste mir zu, hielt die Kellnerin am Arm fest, sagte: »Noch eine Runde Tequila!« Er nahm einen Schluck aus seinem Bierglas, zog sein Gesicht zusammen und spuckte alles auf die Tischplatte. Die Kellnerin öffnete den Mund, zornig – und schloss ihn wieder, als sie meinen Blick bemerkte. Schon in der Volksschule habe ich gemerkt, dass ich Leute mit einem bestimmten Gesichtsausdruck zum Schweigen bringen kann. Seitdem habe ich die Technik perfektioniert; im Grunde ist es keine Zauberei. Ich lösche einfach jede Regung aus meinem Gesicht. Das fällt mir nicht besonders schwer, denn die meisten Leute langweilen mich ohnehin. Aber kaum jemand ist darauf gefasst. Die Abwesenheit von Gefühl irritiert die Menschen. Deshalb reserviere ich diesen Blick normalerweise für Extremsituationen. Leider entgleitet mir meine Gesichtskontrolle manchmal, wenn ich etwas getrunken habe. Und Sebastian füllte mich seit drei Stunden mit Tequila und Bier ab. Vor etwa einem Jahr, als wir uns kennengelernt hatten, war die Sprache auf Tequila gekommen – ich war gerade mit Mara zusammengezogen und wir saßen mit einigen ihrer Arbeitskollegen in einer Innenstadtbar. Das Gespräch drehte sich um die Vorzüge unterschiedlicher Whisky- und Rumsorten. Maras Kollegen gefielen sich darin, die Jahrgänge und Farbtöne kennerhaft nach ihrer Qualität zu besprechen und stritten sich über die richtige Aussprache der Spirituosen, verknoteten ihre vom Alkohol belegten Zungen, um einen schottischen oder kubanischen Akzent hinzubekommen. Nicht englisch oder spanisch – irisch oder dominikanisch oder guyanisch oder weiß der Teufel was, und der ganze Tisch stank nach Privileg und Selbstverliebtheit. Ich lächelte höflich, aber irgendwann hielt ich die geballte Präpotenz nicht mehr aus, und als Mara gerade sagte: »Ha-sss-ienda Santa Teresa, nicht: Ha-th-ienda – Hassssienda«, unterbrach ich sie, indem ich ihr einen Kuss auf die Wange drückte: »Schatz, wie heißt der Tequila, den du abends immer trinkst?« Sie schaute mich irritiert an, sie mochte Tequila genauso wenig wie Sebastian. »Ah ja, ›Bring-mir-die-Flasche-aber-schnell-o!‹« sagte ich, grinste und gab ihr noch einen Kuss. Mara runzelte die Stirn, aber alle anderen am Tisch lachten bereits, der Alkoholnebel hatte die Schwelle ihres sonst so exquisiten Humors herabgesetzt, und Mara verzog die Lippen zu einem Quasi-Lächeln, sie war keine Spielverderberin. »Tequila schmeckt mir nicht«, murmelte sie, aber das ging unter, und danach hielt sie sich mit ihren hochgestochenen Spanischkenntnissen zurück. Sebastian lachte länger und lauter als alle anderen, und ich merkte, dass er Mara nicht besonders mochte. Seitdem waren wir Freunde. Wenn er sich bei mir einschmeicheln wollte – relativ oft –, dann kaufte er mir einen Tequila. Im Laufe der Monate hatte ich mit Sebastians Geschenken eine Tequila-Kollektion auf dem Regal überm Herd angelegt, und Mara hatte nie ein Wort darüber verloren. Sie wusste, dass die Flaschen von Sebastian kamen. Die beiden redeten kaum noch miteinander.
Alle zwei Wochen rief mich Sebastian an, und wir besoffen uns in irgendeiner Bar. Mit der Zeit hatten wir uns aus der Innenstadt in die Außenbezirke hinausgearbeitet, und ich glaube, die abgefuckte Atmosphäre löste irgendwelche Befreiungsfantasien in Sebastian aus. Er arbeitete seit Ewigkeiten in Maras Kanzlei, und er war unglücklich mit seinem Leben. Seit sieben Jahren hatte er dieselbe Freundin, vor kurzem hatten sie sich verlobt. Sie war gerade schwanger geworden, und als gutes katholisches Mädchen verlangte sie den Trauschein. Sebastian selbst hatte im Allgemeinen keine Meinung, also gab er sich geschlagen, aber hin und wieder rumorte es in ihm, und er sehnte sich nach Kellnerinnen mit gefärbten Haaren und tiefem Ausschnitt und einer Zigarette im Mundwinkel. Dann ließen wir uns in irgendeiner Vorstadtbar zulaufen, und je später es wurde, desto häufiger grapschte er sich den Arm einer Kellnerin, einmal sogar ein Bein. Der Kellnerin hatte es sogar gefallen – sie sah aus wie fünfzig, war aber sicher jünger und sprach kaum Deutsch. Sie gab uns Tequila aus und flirtete mit Sebastian, indem sie ihm ihren imposanten Busen drei Zentimeter vors Gesicht schob, während sie uns immer neuen Tequila einschenkte. Der arme Kerl war derart eingeschüchtert, dass er komplett nüchtern wurde, er wollte gehen, aber das Schauspiel war zu amüsant – ich überredete ihn zu bleiben, und gegen drei Uhr morgens – wir waren die letzten Gäste im Lokal – setzte sich die Kellnerin, die immer brav mit uns mitgetrunken hatte, auf Sebastians Schoß und drückte ihm ihre Titten ins Gesicht. Als sie wieder aufstand, konnte ich seinen Ständer sehen. Ich musste so lachen, dass ich mich beinahe anpisste. Sebastian rief dann einen Monat lang nicht bei mir an. Seitdem mieden wir die Außenbezirke, und ich achtete darauf, dass er nicht zu weit ging – außer Mara war er mein einziger Draht zu ihrer Anwaltspartie. Ich konnte es mir nicht leisten, ihn zu vergraulen.
»Erik«, sagte Sebastian, »wie geht es Mara?« Er wusste natürlich, dass sie in der Schweiz war. Ich überlegte kurz, ob ich so tun sollte, als sei alles in Ordnung. Mein Magen krampfte sich zusammen; ein Schluck Bier machte es auch nicht besser.
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Keine Ahnung.« Ich musste an Maras Sonnenbrille denken, die in ihren Locken steckte, ans Armani-Logo auf dem linken Bügel, sie versuchte immer, eine Haarsträhne darüber zu drapieren, sie wollte kein wandelndes Werbeschild sein. Ich zog sie oft damit auf, dass sie so viel Energie aufwand, um so zu wirken wie alle anderen – ohne Erfolg. Sie fiel einfach auf, wenn sie einen Raum betrat. Das war gleichzeitig ihre beste Qualität und ihre größte Schwäche, diese auffällige Einzigartigkeit, die sie unbedingt verstecken wollte. Nicht aus falscher Bescheidenheit; sie war eine stolze Person, die sich einiges auf ihre Talente einbildete. Es war vielmehr ein Schutzmechanismus. Sie hatte früh herausgefunden, dass sie sich keine Freunde machte, wenn sie ohne Aufwand die besten Noten und im Restaurant den einzigen Tisch am Fenster bekam. Wenn sie McDonald’s-Burger in sich reinschaufelte wie ein ausgehungertes Löwenbaby und kein Gramm zunahm. Oder nach vier Stunden Schlaf putzmunter »Here comes the sun« in der Dusche trällerte, ohne einen einzigen falschen Ton. Ihr erster fester Freund war ein Formel-1-Rennfahrer gewesen. Er hat ihr nach drei Wochen einen Heiratsantrag gemacht; sie war neunzehn. Mara hätte aber nie damit angeben. Ihre Schwester erzählte mir die Geschichte irgendwann, und Mara lachte nur nervös und murmelte: »So teuer war der Ring auch wieder nicht.«
Mara war etwas Besonderes. Ich hätte es nicht besser treffen können, und das wusste ich auch. Als ich sie zum ersten Mal sah – im schlichten schwarzen Kleid, auf einem Ball, mitten auf der Tanzfläche –, spielte sie Parallelflirten mit drei Typen gleichzeitig. Augenaufschlag, lächeln, wegschauen. Einer der Männer hatte einen Ehering am Finger und tanzte mit seiner Frau, aber seine klebrigen Augen hatten sich an Maras schwingendem Hintern festgesogen. Später an der Bar versuchten dann alle drei auf einmal, ihr einen Drink zu kaufen. Ich beobachtete sie von der gegenüberliegenden Seite vom Tresen; ich war neugierig, wie sie mit der Situation umgehen würde. Verlegen eine Entschuldigung stammeln oder vielleicht überrascht tun über diese dreifache Aufmerksamkeit. Und auf wen ihre Wahl fallen würde. Ich tippte auf den Ehemann; er hatte Charme, das sah ich aus zehn Metern Entfernung, und ich war sicher, dass dieses freche Mädchen auf gefährliche Liebschaften stand. Oder zumindest auf den Kick der Eroberung. Mara blieb souverän; sie ließ sich von allen dreien einen Cocktail kaufen, winkte jemandem auf der Tanzfläche zu – ich konnte nicht sehen wem – und ließ dann langsam, fast gemütlich, einen der Cocktails auf das Hemd des Ehemanns fließen. Dann den zweiten. Dann den letzten. Ohne Hast. Sie schüttete nicht, sie goss. Als bewässerte sie eine zarte Pflanze. Dabei lächelte sie freundlich – nicht aufreizend, eher kameradschaftlich – direkt in seine verdatterten Augen. Niemand bewegte sich, obwohl es eine halbe Minute dauerte, bis sie gewissenhaft jeden Tropfen der drei Cocktails auf das weiße Hemd ihres Verehrers geleert hatte. Es war eine surreale Szene, sogar das Licht schien greller zu werden, als hätte jemand einen Scheinwerfer auf Mara gerichtet. Die Frau des Begossenen war in der Zwischenzeit ebenfalls an die Bar gekommen. Sie war es, die den Zauber brach, indem sie lautstark zu lachen begann. Es beutelte sie, als hätte sie Krämpfe; sie musste sich an der Bar festhalten, um nicht umzufallen. Ihr Mann legte eine Hand auf ihren Arm; es war nicht klar, ob er ihrem Lachen ein Ende setzen oder sich an ihr festhalten wollte, aber sie schüttelte seinen Griff ab und drückte, immer noch lachend, einen wackligen Kuss auf Maras Wange. Dann drehte sie sich um und ging wieder zur Tanzfläche, nach Luft schnappend, aber erstaunlich elegant. Die drei Typen entfernten sich in unterschiedliche Richtungen. Mara blieb an der Bar stehen, fuhr sich mit der Zunge über die grinsenden Lippen und bestellte sich etwas. Der Barmann brachte ihr ein Glas Wein, zwinkerte ihr zu und füllte die Erdnüsse nach. Mara steckte sich gedankenverloren eine Nuss in den Mund, und ich hatte mich verliebt.
Mara und ich haben nie über diesen Abend geredet; erst ein paar Wochen später lernten wir uns offiziell kennen. Trotzdem frage ich mich immer noch hin und wieder, wer diese Typen waren und warum Mara so reagierte. Aber sie weiß bis heute nicht, dass ich sie damals auf dem Ball gesehen habe; trotz des vollen Saals wirkte diese Szene privat, und ich wusste, dass ich einen intimen Akt beobachtet hatte, der mich eigentlich nichts anging.
»Aber ihr zwei seid noch zusammen?« fragte Sebastian, und ich merkte, wie sich meine Augenbrauen zusammenzogen.
»Klar«, sagte ich. »Wieso?«
Sebastian schaute in seine Bier-Tequila-Mischung, er wirkte wie ein trauriger Bernhardiner, und ich fragte mich, ob er mehr wusste als ich. Die Kellnerin brachte neuen Tequila. Ich hob das Glas, prostete ihm zu: »Auf ex!« Er lachte, ein bisschen zu laut, und kippte den Tequila runter. Ich nippte nur an meinem; falls ich erfahren wollte, was es war, das Sebastian mir nicht sagte, durfte ich mich nicht noch mehr betrinken.
»Bestellst du uns noch was?« bat ich.
»Jetzt gleich?« fragte er widerwillig. »Die Kellnerin kommt doch eh dauernd vorbei …«
Ich legte eine Spur beherrschter Trauer in meinen Blick.
»Keine Ahnung … diese Mara-Sache … ich glaub, ich muss mich heute besaufen.«
Sebastian schaute mitleidig. Er war ein Guter. Dann nickte er. »Klar, Mann.« Brav trabte er zur Bar, und ich nahm einen kleinen Schluck Tequila. Das Zeug schmeckte wie Desinfektionsmittel. Ich schüttete den Rest meines Tequilas in Sebastians Bier und wischte mir die Lippen mit dem Handrücken trocken.
Wir saßen schweigend nebeneinander. Sebastian hatte bereits zwei Drittel seines Bier-Tequila-Gesöffs ausgetrunken; die Stille machte ihn nervös. Ich wartete. Er würde schon zu reden beginnen, er hatte genügend Hochprozentiges im Blut, um einen Eremiten gesprächig zu machen. Gerade, als er den Mund öffnete und etwas sagen wollte, kam die Kellnerin an unseren Tisch – »letzte Runde!« Ich hätte ihr am liebsten ins gelangweilte Gesicht gespuckt.
»Gehen wir woanders hin«, sagte ich, die Frustration in meiner Stimme war echt. »Diese Bar ist zum Kotzen.«
Die Kellnerin runzelte die Stirn, aber ich ignorierte sie und legte fünf Zehn-Euro-Scheine auf den Tisch. »Stimmt so.« Sebastian wollte seine Hand auf die Scheine legen, aber die Kellnerin war schneller.
»Danke … Mann … aber ich wollte doch zahlen …« sagte Sebastian, die Worte vom Alkohol in die Länge gezogen. Normalerweise gab er mir die Getränke aus; bei seinem Gehalt sind fünfzig Euro nicht mehr als ein besseres Trinkgeld. Ich winkte müde ab.
»Lädst du mich halt aufs nächste Getränk ein.«
Sebastian schaute auf sein Handy; er fühlte sich offensichtlich unwohl.
»Es ist schon zwölf … ich muss ja morgen um halb neun …«
Ich verfluchte die Kellnerin und ihre letzte Runde; ich musste unbedingt herausfinden, was Sebastian wusste.
»Klar, Mann«, sagte ich und betete, dass die Hoffnungslosigkeit in meiner Stimme es durch den Alkoholnebel in Sebastians Bewusstsein schaffen würde. »Klar, dann … dann geh ich jetzt eben auch … nach Hause.«
Das Pathos in meinem Tonfall machte sogar mir die Knie weich. Zum Glück zeigte er Wirkung; Sebastian warf einen sehnsüchtigen Blick auf seine Armbanduhr, seufzte dann und meinte: »Also wenn du willst … wir können schon noch … auf ein letztes Bier …«
Ich verzichtete darauf, ihm der Etikette gemäß noch einmal zu widersprechen.
»Nur wenn du willst«, sagte ich stattdessen. »Nebenan hat noch was offen.«
Eine Bar weiter und ein Bier später fing Sebastian endlich zu reden an.
»Das tut mir so leid, Mann. Ich dachte, sie hat das mit dir besprochen …«
Ich schüttelte den Kopf. Mir war schlecht und mein Kopf brummte. Seit zwei Monaten suchte Mara also schon nach einer neuen Wohnung.
Wir verabschiedeten uns beim Taxistand. Sebastian winkte noch einmal, bevor er die Taxitüre zuzog. Ich hatte keine Lust, nach Hause zu gehen; es war gerade erst eins. Die kühle Regenluft vertrieb langsam das Pochen aus meinem Kopf, und der nasse Beton der Mariahilferstraße glänzte warm im Straßenlaternenlicht. Ich schlenderte Richtung Ring und dachte über meine Situation nach. Mara hatte das Ende unserer Beziehung anscheinend schon seit Monaten geplant, ohne mich einzuweihen. Das machte alles komplizierter. Ich hatte natürlich gemerkt, dass sie nicht mehr zufrieden war, aber ich war davon ausgegangen, dass sie mir noch genügend vertraute, um fundamentale Probleme mit mir zu besprechen. Diesen Grad an kühler Berechnung hatte ich ihr nicht zugetraut. Ihre Reise in die Schweiz war anscheinend ein kalkulierter Sicherheitsabstand, um mich loszuwerden, ohne sich meiner Reaktion stellen zu müssen. Ich bog in die Nelkengasse ein; das Neonschild des Tanzcafé Jenseits flackerte rot. Der Türsteher nickte mir zu und trat ein. Ein Schwall gelächterschwangerer Wärme schlug mir entgegen. Ich setzte mich an die Bar und bestellte einen Wodka Tonic. Mein Kopfschmerz war einer lauwarmen Ruhe gewichen. Zumindest wusste ich jetzt, woran ich war. Zumindest das. Es würde nicht leicht sein, Mara zurückzugewinnen, aber ich konnte sie nicht kampflos gehen lassen. Von Anfang an hatte ich gewusst: sie oder keine. In früheren Beziehungen hatte ich mich schon bald gelangweilt; aber mit Mara war es anders. Auch wenn sie mich hin und wieder in den Wahnsinn trieb. Sie war attraktiv, intelligent, charmant, ehrgeizig – und ich war nicht der Einzige, dem das auffiel. Es war nicht einfach gewesen, unser erstes Treffen einzufädeln; aber schon auf dem Ball hatte ich gewusst, dass ich sie kennenlernen musste. Ich beobachtete, mit wem sie sich unterhielt und wie lange; sie verließ den Ball kurz vor Mitternacht, einen Stöckelschuh in der Hand (den anderen vermutlich in der Tasche), wie im Märchen. Trotzdem eher die Prinzessin auf der Erbse als ein Aschenputtel. Kurz darauf sprach ich eine ihrer Freundinnen an, Michaela, die ihr, wie ich später herausfand, nicht sehr nahe stand. Vermutlich besser so. Ich lud Michaela auf ein Glas Wein ein, flirtete ein wenig, hörte aufmerksam ihrer langatmigen Anführung all der Gründe zu, warum sie Veranstaltungen wie diese hasste. Die Musik, die Atmosphäre, die Menschen. Ich unterdrückte mit zunehmender Willensanstrengung das Gähnen und kaufte ihr Wacholderschnaps, um die Dinge zu beschleunigen. Egal, wie subtil (und schließlich recht direkt) ich das Gespräch auf Mara lenken wollte, sie stieg einfach nicht drauf ein. Dieser Abend war nicht billig für mich; der Wacholderschnaps kostete sechs Euro das Glas. Nach gezählten acht Wacholderschnäpsen begleitete ich Michaela auf die Toilette, wo sie die teure Flüssigkeit in und neben die Kloschüssel erbrach. Dabei fiel ihr das Smartphone aus der Tasche. In der Zwischenzeit hatte ich zumindest Maras Vornamen aus ihr herausbekommen, und während Michaela würgte und ich ihr mit einer Hand das Haar tätschelte, klickte ich mich mit der anderen durch das Kontaktverzeichnis ihres Handys.
Das Jenseits hatte sich merklich geleert; es war kurz vor zwei an einem Wochentag. Ich bestellte mir noch einen Wodka Tonic und dachte an Mara. An ihre Arme, in denen sich bei jeder Bewegung die Muskeln abzeichneten. Nur ein bisschen, geschmackvoll wie der Rest an ihr. An ihren flachen Bauch, ohne ein Fingerzwicken zu viel Fett, ihr Nabel senkrecht wie der einer Fünfzehnjährigen. An ihre perfekten Kniekehlen, gleichmäßig hellbraun und weich, begrenzt durch mathematisch parallele Sehnenstriche. Wäre ich literarisch begabt, hätte ich wahrscheinlich ein Gedicht geschrieben. Oder einen Song. Irgendwas für eine Gitarre und eine tiefe Blues-Stimme, wie auf einer der Platten aus Maras Vinylsammlung. Habe ich erwähnt, dass sie sich neben der Anwaltei als DJane einen Namen gemacht hatte? Für ein älteres Publikum, lauter Jazz-Fetischisten jenseits der Vierzig. Wo fand man schon so eine Frau, außer in Büchern oder Indie-Filmen? Und jetzt wollte sie mich also loswerden. Sebastian hatte ja einiges berichtet. Er konnte Mara nicht leiden, das war mein Glück, und als er sich endlich sein Schamgefühl weggetrunken hatte, erzählte er mir, dass sie in der Kanzlei nicht gerade nett über mich sprach. Sie stellte sich als armes Opfer dar, als hätte ich sie geschlagen oder so. Anscheinend hatte sie vor ein paar Wochen ein Megaprojekt vermasselt und »private Probleme« als Ausrede für ihr Versagen angeführt. Das war ja auch okay, ich verstehe schon, dass man in Stresssituationen ohne Rücksicht auf Verluste den eigenen Kopf retten will. Und ich hätte ohne Murren den Sündenbock gespielt, wenn sie mich eingeweiht hätte. Die Wirtschaftskanzleien sind ein hartes Pflaster, und wenn »mein Freund ist ein Spinner« bei ihrem Chef Rettungsfantasien auslöste, dann wäre ich gern zur Verfügung gestanden. Aber sie hatte übertrieben. Sich regelmäßig auf dem Klo eingesperrt, um zu heulen, bis die Kollegen schon über sie den Kopf schüttelten. Wohnungsangebote im Büro durchgelesen und rotumrandete Immobilienanzeigen auf dem Schreibtisch drapiert. Der Auftrag, den sie verschissen hatte, war anscheinend von einer millionenschweren Größenordnung. Sebastian sagte mir, dass er ihr die zerdrückten Tränen im Augenwinkel nicht abnahm. Wie auch viele andere in der Kanzlei. Das passte einfach nicht zu ihr. Und ich musste ihm recht geben. Es war zu durchschaubar. Auch ich hatte Mara eine so simple Strategie nicht zugetraut; der Mangel an Eleganz machte sie beinahe vulgär. Aber dann musste ich an ihre Schultern denken, und an die lässig in ihren Locken steckende Sonnenbrille.
Am nächsten Tag konnte ich mich kaum auf meine Arbeit konzentrieren. Normalerweise trinke ich nach einer alkoholreichen Nacht einen halben Liter Wasser vorm Schlafengehen, aber am Vortag war ich wie ein Stein ins Bett gefallen. Und das rächte sich jetzt, ohne Erbarmen. Pommer hatte mir wie üblich gegen neun ein Auftrags-E-Mail geschrieben – um zu überprüfen, ob ich schon im Büro war – und ich schickte ihr erst eine gute Stunde später den gewünschten eingescannten Artikel zurück. Worauf sie mir mit passiv-aggressivem Unterton ihre Indigniertheit ob meiner Verspätung vermittelte. Als hätte unser Gespräch am Tag davor nie stattgefunden. Aber das war so bei uns am Institut. Kleinliche Pflichterfüllung galt mehr als Talent. Egal, welche Arbeit ich leistete, Pommer musste mir zeigen, dass ich ihr Sklave war. Normalerweise steckte ich das auch weg, was sollte ich mich schon groß über Dinge aufregen, die ich ohnehin nicht ändern konnte – aber nach unserem positiven Intermezzo am Vortag hatte ich mir eine Schonzeit erwartet.
Zum Glück waren sowohl Kilian als auch Illi an diesem Vormittag bereits am Institut. Die Tür zu ihrem Doppelbüro stand offen, also holte ich in der Küche drei Cappuccino, die institutsübliche Plaudereianbahnung. Illi quietschte wie ein kleines Mädchen; das tat sie immer, wenn sie mich sah. Sie sprang auf, um mich zu umarmen. »Eriiik!« zwitscherte sie dabei.
Illi war ungewöhnlich hübsch, mit ihren langen schlanken Beinen und ihren zerzausten blonden Haaren sah sie aus wie aus einer H&M-Werbung. Doch sie war irgendwie zu süß und hilflos, um wirklich sexy zu sein. Ihre grauen Augen baten um schonende Behandlung, aber nicht auf eine Art, die ritterliche Gefühle in einem Mann auslöste; sie wirkte eher wie eine traumatisierte Taube.
Kilian nickte mir zu und nahm einen Schluck Kaffee. Er sagte nicht viel, ich glaube, er hat es nicht immer leicht gehabt in seinem Leben. Das hatte ihn vorsichtig gemacht. Er hatte den geduckten schlenkernden Gang eines geprügelten Dackels, der sich vor jedem Schritt neu entscheiden musste, aus welcher Richtung die geringste Gefahr drohte. Kleine Freundlichkeiten nahm er mit ungläubiger Dankbarkeit entgegen. Irgendwann redeten wir nach der Arbeit bei Drinks über unsere Schulzeit, und er wurde noch stiller als üblich und leerte in einer halben Stunde drei Spritzer.
Die Wissenschaft ist voll von solchen Typen; ein Refugium für gescheiterte Existenzen, die ihren Wert durch die Bücher, die sie in sich hineinsaugen, aufstocken. Ich hatte den Verdacht, dass Kilian wissenschaftliches Arbeiten eigentlich relativ lustlos, na ja, hinnahm. Dass es eine pragmatische Überlebensstrategie für ihn war, die einzige Tätigkeit, in der er eine Chance hatte. Für Informatik war er nicht schlau genug, obwohl er sehr gut in die Computer-nerd-Community gepasst hätte. Deshalb hatte er eben Jus studiert. Pommer kriegte immer ganz glänzende Augen, wenn sie mit ihm redete, sie hielt sein pflichtbewusstes Vor-sich-Hinarbeiten für Begabung. Ihn hatte sie noch nie mit morgendlichen E-Mails gepiesackt – womöglich auch, weil Kilian immer schon um halb acht im Büro war. Kunststück, sein Sozialleben beschränkte sich auf die After-Work-Happy-Hour mit Institutskollegen.