1. KAPITEL
[227 v. Chr.] Als der Bote kam und sagte, Autolykos habe Schwierigkeiten mit den Leichen und den edlen Grundherren, war Bomilkar zunächst froh, die stickige Stadt vorübergehend verlassen zu können. Sommer, Hitze, seit Tagen Windstille, eine klebrige Schicht aus Staub und Schweiß und Gerüchen – jeder Anlaß oder Vorwand war willkommen, in die Hügel der Megara nördlich der Stadt zu gehen. Immerhin konnte man hoffen, dort dem Hauch einer Meeresbrise zu begegnen oder im Schatten der Bäume und Hecken ein wenig Frische aufzustöbern.
Reine Einbildung, sagte er sich. Das Meer war eine reglose, bleigraue Masse jenseits der Küstenhügel, die Hecken schmachteten, die Bäume waren erstarrt. Die geringe Frische im Vorraum des etwas kühleren Haupthauses litt jedoch unter der Hitzigkeit der Stimmung, und die eisige Kälte, die von den edlen Frauen ausging, war keineswegs erquicklich.
»Manche Zunge schlägt tiefere Wunden als ein Schwert«, sagte Autolykos plötzlich. Er und Bomilkar hatten fast die nördliche Mauer erreicht und seit dem Aufbruch vom Landgut geschwiegen. Fern im Westen sank bereits die Sonne; vor ihnen verschwand hinter dem Tor die Sänfte der edlen Himilke. Sie waren ihr mit geziemendem Abstand gefolgt und hatten keinen Versuch gemacht, sie einzuholen.
»Es ist wahrlich erholsam, an so einem Tag neben einem alten Freund herzugehen, mit dem man nicht reden muß«, sagte Bomilkar.
»Ein Freund ist jemand, mit dem man sich wortlos mißverstehen kann. Hat, glaube ich, dieser oder jener Philosoph gesagt.« Der alte Kampanier klang müde, aber als Bomilkar ihn von der Seite ansah, grinste er. »Aber … herbe Weiber«, setzte er hinzu. »Lieber ein paar Schwerter.«
Es gab nicht viel zu ermitteln. Zwei Numider – Reiter aus der Festung – waren auf dem Weg zu den Weideplätzen auf Feldarbeiter gestoßen, Libyer, hatten bei ihnen Rast gemacht, und irgendwann führte die alte Feindschaft zwischen einem Bauern- und einem Hirtenvolk zu gegenseitigen Beleidigungen, angeblich ausgelöst dadurch, daß jemand aus der einen Gruppe die Familie eines der anderen schmähte. Die Feldarbeiter erschlugen einen der Numider, der andere erstach einen Bauern und ritt zurück zur Festung.
Da es sich bei dem Gutsbesitzer um einen der edlen und mächtigen Ratsherren handelte, hatte der Stratege Giskon die Hüter der Ordnung gebeten, sich der Sache anzunehmen. Autolykos, Stellvertreter Bomilkars, des Herrn der Wächter, war in die Megara gegangen – wo die Herrin des Landguts, edle Gattin des edlen Ratsherrn, darauf bestand, nicht mit einem »streunenden italischen Hellenen«, sondern mit einem Punier zu reden.
»Und diese Antilopenkuh«, sagte Autolykos. »Die Hüterin des Besitzes … Ich weiß, daß sie früher Kleonike hieß, aus der Sippe eines reichen Hellenen, und als sich der edle, wiewohl arme Mastanabal mit ihr vermählte, hat sie sich Amotbal genannt. Streunender italischer Hellene, fürwahr!«
»Du hast schon schlimmere Namen hören müssen.«
»Ha!« sagte Autolykos. »Capua-Ratte. Kampanischer Schleimfisch. Bah.«
»Die andere, ihre Freundin, Himilke …«
»Noch schlimmer.« Autolykos spuckte auf den Weg. »Und ich wette, die ist auch keine Punierin. Hat irgendwen geheiratet und sich dann Himilke genannt und läßt sich bei der Hitze von ein paar armen Sklavenschweinen in der Sänfte herumschleppen. Augen wie Stein, Zähne wie Stahl, eine Zunge wie Glassplitter … Und was machen wir aus der ganzen Geschichte?«
»Was wir immer daraus machen.«
»Nämlich?«
»Giskon wird aus dem Schatz der Festung Blutgeld zahlen. Ans Gut oder, falls der Tote Familie hat, an die. Und er wird den Numider entlassen. Und du wirst alles aufschreiben, mein Freund.«
»Ich? Wieso ich?«
Inzwischen waren sie in der nördlichen Vorstadt; Bomilkar versuchte, durch eine Lücke zwischen den Häusern nach der Sonne zu sehen. »Ich hätte längst beim neuen Schuppen sein sollen«, sagte er. »Mit dem Verwalter des edlen Adherbal die letzten Feinheiten besprechen; festsetzen, wann die erste Miete zu zahlen ist. Ich fürchte, er wird nicht auf mich gewartet haben.«
»Dann kannst du, da es ohnehin zu spät ist, doch auch das Schreiben erledigen. Aber – na schön, ich mach’s, Häuptling; verschwinde.«
Sie hatten einen kleinen Platz erreicht. Bomilkar klopfte Autolykos auf die Schulter und bog links ab, nach Westen; der Kampanier knurrte noch etwas Unverständliches und ging geradeaus weiter zur Wachstube am Tynes-Tor.
Da Bomilkar annahm, daß der Verwalter heimgekehrt sei, begab er sich zum Stadthaus des edlen Adherbal, einem weitläufigen Verbund mehrerer Gebäude mit Säulengängen, Gärten und einer hohen Mauer am Fuß des Byrsahangs. Ein Sklave hütete das Tor, ließ ihn aber ohne Umstände ein und sagte, Bodbal halte sich vermutlich im Haupthaus auf.
Vor dem Portal stand eine Sänfte; Bomilkar betrachtete sie mißmutig, da er sie zu erkennen glaubte; dann sagte er sich, daß es in der Stadt etliche tausend Sänften ähnlicher Art gebe. Ein weiterer Sklave – möglicherweise ein Numider – bat Bomilkar in die Halle und rief nach dem Verwalter.
Bodbal kam aus einem der Räume rechts der Halle; in der Hand hielt er eine dünne Schärpe. Aus einem Raum links der Halle klang eine herbe Stimme, die Bomilkar unangenehm bekannt war: »Was soll das Geschrei? Wer ist da?«
Gleichsam als Echo folgte der eigenen Stimme Himilke, trat in die Halle, warf einen Blick auf den herbeieilenden Bodbal und sagte: »Verhülle dich, Häßlicher.« Dann wandte sie sich Bomilkar zu. »Dein Begehr, Büttel?«
Er antwortete nicht und sah zu, wie Bodbal mit fliegenden Händen die Schärpe um seinen Hals wickelte; an der linken Seite des Nackens flammte eine Art Feuermal.
»Was willst du hier? Und wozu störst du den Frieden des Hauses?«
»Er will mit mir über den Schuppen und die Miete sprechen, Herrin.« Bodbals Stimme zitterte ein wenig.
Gleichzeitig sagte Bomilkar: »Ich wollte ein wenig Herzlichkeit ins Haus bringen, Himilke; daran scheint Mangel zu herrschen.« Dabei schaute er sie offen an, musterte die eisigen Augen, die makellose Haut, das kostbare Gewand aus Leinen und Seide mit Goldfäden und Purpursaum, und er seufzte. »Aber ich fürchte, um die Menge des Mangels zu beheben, ist mein Herz nicht groß genug.«
»Hinaus!« Sie hob den Arm und deutete zum Portal. »Werft diesen Flegel hinaus!«
Bodbal ergriff Bomilkars Arm und zog ihn mit sich. Im Hof sagte er halblaut: »Vergib, Herr der Wächter; die Herrin …«
»Ich bin ihr heute schon einmal begegnet; du brauchst nichts weiter zu sagen. Aber …« Er deutete auf Bodbals Hals. »Ist es erlaubt zu fragen, woher du das Mal hast? Und warum es sie so erregt?«
Bodbal wischte sich ein Grinsen aus dem Gesicht. »Erregt? Das ist, glaube ich, das falsche Wort. Sie mag nur schöne Dinge um sich haben; du und ich gehören nicht dazu, fürchte ich.« Er hob die Hand und zupfte am Tuch.
»Ich kenne … nein, kennen ist zuviel; ich habe einmal einen getroffen, der hatte auch so etwas. Von Geburt an, sagte er; er heißt Hasdrubal.«
Bodbal nickte. »Mein Zwillingsbruder. Steht auch im Dienst des edlen Adherbal, ist aber irgendwo im Süden, auf dem Land. Ja, wir haben es seit der Geburt. Aber du wolltest über den Schuppen sprechen.«
»Deine Herrin wird dir bestätigen, daß mich eine wichtige Angelegenheit daran gehindert hat, unsere Verabredung einzuhalten. Wollen wir uns morgen, gegen Mittag, am Schuppen treffen? Und soll ich die erste Miete mitbringen?«
Bodbal zögerte einen Moment, dann nickte er. »Wenn ich … Es kann sein, daß morgen andere Dinge zu erledigen sind; dann kommt ein anderer an meiner Stelle. Gegen Mittag? Sagen wir, zu Beginn der fünften Stunde? Gut; ich will es versuchen.«
Aspasias Wohnung, die Bomilkar teilte, lag im dritten Stock eines fünfgeschossigen Gebäudes, Teil eines Blocks, der nach Norden an die Große Straße grenzte, die vom Hafen zum Tynes-Tor führte. Um den Innenraum des Gevierts liefen hölzerne Wandelgänge, zu denen sich die Wohnungen öffneten, und an jeder der vier Seiten ging eine Treppe vom Hof bis hinauf zum Dach.
Nachts hatten sie aufs Dach steigen wollen, aber es gab kaum Platz, weil in der Hoffnung auf kühlere Luft bereits die meisten Nachbarn dort Zuflucht gesucht hatten, und da sich kein Wind regte, war es in der Wohnung nicht wesentlich stickiger. Nun, nach wenigen Stunden unruhigen Schlummers, wurden sie durch nachdrückliches Klopfen und Husten geweckt. Jemand sagte: »Bomilkar? Herr der Wächter? Du wirst gebraucht. Herr?«
»Ich komme. Gib uns ein paar Atemzüge Zeit.«
»Ja, Herr.«
Aspasia seufzte und glitt vom Lager; Bomilkar setzte sich auf und rieb sich die Augen.
»Ich glaube, ich werde alt. Zu alt für … all das.« Er musterte seine Zehen, als wären ihm diese über Nacht gewachsen; dann hob er den Kopf und betrachtete Aspasia. Sie war in ihren Leibschurz gestiegen und streifte eben den Chiton aus hellem Leinen über den Kopf. Von draußen sickerte mattes Grau durch die Spalten der Läden; ohne die Öllampe, die Aspasia angezündet hatte, hätte er weder die eigenen Zehen noch die von Aspasia sehen können.
»Was meinst du mit ›all das‹, holder Knabe?«
»Die Welt«, sagte er. »Die Stadt. Die Arbeit. Gewisse edle Frauen. Das Wetter. Die Nächte mit dir.« Er gluckste. »Na ja, mehr davon und von allem anderen höchstens die Hälfte. Dazu vielleicht ein bißchen Wind.«
»Stell dich nicht so an.« Es klang zwar streng, aber sie lächelte. »Du bist fünf Jahre jünger als ich – was soll denn ich sagen!«
»Du irrst.« Er langte nach seinem Leibschurz. »Als ich aus Iberien hergekommen bin, vor fünf Jahren, war ich sechsundzwanzig. Diese fünf Jahre waren wie zehn, mindestens, und du bist viel jünger als damals.«
»Inzwischen bin ich Großmutter geworden.« Sie deutete zur Tür. »Man wartet auf dich. Deine Rechenkünste kannst du mir später erklären.«
Der Wächter, der sie geweckt hatte, hockte auf der obersten Stufe der Treppe. Er stand auf, als Bomilkar zu ihm trat.
»Zwei tote Dirnen, Herr der Wächter«, sagte er.
»Wo und was genau?«
Während sie zum Innenhof hinabstiegen, der noch ganz im Dunkeln lag, berichtete der Büttel. Eine Dirne, auf dem Heimweg nach nächtlichen Verrichtungen, sei auf dem Platz vor dem Tempel der Tanit über etwas gestolpert, habe das Hindernis betrachtet und dann die Männer von der Wachstube an der Agora benachrichtigt.
»Es gibt doch eine Stube näher am Tempel«, sagte Bomilkar halblaut, als der Büttel endete. Sie durchquerten den Innenhof, wo unter Schichten stickiger Luft zahlreiche Schläfer lagen, und gingen durch den Torbogen zur Straße.
»Sie wohnt näher am Hafen; vielleicht kennt sie die andere Wache nicht.«
»Ist jemand bei den Toten?«
»Ja, Herr.«
»Geh voraus, und sorgt dafür, daß niemand etwas berührt oder entfernt. Ich beschaffe eine Karre.«
Der Wächter nickte und lief in schnellem Trab los. Bomilkar verließ die Straße der Stempelschneider und ging zum Karrenschuppen, der an der Gasse der Lastträger lag. Er rechnete nicht damit, dort weit vor Sonnenaufgang schon jemand anzutreffen, und war überrascht, als ihm Nymar entgegenkam. In der Hand trug er einen ungespannten Bogen, und der gefüllte Köcher hing über der linken Schulter.
»Was treibt dich so früh hierher?« Bomilkar sperrte das Tor des Karrenschuppens auf und öffnete es.
»Die scharfkantige Daimonin der Schlaflosigkeit, Herr.« Nymars Grinsen war im Zwielicht bestenfalls zu erraten.
»Hast du sie mit Pfeilen vertrieben?«
»Ich wollte im Halbdunkel üben; das schärft das Auge.« Nymar hob den Bogen. »Am Seeufer, im Schilf, aber da war alles besetzt.«
Bomilkar zog eine Handkarre zum Tor. »Was meinst du mit besetzt?«
»Vorbereitungen für das große Götterfest. Sie bereiten Rennbahnen vor, brennen Schilffelder nieder und richten Pferche ein. Da, wo ich sonst übe, haben sie in den letzten Tagen Kamele untergebracht.«
»Kamele?« Bomilkar schnalzte. »Na gut; Kamele. Komm, hilf mir. Wir müssen zwei Leichen zur Mauer bringen. Vielleicht können wir danach da ein wenig üben.«
»Deine Messer?« Nymar legte Bogen und Köcher auf die Karre und schob sie auf die Gasse; Bomilkar schloß das Schuppentor wieder ab.
»Ich habe sie zu lange vernachlässigt.«
Das Morgengrau wurde heller; auf dem Platz vor dem Tanit-Tempel hatte sich eine kleine Menschenmenge gesammelt. Die beiden Wächter standen neben etwas, das wie weggeworfene Kleiderbündel aussah; neben ihnen unterhielt sich eine Dirne mit einer älteren Frau, und vielleicht zwei Dutzend andere – Männer und Frauen – bildeten einen lockeren Kreis um sie.
Bomilkar klatschte in die Hände. »Hat jemand etwas gesehen?«
Die junge Dirne schaute ihn an. »Herr der Wächter?« sagte sie. »Ich habe sie gefunden, aber sonst nichts gesehen. Außer ihnen« – sie blickte auf die Toten hinunter und hob den Kopf wieder – »war niemand auf dem Platz.«
»Hast du sie berührt?«
»Ich bin im Dunkeln über sie gestolpert. Aber ich habe nichts angefaßt. Es war auch nicht nötig, um …« Sie verstummte.
Bomilkar kniete neben den Leichen nieder. Das matte Frühlicht genügte für eine flüchtige Untersuchung. Man hatte beiden Frauen Kehle, Chiton und Brüste zerschlitzt; um sie herum gab es jedoch kaum Blut. Die Wangenmuskeln waren noch nicht völlig erstarrt. Bomilkar verzichtete auf den Versuch, die Lider der Toten zu schließen. Er sagte sich, daß der Arzt so vielleicht mehr würde feststellen können.
»Weißt du etwas über sie?«
Die junge Frau wandte sich an die ältere. »Tamenzut?«
Bomilkar stand auf. Nun, da es schnell heller wurde, erkannte er die Sprecherin der Dirnenzunft, eine Numiderin, von der jüngeren Frau mit dem Ehrentitel Älteste oder Erste angeredet.
»Schwester«, sagte er. »So früh schon?«
Sie lächelte, aber es war ein müdes, trauriges Lächeln. »So spät noch, Bruder. Willst du ihre Namen?«
»Und alles, was du über sie weißt.«
»Nicht viel.« Sie nannte ihm zwei Namen und setzte hinzu: »Ich kenne sie nur flüchtig. Ich will mich aber gern für dich umhören. Und … ich danke dir für schnelles Kommen.« Dabei wandte sie sich halb um und streifte das Portal des Tanit-Tempels mit einem Blick.
Bomilkar wußte, was sie meinte. Wenn sich niemand um die Toten gekümmert hätte, wären die Leichen wahrscheinlich von den Priestern beziehungsweise den Tempelsklaven auf einen Abfallkarren geworfen, aus der Stadt gebracht und irgendwo verscharrt worden.
»Ich will sehen, was ich tun kann«, sagte er. »Und wenn du etwas herausfindest, was helfen könnte …« Er ließ den Satz unvollendet.
Die beiden Wächter und Nymar hoben die Leichen auf die Karre. Bomilkar entließ die Büttel und machte sich mit Nymar auf den langen Weg zur Mauer.
»Wäre es nicht doch besser, mit der Hauptwache mitten in der Stadt zu sein?« sagte Nymar, als sie ein paar Schritte gegangen waren.
»Vielleicht.« Bomilkar hob die Schultern. »Aber die Stadt endet ja nicht an der Mauer, und wir sind auch für das zuständig, was weiter draußen geschieht. Außerdem ist es nützlich, notfalls auf alles zugreifen zu können, was die Festung bietet. Komm, laß uns schneller gehen.«