DAS BUCH

Der Erste Punische Krieg liegt ein paar Jahre zurück, aber der Frieden in Karthago ist trügerisch. Nach einer Reihe von Morden an Dirnen brodelt es in der Großstadt gewaltig. Und dann verschwindet dort auch noch ein römischer Senator. Bomilkar, der »Herr der Wächter«, muss in drei miteinander verstrickten Labyrinthen ermitteln: Unterwelt, Handel und Politik.

Bomilkar, »Herr der Wächter« von Karthago, soll die Ordnung der Riesenstadt hüten, wird aber gründlich daran gehindert. Einige Ratsherren finden, statt bezahlter Wächter könnten billige Sklaven diese Arbeit erledigen. Unruhen im Hinterland (ein drohender Aufstand gegen Grundherren) scheinen auf die Stadt überzugreifen – oder gibt es andere Erklärungen für eine Reihe von Vorgängen? In der Vorstadt wird ein Warenlager geplündert, im Hafen ein Frachtschiff in Brand gesteckt, der Schreiber des Reeders liegt morgens tot vor dem Ratsgebäude. Im Tempel der Tanit werden zwei Dirnen erstochen aufgefunden; jemand behauptet, in der Unterwelt der Stadt werde ein Machtkampf ausgetragen. Als abermals zwei Mädchen erstochen im Tempel liegen, erwägt die Zunft der Dirnen einen Streik, der die Geschäfte der Handelsherren empfindlich stören würde. Bomilkar schickt einen seiner besten Männer los, der in der Unterwelt ermitteln soll. Am nächsten Morgen liegt dieser erwürgt und übel zugerichtet an einer Straßenecke. Ein Ratsherr verlangt, Bomilkar wegen Versagens zu kreuzigen, wenn er nicht binnen fünf Tagen alles klärt.

»Haefs ist ein Meister des intelligenten Unterhaltungsromans.«   Welt am Sonntag

DER AUTOR

Gisbert Haefs, 1950 in Wachtendonk am Niederrhein geboren, lebt und schreibt in Bonn. Als Übersetzer und Herausgeber ist er unter anderem für die neuen Werkausgaben von Ambrose Bierce, Rudyard Kipling, Jorge Luis Borges und zuletzt Bob Dylan zuständig. Zu schriftstellerischem Ruhm gelangte er nicht nur durch seine Kriminalromane, sondern auch durch seine farbenprächtigen historischen Werke Hannibal, Alexander und Troja. Im Heyne Verlag erschienen zuletzt Caesar und Die Mörder von Karthago.

GISBERT HAEFS

Die Dirnen von Karthago

Roman

© 2014 by Gisbert Haefs

© 2014 für diese Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Herstellung: Helga Schörnig

Karte 1 und Karte 2: © das byro, Henning Marchfeld

Satz: Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN 978-3-641-10618-8

www.heyne.de

Als er das erste Mal erwachte, fühlte sich sein Kopf an wie eine Qualle, innen und außen von einer anderen Qualle mit Feuerfäden gestreift. Solche Gedanken konnte er aber erst denken, als er zum zweiten Mal erwachte und sich erinnerte. Beim ersten Mal kroch er nur zum Bottich, erleichterte sich und schlief wieder ein.

Beim zweiten Erwachen nahmen Dinge Gestalt an, die er zuvor nur undeutlich bemerkt hatte. Der Kopf schmerzte immer noch, war aber nichts als ein wunder Kopf. Er erinnerte sich an die Qualle. Und daran, daß er zwischen Felsen niedergeschlagen worden war.

Er befand sich in einem dunklen Raum. Abgesehen davon, daß der Boden aus gestampftem Lehm bestand, hätte es auch eine Höhle sein können. Durch Ritzen, die zu einer Tür gehören mochten, sickerte karges Licht; es reichte nicht aus, um die Beschaffenheit des Raums zu erfassen. Er konnte rund oder eckig sein, kahl oder mit nützlichen Dingen versehen; alles, was er feststellen konnte, war, daß der Bottich  der Umriß eines Bottichs  nicht weit von ihm stand und daß man ihn auf eine ebenso sichere wie seltsame Art gefesselt hatte.

Er war nackt bis auf den Leibschurz. Um seinen Bauch hatte man eine Kette geschlungen, die an einer zweiten Kette hing. Diese war an einer Art Säule befestigt. Als der Kopfschmerz ein wenig nachließ, stellte Bomilkar durch Tasten fest, daß die Kette um seinen Bauch zu eng war, als daß er sie über die Beckenknochen hätte nach unten abstreifen können; auch aufwärts war derlei nicht möglich, sein Brustkorb war zu breit. Er konnte Arme und Beine bewegen, zum Bottich gehen oder kriechen, aber er konnte sich nicht befreien.

Ohne Licht ließ sich nicht sagen, woraus die Ketten bestanden; Metall, vielleicht Bronze, aber wahrscheinlich Eisen. Er konnte auch nicht sehen, ob sich außer ihm jemand in dem Raum befand. Er lauschte auf Atemzüge oder Bewegungen, aber alles war still. Wie bei allen erfundenen Göttern war er in diese Lage geraten?

Bomilkar schloß die Augen und versuchte, sich zu erinnern.

1. KAPITEL

[227 v. Chr.] Als der Bote kam und sagte, Autolykos habe Schwierigkeiten mit den Leichen und den edlen Grundherren, war Bomilkar zunächst froh, die stickige Stadt vorübergehend verlassen zu können. Sommer, Hitze, seit Tagen Windstille, eine klebrige Schicht aus Staub und Schweiß und Gerüchen – jeder Anlaß oder Vorwand war willkommen, in die Hügel der Megara nördlich der Stadt zu gehen. Immerhin konnte man hoffen, dort dem Hauch einer Meeresbrise zu begegnen oder im Schatten der Bäume und Hecken ein wenig Frische aufzustöbern.

Reine Einbildung, sagte er sich. Das Meer war eine reglose, bleigraue Masse jenseits der Küstenhügel, die Hecken schmachteten, die Bäume waren erstarrt. Die geringe Frische im Vorraum des etwas kühleren Haupthauses litt jedoch unter der Hitzigkeit der Stimmung, und die eisige Kälte, die von den edlen Frauen ausging, war keineswegs erquicklich.

»Manche Zunge schlägt tiefere Wunden als ein Schwert«, sagte Autolykos plötzlich. Er und Bomilkar hatten fast die nördliche Mauer erreicht und seit dem Aufbruch vom Landgut geschwiegen. Fern im Westen sank bereits die Sonne; vor ihnen verschwand hinter dem Tor die Sänfte der edlen Himilke. Sie waren ihr mit geziemendem Abstand gefolgt und hatten keinen Versuch gemacht, sie einzuholen.

»Es ist wahrlich erholsam, an so einem Tag neben einem alten Freund herzugehen, mit dem man nicht reden muß«, sagte Bomilkar.

»Ein Freund ist jemand, mit dem man sich wortlos mißverstehen kann. Hat, glaube ich, dieser oder jener Philosoph gesagt.« Der alte Kampanier klang müde, aber als Bomilkar ihn von der Seite ansah, grinste er. »Aber … herbe Weiber«, setzte er hinzu. »Lieber ein paar Schwerter.«

Es gab nicht viel zu ermitteln. Zwei Numider – Reiter aus der Festung – waren auf dem Weg zu den Weideplätzen auf Feldarbeiter gestoßen, Libyer, hatten bei ihnen Rast gemacht, und irgendwann führte die alte Feindschaft zwischen einem Bauern- und einem Hirtenvolk zu gegenseitigen Beleidigungen, angeblich ausgelöst dadurch, daß jemand aus der einen Gruppe die Familie eines der anderen schmähte. Die Feldarbeiter erschlugen einen der Numider, der andere erstach einen Bauern und ritt zurück zur Festung.

Da es sich bei dem Gutsbesitzer um einen der edlen und mächtigen Ratsherren handelte, hatte der Stratege Giskon die Hüter der Ordnung gebeten, sich der Sache anzunehmen. Autolykos, Stellvertreter Bomilkars, des Herrn der Wächter, war in die Megara gegangen – wo die Herrin des Landguts, edle Gattin des edlen Ratsherrn, darauf bestand, nicht mit einem »streunenden italischen Hellenen«, sondern mit einem Punier zu reden.

»Und diese Antilopenkuh«, sagte Autolykos. »Die Hüterin des Besitzes … Ich weiß, daß sie früher Kleonike hieß, aus der Sippe eines reichen Hellenen, und als sich der edle, wiewohl arme Mastanabal mit ihr vermählte, hat sie sich Amotbal genannt. Streunender italischer Hellene, fürwahr!«

»Du hast schon schlimmere Namen hören müssen.«

»Ha!« sagte Autolykos. »Capua-Ratte. Kampanischer Schleimfisch. Bah.«

»Die andere, ihre Freundin, Himilke …«

»Noch schlimmer.« Autolykos spuckte auf den Weg. »Und ich wette, die ist auch keine Punierin. Hat irgendwen geheiratet und sich dann Himilke genannt und läßt sich bei der Hitze von ein paar armen Sklavenschweinen in der Sänfte herumschleppen. Augen wie Stein, Zähne wie Stahl, eine Zunge wie Glassplitter … Und was machen wir aus der ganzen Geschichte?«

»Was wir immer daraus machen.«

»Nämlich?«

»Giskon wird aus dem Schatz der Festung Blutgeld zahlen. Ans Gut oder, falls der Tote Familie hat, an die. Und er wird den Numider entlassen. Und du wirst alles aufschreiben, mein Freund.«

»Ich? Wieso ich?«

Inzwischen waren sie in der nördlichen Vorstadt; Bomilkar versuchte, durch eine Lücke zwischen den Häusern nach der Sonne zu sehen. »Ich hätte längst beim neuen Schuppen sein sollen«, sagte er. »Mit dem Verwalter des edlen Adherbal die letzten Feinheiten besprechen; festsetzen, wann die erste Miete zu zahlen ist. Ich fürchte, er wird nicht auf mich gewartet haben.«

»Dann kannst du, da es ohnehin zu spät ist, doch auch das Schreiben erledigen. Aber – na schön, ich machs, Häuptling; verschwinde.«

Sie hatten einen kleinen Platz erreicht. Bomilkar klopfte Autolykos auf die Schulter und bog links ab, nach Westen; der Kampanier knurrte noch etwas Unverständliches und ging geradeaus weiter zur Wachstube am Tynes-Tor.

Da Bomilkar annahm, daß der Verwalter heimgekehrt sei, begab er sich zum Stadthaus des edlen Adherbal, einem weitläufigen Verbund mehrerer Gebäude mit Säulengängen, Gärten und einer hohen Mauer am Fuß des Byrsahangs. Ein Sklave hütete das Tor, ließ ihn aber ohne Umstände ein und sagte, Bodbal halte sich vermutlich im Haupthaus auf.

Vor dem Portal stand eine Sänfte; Bomilkar betrachtete sie mißmutig, da er sie zu erkennen glaubte; dann sagte er sich, daß es in der Stadt etliche tausend Sänften ähnlicher Art gebe. Ein weiterer Sklave – möglicherweise ein Numider – bat Bomilkar in die Halle und rief nach dem Verwalter.

Bodbal kam aus einem der Räume rechts der Halle; in der Hand hielt er eine dünne Schärpe. Aus einem Raum links der Halle klang eine herbe Stimme, die Bomilkar unangenehm bekannt war: »Was soll das Geschrei? Wer ist da?«

Gleichsam als Echo folgte der eigenen Stimme Himilke, trat in die Halle, warf einen Blick auf den herbeieilenden Bodbal und sagte: »Verhülle dich, Häßlicher.« Dann wandte sie sich Bomilkar zu. »Dein Begehr, Büttel?«

Er antwortete nicht und sah zu, wie Bodbal mit fliegenden Händen die Schärpe um seinen Hals wickelte; an der linken Seite des Nackens flammte eine Art Feuermal.

»Was willst du hier? Und wozu störst du den Frieden des Hauses?«

»Er will mit mir über den Schuppen und die Miete sprechen, Herrin.« Bodbals Stimme zitterte ein wenig.

Gleichzeitig sagte Bomilkar: »Ich wollte ein wenig Herzlichkeit ins Haus bringen, Himilke; daran scheint Mangel zu herrschen.« Dabei schaute er sie offen an, musterte die eisigen Augen, die makellose Haut, das kostbare Gewand aus Leinen und Seide mit Goldfäden und Purpursaum, und er seufzte. »Aber ich fürchte, um die Menge des Mangels zu beheben, ist mein Herz nicht groß genug.«

»Hinaus!« Sie hob den Arm und deutete zum Portal. »Werft diesen Flegel hinaus!«

Bodbal ergriff Bomilkars Arm und zog ihn mit sich. Im Hof sagte er halblaut: »Vergib, Herr der Wächter; die Herrin …«

»Ich bin ihr heute schon einmal begegnet; du brauchst nichts weiter zu sagen. Aber …« Er deutete auf Bodbals Hals. »Ist es erlaubt zu fragen, woher du das Mal hast? Und warum es sie so erregt?«

Bodbal wischte sich ein Grinsen aus dem Gesicht. »Erregt? Das ist, glaube ich, das falsche Wort. Sie mag nur schöne Dinge um sich haben; du und ich gehören nicht dazu, fürchte ich.« Er hob die Hand und zupfte am Tuch.

»Ich kenne … nein, kennen ist zuviel; ich habe einmal einen getroffen, der hatte auch so etwas. Von Geburt an, sagte er; er heißt Hasdrubal.«

Bodbal nickte. »Mein Zwillingsbruder. Steht auch im Dienst des edlen Adherbal, ist aber irgendwo im Süden, auf dem Land. Ja, wir haben es seit der Geburt. Aber du wolltest über den Schuppen sprechen.«

»Deine Herrin wird dir bestätigen, daß mich eine wichtige Angelegenheit daran gehindert hat, unsere Verabredung einzuhalten. Wollen wir uns morgen, gegen Mittag, am Schuppen treffen? Und soll ich die erste Miete mitbringen?«

Bodbal zögerte einen Moment, dann nickte er. »Wenn ich … Es kann sein, daß morgen andere Dinge zu erledigen sind; dann kommt ein anderer an meiner Stelle. Gegen Mittag? Sagen wir, zu Beginn der fünften Stunde? Gut; ich will es versuchen.«

Aspasias Wohnung, die Bomilkar teilte, lag im dritten Stock eines fünfgeschossigen Gebäudes, Teil eines Blocks, der nach Norden an die Große Straße grenzte, die vom Hafen zum Tynes-Tor führte. Um den Innenraum des Gevierts liefen hölzerne Wandelgänge, zu denen sich die Wohnungen öffneten, und an jeder der vier Seiten ging eine Treppe vom Hof bis hinauf zum Dach.

Nachts hatten sie aufs Dach steigen wollen, aber es gab kaum Platz, weil in der Hoffnung auf kühlere Luft bereits die meisten Nachbarn dort Zuflucht gesucht hatten, und da sich kein Wind regte, war es in der Wohnung nicht wesentlich stickiger. Nun, nach wenigen Stunden unruhigen Schlummers, wurden sie durch nachdrückliches Klopfen und Husten geweckt. Jemand sagte: »Bomilkar? Herr der Wächter? Du wirst gebraucht. Herr?«

»Ich komme. Gib uns ein paar Atemzüge Zeit.«

»Ja, Herr.«

Aspasia seufzte und glitt vom Lager; Bomilkar setzte sich auf und rieb sich die Augen.

»Ich glaube, ich werde alt. Zu alt für … all das.« Er musterte seine Zehen, als wären ihm diese über Nacht gewachsen; dann hob er den Kopf und betrachtete Aspasia. Sie war in ihren Leibschurz gestiegen und streifte eben den Chiton aus hellem Leinen über den Kopf. Von draußen sickerte mattes Grau durch die Spalten der Läden; ohne die Öllampe, die Aspasia angezündet hatte, hätte er weder die eigenen Zehen noch die von Aspasia sehen können.

»Was meinst du mit ›all das‹, holder Knabe?«

»Die Welt«, sagte er. »Die Stadt. Die Arbeit. Gewisse edle Frauen. Das Wetter. Die Nächte mit dir.« Er gluckste. »Na ja, mehr davon und von allem anderen höchstens die Hälfte. Dazu vielleicht ein bißchen Wind.«

»Stell dich nicht so an.« Es klang zwar streng, aber sie lächelte. »Du bist fünf Jahre jünger als ich – was soll denn ich sagen!«

»Du irrst.« Er langte nach seinem Leibschurz. »Als ich aus Iberien hergekommen bin, vor fünf Jahren, war ich sechsundzwanzig. Diese fünf Jahre waren wie zehn, mindestens, und du bist viel jünger als damals.«

»Inzwischen bin ich Großmutter geworden.« Sie deutete zur Tür. »Man wartet auf dich. Deine Rechenkünste kannst du mir später erklären.«

Der Wächter, der sie geweckt hatte, hockte auf der obersten Stufe der Treppe. Er stand auf, als Bomilkar zu ihm trat.

»Zwei tote Dirnen, Herr der Wächter«, sagte er.

»Wo und was genau?«

Während sie zum Innenhof hinabstiegen, der noch ganz im Dunkeln lag, berichtete der Büttel. Eine Dirne, auf dem Heimweg nach nächtlichen Verrichtungen, sei auf dem Platz vor dem Tempel der Tanit über etwas gestolpert, habe das Hindernis betrachtet und dann die Männer von der Wachstube an der Agora benachrichtigt.

»Es gibt doch eine Stube näher am Tempel«, sagte Bomilkar halblaut, als der Büttel endete. Sie durchquerten den Innenhof, wo unter Schichten stickiger Luft zahlreiche Schläfer lagen, und gingen durch den Torbogen zur Straße.

»Sie wohnt näher am Hafen; vielleicht kennt sie die andere Wache nicht.«

»Ist jemand bei den Toten?«

»Ja, Herr.«

»Geh voraus, und sorgt dafür, daß niemand etwas berührt oder entfernt. Ich beschaffe eine Karre.«

Der Wächter nickte und lief in schnellem Trab los. Bomilkar verließ die Straße der Stempelschneider und ging zum Karrenschuppen, der an der Gasse der Lastträger lag. Er rechnete nicht damit, dort weit vor Sonnenaufgang schon jemand anzutreffen, und war überrascht, als ihm Nymar entgegenkam. In der Hand trug er einen ungespannten Bogen, und der gefüllte Köcher hing über der linken Schulter.

»Was treibt dich so früh hierher?« Bomilkar sperrte das Tor des Karrenschuppens auf und öffnete es.

»Die scharfkantige Daimonin der Schlaflosigkeit, Herr.« Nymars Grinsen war im Zwielicht bestenfalls zu erraten.

»Hast du sie mit Pfeilen vertrieben?«

»Ich wollte im Halbdunkel üben; das schärft das Auge.« Nymar hob den Bogen. »Am Seeufer, im Schilf, aber da war alles besetzt.«

Bomilkar zog eine Handkarre zum Tor. »Was meinst du mit besetzt?«

»Vorbereitungen für das große Götterfest. Sie bereiten Rennbahnen vor, brennen Schilffelder nieder und richten Pferche ein. Da, wo ich sonst übe, haben sie in den letzten Tagen Kamele untergebracht.«

»Kamele?« Bomilkar schnalzte. »Na gut; Kamele. Komm, hilf mir. Wir müssen zwei Leichen zur Mauer bringen. Vielleicht können wir danach da ein wenig üben.«

»Deine Messer?« Nymar legte Bogen und Köcher auf die Karre und schob sie auf die Gasse; Bomilkar schloß das Schuppentor wieder ab.

»Ich habe sie zu lange vernachlässigt.«

Das Morgengrau wurde heller; auf dem Platz vor dem Tanit-Tempel hatte sich eine kleine Menschenmenge gesammelt. Die beiden Wächter standen neben etwas, das wie weggeworfene Kleiderbündel aussah; neben ihnen unterhielt sich eine Dirne mit einer älteren Frau, und vielleicht zwei Dutzend andere – Männer und Frauen – bildeten einen lockeren Kreis um sie.

Bomilkar klatschte in die Hände. »Hat jemand etwas gesehen?«

Die junge Dirne schaute ihn an. »Herr der Wächter?« sagte sie. »Ich habe sie gefunden, aber sonst nichts gesehen. Außer ihnen« – sie blickte auf die Toten hinunter und hob den Kopf wieder – »war niemand auf dem Platz.«

»Hast du sie berührt?«

»Ich bin im Dunkeln über sie gestolpert. Aber ich habe nichts angefaßt. Es war auch nicht nötig, um …« Sie verstummte.

Bomilkar kniete neben den Leichen nieder. Das matte Frühlicht genügte für eine flüchtige Untersuchung. Man hatte beiden Frauen Kehle, Chiton und Brüste zerschlitzt; um sie herum gab es jedoch kaum Blut. Die Wangenmuskeln waren noch nicht völlig erstarrt. Bomilkar verzichtete auf den Versuch, die Lider der Toten zu schließen. Er sagte sich, daß der Arzt so vielleicht mehr würde feststellen können.

»Weißt du etwas über sie?«

Die junge Frau wandte sich an die ältere. »Tamenzut?«

Bomilkar stand auf. Nun, da es schnell heller wurde, erkannte er die Sprecherin der Dirnenzunft, eine Numiderin, von der jüngeren Frau mit dem Ehrentitel Älteste oder Erste angeredet.

»Schwester«, sagte er. »So früh schon?«

Sie lächelte, aber es war ein müdes, trauriges Lächeln. »So spät noch, Bruder. Willst du ihre Namen?«

»Und alles, was du über sie weißt.«

»Nicht viel.« Sie nannte ihm zwei Namen und setzte hinzu: »Ich kenne sie nur flüchtig. Ich will mich aber gern für dich umhören. Und … ich danke dir für schnelles Kommen.« Dabei wandte sie sich halb um und streifte das Portal des Tanit-Tempels mit einem Blick.

Bomilkar wußte, was sie meinte. Wenn sich niemand um die Toten gekümmert hätte, wären die Leichen wahrscheinlich von den Priestern beziehungsweise den Tempelsklaven auf einen Abfallkarren geworfen, aus der Stadt gebracht und irgendwo verscharrt worden.

»Ich will sehen, was ich tun kann«, sagte er. »Und wenn du etwas herausfindest, was helfen könnte …« Er ließ den Satz unvollendet.

Die beiden Wächter und Nymar hoben die Leichen auf die Karre. Bomilkar entließ die Büttel und machte sich mit Nymar auf den langen Weg zur Mauer.

»Wäre es nicht doch besser, mit der Hauptwache mitten in der Stadt zu sein?« sagte Nymar, als sie ein paar Schritte gegangen waren.

»Vielleicht.« Bomilkar hob die Schultern. »Aber die Stadt endet ja nicht an der Mauer, und wir sind auch für das zuständig, was weiter draußen geschieht. Außerdem ist es nützlich, notfalls auf alles zugreifen zu können, was die Festung bietet. Komm, laß uns schneller gehen.«

2. KAPITEL

Nymar gehörte nicht zu den Hütern der Ordnung, die Bomilkar leitete, sondern zu den Männern, die im Karrenschuppen Fahrzeuge ausbesserten oder fertigten und sichtbar mit den Ordnern und der Festung zusammenarbeiteten. Unsichtbar – wie Bomilkar jedenfalls hoffte – sammelten sie geheime Nachrichten. Gerüchte, Getuschel, Bemerkungen, die nicht die Stadt als solche betrafen, sondern den gesamten punischen Einflußbereich, von der ägyptischen Grenze bis nach Iberien, von den Steppen und Wüsten im Süden bis zu den Inseln vor Iberien und jenseits der Säulen des Melqart. Die Büttel, die Bomilkar als dem Herrn der Wächter unterstanden, sollten Verbrechen verhindern und Brände löschen; dafür wurden sie von der Stadt bezahlt. Die Männer vom Karrenschuppen gehörten irgendwie zur Festung; ihr Lohn kam aus dem Haushalt des Strategen von Libyen und Iberien. Aber es war ganz natürlich, daß sie mit den Wächtern zusammenarbeiteten – ganz natürlich für alle Betrachter, hoffte Bomilkar.

Auf dem Weg zur Festung in der gewaltigen Mauer, die die Stadt gen Westen sicherte, kauften sie Brot und Früchte, die sie im Gehen aßen. Nymar sagte nichts, aber Bomilkar nahm an, daß auch er ein seßhaftes Frühstück vorgezogen hätte.

Die Große Straße, die über mehr als fünftausend Schritte – fast drei Meilen – vom Hafen zur Mauer führte, belebte sich zusehends; es war jedoch, als ob sich alles langsamer als sonst bewegte. Immer noch kein Windhauch, außer vielleicht auf der Seemauer, seit Monden kein Regen; Staub und Dreck, Abfälle und Kot, die Ausdünstungen von mehr als sechshunderttausend Menschen und zahllosen Tieren, von Feuerstellen, Gerbern und anderen Betrieben, all das erschien wie geschichtet oder gestapelt, nicht zu sehen, aber zu greifen und mühsam zu atmen. Ein Ochse, der einen mit Getreide beladenen Wagen zu einem der vielen Stadtteilmärkte zog, starrte Bomilkar aus beinahe blutunterlaufenen Augen an, als ob er sagen wollte: »Ich muß immer ziehen, ihr müßt einmal schieben; erwartet nicht, daß ich euch bedaure.« Unwillkürlich nickte Bomilkar ihm zu.

Südlich der Großen Straße, die durch das Tynes-Tor zum westlichen Markt und weiter nach Tynes führte, gab es an der Innenseite der dreifachen Mauer einen kleinen Platz, an dem die Hauptwache der Ordner mit Schreibstuben und Aufenthaltsräumen lag. Vor der Tür stand Autolykos; er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und wippte von den Zehen auf die Fersen und zurück – ›heftige Bewegung bei dem Wetter‹, sagte sich Bomilkar. Er winkte dem Kampanier und deutete nach rechts, dann nach links. Autolykos nickte matt; der Strohhalm, auf dem er kaute, bewegte sich dabei kaum.

Rechts vom Tor trennte eine schmale Straße die innere Festungsmauer von Wohn- und Lagerräumen, die ebenfalls zur Festung gehörten. Eine der ersten Türen in der Mauer führte zu den Arbeitsräumen des Arztes und zu einer Treppe, über die man nach oben in seine Wohnung und nach unten in die Gewölbekammern steigen konnte, in denen Artemidoros manchmal, wenn es nötig war, Leichen länger und kühler aufbewahrte.

Bomilkar rief nach dem Arzt, der mit zwei Sklaven zum Tor kam. Er wedelte die Fliegen weg, die sich inzwischen auf den Toten tummelten, und deutete stumm mit dem Hinterkopf ins Innere des Gebäudes. Die Sklaven, Nymar und Bomilkar trugen die Leichen in den zweiten Raum am Gang.

»Zu früh zum Reden?« sagte Bomilkar.

»Ein Jammer«, sagte der Arzt. Er betrachtete die Leichen, die nun auf dem Tisch seines Untersuchungsraums lagen.

»Wie meinst du das?«

Artemidoros legte den Kopf in den Nacken; der Blick, der Bomilkar galt, mußte gewissermaßen an der Nase des Alexandriers entlangschleichen. »Es gibt so viele häßliche Männer in dieser Stadt. Warum bringt man da hübsche Frauen um?«

»Vielleicht findest du an ihnen etwas, das uns auf eine Spur bringen kann.«

Artemidoros hob die Brauen. »Willst du eine ernsthafte Untersuchung anstellen?«

»Die Sprecherin der Zunft der Dirnen hat mich darum gebeten.«

»Ah, das ist natürlich ein Grund. Wo und wann hat man die Leichen gefunden?«

»Lange vor Sonnenaufgang, auf dem Platz vor dem Tempel der Tanit. Eine andere Dirne, auf dem Heimweg, hat sie gefunden und uns gerufen.«

»Und du hast beschlossen, sie zu mir zu bringen, ehe die Priester des Tempels sie zum Abfall werfen, oder?«

Bomilkar setzte ein müdes Lächeln auf. »Du sollst dich nicht langweilen, mein Freund. Die paar blöden Unfälle in der Festung reichen doch nicht aus, deinen mächtigen Geist zu beschäftigen.«

»Na gut.« Artemidoros nickte einmal. »Also, Tod vor Sonnenaufgang? Mal sehen, ob ich was finden kann. Ich gebe dir Bescheid.«

»Falls ich nicht drüben bin, kannst du eine Botschaft hinterlassen.«

Der Arzt nickte und winkte mit beiden Händen, als ob er Bomilkar und die anderen aus seinen Räumlichkeiten scheuchen wollte.

»Die Karre lassen wir bei der Wache«, sagte Bomilkar, als sie wieder auf der Straße standen.

»Und dann, Herr?« sagte Nymar.

»Du und ich, wir werden ein wenig üben – dazu hast du doch Bogen und Köcher mitgebracht.«

»Sonst nichts zu tun, Häuptling?« Nymar entblößte in einem kurzen Lächeln makellos weiße Zähne.

Bomilkar schnipste mit den Fingern. »Was ich dich immer schon fragen wollte – wie kommst du als Make an den Bogen? Und die Fertigkeit? Dein Volk benutzt doch sonst Speere und Schlingen.«

Sie mußten eine Reihe hintereinandergebundene Esel mit Packen vorbeilassen, die eben durchs Tynes-Tor stadteinwärts kam.

»Das stimmt, Herr«, sagte Nymar. »Aber wie die Esel tragen nicht alle immer dasselbe. Bei uns gab es einen alten Kappadokier – ich glaube, er hat im Heer von Ptolemaios dem vorigen, welcher es auch immer war, als Söldner gekämpft und ist irgendwann vom Nil immer weiter nach Westen gewandert, in die Wüste. Wahrscheinlich wollte er sich verlieren oder den Makedonen in Ägypten verlorengehen; jedenfalls haben meine Leute ihn vorm Verdursten gerettet. Er ist bei uns geblieben und hat einigen von uns Jungen den Umgang mit Pfeil und Bogen beigebracht.«

In der Wachstube hielten sich nur zwei Büttel auf. Als Bomilkar nach Autolykos fragte, sagte einer der Männer: »Er ist mit einem der Rennaufseher weggegangen; irgendwas mit Kamelen. Er wird aber bald zurückkommen – hat er gesagt.«

»Kamele?« Bomilkar schüttelte den Kopf. »Na gut; Kamele. Ich werde ein paar Messer werfen; nicht auf Kamele. Danach komme ich wieder her. Falls vorher etwas zu erörtern ist, soll Autolykos mich auf dem Übungsplatz der Festung suchen.«

Solange die Flotten der Stadt das Meer beherrschten, war die Seemauer nicht angreifbar; sie zog sich von Kap Kamart im Nordwesten über Kap Qart Hadasht im Nordosten bis hinab zum Hafen. Die von Werkstätten, Werften, Schuppen und Marktgärten eingenommene Landzunge zwischen dem Meer und dem See von Tynes im Süden war zu schmal für Belagerungsheere; man hatte Qart Hadasht mit einem an der Küste verankerten Schiff verglichen, das nur vom Land her bedroht werden konnte. Diese Landstelle war der Isthmos, die Enge zwischen dem See von Tynes und der seichten Bucht westlich von Kap Kamart, kaum breiter als fünftausend Schritte. Nördlich der Stadt und des Tors, durch das die Straße nach Ityke führte, gab es eine kleinere Mauer mit Durchgängen zur Hügellandschaft der Megara mit ihren Feldern, Hainen und den Landhäusern der Reichen; wo die Südmauer am Tynes-See durch ein System von Türmen, Vorsprüngen und Winkeln mit der Isthmosmauer verbunden war, lag das Tynes-Tor. Die Große Straße verlief hier durch die Befestigungen, über die Brücken und Gräben, zum Marktgelände und den Vororten und dann weiter ins punische Hinterland.

Der ganze Rest des Isthmos war von der gewaltigsten Mauer der bekannten Welt gesichert. Agathokles war daran vor achtzig Jahren gescheitert, die Römer unter Regulus hatten einen Angriff nicht einmal versucht, und man sagte, auch Alexanders Heere wären dort verblutet, aber zu ihrem Glück sei der große Makedone ja in Babylon gestorben, ehe er den Westfeldzug beginnen konnte. Der zweiundzwanzig Schritte breite, in der Mitte fünf Männer tiefe äußere Graben konnte notfalls schnell geflutet werden, indem man die dünnen Dämme an der nördlichen Bucht und am Tynes-See zerstörte. In den Graben waren zudem Sicheln, Speere, Haken und Dornen eingelassen. Es folgten eine glatte Schräge, bewehrt mit engstehenden Eisenstacheln, und die erste Mauer, zwei Männer hoch und sieben Schritte breit. Dahinter ein Graben mit einem Wald aufrechter Speere, eine weitere bewehrte Schräge und die zweite Mauer, fünf Männer hoch und sieben Schritte breit, mit Brustwehr und Scharten für Bogenschützen und Schleuderer. Der letzte, innere Graben konnte ebenfalls geflutet werden, und dann blieb der Große Wall: acht Männer hoch, fünfzehn Schritte breit, mit abwärtsgerichteten Eisenstacheln an der Brustwehr, mit scharfen Steinen, Metallsplittern und Glasscherben im Mörtel; mit viergeschossigen Türmen in Abständen von achtzig Schritten; mit Katapulten, Pechöfen, Pyramiden von Steinkugeln, Kammern voller Waffen und Kisten voller Metalltrümmer. Und mit Schreibstuben, Garküchen, Unterkünften für die Truppenführer und anderen Räumen.

Hinter dem Großen Wall, von ihm durch eine schmale Straße getrennt, lagen zwei Reihen von Stallungen übereinander, mit Rampen für die Tiere, Treppen und Gängen für die Menschen. In den unteren Hallen konnten bis zu dreihundert Kriegselefanten untergebracht werden, in den oberen Ställen war Platz für viertausend Pferde. Dazu konnte die Festung insgesamt an die viertausend Reiter und bis zu zwanzigtausend Fußkämpfer aufnehmen.

Nördlich der Stallungen gab es einen Platz, auf dem Bogenschützen oder kleinere Gruppen von Fußkämpfern üben konnten. Als Bomilkar und Nymar ihn erreichten, fanden sie ihn leer bis auf die üblichen Tische, Bänke und Zielvorrichtungen.

Bomilkar sammelte sich und legte seine Messer zurecht. Dabei bewunderte er die Geschwindigkeit, mit der Nymar Pfeile aus dem Köcher zog, auf die Sehne setzte und diese spannte, und die Treffsicherheit, mit der er sie in Herz und Hals der Strohpuppe schickte, die ihm als Ziel diente. Anfangs versuchte er, den Maken zu beobachten, während er selbst Messer auf eine runde Bastscheibe an einem anderen Baum warf. Dann entschied er sich, lieber die eigenen Würfe zu beachten; als er sich nicht mehr um die Pfeilschüsse kümmerte, wuchs seine Zielgenauigkeit.

Er dachte an einige Gelegenheiten, bei denen ihm Nymars Treffsicherheit das Leben gerettet hatte, und an Gefahren, aus denen er sich nur durch schnelle Messerwürfe hatte befreien können. Dann überlegte er, ob es nicht Möglichkeiten gäbe, in einer Scheide im Genick mehr als nur ein einziges Wurfmesser zu befestigen.

»Du hast schon besser getroffen, Herr«, sagte Nymar.

»Man soll beim Werfen nicht zuviel denken.«

Der Make nickte. »Laß Hand und Auge denken – wenn ich das sagen darf.«

»Darfst du. Noch eine Runde?«

Sie schossen und warfen weiter, bis Nymars Köcher abermals leer war. Dann sammelten sie die Pfeile und Messer ein und machten sich auf den Rückweg. Aus den Stallungen hörten sie das Trompeten mehrerer Elefanten; es schien ansteckend zu sein, denn sofort begannen Pferde zu wiehern.

»Wie viele sind da drin?« sagte Nymar.

»Keine Ahnung. Nicht viele, schätze ich. Zwanzig, dreißig Elefanten und ungefähr so viele Pferde. Die meisten sind ja draußen auf den Weiden.«

»Hast du die Ställe der Festung je voll gesehen? Und die Festung?«

»Fast. Im Krieg gegen die Söldner.«

»Ich bin erst danach in die Stadt gekommen.« Nymar seufzte; es klang, als ob er bedauerte, die Kämpfe nicht mitgemacht zu haben.

»Sei froh. Es war nichts, woran man sich gern erinnert.«

»Ich weiß. Trotzdem.«

Ein Trupp von Leichtbewaffneten – Bogenschützen und balliarische Schleuderer – verließ vor ihnen die Festung; die Männer gingen nach Norden, zum Ityke-Tor; wahrscheinlich würden sie irgendwo auf den Weiden vor der Stadt Übungen abhalten.

»Warte einen Moment«, sagte Bomilkar, als sie die Räume des Arztes wieder erreicht hatten. »Ich will sehen, ob er schon etwas herausgefunden hat.«

»Darf ich mitkommen?«

»Wenn du willst.«

Nymar hielt ihn am Arm fest. »Artemidoros«, sagte er halblaut. »Ich hatte nie mit ihm zu tun; ist er wirklich so gut? Als Arzt für Lebende? Und als Untersucher von Toten?«

»Du weißt, was man in Alexandria mit Verbrechern macht?«

»Nein, Herr.«

»Einer der Könige hat vor Jahren beschlossen, solche, die zum Tod verurteilt sind, den Ärzten auszuhändigen. Damit sie sterbend noch etwas für die Gemeinschaft tun. Könnte man sagen.«

»Uh.« Nymar verzog das Gesicht. »Sollte ich je nach Alexandria kommen, werde ich mich vorsehen.«

»Ratsam, ja. Aber deshalb sind die Ärzte dort so gut; sie wissen mehr über Blut und Gedärme als andere. Artemidoros hat dort seine Kunst gelernt; er spricht aber nicht gern darüber.«

»Seit wann ist er hier?«

»Ich weiß es nicht genau – seit ein paar Jahren vor dem Ende des Römischen Kriegs, glaube ich, als wir dringend gute Ärzte brauchten.«

Sie betraten den Gang, an dem die Räume des Arztes lagen. Artemidoros mußte ihre Schritte gehört haben, vielleicht auch die Stimmen von draußen.

»Im zweiten Raum«, rief er. »Für Neugierige von furchtlosem Gemüt.«

Als sie in den Raum kamen, fanden sie ihn über eine der beiden Leichen gebeugt. Ein Sklave stopfte eben Eingeweide in einen Bottich, über dem ein Fliegenwirbel kreiste.

Artemidoros war gründlich besudelt; er richtete sich auf und rümpfte die Nase. »Nicht viel«, sagte er.

»Nicht viel was?«

Der Arzt legte ein langes Messer beiseite und wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Beide haben abends etwas gegessen; Brot, Fisch und Wein, nichts Ausgefallenes. Ich kann dir keine Schenke oder Garküche nennen, keine Besonderheiten. Und beide waren in ihrem Gewerbe tätig.«

Bomilkar nickte. »War zu erwarten.«

Artemidoros rieb sich mit dem Handrücken die Nase. »Doppelt«, knurrte er. »Jeweils zwei Männer.«

Bomilkar betrachtete die verfärbte Nasenspitze des Arztes. »Soll vorkommen«, sagte er. »Freiwillig oder mit Gewalt?«

»Nein, nein; keine Anzeichen von Gewalt. Ah, abgesehen von den Messerspuren natürlich. War die Blutlache groß?«

Bomilkar schüttelte den Kopf. »Ein wenig Blut war schon da, aber nichts, was zu den Stichen und Schlitzen paßt. Sie müssen woanders umgebracht und dann zum Platz vor dem Tempel geschleppt worden sein.«

»Jeweils zwei Männer«, sagte Artemidoros. »Samen in der Scheide und unten in der Speiseröhre. Sie müssen unmittelbar danach getötet worden sein. Und …« Er beugte sich vor, hob mit spitzen Fingern etwas auf und hielt es Bomilkar zur Betrachtung hin.

»Was ist das? Ein krauses Haar?«

»Ein rotes Kraushaar. Von einem der Männer. Hatte sich im Gebüsch von der hier verfangen. Einer der Männer ist wahrscheinlich nicht nur an den Lenden rothaarig.«

Bomilkar pfiff leise. »Selten, nicht wahr? Ein Kelte? Iberer? Und – du meinst, er müßte einer der Mörder sein?«

Der Arzt hob die Schultern. »Sie sind gleich nach dem Vollzug umgebracht worden. Der Rothaarige war auf jeden Fall noch in der Nähe. Und – tja, vergiß nicht, Odysseus und Alexander waren blond, wie es heißt. Ich kenne keinen rothaarigen Punier, aber man weiß ja nie.«

3. KAPITEL

»Wir müssen über Kamele reden«, sagte Autolykos.

Bomilkar wechselte einen Blick mit Nymar. »Kamele?« sagte er. »Na gut. Aber ich verstehe nichts von Kamelen.«

Autolykos nickte. »Das ist gewöhnlich; wer versteht schon was von denen? Sie sehen so hochmütig aus wie eure Ratsherren; ich weiß nicht, ob man daraus schließen kann, daß sie auch so dumm sind.«

»Worum geht es denn?«

»Das Fest aller Götter«, sagte Autolykos. »Pferderennen, Wagenrennen, Elefantenrennen, diesmal auch Kamelrennen. Einer der Veranstalter, ein Mensch namens Alexandros …«

»Hellene?«

»Makedone aus Ägypten, glaube ich; die kennen sich ja mit den Höckertieren schon länger aus. Also, der war vorhin hier und hat sich darüber beklagt, daß nachts jemand in seinen Pferchen gewesen ist.«

»Woher weiß er das? Haben die Kamele es ihm gesagt?«

Nymar räusperte sich. »Ich war vor Sonnenaufgang bei den Pferchen, habe aber keine Kamele gestört«, sagte er. »Sonst habe ich niemand gesehen. Die Kamele … sie sind nicht bewacht.«

»Ah.« Bomilkar runzelte die Stirn. »Also, jemand hat unbewachte Kamele besucht. Was geht das uns an?«

»Dieser Alexandros fürchtet, jemand könnte die netten Tiere vergiften oder scheren oder was weiß ich. Falsches Futter geben, damit sie langsamer laufen. Deshalb möchte er, daß wir nachts nach ihnen sehen.« Autolykos deutete auf einen Lederbeutel, der auf Bomilkars Schreibtisch lag. »Fünf shiqlu

»Gib sie ihm zurück. Wir sind zuständig für die Ordnung der Stadt, nicht für das Füttern und Striegeln von Kamelen. Und wir sind unbestechlich. Außerdem …« Er trat vor die Tür und blickte in den dunstigen Himmel. »Die Sonne ist in dem Dreck kaum zu sehen«, sagte er über die linke Schulter. »Aber wenn ich mich nicht irre, müßten wir uns dem Ende der vierten Stunde nähern.«

»Kann sein; was ist damit?«

»Zu Beginn der fünften Stunde bin ich mit Adherbals Verwalter verabredet.«

»Ah.« Autolykos spitzte den Mund. »Euer neuer Schuppen, nehme ich an?«

»Genau der. Noch einmal alles betrachten und begehen und die erste Miete zahlen und derlei.«

»Und weil du es gestern nicht geschafft hast, willst du heute unbedingt pünktlich sein? Na schön.« Autolykos klatschte in die Hände. Einer der Büttel aus dem Nebenraum erschien im Durchgang. Autolykos befahl ihm, einen Wagen für Bomilkar zu beschaffen. »Sonst kommst du auf jeden Fall zu spät«, sagte er an diesen gewandt. »Und mit dem Wagen bist du schneller wieder hier, für richtige Arbeit.«

Sie besprachen die anstehenden Dinge, bis der Büttel zurückkam und auf den Platz vor der Wachstube deutete. Dort stand ein leichter Korbwagen mit einem Pferd und einem Fahrer.

»Gut«, sagte Bomilkar. »Ich komme so schnell wie möglich zurück. Bis später.«

»Fallt nicht raus.«

Nymar und Bomilkar setzten sich auf die Kante des hinten offenen Wagens und ließen die Beine baumeln. Der Fahrer, ein Numider, lenkte das Gefährt schnell und geschickt durch das Gedränge auf der Großen Straße. Bomilkar hatte sich ein wenig Erfrischung durch Fahrtwind erhofft, aber trotz der Geschwindigkeit fühlte er sich weniger von Luft umweht als von klebrigem Gestank umschwappt. Kurz vor dem Ziel mußten sie auf Nebenstraßen ausweichen, weil vor ihnen alles verstopft war, und gerieten in die Duftwolken aus einigen Gerbereien.

»Uh«, sagte Nymar, als sie vor dem Ziel anhielten und von der Wagenkante rutschten.

»Ein Jammer, daß es nicht auch für Nase und Ohren so etwas wie Augenlider gibt«, sagte Bomilkar.

»Bist du unzufrieden mit der Art, wie die Götter dich und die Welt geschaffen haben?« Der Mann, der das sagte, mochte um die Vierzig sein, trug trotz der Hitze einen hohen, spitzen Hut und einen teuren Umhang mit Purpurstreifen und Goldfäden; er stand neben einer Sänfte.

Bomilkar neigte grüßend den Kopf; dabei fragte er sich, ob der Mann den Hut auch in der Sänfte trug. Die sechs Träger, hellhäutige Sklaven, hatten sich einige Schritte entfernt und kauerten an der Wand des Hauses.

»Ich bin Bomilkar, Herr der Wächter. Der edle Adherbal, wenn ich mich nicht irre?«

»Meinen Verwalter kennst du ja – wer also sollte ich sein?«

Bomilkar betrachtete den Mann, der zu den reichsten Grundherren gehörte. Er war ihm nie zuvor begegnet, konnte sich auch nicht erinnern, ihn je von fern gesehen zu haben, fand ihn ähnlich unangenehm wie seine Gattin, die edle Himilke, und wollte alles so schnell wie möglich hinter sich bringen. Er musterte das Gesicht, das Adherbal während des kurzen Austauschs kaum bewegt hatte und das eine Maske hätte sein können. Eine Maske des Hochmuts.

Adherbal streckte die rechte Hand aus. »Die vereinbarte Miete!« Es war eher ein Befehl als eine Aufforderung.

Bomilkar wollte nach dem Beutel tasten, in dem er die Münzen trug; dann schüttelte er den Kopf. »Sag mir, Herr, bei welchem Bankhaus deine Geschäfte verwaltet werden. Ich werde die Sandbank anweisen, die Miete zu Beginn eines jeden Monds zu zahlen.«

»Das ist nicht das, was du mit dem Verwalter vereinbart hattest.«

»Zu den Vereinbarungen gehörte auch, daß der Zugang zuvor ausgebessert wird.« Bomilkar deutete auf das Tor hinter Adherbal. »Das ist nicht geschehen.«

Das Gebäude, einen Block nördlich der Großen Straße, barg die übliche Mischung der Möglichkeiten. Rechts und links des Tors gab es kleine Schenken, die auch Speisen anboten: jeweils ein Raum mit gemauerter Theke, hinter der zwischen Krügen und Amphoren für Gäste gekocht wurde, die entweder vor der Thekenmauer stehen oder sich an einen der drei winzigen Tische setzen konnten. Im Hof hinter dem Tor gab es einen Abtritt – einen Verschlag mit ausgehöhltem Sitzbrett über einem Bottich –, dann kam der mit allerlei Gerümpel vollgestellte Hof, an dem Werkstätten und Aufgänge zu Wohnungen lagen. Eine der Werkstätten sollte vorübergehend als neuer Karrenschuppen dienen. Vorübergehend, weil alles arg beengt war und nicht besonders dauerhaft wirkte, dafür aber zuviel kostete.

Adherbal streckte immer noch die rechte Hand aus und bewegte sie auffordernd.

Bomilkar bemühte sich um ein Lächeln. »Dein Bankhaus, Herr.«

»Du kommst ohne Münzen her?« Stimme und Ton waren herb, aber das Gesicht blieb weiter unbewegt.

»Ich mag das Geld des Strategen von Libyen und Iberien nicht durch Nebenstraßen tragen.«

»Für deren Sicherheit du verantwortlich bist.«

Bomilkar lachte. »Natürlich. Aber manchmal treibt sich Gesindel herum, gegen das ich machtlos bin.«

Adherbal preßte die Lippen zu einem Strich. »Du wagst es, so mit mir zu reden?«

»Wenn du dich angesprochen fühlst …«

»Ich sollte dich auspeitschen lassen!«

»Ich bin zuständig für die Ordnung und Sicherheit der Stadt, Herr; es ist nicht meine Aufgabe, vor dir zu knien und deine Füße zu lecken. Ich werde die Sandbank anweisen, die vereinbarte Miete an deine Bank zu zahlen – sobald ich weiß, welche es ist.«

Adherbal wandte sich ab, schnippte mit den Fingern und ging zur Sänfte. Die Sklaven sprangen auf und stellten sich neben die Griffe. »Das Bankhaus für Gedeihen und Wohlstand«, knurrte er, bevor er in die Sänfte stieg. Dabei senkte er den Kopf, so daß er den Hut nicht abzunehmen brauchte.

Nymar blickte hinter der Sänfte her. Als sie hinter der nächsten Ecke verschwunden war, seufzte er leise. »Die Freundlichkeit der Reichen und die Umgänglichkeit der Mächtigen«, sagte er. »Die Fruchtbarkeit der Wüste und die Behaglichkeit der Löwenkralle. Ah, fürwahr.«

Bomilkar klopfte ihm auf die Schulter. »Vergiß nicht den Liebreiz der Hyäne. Komm, sieh dir die Werkstatt an.«

Sie durchquerten den Hof, in dem zahlreiche Kinder zwischen den vielen Formen von Gerümpel spielten, und öffneten die angelehnte Tür zum neuen Karrenschuppen. Nymar trat ein, sah sich um und pfiff leise.

»Häuptling«, sagte er. »Dieser eine Raum? Samt allem Dreck, den wer auch immer hat liegen lassen? Und was ist mit dem Riß in der Wand?« Er wies auf eine Zickzacklinie in der Rückwand; sie schien sich in der Decke fortzusetzen.

»Das Leben ist ein Notbehelf«, sagte Bomilkar. »Vor dem Tod ist alles vorläufig. Dieser Schuppen auch. Wir werden gewisse Dinge leise bereden müssen. Es gibt hier zu viele Ohren.«

Nymar nickte. »Aber – warum?«

»Weil der Besitzer des alten Schuppens alles abreißen und neu bauen will. Und weil ich so schnell nichts anderes finden konnte. Außer in der Festung, und die kommt nicht in Frage.«

»Zu abgelegen?«

»Ja. Ihr wohnt alle mitten in der Stadt, und um Gerüchte und Geheimnisse zu hören, müßt ihr mitten in der Stadt sein. Du würdest von da, wo du wohnst, jeden Morgen über eine Stunde laufen müssen, um zur Festung zu kommen. Den anderen geht es ähnlich.«

»Ich habe auch keine bessere Unterkunft gefunden, weder für mich noch für uns.« Nymar rümpfte die Nase. »Sollen wir uns alle weiter umhören? Umsehen?«

»Tut das bitte. Vielleicht findet sich ja doch noch etwas.«

»Bis zu welchem Preis?«

»Zehn shiqlu. Komm, laß uns gehen.«

Zehn Schekel, etwa zwei Drittel dessen, was ein einfacher Arbeiter in einem Mond verdiente, war das, was Bomilkar an Adherbal bei der Bank Gedeihen und Wohlstand zu zahlen hatte. Als sie die Große Straße erreichten, räusperte Nymar sich.

»Darf ich noch etwas fragen, Herr?«

»Nur zu.«

»Warum wolltest du ihm keine Münzen geben? Du hast sie doch im Beutel, oder?«

»Seinem Verwalter hätte ich sie gegeben. Ihm nicht.«

Nymar lachte leise. »Ich kann es verstehen. Aber ich hätte zahlen müssen, an deiner Stelle.«

»Die Hohen und Mächtigen sehen das auch so. Es ist einer der Vorzüge des Amts, daß ich mir nicht alles gefallen lassen muß.«

Nymar nickte. »Beneidenswert. Und sag, diese Bank …«

»… ist das Bankhaus unseres alten Freundes Hiyarbal*. Gehört jetzt seinem Sohn. Die meisten Alten wickeln ihre Geschäfte dort ab. Wenn sie nicht selbst die eigene Bank sind.«

Vor der Wachstube stand eine Sänfte. Die zugehörigen Träger waren nirgendwo zu sehen. Bomilkar betrachtete die Vorhänge; sie waren schlicht, aus einem Gemisch von Wolle und Leinen, und sie wiesen weder Wappen noch sonstige Verzierungen auf.

Mutumbal, sein zweiter Stellvertreter, begrüßte ihn mit einem schrägen Grinsen. »Hoher Besuch, Häuptling«, sagte er. Dabei wies er mit dem Hinterkopf auf den zweiten, rückwärtigen Raum, in dem Bomilkar hin und wieder eine Nacht verbrachte.

»Wer?«

»Laß dich überraschen. Ah, und Autolykos bittet dich, ihn bald auf dem Markt draußen zu suchen, in der Nähe der Tierhändler.«

Bomilkar bleckte die Zähne. »Will er wieder über Kamele reden? Na gut.«

Er ging in den hinteren Raum. Auf dem Bett hockte ein riesiges weißes Ungeheuer. »Fürstin der Finsternis – was verschafft mir diese verblüffende Ehre?« sagte Bomilkar.

*  vgl. Das Gold von Karthago