Silvia Stolzenburg

TÖDLICHE JAGD

Kriminalroman

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von der Autorin nicht beabsichtigt.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler, München.

Copyright © 2015 by Edition 211, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage

Lektorat: Christiane Geldmacher

Satz/Layout: Martina Stolzmann

E-Book: Mirjam Hecht

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock

Made in Germany

ISBN 978-3-95669-054-9

www.bookspot.de

Gedicht

Tiger! Tiger! burning bright

In the forests of the night,

What immortal hand or eye

Could frame thy fearful symmetry?

Tiger, Tiger, hell entfacht

In den Waldungen der Nacht:

Welches Gottes Aug und Hand

Nur dein entsetzlich Gleichmaß band?

William Blake »The Tiger«:
Ins Deutsche übertragen von Alexander von Bernus

Widmung

Für Pink und Hanspeter

Danke für die schöne Zeit, ihr beiden
– Chriesi, chlöpfe, Schildchrot –
es war einfach herrlich!

Kapitel 1

Züricher Zoo, 14. März 2015

Der Tiger schien den Menschen zu wittern, bevor er ihn sah. Träge hob er den Kopf von den Pranken und zog die Lefzen nach oben. Ein Laut, beinahe einem Schnurren gleich, sorgte dafür, dass dem Beobachter auf der Mauer die Nackenhaare zu Berge standen. Ein ehrfürchtiges Prickeln kroch ihm über Rücken und Arme, drang bis in seine Fingerspitzen und ließ ihn schneller atmen. Mit zitternden Händen rückte er das Nachtsichtgerät zurecht, drehte an der Einstellschraube und heftete seinen Blick auf den Jäger. Auf keinen Fall wollte er auch nur eine Sekunde des Schauspiels verpassen! Die Nacht war sternenklar – schwach erhellt von dem beinahe vollen Mond, der vom Wasser des Beckens nahe der Mauer zurückgeworfen wurde. Glatt wie ein Spiegel reflektierte die Oberfläche jede noch so winzige Bewegung, jedes noch so schwache Leuchten am Himmel. Ein Windhauch strich durch die Wipfel der Bäume und ließ die trockenen Blätter des Vorjahres rascheln. Der Schnee war schon längst geschmolzen, nur die kahlen Äste und das tote Gras erinnerten noch an den Winter, der kein richtiger gewesen war. Atemlos verfolgte die Gestalt auf der Mauer, wie der Tiger auf die Beine kam und die Nase in die Luft reckte. Seine Schnurrhaare zuckten. Einige Augenblicke verharrte das Raubtier auf der Stelle, dann setzte es sich gemächlich in Bewegung.

Mit hämmerndem Herzen sah der Beobachter dabei zu, wie die riesige Katze eine Pranke vor die andere setzte – fast lässig, als interessiere sie das zusammengesunkene Bündel am Fuß des Felsens nicht besonders. Sobald der Tiger sein Ziel erreicht hatte, gab er erneut ein Schnurren von sich, ehe er sich schwer auf den Boden fallen ließ. Direkt neben die leblose Gestalt. Durch das Nachtsichtgerät wirkte die Zunge, mit der das Tier begann, sich das Fell glatt zu streichen, unnatürlich grün; die Augen funkelten, als seien sie künstlich beleuchtet. Der Beobachter spürte, dass seine Handflächen anfingen zu schwitzen. Ungeduldig rutschte er auf dem rauen Stein hin und her – versucht, in die Anlage zu springen, um zu beschleunigen, weshalb er hier war. Er zog die Unterlippe zwischen die Zähne und kaute darauf herum, bis er Blut schmeckte. Warum tat der Tiger nicht das, was die Natur von ihm erwartete? Er drehte erneut an dem Rädchen des Nachtsichtgerätes, mit dem sich die Helligkeit regulieren ließ. Inzwischen waren seine Hände trotz der Lederhandschuhe klamm. Obwohl der Tag sonnig und warm – beinahe 20 Grad – gewesen war, machte die Kälte der Nacht deutlich, dass der Frühling noch jung war. Seine Ungeduld verstärkte sich.

Eine scheinbare Ewigkeit gab sich das Raubtier der Fellpflege hin. Erst, als das leblose Bündel vor seiner Nase ein Stöhnen von sich gab und sich rührte, hörte die Zunge auf zu putzen. Die Ohren spielten nervös, während sich jeder Muskel im Körper der Raubkatze spannte. Endlich war es so weit! Keuchend lehnte die Gestalt auf der Mauer sich weiter nach vorn, sodass sie um ein Haar den Halt verloren hätte.

»Mach schon«, flüsterte der Mann. Er spürte, wie Adrenalin durch seine Adern schoss. Fahrig vor Aufregung saugte er jede Bewegung des prachtvollen Tieres in sich auf: das Hin und Her des Schwanzes; das vorsichtige Heben des Vorderlaufes; das Schieflegen des Kopfes. Ein Wimmern drang an sein Ohr, als der Tiger das Bündel am Boden neugierig mit der Pranke anstupste. Ein weiteres Wimmern folgte, dann kam Leben in die Gestalt. Ein Fehler. Ungelenk stemmte das Opfer sich auf die Knie und versuchte, auf eine Spalte zwischen zwei Felsen zuzukriechen. Es hatte noch keinen halben Meter zwischen sich und den sicheren Tod gebracht, da stieß der Tiger ein Brüllen aus, das dem Beobachter das Blut in den Adern gefrieren ließ. Waren ihm die Bewegungen des Jägers bis zu diesem Moment faul und lustlos erschienen, lag in dem Prankenhieb, mit dem er den Fliehenden unvermittelt zur Seite schleuderte, tödliche Kraft. Bevor sein Opfer sich von der Wucht des Aufpralls erholen konnte, war das Raubtier bei ihm. Geschickt, beinahe verspielt, drehte es den Gefallenen auf den Rücken und hob erneut die Pranke. Der Schrei, der durch die Nacht gellte, als die Krallen seiner Beute das Augenlicht nahmen, hallte von den Felsen wider. Die Tiere des Zoos antworteten in schriller Kakophonie.

Beinahe eine Stunde später – die Sterne verblassten bereits – gab der Mann auf der Mauer seinen Beobachtungsposten auf und zog sich schweren Herzens zurück. Ob und wie lange der Tiger noch mit seiner Beute spielen würde, wusste er nicht. Aber dass der Mann in dem Gehege nicht überleben würde, schon. Und das war das Einzige, das zählte! Mit steifen Beinen kletterte er zurück auf den Boden, schob die Metallleiter zusammen und schulterte sie. Er duckte sich unter einigen tief hängenden Ästen hindurch und warf etwas später die Leiter in den Kofferraum seines Autos. Dann öffnete er die Tür, ließ den Motor an und wartete, bis ihm nicht mehr ganz so kalt war. Langsam und vorsichtig, um seine teuren Felgen nicht in den Schlaglöchern zu beschädigen, tastete er sich über den Kiesweg den steilen Abhang hinab. Als er wenige Meter später die Weggabelung erreichte, wandte er sich nach rechts. Vorbei am Alten Klösterli und dem Haupteingang des Zoos fuhr er den Zürichberg hinunter. Schneller, als er erwartet hatte, sah er die Lichter am Ufer des Zürichsees aufleuchten. Mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht bog er beim Bellevue Platz ins Uto Quai ein und fragte sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis man sein erstes Opfer endlich fand.

Kapitel 2

Tübingen, 15. März 2015

»Wie gesagt, Frau Benz, ich weiß nicht, wie viel Zeit die Auswertung der Tests in Anspruch nehmen wird.«

Anna Benz mied den Blick des Sprechers, der entschuldigend die Hände hob. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die merkwürdige Warze auf der Oberlippe ihres ergrauenden Gegenübers. Diese tanzte bei jeder Silbe auf und ab, zog sich bei den Us und Os in die Länge, nur um sich bei den Es und Is zusammenzuballen wie eine schrumpelige kleine Rosine. Während sie all ihre Selbstbeherrschung zusammennahm, um ihren Frust nicht hinauszubrüllen, bearbeitete sie eine Nagelwurzel an ihrem Daumen. So, dass Dr. Heinemann es nicht sehen konnte. Jedenfalls hoffte sie, dass ihr betont entspannt hochgelegtes Bein das nervöse Gefummel vor seinen Habichtsaugen verbarg. Sein verständnisvoller Gesichtsausdruck verstärkte das Brodeln in ihrem Inneren. Und nicht zum ersten Mal seit ihrem Entschluss, ihn um Hilfe zu bitten, bereute sie diesen Schritt. Warum hatte sie nicht einfach abwarten können, was geschah? Was brachten all die Tests und Gespräche? Nichts war hundertprozentig sicher. Hatte Dr. Heinemann das nicht selbst gesagt?

»Ich möchte die Angelegenheit auf alle Fälle mit der größten Sorgfalt behandeln«, unterbrach der Doktor ihren Gedankengang. Er nahm die von Anna ausgefüllten Bögen von seinem Schreibtisch und heftete sie in einem altmodischen Aktenordner ab. Dann setzte er die Lesebrille ab, polierte sie mit einem Mikrofasertuch und steckte sie in ein Lederetui.

Die Zeit, die er dazu benötigte, verbrachte Anna damit, die Kinderzeichnungen an seiner Wand zu betrachten. Zwar kannte sie all die »Mimis«, »Waldis« und »Papas«, die ungelenk gekritzelten Bäume und Häuser, Katzen, Hunde und Dr. Heinemanns schon auswendig. Aber die bunten Farben lenkten sie von ihren dunklen Ängsten ab. Ein Bild – von seiner siebenjährigen Tochter Bianca – war besonders hässlich. Wenigstens hatte das Mädchen ein fettes rotes Herz neben die missgestaltete Figur gemalt, die ganz offensichtlich ihren Vater darstellen sollte.

»Frau Benz?« Dr. Heinemann sah sie an, als erwarte er, dass sie etwas sagte.

Hatte sie eine Frage überhört? Wäre nicht das erste Mal, dachte sie ärgerlich. War das nicht einer der Gründe, warum sie hier war?

»Ja«, antwortete sie, obwohl sie nicht den Hauch einer Ahnung hatte, was er gefragt hatte.

»Dann sollten Sie aber wirklich bald mit Ihrem«, er zögert kaum merklich, »Partner reden.« Seine buschigen Brauen schoben sich zusammen, sodass er aussah, wie eine dieser Figuren aus der Sesamstraße. Wie hieß sie nochmal? Ernie? Bert? Anna verzog das Gesicht zu einem verkrampften Lächeln.

»Das werde ich«, versprach sie.

Er nickte zufrieden und wollte etwas hinzusetzen, als zu Annas Erleichterung das Handy in ihrer Tasche anfing, den Imperial March aus Star Wars zu dudeln.

»tschuldigung«, murmelte sie. »Muss rangehen. Bereitschaft.«

Dr. Heinemann runzelte die Stirn, erhob sich aber, als Anna das Telefon aus ihrer Jacke fischte.

»Moment«, ließ sie den Anrufer wissen. »Ich gehe kurz vor die Tür.« An Dr. Heinemann gewandt, flüsterte sie: »Wiedersehen.« Sie griff nach Jacke und Mütze, warf sich beides über den Arm und schenkte dem Doktor ein gekünsteltes Lächeln. Irgendwie war es ihr peinlich, dass ausgerechnet jetzt das Telefon klingelte. Andererseits war sie dankbar, endlich dem verständnisvollen Nicken und dem warmen, weichen Händedruck von Dr. Heinemann entkommen zu können.

»Ich melde mich, sobald ich etwas Genaueres weiß«, schickte der Arzt ihr hinterher, dann schnitt ihm die zufallende Tür das Wort ab.

»Was ist passiert?«, sagte Anna zu dem Anrufer.

»Eine Tote im Schlossgarten«, war die kurze Antwort des Polizeiführers vom Dienst. »Vermutlich ein Tötungsdelikt. Die Kriminaltechnik ist auf dem Weg. Der KDD und die Streife sind schon da.«

»Alles klar, ich fahre direkt zum Tatort«, sagte Anna. Sie legte auf und schlüpfte ungeschickt in den immer noch feuchten Windstopper. Ihre Fahrradschuhe klapperten auf dem Linoleumboden, als sie auf den Ausgang der Praxis zusteuerte. An der Tür angekommen, wählte sie die Nummer ihres Chefs, der sich nach dem dritten Klingeln meldete.

»Wolf.«

»Ich bin’s, Anna. Der PvD hat angerufen. Im Schlossgarten liegt eine Leiche.«

Alexander Wolf stöhnte. »War ja klar«, brummte er.

»Tötungsdelikt vermutlich«, sagte Anna. »Ich mach mich gleich auf den Weg. Es kann aber eine Weile dauern, weil Samstag ist. Da fährt Hinz und Kunz nach Stuttgart zum Einkaufen.«

Im Hintergrund hörte sie Geschirr klappern.

Ihr Chef seufzte. »Kannst du dir erst mal ein Bild machen und mir dann Bescheid sagen? Leah hat heute Geburtstag.«

Eine Kinderstimme rief: »Kommst du, Papa?«

»Weiß Rainer Bescheid?«, fragte Alexander Wolf.

»Ja, die Spurensicherung ist wohl schon unterwegs.«

»Ruf an, wenn du Genaueres weißt.«

»Mach ich«, sagte Anna. »Sag Leah alles Gute von mir.« Sie legte auf und stopfte das Telefon zurück in die Tasche.

Obwohl sich augenblicklich der wohlbekannte Druck in ihrem Magen bemerkbar machte, kam ihr der Anruf heute fast gelegen. Sie stemmte die schwere Eingangstür mit der Schulter auf und verstaute ihre langen, kastanienbraunen Haare unter der Lycra-Mütze. Dann nahm sie den Helm vom Lenker ihres feuerroten Rennrades, öffnete das Schloss und schwang sich in den Sattel. Es regnete nur noch leicht. Der auffrischende Ostwind trieb die Wolken auseinander, sodass man hie und da ein Stückchen blauen Himmel aufblitzen sah. Ohne weiter darüber nachzudenken, was es über sie aussagte, dass der Tod eines anderen Menschen ihr eine willkommene Ablenkung von den eigenen Problemen bot, klickte sie den zweiten Schuh ins Pedal ein. Stehend rollte sie über den gepflasterten Hof und reihte sich in den Verkehr auf der Hauffstraße ein. Sie ignorierte ein hupendes Auto, duckte sich tief über den Lenker und raste den Österberg hinab, bis die rote Ampel an der Wilhelmstraße sie aufhielt. Eine blondierte Mittvierzigerin in einem aufgemotzten Porsche Cayenne hinter ihr ließ die Seitenscheibe herunter und bedachte sie mit einigen unschmeichelhaften Ausdrücken. Doch Anna widerstand dem Drang, der blöden Kuh den Mittelfinger zu zeigen. Immerhin war sie im Dienst, da konnte man sich solche Sperenzchen nicht erlauben.

»Wir haben doch auch ein Recht, die Straße zu benutzen!«, regte sich eine junge Frau – vermutlich eine Studentin – neben Anna auf. Sie saß aufrecht auf einem dieser uralten Oma-Räder, die offensichtlich wieder in Mode waren. Weiße Kabel, halb um die Ohren gewickelt, baumelten neben ihrem Gesicht, wie die abgeknickten Fühler eines überdimensionalen Insekts.

Bevor das Mädchen oder die Hysterikerin in dem überteuerten SUV noch etwas von sich geben konnten, schaltete die Ampel auf Orange. Anna trat mit voller Kraft in die Pedale. Sie bog rechts ab in die Wilhelmstraße und schoss links am Alten Botanischen Garten vorbei bis zur Neuen Aula. Blöde Einbahnstraßen! Zum Glück war samstags zu dieser Uhrzeit noch nicht so furchtbar viel Verkehr, da die meisten Studenten noch im Bett lagen. Sie wich einem Eichhörnchen aus, das schimpfend unter einem geparkten Auto verschwand. Nach zwei weiteren Abzweigungen erreichte sie endlich die Hintere Grabenstraße – den Teil der Altstadt, in dem sie wohnte. Gegenüber dem Kino Arsenal stieg sie vom Rad. Trotz der beinahe fünfzig Stundenkilometer, die ihr Tacho angezeigt hatte, kaum außer Atem, schob sie ihren Alu-Esel zur Garage, auf deren Dach sich ihre Terrasse befand. Nachdem sie das Tor aufgeschlossen hatte, lehnte sie das Rad neben ihrem C-Klasse Dienstwagen an die Wand. Mit steifen Fingern zog sie sich Helm und Mütze vom Kopf. Plötzlich, mit dem Betreten der Garage, beschleunigte sich ihr Pulsschlag. Ob Jens schon wach war? Ein Teil von ihr hoffte es. Der andere Teil wünschte sich, dass er entweder noch schlief oder auf dem Markt nach Petersilienwurzeln und Bio-Möhren suchte. Oder vor der Tangente Jour in der Sonne einen Cappuccino schlürfte. Dann konnte sie klammheimlich ihre Tasche packen, ihm eine Nachricht hinkritzeln und hoffen, dass sich alle Probleme in Luft aufgelöst hatten, bis der neue Fall aufgeklärt war. Sie holte tief Luft und kämmte mit den Fingern die Knoten aus ihrem beinahe hüftlangen Haar. Wie sollte sie ihre Besuche bei Dr. Heinemann noch länger vor Jens verheimlichen? Was, wenn der Test positiv ausfiel? Sie fuhr sich mit den Fahrradhandschuhen übers Gesicht. Warum hieß es überhaupt »positiv«? War es nicht negativ für alle Beteiligten, wenn die Ergebnisse solcher dämlichen Tests positiv waren?

»Anna?«

Die Stimme ihres Lebensgefährten zerschlug alle Hoffnungen auf ein unauffälliges Verschwinden.

»Komme gleich!« Sie warf einen Blick in den halb blinden Spiegel an der Tür, die zu ihrer Wohnung führte. Wie immer sah man ihr weder ihre Sorgen, noch ihr Alter an. Frisch und rosig wie ein Erstsemester, dachte sie mit mehr Verdruss als sonst.

»Dein Aussehen ist deine größte Waffe«, wurde ihr Chef, Hauptkommissar Alexander Wolf, nicht müde zu sagen. »Dass dich alle unterschätzen, gibt dir wertvolle Momente, in denen sie sich nicht verstellen. Was würde ich dafür geben, wenn man mich auch mal wieder für einen Studenten halten würde!«

Auch wenn er jedes Mal lachte, wenn er das sagte, wusste Anna, dass es ihm ernst war. Allerdings ging es ihr mächtig auf die Nerven. Und gerade jetzt, wo sie sich einfach nur beschissen fühlte, fand sie, dass man ihr das wenigstens ein klitzekleines bisschen ansehen könnte. Auch wenn sie natürlich nicht wollte, dass Jens Lunte roch. Warum musste momentan nur alles so furchtbar kompliziert sein? Nachdem sie ein letztes Mal tief durchgeatmet hatte, streifte sie sich die Radschuhe von den Füßen. Nur in
Socken ging sie die Treppe hinauf und betrat kurz darauf die Diele ihrer Wohnung. Dort lagen wie immer Jens’ Turnschuhe im Weg, die Anna, ebenfalls wie immer, zur Seite kickte.

»Hey, schon zurück? Wie war deine Tour?«, fragte der Mann, mit dem sie seit beinahe drei Jahren zusammenwohnte. Er kam ihr mit einer Tasse in der Hand entgegen – barfuß und unrasiert. Die Brille auf seiner Nase verriet Anna, dass er gelesen hatte, vermutlich das gleiche langatmige Werk von Stephen Hawking, das er seit ein paar Wochen wälzte. Seine dunklen Augen lagen forschend auf ihr, als sie sich aus Windstopper, Radhose und Trikot schälte und alles einfach fallen ließ.

»Der PvD hat angerufen. Ich muss zum Dienst.«

»Ach, Mist!«, schimpfte Jens. Er stellte die Tasse auf einem Sideboard ab und kratzte sich am Kinn. »Ich hab extra auf dich gewartet. Ich dachte, wir könnten vielleicht zusammen auf den Markt gehen.«

Anna prustete. »Du gibst die Hoffnung nicht auf, oder?«, fragte sie.

»Irgendwann wirst du mir dankbar dafür sein, dass ich dich dazu zwinge, wenigstens ab und zu was Vernünftiges zu essen.«

Sie verdrehte die Augen. »Als ob ich nur Pizza und Burger in mich reinstopfen würde. Ich hab nur einfach keine Lust auf das Gedränge auf dem Markt.« Sie spitzte die Lippen und tippte ihn kokett am Oberarm. »Oh, Herr Rosenbaum, das ist aber ein Zufall, dass ich Sie hier treffe.«

Er lachte. »Was kann ich dafür, dass die Mütter meiner Schüler einen Narren an mir gefressen haben?«, fragte er mit unschuldigem Augenaufschlag. Als Anna sich an ihm vorbeizwängen wollte, wurde er wieder ernst. Er fasste sie bei den Schultern und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Eigentlich wollte ich mit dir nochmal über die Sache von neulich reden. Vielleicht in aller Ruhe bei einem Brunch?«

Anna verkniff sich ein Stöhnen. Dafür hatte sie jetzt wirklich keine Nerven. Sie machte sich von ihm los. »Ein andermal«, wich sie aus. »Jetzt muss ich mich beeilen. Es gibt eine Tote im Schlossgarten.«

Jens presste die Lippen aufeinander, was ihm – zusammen mit den breiten Schultern und dem rasierten Kopf – das Aussehen eines verdrossenen Meister Propers verlieh. Beim Anblick seines enttäuschten Gesichts fuhr Anna ein Stich der Schuld ins Herz.

»Sobald der Fall abgeschlossen ist, reden wir nochmal darüber. Versprochen.«

»Ja, ja«, brummte Jens.

»Ehrlich.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Dann rannte sie ins Bad, duschte, warf ein paar Toilettenartikel und Kleider in eine Tasche und schlüpfte zehn Minuten später mit nassen Haaren in Jeans, Poloshirt und Turnschuhe.

»Ich schlafe bei Lisa«, sagte sie. »Du weißt ja, wie stressig es in den ersten Tagen immer ist.«

Jens zuckte die Schultern. Er hatte die Tasse wieder in der Hand und tat so, als ob der Kaffee darin wahnsinnig interessant wäre. Anna schnitt eine Grimasse. Jetzt schmollte er wieder, prima! Aber sie hatte momentan wirklich keine Lust, mit ihm über Heirat, Kinder oder sonst was zu reden. Solange Dr. Heinemann sich nicht meldete, gab es sowieso nur eines, was sie tun konnte, um nicht augenblicklich den Verstand zu verlieren. Arbeiten.

»Ich ruf dich heute Abend an«, versprach sie. Ohne auf eine Antwort zu warten, schnappte sie sich ihre Tasche und eine Banane und stieg in ihren Wagen – die geschälte Banane schon halb verspeist.

In Schrittgeschwindigkeit zuckelte sie zum Stadtgraben. Auf der Hauptstraße angekommen, pappte sie das Magnetblaulicht aufs Dach und trat das Gaspedal durch. In Rekordzeit erreichte sie die B 27, wo sie kurz hinter Kirchentellinsfurt den Wagen der Gerichtsmedizinerin überholte. Dieser war vermutlich genau wie sie auf dem Weg zu der Toten im Schlossgarten. Ein Blick nach rechts verriet ihr, dass Bea Schiller – ihre beste Freundin in Tübingen – den Fall zugeteilt bekommen hatte. Aber sie hielt sich davon ab, der Medizinerin zu winken. Denn mit dem Auffahren auf die B27 hatte sie einen Entschluss gefasst. Sie würde noch einen kleinen Abstecher machen, bevor sie zum Tatort fuhr. Die paar Minuten würden den Kohl auch nicht fett machen. Schließlich waren der KDD und die Kollegen von der Spurensicherung schon da. Stattdessen würde sie das tun, was sie schon viel zu lange vor sich hergeschoben hatte: die DNA-Probe beschaffen, die schon längst für Klarheit hätte sorgen können. Und sie eigenhändig ins Labor schicken.

»Scheiß auf die Einwilligung!«, murmelte sie vor sich hin. Denn wenn sie diesen »Fall« nicht endlich klärte, würde sie sich ganz sicher nicht auf die neue Aufgabe konzentrieren können.

Kapitel 3

Tübingen, 15. März 2015

Fünfundzwanzig Minuten später war sie in Stuttgart. Mehr als einmal musste sie wegen des dichten Verkehrs bremsen, mit dem Ergebnis, dass sie umso halsbrecherischer fuhr, sobald der Weg wieder frei war. Sahen die Leute denn nie in den Rückspiegel? Wozu hatte sie die Lichtorgel auf dem Dach? Doch wohl nicht zum Spaß! Als sie endlich das Zentrum erreichte, brauste sie die B14 entlang, anstatt zum Hauptbahnhof abzubiegen. Kurz darauf parkte sie ihre C-Klasse vor dem Klinikum Stuttgart. Das Blaulicht hatte sie einen halben Kilometer vorher ausgeschaltet, um nicht unnötig viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ohne auf die Blicke der Besucher zu achten, joggte sie über den Parkplatz zum Haupteingang. Als sie die automatische Schiebetür hinter sich gelassen hatte, folgte sie dem Weg, den sie inzwischen auswendig kannte. Allerdings würde sie dieses Mal nicht kurz vor dem Ziel kneifen. Mit entschlossenem Gesicht eilte sie die Gänge entlang, bis sie den richtigen Flur erreicht hatte. Dort waren zu ihrer Erleichterung weit und breit keine Pfleger zu sehen, dafür aber ein mit Geschirr beladener Metallwagen, der ihren Puls einen Satz machen ließ. Sie hatte Glück! Wenn das kein Wink des Schicksals war! Nachdem sie sich kurz umgesehen hatte, las sie zur Sicherheit nochmal den Namen unter der Zimmernummer, bevor sie den Plastikbecher mit der 17 darauf stibitzte. Während ihr kalter Schweiß aus den Poren trat, steckte sie den Becher unter ihre Jacke. Dann nahm sie die Beine in die Hand und floh aus dem Klinikum.

»Oh Mann, oh Mann, oh Mann«, murmelte sie, als sie das corpus delicti eingetütet und auf den Rücksitz gepfeffert hatte. »Wenn dich jemand erwischt hätte, wäre deine Karriere vermutlich keinen Pfifferling mehr wert!« Ehe sie sich weiter ausmalen konnte, was alles hätte passieren können, ließ sie ein Blick auf die Uhr einen Fluch ausstoßen. Sie hatte viel zu lange gebraucht! Mit quietschenden Reifen verließ sie den Parkplatz und reihte sich in den dichter werdenden Verkehr Richtung Innenstadt ein.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis endlich der Schlossgarten in Sicht kam. Obwohl sie das Blaulicht wieder eingeschaltet hatte, teilte sich der Verkehr vor ihr im Schneckentempo. Alle Welt schien auf dem Weg ins Zentrum – zweifelsohne, um Geld auszugeben, das nicht übrig war. Als Anna endlich in die Schillerstraße einbog, gafften ihr die an der Fußgängerampel stehenden Passanten neugierig hinterher. Die Einfahrt zum Schlossgarten – gleichzeitig eine der Einfahrten zur Stuttgart 21-Baustelle – wurde von zwei blau-silbernen Streifenwagen flankiert. Vorbei am Bauzaun – an Sprüchen wie »Wenn Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht« oder »Berlin ist auch in Stuttgart« – tastete sie sich über die schmalen Wege vor bis zum Schlossteich. Das Gelände um den Tatort war bereits weiträumig mit rot-weißem Plastikband abgesperrt und die Kollegen in Uniform hatten alle Hände voll zu tun, die Schaulustigen im Zaum zu halten.

»Hier gibt’s nichts zu sehen«, hörte Anna beim Aussteigen einen entnervten Beamten sagen. »Bitte gehen Sie weiter.«

Der Jogger ignorierte ihn. Mit dem Handy in der Hand verrenkte er sich den Hals, während er versuchte, ein Foto zu schießen.

Der Kollege in Uniform trat vor ihn, sodass er schließlich mit einer gemurmelten Unflätigkeit aufgab und von dannen trabte.

»Man könnte meinen, wir wären nur zur Dekoration hier!«, brummte der Streifenpolizist. Er bedachte Anna mit einem verkniffenen Blick, als diese sich unter der äußeren Tatortabsperrung hindurch duckte. Die hochgezogenen Schultern, die Hand an der Waffe und die grimmig zusammengeschobenen Brauen erinnerten Anna an ihre eigene Dienstzeit als »Streifenhörnchen«. Sie wusste genau, wie man sich fühlte, wenn man lediglich den Tatort sichern und die Spuren schützen durfte, ansonsten jedoch draußen bleiben musste wie der Hund vor der Metzgerei. Dieses Rumstehen, sich beschimpfen Lassen, Betrunkene und Gewalttätige aufs Revier schaffen und die an den Kräften zehrenden Disko- und Kneipenschlägereien hatten Anna vor acht Jahren dazu veranlasst, »sich zu verändern«. Daher hatte sie sich zuerst zur Kriminaltechnikerin ausbilden lassen und dann – nach einem einjährigen Kripo-Lehrgang – auf der Hochschule für Polizei in Villingen-Schwenningen ein Studium absolviert. Nach zweieinhalb Jahren auf dem Campus hatte sie schließlich mit neunundzwanzig als frischgebackene Kommissarin ihren Dienst bei der Kriminaltechnik in Stuttgart angetreten. Zwei Jahre später, vor beinahe exakt sechsundzwanzig Monaten, war dann eine interne Stellenausschreibung der Grund dafür gewesen, warum sie zum Dezernat für Todesermittlungen gewechselt hatte. Und sie bereute diesen Wechsel keine Sekunde lang.

Sorgfältig darauf bedacht, der von der Spurensicherung vorgegebenen Trasse zu folgen, machte sie sich auf zu einem eingezäunten Areal, bei dem es sich um den eigentlichen Tatort handelte. Die offen stehende, mit Zacken bewehrte Eisentür hatte der Dietrichsammlung der Beamten vom Kriminaldauerdienst offenbar nichts entgegenzusetzen gehabt. Hinter der Umzäunung ragte der Bahnhof auf. Aus den Lautsprechern dröhnte weithin vernehmlich eine Durchsage: »Vorsicht auf Gleis eins, in Kürze fährt ein: der ICE aus München.« Sie sah sich um. Auf dem Parkplatz rechts neben dem Zaun entdeckte sie den verwaisten Wagen der Gerichtsmedizin. Bea Schiller, die Pathologin, steckte bereits in dem weißen Schutzanzug, den auch die Kollegen von der Spurensicherung trugen. Mundschutz, blaue Plastiküberschuhe und blaue Nitril-Handschuhe vervollständigten die Verkleidung. Genau wie Rainer Stemmler von der Kriminaltechnik stakste sie vorsichtig um die Leiche herum, schoss Fotos mit ihrer Digitalkamera und redete in ihr Diktiergerät. Das gesamte umzäunte Areal war mit einem weiteren Kordon aus Absperrband umgeben, da es niemand betreten durfte, bis die Spurensicherung den Tatort freigab. Etwas abseits starrte einer der Männer vom Kriminaldauerdienst grimmig auf eine zusammengekauerte Gestalt auf einer Parkbank hinab. Die übrigen Kollegen des KDD waren offensichtlich ausgeschwärmt, um nach Zeugen zu suchen.

»Hallo, Stefan!«, begrüßte Anna den Kollegen. Er war gebaut wie ein Kleiderschrank und ganz offensichtlich fürchtete sich der Bursche auf der Bank beinahe zu Tode vor ihm.

»Kannst du mir einen kurzen Überblick geben?«, fragte sie den Hünen.

»Pass auf, dass er sich nicht aus dem Staub macht«, trug er einer Uniformierten auf. Dann folgte er Anna zu einer etwas abseits gelegenen Stelle unter einer mächtigen Buche. »Also«, sagte er, »vor knapp zwei Stunden ging ein Notruf beim FLZ ein. Der Anrufer«, er deutete mit dem Daumen auf den Jungen auf der Bank, »hat angegeben, im Schlossgarten direkt hinter dem Bahnhof beim Café Nil, also hier, eine Tote gefunden zu haben. Wir und die Kollegen vom Posten um die Ecke sind sofort hin, um den Tatort abzusperren, bis einer von euch auftaucht.« Täuschte sie sich, oder lag ein vorwurfsvoller Unterton in seiner Stimme? Ihr schlechtes Gewissen meldete sich zu Wort, aber sie ließ sich nichts anmerken. »Der Jourstaatsanwalt war zu faul aufzustehen«, ätzte der KDDler. »Man soll ihn anrufen, wenn klar ist, um was es geht, dann ordnet er die Obduktion an.« Sein Kopfschütteln verriet Anna, was er von dem Bereitschaftsanwalt hielt. »Außer dem Anrufer keine Zeugen weit und breit.« Er wies erneut auf den jungen Mann. »Und der ist so high, dass man ihm Bleigewichte an die Beine binden muss, um ihn auf den Boden zurückzuholen.«

Anna nickte. »Okay. Ich spreche kurz mit Bea, dann nehme ich mir den Jungen mal vor.«

»Wir haben nichts Brauchbares aus ihm rausgekriegt«, brummte ihr Gegenüber. »Außer, dass er den Tatort vollgekotzt hat.«

Kein Wunder, so wie der Bursche aussah, wusste er momentan vermutlich nicht einmal mehr, wie er hieß. Sie ließ den Kollegen vom Kriminaldauerdienst stehen und steuerte auf den Tatort zu. Dieser wirkte wilder als der Rest des Schlossgartens. Dichte Büsche und krüpplige Kiefern verdeckten größtenteils die Sicht auf die hell durch die Zweige schimmernde Leiche. Eine Handvoll Kriminaltechniker kämpfte mit einem Zelt, das die Spuren vor weiterem Regen schützen sollte.

»Du brauchst nicht um mich rumzuschleichen«, rief Bea Schiller, die Gerichtsmedizinerin, ihr schon von Weitem zu. »Ich hab noch nicht mal die Leichentemperatur gemessen. Komm in einer halben Stunde wieder.«

Anna lachte. Selbst der weiße Anzug mit der Kapuze und der Mundschutz konnten Bea nicht entstellen. Um die samtige dunkle Haut, die sie von ihrem afro-amerikanischen Vater geerbt hatte, hatte Anna die Freundin schon immer beneidet. Die schwarzen Augen der Ärztin funkelten sie an.

»Ich meine es ernst, dräng mich ja nicht!«

»Ist gut, ist gut«, beschwichtigte Anna sie. »Dann nehme ich mir solange den Zeugen vor. Sag mir aber wenigstens, ob ich Alex anrufen soll, damit der die anderen herbeordern kann.«

Die Gerichtsmedizinerin gab einen unwilligen Laut von sich, beugte sich jedoch über den Kopf der Toten. »Ich sehe etwas, das aussieht wie Würgemale.« Ihre Hand wanderte zum Hals der Frau. »Mehr sag ich nicht. Ruf meinetwegen Alex an, aber ihr werdet euch gedulden müssen.« Sie richtete sich wieder auf. »Und jetzt verschwinde und lass mich arbeiten.«

Anna zog das Handy aus der Tasche. Sobald ihr Chef antwortete, sagte sie: »Bea hat Würgemale gefunden.«

Alexander Wolf stöhnte. »Ich komme.« Damit legte er auf.

Sie kehrte zu dem Kollegen vom KDD zurück. »Weißt du, warum hier alles eingezäunt ist?«, fragte sie.

»Der Landesbetrieb Vermögen und Bau Stuttgart ist für die Pflege des Schlossgartens zuständig. Samstags wird hier nicht gearbeitet. Kann also noch dauern, bis wir Genaueres wissen.«

»Und warum hat das Café geschlossen?«, wollte Anna wissen. Sie zeigte auf den Rundbau direkt am Ufer des Schlossteiches.

»Das steht an der Tür und im Internet. Von Oktober bis April haben die nur sonntags zur Salsa geöffnet. Deshalb benützt unter der Woche niemand den Parkplatz neben dem Tatort. Sonst hätte vermutlich einer der Besucher die Tote schon früher entdeckt.«

»Alles klar«, erwiderte Anna. »Dann fühle ich mal dem Jungen auf den Zahn.«

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit zurück zu dem Zeugen. Je näher sie kam, desto mehr schien er in sich zusammenzusinken. Seine Lippen waren blau, die Haare feucht und strähnig.

»Kann ich noch einen haben?«, fragte er anstelle einer Begrüßung. Er hielt Anna einen Pappbecher von Starbucks entgegen. Der Ausdruck in seinen Augen sagte ihr, dass er immer noch unter Schock stand. Der typisch süßliche Geruch von Marihuana ging von ihm aus.

»Klar«, sagte sie. »Vielleicht sollten wir den aber im Warmen trinken. Was meinen Sie?« Auch wenn ihr das »Sie« schwer fiel, musste sie ihn erst einmal korrekt anreden. Sobald sie ihn ein bisschen aufgetaut hatte, würde sie zum »Du« wechseln – das nahm Hemmungen und erleichterte es den Zeugen normalerweise, über Dinge zu reden, die ihnen vielleicht peinlich waren. Mal sehen, was der Junge wusste. Und warum er sich ausgerechnet an diesem ungemütlichen Morgen an einem Ort herumgetrieben hatte, an dem er eigentlich nichts zu suchen hatte.

Kapitel 4

Tübingen, 15. März 2015

Es dauerte nicht lange, dann saß sie mit dem Zeugen in der gemütlichen Wärme des Starbucks im Bahnhof. Der Duft von frisch gemahlenem Kaffe schien den Jungen zu beruhigen, obwohl er nervös auf dem Kunstledersitz hin und her rutschte. Während er die Finger um den riesigen Porzellanbecher schlang und die Nase in die Latte Macchiato mit Karamellsirup steckte, die Anna ihm besorgt hatte, nahm sie ihn genauer in Augenschein. Sie schätzte ihn auf ein-, zweiundzwanzig, vermutlich ein Student. Er wirkte auf gepflegte Art und Weise vernachlässigt, hatte krauses, kragenlanges Haar und einen dieser fürchterlichen Tunnels im Ohr. Der hatte sein Ohrläppchen bereits so weit gedehnt, dass Anna ihren Daumen hätte hindurchstecken können. Annas Blick wanderte weiter zu seinen Händen. Die gelbe Verfärbung seiner Fingerkuppen sagte ihr, dass er rauchte. Seine Pupillen verrieten, dass er vermutlich gerade dabei gewesen war, sich einen Joint reinzuziehen, als er die Tote entdeckt hatte. Daher also der abgelegene Ort. Sie griff nach ihrem Kaffeebecher und nahm einen tiefen Schluck. Herrlich! Heiß und milchig, genau so, wie sie es mochte. Kaum hatte der Kaffee ihren Magen erreicht, knurrte er so laut, dass der Junge sie ganz erschrocken ansah.

»Hatte noch kein richtiges Frühstück«, sagte sie. »Ich hole mir einen Cookie, magst du auch einen. Ist doch okay, wenn ich Du sage, oder?«

»Mhm.« Er überlegte einen Augenblick, dann fischte er einen Fünf-Euroschein aus der Tasche. »Ich hätte gerne einen mit Nüssen.« Er schenkte ihr ein schüchternes Lächeln und schielte auf ihre Waffe – vermutlich, weil es ihm unangenehm war, mit ihr an diesem Ort zu sein. Besser, als im Freien zu frieren, dachte sie.

Es dauerte nicht lange, bis sie mit den Keksen zurück an den Tisch kam. Beinahe zeitgleich bissen sie in den noch warmen Teig, kauten und spülten die Krümel mit ihren Lattes hinunter.

»Also, erzähl mir nochmal ganz genau, wie du die Frau gefunden hast«, sagte Anna schließlich. Nachdem der Bursche jetzt nicht mehr ganz so käsig um die Nase war, traute sie ihm zu, dass er den vermutlich schlimmsten Augenblick seines bisherigen Lebens noch einmal durchlebte.

Er schluckte. Zwei rote Flecken tauchten auf seinen Wangenknochen auf und seine Atmung beschleunigte sich. »Ich …«, begann er. Er räusperte sich. »Ich war im Park unterwegs, als ich da vorbeikam.« Seine Augen suchten Annas, allerdings nur für den Bruchteil einer Sekunde. »Sie lag einfach nur so da, ganz nackt und …« Er brach erneut ab.

»Es ist völlig normal, dass einen so etwas mitnimmt«, sagte Anna. Sie legte die Hand auf seine.

Er zuckte so heftig zurück, dass er um ein Haar seinen Kaffee verschüttet hätte.

»Mich interessiert nicht, ob du was geraucht oder sonst was genommen hast«, versuchte sie, ihn zu beruhigen. »Aber du hast sie gefunden. Vielleicht ist dir etwas aufgefallen, das uns helfen könnte.«

Er sah sie mit riesigen Augen an. »Ist sie ermordet worden?«, fragte er so leise, dass Anna ihn kaum verstehen konnte. Inzwischen war ein halbes Dutzend Reisender in die Wärme des Cafés geflohen, sodass der Geräuschpegel angestiegen war.

»Das wissen wir noch nicht«, erwiderte sie. »Also, was hast du gesehen?«

»Na, sie eben!«, keuchte er. »Fuck, Mann, so was hab ich noch nie in meinem ganzen Leben gesehen! Warum muss das ausgerechnet mir passieren?« Er ließ den Keks fallen und vergrub das Gesicht in den Händen.

Er tat Anna fast leid – ein Kind aus offensichtlich behütetem Elternhaus, das in der Landeshauptstadt das erste Mal über die Stränge schlug. Und ausgerechnet bei einem harmlosen Kiff-Ausflug stolperte er über eine Tote.

»Erzähl mir alles, was dir durch den Kopf geht«, sagte sie. »Ganz egal, ob es dir wichtig erscheint oder nicht. Einfach alles, was dir aufgefallen ist.«

Zwanzig Minuten später war er fertig und Anna kein bisschen schlauer. Wie es aussah, hatte er tatsächlich nichts Brauchbares gesehen. Höchstens Spuren verwischt und den Tatort verunreinigt. Sie erhob sich mit einem Seufzen.

»Sobald wir deine Personalien haben, kannst du gehen«, versprach sie ihm.

»Die hab ich schon den anderen Polizisten gegeben«, protestierte er schwach.

»Macht nichts, dann gibst du sie uns nochmal.«

Sie gingen zurück zur Absperrung. Dort notierte sie sich alles Wichtige, dann schickte sie ihn nach Hause in sein Studentenwohnheim.

»Der ist ganz schön fertig.« Ihr Chef war zu ihr getreten, ohne dass sie es gehört hatte. Wie es aussah, hatte er die Entfernung von seiner Wohnung zum Tatort in Rekordgeschwindigkeit zurückgelegt. Im Licht der hinter den Wolken hervortretenden Sonne glitzerten einzelne silberne Haare in seinem Schnauzer, der Anna immer an Tom Selleck und eine ihrer Lieblingsserien aus den 80ern erinnerte: Magnum. Die tiefen Falten um seinen Mund und die Tränensäcke unter den durchdringend grauen Augen verliehen ihm allerdings ein müdes Aussehen

»Ich kann’s ihm kaum verdenken.« Anna verstaute ihren Block in der Tasche.

»Was wissen wir bis jetzt?«, fragte Alexander Wolf.

»Nicht viel. Bea hüllt sich wie immer in Schweigen.« Sie zählte die bisher bekannten Fakten auf und zuckte die Achseln.

»Dann lass uns doch mal sehen, ob Rainer uns schon was sagen kann«, schlug Wolf vor.

Entlang der Trasse ging es zurück zum Tatort. Mit dem Aufreißen des Himmels hatte der Wind gedreht. Hatte es bei Annas Ankunft hauptsächlich nach feuchter Erde, totem Laub und Hundescheiße gerochen, stach ihr jetzt der süßliche Leichengeruch in die Nase. Wäre das Wetter in den vergangenen Tagen nicht so scheußlich gewesen, hätte bestimmt irgendein Hundebesitzer die Frau gefunden.

»Wie lange dauert das noch mit dem Zelt?«, hörte sie Rainer Stemmler von der Spurensicherung rufen. »Eigentlich ist es ein Schnellaufbauzelt. Wenn ihr weiter so bummelt, fängt es wieder an zu regnen!«, schimpfte er.

Immer noch kämpften drei Mann in weißen Schutzanzügen mit dem riesigen weißen Zelt, das für gewöhnlich im Tatortwagen untergebracht war. Darin befanden sich ein Metallsuchgerät, neonfarbene Stangen, Müllsäcke, Scheinwerfer, Arbeitsschutzhelme, Bauhandschuhe, eine ausziehbare Leiter, Besen und mehrere Schaufeln für Erd- und Pflanzenspuren. Und natürlich zahllose Plastik- und Papiertüten, Anzüge, Überschuhe und was man sonst noch so bei einem Tatort – insbesondere auch im Freien – benötigte.

Ein Generator surrte. Mit seinem Strom wurden die Handscheinwerfer der Spurensicherung und die grelle »Crime Light«-Lampe gespeist. Das machte nicht nur Schuhlaufflächenspuren und Reifenabdrücke besser sichtbar, sondern auch jedes Staubkorn in der Nähe. Um die Leiche herum und auf dem Fußweg vom Parkplatz zum Zaun sicherten die Techniker Laubblätter, Gräser und Erdreich, um im Fall einer Verhaftung Vergleichsproben zu haben. Überall lagen bereits die schwarzen Plastikkarten mit den weißen Nummern, mit denen die Spuren markiert wurden.

Noch bevor sie das Absperrband des inneren Tatorts erreicht hatten, tauchte die Rechtsmedizinerin am Zaun auf.

»Anna, ich glaube, du solltest dir das mal ansehen!«, rief sie.

Ihr Chef hob erstaunt die Brauen. Das war nicht üblich. Normalerweise durfte niemand außer den Gerichtsmedizinern und den Kriminaltechnikern den Tatort betreten, bis dieser freigegeben wurde.

Bea Schiller winkte ungeduldig. »Mach schon, zieh dich an.«

»Ist wohl besser, du tust, was sie will«, sagte Alexander Wolf. »Je schneller die Leiche zur Obduktion kommt, desto besser. Ich lasse mir von Rainer einen Überblick geben. Dann trommle ich alle für die erste SOKO-Besprechung im Präsidium zusammen. Der Täter hat schon genug Vorsprung.«

Anna schüttelte den Kopf, trottete aber gehorsam zum Einsatzwagen der Spurensicherung, um sich dort einen der in Plastik eingeschweißten Anzüge zu holen. Ohne »Ganzkörperkondom« kein Betreten des Tatorts. Ungeschickt kämpfte sie sich in den Overall, befestigte Füßlinge über ihren Schuhen und streifte zwei Paar Handschuhe über. Bei nur einem Paar konnte es immer passieren, dass die Hautschuppen der Ermittler den Tatort verunreinigten. Nachdem auch der Mundschutz saß, stakste sie zu dem offen stehenden Eisentor.

»Na super, noch ein Elefant, der durch meinen Tatort trampelt«, grummelte Rainer Stemmler.

»Lass sie in Ruhe, du alter Bruddler, ich brauche sie hier«, schoss die Gerichtsmedizinerin zurück.

Anna schob sich an Stemmler vorbei, der ihrem Chef gerade erklärte, dass weit und breit keine Kleidung zu finden war. Einer seiner Kollegen war damit beschäftigt, den Zaun mit Fingerabdruckpulver zu bestäuben. Keine leichte Aufgabe, da ein Teil der Oberfläche nass war. Immer noch tropfte der Regen der letzten Nacht von den Bäumen. Zwei weitere Kriminaltechniker knieten im toten Laub des Vorjahres und nahmen mit Plastikpinzetten jeden Quadratmillimeter auseinander. Eine der jüngeren Kolleginnen pappte auf die trockenen Untergründe Klebestreifen auf, um nach Faserspuren und Haaren zu suchen.

So vorsichtig wie möglich tastete Anna sich die Trasse innerhalb des Zauns entlang, bis sie Bea Schiller erreichte. Sie kauerte neben der Leiche – dem wichtigsten Beweisstück – in deren Rektum das Leichenthermometer steckte. Die Hände der Toten hatte die Gerichtsmedizinerin bereits mit Plastiktüten versiegelt, damit keine Spuren verloren gehen konnten. Da die Frau mit dem Gesicht nach unten lag, konnte man außer der schneeweißen Haut, dem langen schwarzen Haar und den blau-violetten Totenflecken nicht viel erkennen. An einigen Stellen hatten sich die Aasfresser an ihr gütlich getan. Allerdings wimmelte ihre Haut wegen des Regens und der kühlen Temperaturen der vergangenen Nächte noch nicht von den Larven der Lucilia sericata, der Goldfliege, und der Calliphora vicinia, der blauen Schmeißfliege. Sie wirkte unecht und wächsern. Und achtlos weggeworfen.

»Anna«, sagte die Ärztin und kam auf die Beine. Sie schien betroffen. »Ich weiß nicht, wie ich dir das schonend beibringen soll«, begann sie. »Aber ich glaube, es ist möglich, dass du weißt, wer die Tote ist.«

Annas Magen zog sich zusammen. Bitte nicht!, dachte sie. War das nicht der größte Albtraum aller Polizisten? Zu einem Tatort zu kommen, an dem jemand lag, den man kannte?

Bea legte ihr die behandschuhte Hand auf den Arm. »Es kann ein Zufall sein, aber ich kann mich erinnern, dass du mir mal davon erzählt hast.« Sie schob Anna auf die Leiche zu. Nachdem sie das Thermometer entfernt und die Temperatur notiert hatte, drehte sie die Frau behutsam auf den Rücken. Sie hatte keine Augen mehr. Einige Aaskäfer huschten davon. Durch die Totenflecken waren die Haut ihrer Brust, ihres Bauches, ihrer Beine und einer ihrer Wangen violett verfärbt. Aber der Kolibri auf ihrer rechten Brust war dennoch deutlich zu erkennen.

Fassungslos starrte Anna auf die bunt schillernde Tätowierung hinab. Sie sah weder die Bissspuren der Tiere, noch die dunklen Male am Hals der Leiche. Nur den Vogel.

»Scheiße!«, war alles, was ihr einfiel.

»Sie ist es, nicht wahr?«, fragte die Gerichtsmedizinerin. Sie fasste Anna bei den Schultern und wollte sie zur Seite schieben. Aber Anna machte sich mit einer heftigen Bewegung von ihr los. Die Welt schien sich mit einem Mal zu drehen. Plötzlich waren sie wieder da: die Wut, die Ohnmacht, der Hass. All das, was sie für Dr. Heinemann so sorgsam in einem Kämmerlein ihres Verstandes weggesperrt hatte. Aber die Frau zu ihren Füßen riss alle Barrieren nieder. Sie grub die Fingernägel in die Handflächen, bis sie ein stechender Schmerz durchzuckte. Was war los mit ihrem Leben? Hatte sich denn alles gegen sie verschworen? Sie zwang sich zu einer ausdruckslosen Miene. Als sie ihre Gefühle wieder halbwegs unter Kontrolle hatte, sagte sie tonlos: »Das ist eindeutig Sarah.«

Kapitel 5