Joseph Kiermeier-Debre
Goethes Frauen
44 Porträts aus Leben und Dichtung
Deutscher Taschenbuch Verlag
Originalausgabe 2011
© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
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eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 40816 - 5 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 14025 - 6
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Vorbemerkung
Katharina Elisabeth Textor Frau Rat Goethe (1731–1808)
Cornelia Friederica Christiana Goethe (1750–1777)
Anna Katharina Schönkopf (1746–1810)
Susanna Katharina von Klettenberg (1723– 1774)
Friederike Elisabeth Brion (1752–1813)
Elisabeth: Götz von Berlichingen
Maria: Götz von Berlichingen
Adelheid: Götz von Berlichingen
Charlotte Sophie Henriette Buff (1753–1828)
Lotte: Die Leiden des jungen Werthers
Gretchen: Faust I
Marie von Beaumarchais: Clavigo
Anna Elisabeth Schönemann (1758–1817)
Stella: Stella
Luzie: Stella
Anna Amalia, Herzogin von Sachsen-Weimar und Eisenach (1739– 1807)
Charlotte Albertine Ernestine von Stein (1742– 1827) – vor der ›Italienischen Reise‹
Marianne: Die Geschwister
Corona Elisabeth Wilhelmine Schröter (1751–1802)
Iphigenie: Iphigenie auf Tauris
Faustina
Clärchen: Egmont
Margarete von Parma: Egmont
Johanna Christiana Sophie Vulpius (1765–1816)
Leonore von Este: Torquato Tasso
Leonore Sanvitale: Torquato Tasso
Charlotte Albertine Ernestine von Stein (1742– 1827) – nach der ›Italienischen Reise‹
Mariane: Wilhelm Meister
Philine: Wilhelm Meister
Die Gräfin: Wilhelm Meister
Mignon: Wilhelm Meister
Christiane Amalie Louise Becker (1778– 1797)
Dorothea: Hermann und Dorothea
Henriette Caroline Friederike Jagemann (1777–1848)
Eugenie: Die natürliche Tochter
Maria Paulowna, Großherzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach (1786– 1859)
Bettine von Arnim (1785– 1859)
Christiane Friederike Wilhelmine Herzlieb (1789– 1865)
Charlotte: Die Wahlverwandtschaften
Ottilie: Die Wahlverwandtschaften
Maria Ludovica Beatrix, Kaiserin von Österreich (1787–1816)
Helena: Faust II
Marianne von Willemer (1784–1860)
Theodore Ulrike Sophie von Levetzow (1804–1899)
Ottilie Wilhelmine Ernestine Henriette von Goethe (1796– 1872)
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Johann Wolfgang von Goethe
1749 – 1832
In einem Buch, das sich als eine Galerie der wichtigsten Frauen aus Goethes Leben und Werk versteht, soll der Schlußvers des Dichters aus Faust II den Anfang machen: »Das Ewig-Weibliche / Zieht uns hinan.« Allerdings heißt es nicht von ungefähr schon zu Beginn von Faust I im ›Prolog im Himmel‹ ziemlich unverfroren: »Am meisten lieb’ ich mir die vollen frischen Wangen. / Für einen Leichnam bin ich nicht zu Haus«. Diese Weisheit gibt zwar der Teufel zu bedenken, aber auch Goethe gab der Damenwelt als »sterblich-weiblich« stets entschieden den Vorzug.
Welche Hauptrolle der nicht immer nur ›holden Weiblichkeit‹ in seinem Leben und Werk zukam, lässt sich diesem reizvollen Wechselspiel von realen und poetischen Mädchen und Frauen, in der bunten Mischung von unsterblicher Dichtung und sterblicher Wahrheit unschwer entdecken. Es ist ein Gemälde, ein Bild aus Bildern von Müttern, Schwestern und Ehefrauen, von hohen Geliebten und unschuldigen Verführerinnen, von frommen Freundinnen, keuschen Priesterinnen, Königinnen und Göttinnen, von koketten und scheuen weiblichen Wesen, von braven Töchtern und adligen Damen, von verliebten Mädchen, praktischen Frauen, von hinreißenden Schauspielerinnen und bösen Intrigantinnen. Sie alle sind der Vorschein oder der Abglanz des »Ewig-Weiblichen«.
|13|Die Mutter war jung, 18 Jahre alt, als sie am 28. August 1749 »mittags mit dem Glockenschlage zwölf« (Dichtung und Wahrheit) in Frankfurt am Main einem Sohn das Leben schenkte. Katharina Elisabeth Goethes Sohn erhielt in der Taufe die Vornamen ihres Vaters, des Stadtschultheißen Dr. jur. Johann Wolfgang Textor. Sie war die älteste Tochter und wurde nach einer einfachen bürgerlichen Erziehung 17-jährig nach Wahl ihrer Eltern am 20. August 1748 mit dem 38-jährigen Kaiserlichen Rat (ohne Amt) und reichen Privatmann Johann Caspar Goethe (1710 – 1782) verheiratet. Von den weiteren fünf Kindern, die Katharina Elisabeth ihrem Manne gebar, blieb nur die 1750 zweitgeborene Schwester Cornelia am Leben.
Vom Vater, der sich der Verwaltung seines beträchtlichen Vermögens und seiner gelehrten Liebhabereien widmete, erhielt Goethe nach den berühmten Versen der Zahmen Xenien (VI) »die Statur« und des »Lebens ernstes Führen«, von der Mutter aber »die Frohnatur« und seine »Lust zu fabulieren«. In der Tat weckte die Mutter, obwohl ihre Bildung lückenhaft war, mit ihrem Sinn fürs Theatralische und ihrer Vorliebe für das Märchenerzählen schon früh die dichterische Phantasie des aufgeweckten Knaben.
Bereits in den ersten Jahren seines Dichterruhms nach 1770 hielt sie offenes Haus für Goethes Freundeskreis (Herder, Lavater, die Stolbergs, Klopstock), durch den sie auch den mystifizierenden Namen »Frau Aja« oder »Mutter Aja« bekam, der ihr lebenslang blieb. Goethe berichtet |14|vom Besuch der Grafen Stolberg und vom »ersten heiteren Zusammentreffen, das sich höchst erfreulich zeigte«. Allein, so Goethe in Dichtung und Wahrheit (IV,18), »gar bald traten exzentrische Äußerungen hervor. – Zu meiner Mutter machte sich ein eigenes Verhältnis. Sie wußte in ihrer tüchtigen graden Art sich gleich ins Mittelalter zurückzusetzen, um als Aja bei irgendeiner lombardischen oder byzantinischen Prinzessin angestellt zu sein. Nicht anders als Frau Aja ward sie genannt, und sie gefiel sich in dem Scherze und ging so eher in die Phantastereien der Jugend mit ein, als sie schon in Götz von Berlichingens Hausfrau ihr Ebenbild zu erblicken glaubte.« Nach seinem Aufstieg in Weimar wurde sie als berühmte Dichtermutter zur beliebten Gastgeberin für erlauchte Besucher wie die Herzogin Anna Amalia aus Weimar oder die spätere Königin Luise von Preußen.
Nie verlor sie den Kontakt zu ihrem Sohn, und mit großem Interesse und mit viel Anteilnahme verfolgte sie Goethes Weimarer Existenz am Hofe. Die Briefe von ihr, die erhalten sind, zeigen sie zwar orthographisch unsicher, aber stets in ungezwungen-natürlichem und launigem Plauderton mit ihrem »Hätschelhans«. Sie hat ihn in Weimar wegen ihrer Reiseunlust nie besucht, aber – wie Mütter so sind – regelmäßig mit Geschenken und Spezialitäten aus Frankfurt versorgt.
Nachdem ihr Goethe bei einem Besuch in Frankfurt 1792 nach fast vier Jahren endlich von seinem Verhältnis mit Christiane Vulpius und seinem Sohn erzählt hat, entwickelt die praktisch denkende und vorurteilslose Frau sehr bald eine herzliche Beziehung zu Christiane, dem |15|Haus- und Bettschatz des Sohnes. An Goethe schreibt sie am 24. September 1795: »Doch da unter diesem Mond nichts Vollkommenes anzutreffen ist, so tröste ich mich damit, daß mein Hätschelhans vergnügt und glücklicher als in einer fatalen Ehe ist. Küsse mir Deinen Bettschatz und den kleinen August und sage letzterem, daß das Christkindlein ihm schöne Sachen von der Großmutter bringen soll.«
1797 gab es dann endlich Besuch von der unheiligen Familie. Er führte schnell zu einem traulichen Umgang der beiden Frauen, die Goethe aus intimster Nähe kannten. Er seinerseits erkannte wohl gewisse Gemeinsamkeiten in Mutter und Frau, was sein Verhältnis zu Christiane wiederum vorteilhaft bestimmte. Nachdem Goethe sein von der Weimarer Gesellschaft als anstößig empfundenes freies Liebesverhältnis mit Christiane 1806 hatte einsegnen lassen, erfolgte ein zweiter Besuch Christianes im Jahre 1807 bei der Mutter. Er bestätigte Frau Aja ihre hohe Meinung von Christianens Wert endgültig. Sie teilt es ihrem Sohn in direkter, gleichwohl unaufdringlicher Weise mit: »Du kannst Gott danken. So ein liebes, herrliches, unverdorbenes Gottesgeschöpf findet man sehr selten. Wie beruhigt bin ich jetzt, da ich sie genau kenne, über Alles, was Dich angeht. Und was mir unaussprechlich wohl tat, war, daß alle Menschen, alle meine Bekannten, sie liebten.« (17. April 1807)
»Die Freudigkeit ist die Mutter aller Tugenden«, lässt Goethe im Götz von Berlichingen sprechen. Frau Rat Goethe schien das zu einer Maxime ihres Lebens gemacht zu haben, und sie verübelte Fröhlichkeit und Freude keinem |16|Menschen, am allerwenigsten ihrer Schwiegertochter. »Tanzen Sie immer, liebes Weibchen. Tanzen Sie – fröhliche Menschen, die mag ich zu gern – und wenn sie zu meiner Familie gehören, habe ich sie doppelt und dreifach lieb.«
Selbst in ihrem Sterben schien sie, wenn die überlieferte Anekdote stimmt, solche Fröhlichkeit nicht verlassen zu haben. Lebensnah und sorgend beschäftigt bis zum Ende antwortete sie einem Dienstmädchen, das eine Einladung zu einer Gesellschaft überbrachte: »Richten Sie nur aus, die Rätin kann nicht kommen, sie muß alleweil sterben!«
Am 13. September 1808 starb Frau Rat Goethe im Alter von 77 Jahren. Ihr Sohn war 59 Jahre alt und gerade auf der Rückreise von Franzensbad nach Weimar befindlich, wo er am 17. September gegen 1 Uhr mittags eintraf. Hier erreichte ihn wenige Stunden später die Trauerpost. »Der Tod meiner theuren Mutter«, schreibt Goethe am 21. September an Silvie von Ziegesar, »hat den Eintritt nach Weimar mir sehr getrübt.«
|19|Zum erstgeborenen Sohn gesellte sich im Haus am Großen Hirschgraben in Frankfurt bereits ein Jahr später, am 7. Dezember 1750, eine Tochter. Goethes Schwester erhielt die Namen Cornelia Friederike Christiane und ihr folgte ein weiterer Sohn, der aber die Kinderjahre nicht überlebte. Goethe konnte deshalb gar kein eigentliches Verhältnis zu diesem Bruder entwickeln, dafür aber ein sehr nachhaltiges zu seiner Schwester. »Unter mehreren nachgebornen Geschwistern«, schreibt Goethe in Dichtung und Wahrheit (I,1), »die gleichfalls nicht lange am Leben blieben, erinnere ich mich nur eines sehr schönen Mädchens, die aber auch bald verschwand, da wir denn nach Verlauf einiger Jahre, ich und meine Schwester, uns allein übrig sahen, und nur um so inniger und liebevoller verbanden.«
Die Geschwisterbande konnten sich nicht zuletzt deshalb so eng verschlungen gestalten, weil ihnen der Vater eine gemeinsame und von ihm sehr sorgfältig überwachte Ausbildung zukommen ließ. Abgeschottet von gleichaltrigen Mädchen wurde ihr der Bruder zu einem umso engeren Vertrauten und Beschützer, der sich, kaum war er zum Studium außer Haus in Leipzig, auch zum literarischen Berater und Erzieher der Schwester ernannte. In seinen Briefen aus Leipzig in den Jahren 1765 – 67 gab er der Schwester wie ein literarisch-pädagogischer Korrespondent in vier Sprachen gleichzeitig Lektüreempfehlungen und Hinweise auf das aktuelle Theater- und Konzertgeschehen und bat sie, neben den Sprachen auch die |20|Haushaltung und die Kochkunst zu studieren, sich im Klavierspielen, Tanzen und Kartenspielen zu perfektionieren und den Putz mit Geschmack zu tragen. »Wirst du nun dieses alles, nach meiner Vorschrift getahn haben, wenn ich nach Hause komme; so garantire ich meinen Kopf, du sollst in einem kleinen Jahre das vernünftigste, artigste, angenehmste, liebenswürdigste Mädgen, nicht nur in Frankfurt, sondern im ganzen Reiche sein.« (Leipzig, 12. Oktober 1767)
Das war, mit Verlaub, das Idealprofil einer/seiner künftigen Ehefrau bzw., wenn es in solcher Verkürzung zu sagen gestattet sein mag, hier wird ein Bild von Weiblichkeit entworfen, in dem Charlotte von Stein und Christiane Vulpius in eins präfiguriert werden. Das Leben wird später nur ein Nacheinander dieses gedoppelten Schwesterbildes zulassen, wobei sich in Christiane schlussendlich das Mutterbild durchzeichnet.
Cornelia nahm mit ihrer hohen intellektuellen Begabung alle Anregungen des Bruders begierig auf und zeit ihres kurzen Lebens galt ihm ihre Bewunderung. Die Fixierung auf ihn verstärkte sich in den frühen 70er Jahren, die Goethes kometenhaften literarischen Aufstieg brachten. An allen entstandenen Arbeiten dieser Zeit nahm sie lebhaften Anteil. Die Entstehungsgeschichte des alle Grenzen der dramatischen Gattung nachhaltig verändernden Götz von Berlichingen ist nach Goethes eigenem Eingeständnis ohne die fortdauernde Teilnahme und den Antrieb durch die Schwester kaum denkbar: »Ich hatte mich davon, so wie ich vorwärts ging, mit meiner Schwester umständlich unterhalten, die an solchen Dingen mit Geist und Gemüt |21|teil nahm, und ich erneuerte diese Unterhaltung so oft, ohne nur irgend zum Werke zu schreiten, daß sie zuletzt ungeduldig und wohlwollend dringend bat, mich nur nicht immer mit Worten in die Luft zu ergehen, sondern endlich einmal das, was mir so gegenwärtig wäre, auf das Papier festzubringen.« (Dichtung und Wahrheit, III,13)
Die Ehe, die die Schwester am 1. November 1773 mit Goethes Freund aus Frankfurter und Leipziger Tagen, mit Johann Georg Schlosser, einging, verursachte im innigen Verhältnis von Bruder und Schwester entschiedene Veränderungen. Man muss kein Anhänger der psychoanalytisch zugespitzten These vom inzestuösen Verhältnis der Geschwister sein, um zu begreifen, wie schmerzlich für beide diese Entscheidung war. Der um zehn Jahre ältere und schon arrivierte Jurist und Anwalt brachte die Beziehungskoordinaten gehörig durcheinander; Goethe nahm ihm das übel und er machte aus seinem Unwillen kein Hehl. Die Heirat schränkte nicht nur den Familienkreis ein, entzog dem Bruder die Schwester, der Mutter die »Gehülfin« und dem Vater einen Lehrling, sondern dem Bruder – wie er glauben mochte – ein Geschöpf seines Willens. Er hätte sie, in deren Wesen »nicht die mindeste Sinnlichkeit« lag, wenn er manchmal über ihr Schicksal phantasierte, »nicht gern als Hausfrau, wohl aber als Äbtissin, als Vorsteherin einer edlen Gemeine gar gern denken« mögen. (Dichtung und Wahrheit IV,18)
Auf seiner ersten Reise in die Schweiz in Werther-Tracht besucht Goethe 1775 zusammen mit Jakob Michael Reinhold Lenz die Schwester und den Schwager Ende Mai/Anfang Juni in Emmendingen bei Freiburg im Breisgau. »Ich |22|achtete diesen Schritt meine Schwester zu sehen, für eine wahrhafte Prüfung. Ich wußte, sie lebte nicht glücklich, ohne daß man es ihr, ihrem Gatten oder den Zuständen hätte Schuld geben können. Sie war ein eigenes Wesen, von dem schwer zu sprechen ist«, von dem Goethe aber selbst im Abstand eines halben Jahrhunderts das Mitteilbare kaum zu sagen weiß, es zwischen den Zeilen zu erraten bittet. (Dichtung und Wahrheit IV,18)
Was aus diesem kurzen und unglücklich-kränklichen Eheleben an Mitteilbarem noch zu sagen ist: Cornelia ereilte das nämliche Schicksal wie viele Frauen der Zeit. Sie starb nach der Niederkunft mit ihrer zweiten Tochter Katharina Elisabeth Julie am 8. Juni 1777, knapp einen Monat nach deren Geburt. Zu seinen Nichten hatte Goethe keine weitere Beziehung mehr. Der Mutter schrieb er aus Weimar am 28. Juni 1777: »Ich kann Ihr nichts sagen, als dass das Glück sich gegen mich immer gleich bezeigt, dass mir der todt der Schwester nur desto schmerzlicher ist da er mich in so glücklichen Zeiten überrascht. Ich kann nur menschlich fühlen, und lasse mich der Natur die uns heftigen Schmerz nur kurze Zeit, trauer lang empfinden lässt.«
Die glücklichen Zeiten schreiben sich her aus der Begegnung mit Charlotte von Stein, in der die Schwester ihre Kompensation findet.
|25|Es mag einige Unterschiede zwischen Frankfurt und Leipzig gegeben haben, der größte im Vergleich der Metropolen aber war wohl der, dass der 16-jährige Goethe, der am 3. Oktober 1765 zur Messezeit im »Pleiße-Athen« ankam, nun aus der väterlichen und hofmeisterlichen Obhut in eine relative Freiheit entlassen war. Er hatte einen monatlichen Wechsel von 100 Gulden in der Tasche und trat sein von den Plänen des Vaters bestimmtes Jurastudium mit dem Gefühl eines Gefangenen an, der seine Ketten abgelöst hatte. Den modischen Versuchungen der Stadt, die sich weniger altertümelnd als die Geburtsstadt gab, konnte er nicht gänzlich widerstehen, und ihrer Schöngeisterei war er schnell erlegen. Er stilisierte sich seinerseits bald als große Figur.
Unterstützung und Beratung in dieser Phase eigener Selbsterkundung fand Goethe bei Ernst Wolfgang Behrisch, einem 11 Jahre älteren Hofmeister, der in Kleidung und Auftreten eine gewisse Affektiertheit pflegte, der aber literarisch vorzüglich gebildet war und der als Erster Goethes dichterisches Talent erkannte und unterstützte. Goethe lernte ihn um die Ostermesse 1766 durch seinen späteren Schwager Johann Georg Schlosser in der Tafelrunde der Frankfurter in der Weinwirtschaft von Christian Gottlob Schönkopf, dessen Frau aus der Mainstadt stammte, kennen. Rasch wurde er zu Goethes engstem und einflussreichstem Freund in den Leipziger Jahren, auf den er leidenschaftlich parteinehmende Oden verfasste. Er wurde |26|auch der Empfänger seiner frühen dramatischen Briefe, in denen er ihm von seinem Liebeskummer und seiner rasenden Eifersucht berichtete.
Bei Schönkopf lernte er aber nicht nur Behrisch kennen, sondern dort wurde er auch mit Anna Katharina, der Tochter der Wirtsleute bekannt, einem »gar hübschen netten Mädchen«, das ihm sehr wohl gefiel, vor allem, da sich leicht Gelegenheit fand, freundliche Blicke zu wechseln. (Dichtung und Wahrheit, II,7) Die beiden waren schnell verliebt ineinander und in der Folgezeit entstanden eine Reihe von Gedichten in den Möglichkeiten scherzhaft-anakreontischer Lyrik der Zeit. In Abwandlung von ›Anna‹ wurden sie 1767 von Behrisch unter dem Titel Annette herausgegeben, allerdings in handschriftlicher Form, da dieser eine preziöse Abneigung gegen gedruckte Bücher pflegte.
Natürlich waren die Gedichte zuallererst für »Ännchen«, »Käthchen« oder »Annette« Schönkopf gedacht, die um drei Jahre älter war als Goethe und die mit seinem Ungestüm und seiner Eifersucht ihre liebe Not hatte. Sowohl ein Brief an die Schwester Cornelia vom August 1767 – »Annette ou ma Muse ce que sont des synonymes« – als auch das Eröffnungsgedicht spricht dem Mädchen die kleine Sammlung zu:
Es nannten ihre Bücher
Die Alten sonst nach Göttern,
Nach Musen und nach Freunden,
Doch keiner nach der Liebsten;
Warum sollt’ ich, Annette,
Die Du mir Gottheit, Muse,
|27|Und Freund mir bist, und Alles,
Dies Buch nicht auch nach Deinem
Geliebten Namen nennen?
Das junge, hübsche, muntere, liebevolle und höchst angenehme Mädchen, das »in dem Schrein des Herzens eine Zeitlang als eine kleine Heilige aufgestellt zu werden« verdiente, »um ihr jede Verehrung zu widmen, welche zu erteilen oft mehr Behagen erregt als zu empfangen« (Dichtung und Wahrheit II,7), mochte sich durch die kleine Sammlung wohl geschmeichelt fühlen. Allein Goethe machte sicherlich auch unter dem Einfluss des wunderlichen Behrisch aus seiner Liebe eine exaltierte Eifersuchtsgeschichte, mit der er das unschuldige Mädchen quälte. Sein Stutzertum und seine Schöngeisterei gerieten ihm zu einem Rollenspiel, das er in seinen überhitzten Briefen an Behrisch wiederum sehr reflektiert kommentierte.
»Durch ungegründete und abgeschmackte Eifersüchteleien«, schreibt der um Gerechtigkeit bemühte Goethe in seiner großen Konfession, in Dichtung und Wahrheit (II,7), »verdarb ich mir und ihr die schönsten Tage. Sie ertrug es eine Zeitlang mit unglaublicher Geduld, die ich grausam genug war, aufs Äußerste zu treiben.« Schließlich führten seine Tollheiten und die schrecklichen Szenen, die er ihr machte, zum Bruch des quälenden Verhältnisses. Im April 1768 trennte man sich nach einem klärenden Gespräch freundschaftlich voneinander. Das exaltierte Verhältnis und die Trennung von Anna wie auch von Behrisch scheint für Goethe sogar gesundheitlich nicht ohne Folgen gewesen zu sein. Er selbst bringt diesen Zusammenhang ins Spiel, wenn er seinen Blutsturz Ende Juli und die dann |28|folgenden schweren Krankheiten nach seiner Abreise aus Leipzig am 28. August 1768 als selbst verschuldeten Beitrag zu seinen körperlichen Übeln bezeichnete.
Gerettet vor dem vielleicht völligen Untergang durch diesen Verlust habe ihn das poetische Talent mit seinen Heilkräften. In dem kleinen dramatischen Gedicht, dem einaktigen Schäferspiel Die Laune des Verliebten habe er die unseligen Folgen seiner siedenden Leidenschaft auskuriert. Die kleine Pastorale wird ihm zum beispielhaften Zeugnis für den Bekenntnischarakter aller seiner Werke, die »nur Bruchstücke einer großen Konfession« sind, »welche vollständig zu machen dieses Büchlein [gemeint ist Dichtung und Wahrheit (II,7)] ein gewagter Versuch ist«.
Das beispielhafte Zeugnis für die Wahrheit der Erlebnisunmittelbarkeit mündet seinem Genre gemäß ins Happy End. Dort werden die grundlosen Eifersuchtsanfälle von Amines Liebhaber durch eine kleine Intrige geheilt. Am Ende kann die regieführende Egle sowohl an Amine wie ans Publikum gewendet Goethes Fazit ziehen:
»Ihr Eifersüchtigen! die ihr ein Mädchen plagt,
Denkt euren Streichen nach, dann habt das Herz, und
klagt.«
Der eifersüchtige Eridon bleibt geheilt bei Amine, der sich poetisch kurierende Goethe geht 1770 von Frankfurt nach Straßburg. Was ist mit dem Verlust des Mädchens, was ist mit Anna Katharina Schönkopf passiert? Es wäre zu billig zu sagen, sie hat sich getröstet und im Mai 1770 geheiratet, einen gewissen Dr. Christian Karl Kanne, einen Juristen und nachmaligen Vizebürgermeister der Stadt Leipzig.
|31|An seinem 19. Geburtstag, am 28. August 1768, tritt also Goethe nach fast dreijährigem Studienaufenthalt in Leipzig die Rückreise nach Frankfurt an. Nicht weil er Ende Juli einen Blutsturz erlitten hatte, trifft er am 1. September als ein Gescheiterter in Frankfurt ein, sondern weil die körperlichen Leiden Ausdruck tiefergehender psychischer Störungen waren. Das stutzerhafte Leben mit dem exzentrischen Freund Behrisch, die exaltierte Liebe zu Käthchen Schönkopf einerseits, der Zeichenunterricht bei dem geschätzten Maler und Theoretiker Adam Friedrich Oeser und der Umgang mit dessen liebreizenden Tochter Friederike andererseits hatten nicht vermocht, den jungen Studenten von seinen Pubertätsnöten zu befreien. Den »Schiffbrüchigen«, als den er sich selbst sah, zu retten, gelang eigentlich erst einer Frau in Frankfurt, von der man sich eine Heilung der physischen und psychischen Krankheiten und natürlich auch der sexuellen Obsessionen eines Junggenies eher nicht erwartet hätte.
Die Frau war ein kränkliches Stiftsfräulein, eine Freundin von Goethes Mutter und eine Verfasserin erbaulicher pietistischer Schriften. Ihr gelang es, das Vertrauen des in jugendlich-unreifen Gefühlslagen Verwirrten zu erringen und durch ihre tolerante und unorthodoxe Frömmigkeit zu heilen. Fast eineinhalb Jahre dauerte die Kur und sie perfektionierte Goethes psychisch-religiöse Haushaltsführung entscheidend. Zunächst ist das Stiftsfräulein einfach im Hause als eine der Freundinnen der Mutter, und |32|schnell vermittelt sie dem kränklichen und oft bettlägrigen jungen Mann, dass ihre Empfindsamkeit und Religiosität aus dem Geiste der zinsendorfschen und herrnhutischen Brüdergemeinden unkonventioneller war als die ihrer und der Mutter sonstigen geistlichen Freundinnen und Gottesverehrerinnen. »Sie war zart gebaut«, charakterisiert Goethe das geistliche Fräulein in Dichtung und Wahrheit (II,8), »von mittlerer Größe; ein herzliches natürliches Betragen war durch Welt- und Hofart noch gefälliger geworden. (…) Heiterkeit und Gemütsruhe verließen sie niemals.«
Im weiteren Verlaufe der Schilderung der entstehenden Seelenfreundschaft vermeint Goethe, dass sie an ihm das ideale Geschöpf ihres Missionswerkes gefunden habe. Er, ein junges und lebhaft zu einem unbekannten Heile strebendes Wesen, sei genau der Sünder von mittlerer Qualität gewesen, an dem sich ihre anmutige, ja geniale Weise erbaulich-empfindsamer Unterweisung erfolgreich versuchen konnte. Weder war er »an Leib noch Seele ganz gesund« und in »keinem behaglichen Zustand«, aber doch auch nicht so »außerordentlich sündhaft«, dass er als ein aussichtsloser Fall gelten konnte. Wenn sie also an ihm fand, so Goethe, »was sie bedurfte«, stellt sich uns natürlich die Frage, was er seinerseits an ihr fand, das ihm mangelte.
An gelehrter und philosophischer Materie sich heranzubilden, war kein Mangel, aber für die seelisch-psychische Bewirtschaftung junger Männer hatte das Zeitalter keine Vorsorge getroffen, keine Einrichtungen und Anstalten vorgesehen. Jedenfalls kam die neue pietistisch-empfindsame Art der Selbstbeobachtung und Introspektion seinen |33|Bedürfnissen nach Pflege seiner Innerlichkeit jenseits der üblichen gesellschaftlichen und bildungsmäßigen Standards sehr entgegen. »Meine Unruhe«, so stellt Goethe in Dichtung und Wahrheit (II,8) fest, »meine Ungeduld, mein Streben, mein Suchen, Forschen, Sinnen und Schwanken legte sie auf ihre Weise aus, und verhehlte mir die Überzeugung nicht, sondern versicherte mir unbewunden, das alles komme daher, weil ich keinen versöhnten Gott habe.« Letzteres mochte Goethe so nicht glauben und annehmen, und es gab gelegentlich sogar Streit darüber, aber er sah sich in jenen Bezirken des menschlichen Lebens ernst genommen, für die sich ansonsten keine Fachdisziplin der Zeit zuständig erklärt hatte.
Aus der beidseitigen Überzeugung aber, dass das »Heil des Körpers (…) zu nahe mit dem Heil der Seele verwandt« war, begannen sie gemeinsame Studien von Schriften, die alle ihren »Stammbaum in gerader Linie bis zur neuplatonischen Schule verfolgen« konnten. Eine Welt scheinbarer Seltsamkeiten und phantastisch anmutender Naturbetrachtung tat sich da auf, die der leib-seelischen Balance und den spirituellen Bedürfnissen des jungen Goethe sehr dienlich war. Die Auseinandersetzung mit vielerlei hermetischem Schrifttum und das erwachte Interesse an alchemistischen Experimenten fand darüber hinaus reichlich Niederschlag in der poetischen Produktion der Folgezeit. Fausts Studierstube und Laboratorium, seine kabbalistisch-magischen Versuche und sein Forschen, seine rastlose Suche und seine Unruhe sind ohne das anderthalbjährige gemeinsame Ausforschen der Geheimnisse der Natur im Zusammenhang mit der menschlichen Seelenverfassung |34|und einer natürlichen Religiosität nicht denkbar. In ihrer gelassenen Gesellschaft erlöste Susanna von Klettenberg wie nebenbei den jungen Mann aus seinen Pubertätsnöten und brachte damit auch seine körperliche Heilung auf einen guten Weg.
Im März 1770 ist Goethe so weit wiederhergestellt, dass an eine Fortsetzung seiner universitären Studien zu denken ist. Diesmal geht es in den Fußstapfen des Vaters zum Studium nach Straßburg. Das erworbene Wissen wird auch dort weitergepflegt, und natürlich ändern sich zunehmend die Akzente in Goethes naturmagischen und metaphysischen Anschauungen, und seine seelische Verfassung öffnet sich neuen Horizonten. Dennoch hat er das Frankfurter Stiftsfräulein nie vergessen. Er war sich lebenslang im Klaren darüber, was er an ihr gefunden hatte. Es gab weiterhin Kontakte und Besuche bei ihr bis zu ihrem Tod am 13. Dezember 1774 in Frankfurt. Noch im Juni war es auf Lavaters Reise durch Deutschland auf Goethes Vermittlung hin zu einem ›merkwürdigen und folgenreichen‹ Religionsgespräch zwischen dem Schweizer Schriftsteller und reformierten Züricher Prediger und der empfindsamausgeglichenen Seele an seinem langen und medizinisch nie recht fassbaren Krankenbett gekommen. Das Gespräch machte ihm deutlich, dass es ein geschlechtsspezifisches Verhältnis zu Gott gebe, dass, wie Goethe sagt, »Männer und Frauen einen verschiedenen Heiland bedürfen«. (Dichtung und Wahrheit III,14) Fräulein von Klettenberg verhielt sich zu ihrem Heiland wie zu einem Geliebten, Lavater wie zu einem Freund.
Diese Erfahrung hatte literarische Folgen, als Goethe |35|die Aufzeichnungen der Susanne von Klettenberg für das sechste Buch seines Romans Wilhelm Meisters Lehrjahre zur Grundlage der dort eingeschobenen ›Bekenntnisse einer schönen Seele‹ machte. Nur in einer weiblichen Natur schien ihm innere Ausgeglichenheit und Frieden, schien ihm wirkliche Seelenharmonie möglich. Das Denkmal, das Goethe seiner priesterlichen Ärztin im Roman setzte, sorgte für vielerlei Mutmaßungen, wurde aber schon Mitte Dezember 1795 von Goethes Mutter bestätigt: »Habe Danck daß du der unvergeßlichen K. noch nach so vielen Jahren ein so schönes Denkmal gestiftet hast Sie kan dadurch nach Ihrem Tod noch gutes stiften.«
|39|Am 14. Oktober 1770 schreibt Goethe aus Straßburg an eine Freundin seiner Schwester Cornelia, dass er »einige Tage auf dem Lande bey gar angenehmen Leuten zugebracht« habe. »Die Gesellschaft der liebenswürdigen Töchter vom Hause, die schöne Gegend, und der freundlichste Himmel, weckten in meinem Herzen iede schlaffende Empfindung, iede Erinnerung an alles was ich liebe.« Sein Kommilitone und Tischgenosse Friedrich Leopold Weyland aus dem elsässischen Buchsweiler hatte ihn um den 10. Oktober im Hause des ihm weitschichtig verwandten Pfarrers Brion in Sesenheim eingeführt. Die dritte Tochter des Pfarrers, die 18-jährige Friederike, hatte es dem 21-jährigen Jurastudenten auf Anhieb angetan.
Aus dem Abstand von gut vierzig Jahren imaginiert sich Goethe die erste Begegnung so: »In diesem Augenblick trat sie wirklich in die Tür; und da ging fürwahr an diesem ländlichen Himmel ein allerliebster Stern auf.« Wiewohl Goethe, wenn er aus seinem Leben erzählt, die Wahrheit gerne dichterisch verklärt, die weitere Schilderung des Eindrucks, den Friederike auf ihn machte, darf einige Wahrheit für sich beanspruchen. »Schlank und leicht, als wenn sie nichts an sich zu tragen hätte, schritt sie, und beinahe schien für die gewaltigen blonden Zöpfe des niedlichen Köpfchens der Hals zu zart. Aus heiteren blauen Augen blickte sie sehr deutlich umher, und das artige Stumpfnäschen forschte so frei in die Luft, als wenn es in der Welt keine Sorge geben könnte; der Strohhut hing ihr am Arm, |40|und so hatte ich das Vergnügen, sie beim ersten Blick auf einmal in ihrer ganzen Anmut und Lieblichkeit zu sehn und zu erkennen.« (II,10)
Der Sommer – Goethe war seit dem 18. April 1770 in Straßburg immatrikuliert –, die schöne Gegend und der freundschaftliche Himmel verhalfen ansatzweise zum Durchbruch eines neuen Naturgefühls beim angehenden Dichter, die Liebe tat das Ihrige. Kaum aus Sesenheim in Straßburg zurück, erlaubt sich der empfindsame Besucher am 15. Oktober brieflich in die Vollen zu gehen. Mit einer stürmischen Anrede eröffnet Goethe seinen Brief: »Liebe neue Freundinn«, schreibt er. »Ich zweifle nicht Sie so zu nennen; denn wenn ich mich anders nur ein klein wenig auf die Augen verstehe; so fand mein Aug, im ersten Blick, die Hoffnung zu dieser Freundschafft in Ihrem, und für unsre Herzen wollt ich schwören; Sie, zärtlich und gut wie ich Sie kenne, sollten Sie mir, da ich Sie so lieb habe, nicht wieder ein Bissgen günstig seyn?«
Ob der Brief mit diesem »hübschen ersten Eingang«, wie die Weimarer Ausgabe gerührt vermerkt, wirklich so abgeschickt wurde, ist strittig; der Brief, den er wahrscheinlich abschickte, enthält jedenfalls – wer hätte es gedacht – den naheliegenden Plan wiederzukommen: »… schon der erste Gedanke, den wir hatten, der auch schon auf dem Weeg unsre Freude gewesen war, endigte sich in ein Projeckt, Sie balde wieder zusehen.«
Geschrieben und getan, und der Lieblingsroman der Literaturforschung, für die Dichtung ohne das »Erlebnis« undenkbar war, hatte seinen Anfang gefunden. Ende Oktober war er wieder da, auch Anfang November und im |41|Dezember 1770 zeigte sich Goethe nachweislich in Sesenheim. Im darauffolgenden Jahr blieb er sogar vom 18. Mai bis zum 23. Juni vor Ort und machte vom Pfarrhaus aus seine Streifzüge durchs Elsass. Dort erlauschte er nicht nur Volkslieder aus »denen Kehlen der ältesten Mütterchens« (an Herder im September 1771), sondern es entstanden natürlich jede Menge Liebesgedichte – die sogenannten Sesenheimer- und Friederiken-Lieder, die philologisch einige Probleme aufwerfen. Hält man sich an die unproblematischen Gedichte, die Goethe nicht nur zugeschrieben werden, sondern die er selbst autorisiert hat, so verbleiben einige wenige, wenngleich vollkommene Lieder, wie das Mailied, Mit einem gemalten Bande oder Willkommen und Abschied. Auf sie vor allem scheint das Motto gemünzt, das Goethe seinen Liedern später vorangestellt hat:
»Spät erklingt, was früh erklang,
Glück und Unglück wird Gesang.«
Von Glück und Unglück, von Liebesfreude und Liebesleid, von Abschied und Schmerz spricht das Gedicht, das spätestens im August 1771 entstanden sein muss: »Willkommen und Abschied«. Seine vierte Strophe erlaubt in der Tat kaum eine andere als eine radikal autobiographische Lektüre. Sie beschreibt auf poetische Weise jene Situation vom 7. August 1771, als Goethe Friederike ohne Erklärung für immer verließ, obwohl oder weil man sich in Sesenheim Hoffnung auf eine engere Verbindung machte. In Dichtung und Wahrheit fasst die beredte Dichterzunge den Abschied in sehr lapidarer Weise: »In solchem Drang und Verwirrung konnte ich doch nicht unterlassen, Friederiken |42|noch einmal zu sehen. Es waren peinliche Tage, deren Erinnerung mir nicht geblieben ist. Als ich ihr die Hand noch vom Pferde reichte, standen ihr die Tränen in den Augen, und mir war sehr übel zumute.« (III,11)
Das Gedicht verleiht den »peinlichen Tagen« und Goethes verdächtigem Vergessen anders als die Autobiographie einen unvergänglichen Glanz.
Der Abschied, wie bedrängt, wie trübe!
Aus deinen Blicken sprach dein Herz
In deinen Küssen welche Liebe,
O welche Wonne, welcher Schmerz!
Du gingst, ich stund und sah zur Erden
Und sah dir nach mit nassem Blick.
Und doch, welch Glück, geliebt zu werden,
Und lieben, Götter, welch ein Glück!
Aus welchen Gründen auch immer Goethe das Mädchen verließ, die Trennung war sehr schmerzhaft und hatte beiderseits einen schwer bezifferbaren Preis. Die Goethe-Forschung wird ihn gleichwohl am wenigsten nennen können. Zwar glaubte Goethe durch seinen Besuch am 25. September 1779 den unerklärbaren Bruch geheilt, wenn er an Charlotte von Stein schreibt: »Ich blieb die Nacht und schied den andern Morgen bey Sonnenaufgang, von freundlichen Gesichtern verabschiedet dass ich nun auch wieder mit Zufriedenheit an das Eckgen der Welt hindencken, und in Friede mit den Geistern dieser ausgesöhnten in mir leben kann.« Aber Goethes Glaube ist durch kein Wort des Mädchens bestätigt. Hier wie fast in allen Gedichten der Zeit schweigt das Mädchen, es bleibt sprachlos.
|43|Sprachlos blieb Friederike auch in ihrem weiteren Leben. Im Bereich der Spekulationen bewegen sich alle Aussagen über ihre Krankheit, über ihren Liebeskummer und über ihre unklare Beziehung zu Goethes Freund Jakob Michael Reinhold Lenz. Sie blieb unverheiratet und zog nach dem Tod des Vaters 1787 / 88 in die Pfarre ihres Bruders nach Rothau, später zum Schwager nach Diersburg und zuletzt nach Meißenheim. Die Inschrift auf ihrem Grabstein konzentriert ihr Leben auf ein, auf das Ereignis des Jahres 1770 / 71 und zwar so, dass sie auch darin nicht als ein »Ich« vorkommt:
»Ein Strahl der Dichtersonne fiel auf sie
So reich, daß er Unsterblichkeit ihr lieh!«
|47|Das Manuskript, das im Herbst des Jahres 1771 in etwa sechs Wochen in Frankfurt nach der Rückkehr Goethes aus dem Elsass nach der 1731 in Nürnberg erschienenen Lebens-Beschreibung Herrn Gözens von Berlichingen … von Wilhelm Friedrich Pistorius entstand, trug den Titel Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand. Dramatisiert. Die Schwester Cornelia hatte zur Niederschrift gedrängt und das Vorhaben zu dem Schauspiel kritisch begleitet, und sie war auch nicht ganz unschuldig an der ein gutes Jahr später erfolgten Umarbeitung dieses ›Urgötz‹, den Goethe sorgsam aufbewahrte.
Der sensationelle Erfolg des Stückes beim zeitgenössischen Publikum ist nicht dem Umstand geschuldet, dass hier vaterländische Geschichte und verklärte Lebensbeschreibung auf die Bühne gebracht wurden – Geschichte war neben der Bibel und der Mythologie stets die Hauptquelle dramatisch-tragischen Theaters –, sondern dass sie in einer Form vorgestellt sind, die bis dahin gänzlich unbekannt war. Als Formgeber entpuppte sich Shakespeare, den nur die allerwenigsten Geister der Zeit wirklich kannten, und er erlaubte, alle Gesetze der bis dato geltenden aristotelischen Poetik über den Haufen zu werfen. Alles konnte nun wild durcheinandergehen, die Schauplätze, die Zeiten und das Personal – hohe und niedrige Standespersonen konnten reden, wie es dem Autor gerade gefiel, in Vers und/oder in Prosa. »Durch die fortdauernde Teilnahme an |48|Shakespeares Werken«, so fasst Goethe in Dichtung und Wahrheit (III,13) später zusammen, »hatte ich mir den Geist so ausgeweitet, daß mir der enge Bühnenraum und die kurze, einer Vorstellung zugemessene Zeit keineswegs hinlänglich schienen, um etwas Bedeutendes vorzutragen. Das Leben des biedern Götz von Berlichingen, von ihm selbst geschrieben, trieb mich in die historische Behandlungsart, und meine Einbildungskraft dehnte sich dergestalt aus, daß auch meine dramatische Form alle Theatergrenzen überschritt, und sich den lebendigen Ereignissen mehr und mehr zu nähern suchte.«
Die neue Freiheit bot bisher nicht gekannte Möglichkeiten der Charakterisierung, und die dramaturgische Offenheit ließ erstmals auch Frauenbilder zu, die nicht auf stilisiert-pathetischem Kothurn einherschritten oder in reduziert-stereotypen Rollenklischees vorstellig wurden, sondern die als lebenswahr und -echt empfunden wurden, die in mittlerer menschlicher Lage auch die Identifikation eines bürgerlichen Publikums zuließen. Beispielhaft sind neben der Titelfigur deshalb die um sie gruppierten Frauenfiguren des Stückes geworden, die natürlich allesamt poetisch freie Erfindung sind.
Da ist zunächst die Ehefrau des Ritters Götz. »Wohl dem, der ein tugendsam Weib hat!«, entfährt es dem Klosterbruder Martin im Gespräch mit Götz, der ihm bestätigt, dass er ein »edles fürtrefliches Weib« habe. Brav ist sie, und das meint nicht bieder und gehorsam, sondern abgeleitet aus dem französischen »brave« soviel wie »tüchtig« und bei Männern vor allem »tapfer«. Elisabeth ist auf ihre Art auch tapfer, denn an der Seite des Ritters, der sich |49|für seine Überzeugungen in die Schlacht wirft, muss man diese Tugend besitzen und darf nicht ängstlich sein. Nicht im Sinne von wagemutig, sondern von mutig steht sie standhaft an seiner Seite, gefasst in allen Situationen, und zudem ist sie schlicht, arbeitsam, häuslich. Es sind Attribute, die Adelheid von Walldorf, die höfische Gegenfigur, sicherlich nicht beschreiben können, wohl aber Goethes Mutter, Frau Rat, die ihrerseits in solcher Weise später ihre Schwiegertochter, Goethes Christiane, beschrieb. Diese konnte noch nicht als Vorbild dienen, wohl aber lieferte die Mutter einige Züge zum Bild der Frau an der Seite des rauen Burgherrn auf Jagsthausen. Jedenfalls ließ Goethe die Mutter durchaus glauben, dass sie »in Götz von Berlichingens Hausfrau ihr Ebenbild« erblicken durfte. (Dichtung und Wahrheit IV,18)
Redlichkeit von der Art Elisabeths, das war ein bürgerlicher, ein emanzipatorischer Entwurf als Gegenbild zu höfisch-aristokratischer Geziertheit und Galanterie, und sie hat es schwer, heute in diesem Sinne noch über die Rampe zu kommen. Es haftet ihr unschön klebrig Deutsches an, aber auf dem zeitgenössischen Theater bedeutete es Natürlichkeit und Unmittelbarkeit eines unverfälscht authentischen Lebens. »Die Gestalt eines rohen wohlmeinenden Selbsthelfers in wilder anarchischer Zeit«, so Goethes Qualifizierung in Dichtung und Wahrheit (II,10), »erregte meinen tiefsten Anteil.« Das war ein Zugriff auf Geschichte, so ganz anders als alles, was die Gottsched-Schule lehrte, und nicht nur mit den männlichen Charakteren, sondern auch mit den Frauenzimmern des Stückes habe es das glückliche Bewenden, dass »der größte |50|Meister in weiblichen Charaktergemälden, Shakespeare selbst«, so kein geringerer als Christoph Martin Wieland im Teutschen Merkur (Juni 1774), »nirgend größer in dieser Art von Malerei als unser Dichter in seinen Gemälden von Maria, Elisabeth und Adelheid« sei. Wieland war einer der wenigen, der so sprechen durfte und konnte, kannte er doch als Übersetzer Shakespeares Werke als einer der ganz wenigen von Grund aus.
Natürlichkeit, Einfachheit und Schlichtheit respektive Naturalismus heißt aber nicht Kunstlosigkeit. Goethe hat seine wilden Szenerien eines scheinbar sehr realen Lebens als ein kunstvolles Tableau arrangiert, ein Arrangement, das den Zeitgenossen wiederum sehr deutlich vor Augen trat, weil sie ihre Lutherbibel kannten, die nicht nur der Sprache des Stückes einen völlig neuen Ton gab, sondern auch der Geschichte einer Frau an der Seite eines Ritters von Ehre eine ungeahnte Höhe, die nicht durch ihren Stand bestimmt wurde, sondern durch ihr Verdienst.
Schon in der Grundanlage des Stückes wird neben der Chronik und der Lebensbeschreibung das Buch der Bücher, die Bibel, als konturierende und überhöhende Möglichkeit genutzt. Die biblische Gleichnisgeschichte vom Verlorenen Sohn ist dem Konflikt zwischen Götz und Weislingen hinterlegt, und insgesamt begegnet dem aufmerksamen und bibelgeschulten Leser die Geschichte des Ritters Götz als eine Passionsgeschichte. In der mutiert Weislingen sehr schnell zu einer Analogie des verräterischen Judas, mit dem einschlägig bekannten Schicksal. Wenn der Gegenspieler zu Götz wie Judas ist, dann ist der Titelrolle die Zentralfigur des Passionsgeschehens |51|zugewiesen. In der Abendmahlsszene (3. Akt/Saal) von Goethes kunstvoll stilisiertem Naturalismus sitzt Götz zwischen seinen Knechten wie Jesus mit seinen Jüngern. Neben der szenischen Entlehnung kennt der scheinbar sprachliche Naturalismus des Stücks, der ob seiner Derbheit manchen Zeitgenossen ziemlich verstört hat, die hohe Kunst des Zitats, der Anspielung, des Redens in vielen Entnahmen und Paraphrasen aus der Bibel. Szenisch und sprachlich gestaltet sich dann die Gefangennahme des Herrn und die Schlussszene in Analogie zur österlichen Geschichte von Leiden, Tod und Auferstehung, und neben dem Lieblingsjünger waren, wie die Bibel ausdrücklich betont, auch Frauen da.
Mit Götz werden vom Dichter, wie biblisch vorgezeichnet, auch seine Frauen aufgestellt und ausgezeichnet: Elisabeth und Maria in freier Nachgestaltung der heiligen Szenerie und des Vorbildtextes. Elisabeth erscheint da nicht mehr nur »als eine ehrliche, wenig verfeinerte Hausfrau aus einer Zeit, wo die Frau eines Landedelmanns gleich dem guten Weibe Solomons vor Tag aufstund, ihr Haus besorgte, ihre Küche selbst bestellte« (so Wieland in seiner schon erwähnten Rezension), sondern als eine Frau wie Maria mit den Schwertern im Herzen unter dem Kreuz, die dem Manne, dem Menschensohn in Not und Tod treu zur Seite steht. Der spricht: »Meine Stunde ist kommen. Ich hoffte sie sollte seyn wie mein Leben. Sein Will geschehe.« (5. Akt, Heilbronn im Thurn) Der Frau Beistand ist ihm sicher und mehr noch, sie ist die Mittlerin, die seinen letzten Worten unter einem frühlingsblauen Himmel – »Freyheit! Freyheit!« – die endgültige Richtung weist:
|52|ELISABETH.
Nur droben droben bey dir. Die Welt ist ein Gefängniß.
(5. Akt, Gärtgen am Thurn)