Geister aus der Vergangenheit

In einer stürmischen Vollmondnacht schlägt ein Blitz in eine jahrhundertealte Eiche ein, und eine Sternschnuppe fällt vom Himmel. Im gleichen Moment wird ein wunderschöner Schimmel mit einem kleinen schwarzen Stern auf der Stirn geboren.

Das kranke Rehkitz

Es war einer dieser schönen, ruhigen Herbstnachmittage, die noch einmal an die Wärme des Sommers erinnerten. Die Blätter hingen kunterbunt an den Bäumen, und die Sonnenstrahlen schienen golden durch die Zweige. Carolin Baumgarten, genannt Caro, ritt gemächlich auf ihrem herrlichen Schimmel Sternentänzer durch das kleine Wäldchen in der Nähe von Lilienthal.

„Jetzt komm schon, du Schlafmütze!“, hallte es durch den Wald.

„Jaja!“, schrie Carolin zurück. Augenblicklich galoppierte sie an und lenkte den Hengst in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Lina Schniggenfittichs Stimme. Die Stimme ihrer besten Freundin. Endlich wieder! Noch vor ein paar Wochen war die Freundschaft der beiden Mädchen auf Messers Schneide gestanden. Aber jetzt war alles wieder gut. Zum Glück!

„Gewonnen!“, rief ihr Lina übermütig entgegen. „Marhaba und ich waren viel schneller als du und dein Sternentänzer.“ Das Mädchen mit den langen roten Locken und den leuchtend grünen Augen glitt vom Rücken des braunen Hengstes und schlang die Zügel um einen dicken Ast.

„Ah ja, wusste gar nicht, dass wir ein Wettreiten machen!“ Grinsend saß Carolin ebenfalls ab und band Sternentänzer neben Marhaba fest.

„Ist das nicht schön!“ Mit einem tiefen Seufzer ließ sich Lina am Seeufer in den Sand fallen und blickte über die schimmernde Wasseroberfläche, auf der sich ab und an eine kleine Welle kräuselte.

Carolin setzte sich neben die Freundin. „Und wie!“, nickte sie und meinte genau wie Lina nicht nur den See, der in der Spätnachmittagssonne glitzerte.

Mit einer schnellen Bewegung warf Lina ihre wilde Haarmähne in den Nacken. „Wir waren ganz schön bescheuert!“

„Alle beide“, bestätigte Carolin.

Lina drehte den Kopf, sodass sie Caro anschauen konnte. „Du noch mehr, Frau von und zu Borken!“ Ein verschmitztes Lächeln umspielte ihre Lippen.

„Nee, du!“, gab Carolin kichernd zurück.

„Du.“ Lina knuffte die Freundin so, dass die zur Seite kullerte.

„Nee, du!“ Lachend richtete sie sich wieder auf und gab Lina einen kleinen Schubs.

„Du.“ Übermütig warf sich Lina auf Carolin.

„Du!“

Ausgelassen und unter fröhlichem Gekichere tollten die zwei Freundinnen am Seeufer entlang.

„Stopp!“, schnaufte Lina nach einer Weile. „Aufhören!“ Sie setzte sich auf und schüttelte das Laub aus ihren langen Haaren. Dann streckte sie die Beine aus, lehnte sich zurück und stützte sich mit den Armen ab. „Weißt du, was ich heute getan hab, bevor wir ausgeritten sind?“

„Keine Ahnung … Stepptanz geübt?“, sagte Carolin gut gelaunt. „Oder Kickboxen?“

„Ich hab den ganzen Wohnwagen auf den Kopf gestellt, um diesen Zettel mit dem Rezept zu finden. Überall hab ich gesucht, echt überall, aber der Zettel ist wie vom Erdboden verschluckt.“

Bei diesem Zettel handelte es sich um ein Stück Papier, ein Rezept, auf dem die Zutaten zu einer wundersamen Tinktur notiert waren. Lina hatte den Zettel in der Bibliothek einer Zauberschule entdeckt, als sie dort in den Ferien ein Seminar besucht hatte. Bei diesem Seminar hatte sie auch Amalia kennengelernt und sich mit dem Mädchen angefreundet. Danach hatten die beiden das Rezept zu Hause nachgemischt und nach vielen Experimenten schließlich herausgefunden, wie der Trunk wirkte. Nämlich als Heilmittel, mit dem man sehr wahrscheinlich kranke Tiere heilen konnte.

Nur jetzt, da sie die Wirkung endlich kannten, war der Zettel mit den Zutaten wie vom Erdboden verschwunden. Den Rest der Tinktur, der noch übrig gewesen war, hatten Lina und Amalia sorgfältig aufgeteilt und in verschiedene Gläser gefüllt. Eines davon hatten sie Dr. Sander, dem Tierarzt von Lilienthal und Caros Stiefvater, gegeben. Um die Inhaltsstoffe analysieren zu lassen, hatte er die Probe an ein Labor geschickt. Doch die Untersuchung war negativ ausgefallen, genau wie alle weiteren Analysen in anderen Labors. Offenbar enthielt die Heiltinktur einen Bestandteil, der sich nicht identifizieren ließ.

„Schon doof, dass keines der Labors bisher alle Zutaten analysieren konnte“, meinte Carolin.

„Echt wahr!“, pflichtete Lina ihr bei. „War völlig für die Katz, dass ich mein Glas da auch noch hingeschickt hab. Hätte ich es mal lieber behalten.“

„Und was ist mit Ami?“, wollte Carolin wissen. „Sie hat doch noch ein Glas, oder? Beziehungsweise dieser Glasgow. Vielleicht hat er das Rezept ja inzwischen längst entschlüsselt?“

Ami war Linas Großmutter, die weise alte Frau arbeitete als Hexe und Heilerin. Lina hatte ihr ein Glas mit dem Gemisch gegeben und sie gebeten, es an Glasgow, einen überaus bekannten Hexenmeister, zu schicken.

„Pah!“, machte Lina ein wenig angesäuert. „Wenig wahrscheinlich. Ami hat es ja noch nicht einmal an Glasgow weitergegeben.“

„Hä? Warum?“

„Keine Ahnung!“ Lina seufzte tief. „Du kennst doch Ami. Am liebsten spricht sie in Rätseln. Ausführliche Erklärungen sind bei ihr eher selten. Aber wir können sie nachher mal fragen.“

Nachdenklich blickten die beiden Mädchen über den See.

„Wie geht’s Amalia eigentlich?“, fragte Carolin.

„Sie wollte in den Herbstferien zu Besuch nach Lilienthal kommen, aber ich hab ihr abgesagt.“

„Ey, Lina!“ Carolin bedachte die Freundin mit einem gespielt strengen Blick. „Es ist völlig in Ordnung, wenn Amalia dich besucht. Ich bin deswegen nicht mehr sauer. Das haben wir doch geklärt.“

Eine Zeit lang war Carolin ganz schön eifersüchtig auf das Mädchen aus der Zauberschule gewesen. Doch dann hatte Lina ihr versichert, dass es nur eine beste Freundin geben könne – und das war ganz klar Carolin für sie.

„Ich weiß“, gab Lina zurück.

Die beiden Freundinnen lächelten sich an und erinnerten sich an den Nachmittag am See, als sie ihre Freundschaft endlich wiedergefunden hatten. Um sie für immer zu besiegeln, hatten sie am Seeufer jeweils die Haarsträhne der anderen im Sand vergraben.

„Aber ich hab mir eben nun mal vorgenommen, in diesen Ferien so viel Zeit wie möglich mit meiner einzigen allerbesten Freundin zu verbringen“, erklärte Lina feierlich.

„Wir reiten viel zusammen aus.“ Carolin strahlte voller Vorfreude. „Und wir verbringen viel Zeit auf Lindenhain. Ich freu mich schon total.“

Lina seufzte. „Wenn’s nur schon so weit wäre! Aber vor unserem herrlichen Leben in Freiheit sind erst mal noch zwei Wochen Schule zu bewältigen.“

„Erinnere mich bloß nicht daran“, ächzte Carolin.

Lina beugte sich nach vorne und begann damit, ihre derben, dicken Schnürstiefel aufzubinden.

„Was machst du da?“

„Ich zieh meine Schuhe aus.“

„Seh ich, aber warum?“

Lina stand auf und schleuderte den ersten Stiefel zur Seite. „Weil man mit Stiefeln so schlecht schwimmen kann.“

Carolin sah die Freundin an. „Schwimmen? Im Wasser?“

„Nee, in den Wipfeln der Bäume! … Logo im Wasser!“ Lina ließ den zweiten Stiefel in den Sand fallen und schlüpfte aus ihrem Rock.

Carolin verzog das Gesicht. „Das ist doch viel zu kalt!“

„Feigling“, lachte Lina.

„Außerdem haben wir doch gar keine Badesachen dabei“, wandte Carolin weiter ein.

„Von wegen!“ Verschmitzt grinsend lief Lina zu Marhaba, holte aus ihrem Rucksack ein zusammengerolltes Handtuch und zwei Badeanzüge hervor und hielt alles in die Luft. „Hier!“

„Oh nee …“ Carolin verdrehte die Augen.

„Los!“ Lina wickelte sich in das Handtuch, zog den Badeanzug an und lief mit ausgebreiteten Armen ins Wasser. Prustend kraulte sie ein paar Meter, tauchte kurz unter und schoss dann wie ein Pfeil nach oben. „Ist das herrlich!“, jauchzte sie und schüttelte sich so heftig, dass ihre langen Haare um ihren Oberkörper klatschten. „Na, komm schon rein!“

Carolin rümpfte die Nase. „Ich weiß nicht.“

Lina rannte aus dem Wasser auf sie zu und zog sie an der Hand hoch. „Nun mach schon! Das Wasser ist ganz warm.“

„Na gut!“ Zögerlich schlüpfte Carolin in den zweiten Badeanzug und folgte der Freundin ins Wasser. Die war total in ihrem Element. Übermütig hechtete sie nach vorne und wieder zurück, während Carolin sich langsam ins Wasser gleiten ließ, sich auf den Rücken legte und mit den Beinen paddelte.

„Du siehst aus wie eine Kröte kurz vor dem Ertrinken“, feixte Lina.

„Und du wie eine durchgeknallte Kaulquappe auf Drogen“, gab Carolin ebenso übermütig zurück.

„Von wegen!“ Lina fasste mit beiden Händen ins Wasser und spritzte es in Carolins Gesicht.

„Na warte!“ Quiekend spritzte Carolin zurück. „Hier, du Kaulquappe!“

„Kröte.“

„Kaulquappe.“

„Kröte.“

Nach ein paar Minuten hob Carolin die Hände. „Friede! Mir reicht’s!“ Sie wandte sich um und watete zurück ans Ufer. Lina folgte ihr.

Geschwind trockneten sich die Mädchen ab und schlüpften wieder in Jeans und T-Shirt. Als Lina die Badesachen in ihrem Rucksack verstaut hatte, banden sie die Pferde los und saßen auf.

Diesmal ritt Carolin auf Sternentänzer vor. In schnellem Galopp jagte der weiße Araberhengst den Waldweg entlang, zurück zu der kleinen Wiese am Waldrand, wo Lina mit ihrer Großmutter in Wohnwagen lebte. Linas Eltern waren meist unterwegs, um ihre selbst gemachten Kräuterprodukte zu verkaufen. An der Wegkreuzung, an der sie zur Wohnwagenwiese nach rechts abbiegen mussten, wurde Sternentänzer plötzlich langsamer, bis er schließlich ganz stehen blieb.

„Was ist denn, Sternentänzer? Weitergeht’s!“ Carolin trieb den Hengst an, doch er verharrte stur wie ein Esel auf der Stelle. Beide Ohren waren spitz nach vorne gerichtet, und er wieherte leise.

Lina ritt an ihnen vorbei. „Los, komm, Caro! Ami wartet bestimmt schon.“

„Ich würd ja gern, aber Sternentänzer will nicht weiter.“ Carolin drückte ihre Schenkel an den Bauch des Pferdes, um es vorwärtszutreiben. „Keine Ahnung, was er auf einmal hat. Hüa, Süßer, hüa!“ Carolin verstärkte die Schenkelhilfe. Plötzlich setzte sich Sternentänzer in Bewegung – doch er marschierte nicht nach rechts, sondern nach links. In die falsche Richtung.

„Hier geht’s lang, Caro!“, rief Lina ihr zu.

„Sag das mal Sternentänzer“, gab Carolin zurück. Der Schimmel ignorierte jedes Kommando und schritt unbeirrt weiter.

Lina zögerte einen Moment, dann wendete sie Marhaba und folgte Carolin. „Wo will er denn hin?“

Carolin zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung, aber …“

„Was aber?“

Mit einem Stirnrunzeln blickte Carolin zu Lina. „Immer wenn Sternentänzer beharrlich in eine bestimmte Richtung will, gibt es einen triftigen Grund dafür.“ Sternentänzer war nämlich nicht nur ein ungewöhnlich prächtiger Schimmel, sondern er besaß auch eine außergewöhnliche Gabe. Er war ein magisches Pferd. Immer wenn Carolin in Vollmondnächten auf Sternentänzer ausritt, gewährte er ihr einen Blick in die Zukunft.

„Vielleicht will Sternentänzer dir ja etwas zeigen“, vermutete Lina. „Mal schauen, wohin er uns führt.“

„Und dein Unterricht bei Ami?“

Lina rollte mit den Augen. „Ey, Sternentänzer hat ja wohl Vorrang! Niemand versteht das besser als meine Ami.“

Mit aufgerichteten Ohren lief Sternentänzer den schmalen Waldweg entlang. Carolin musste sich immer wieder ducken, damit ihr die tief hängenden Äste nicht ins Gesicht klatschten. Als sie eine Lichtung erreichten, blieb der Hengst abrupt stehen und schnaubte laut. Sein Hals war angespannt, der Blick aufmerksam nach vorne gerichtet.

Lina schloss zu Carolin auf. „Was will er denn hier?“

Carolin schaute sich um. „Hier ist nichts. Keine Ahnung, warum Sternentänzer uns hierhergeführt hat!“

„Hier ist rein gar nichts.“ Lina ließ ihren Blick über die Lichtung schweifen. Plötzlich stutzte sie. „Oder wart mal!“ Sie streckte die Hand aus und deutete nach vorne. „Da drüben, an dem Baum, da ist doch …“

Carolin folgte dem Fingerzeig. „Ein Reh!“

„Rehe sind normalerweise superscheu, es müsste Angst vor uns haben und weglaufen. Aber das tut es nicht. Mit dem stimmt was nicht.“ Lina glitt aus dem Sattel und näherte sich ganz langsam dem Tier, das sich neben einem Baumstamm ins Gras drückte. Es hatte rotbraunes Fell und große, sanfte dunkle Augen.

Carolin saß ebenfalls ab und folgte der Freundin. „Es springt nicht weg.“

Nun standen die Mädchen ganz nah vor dem kleinen Reh.

„Es ist noch ziemlich jung“, flüsterte Lina. „Höchstens ein halbes Jahr alt.“ Lina streckte die Hand aus und wollte das Rehkitz berühren, zog sie dann aber rasch wieder zurück.

„Was ist?“

„Rehkitze soll man nicht anfassen.“ Lina machte einen Schritt zurück. Carolin auch. Das kleine Reh kauerte sich immer tiefer ins Gras. Es zitterte vor Angst.

„Was sollen wir jetzt machen?“

„Es könnte verletzt sein“, überlegte Lina.

„Aber man sieht nichts.“

„Verflixt!“ Lina ballte die Fäuste. Ihre Augen blitzten.

„Was ist denn?“

„Wenn wir jetzt unseren Heiltrunk hätten …“

„Haben wir aber nicht!“

Voller Mitleid betrachtete Lina das Tier. „Wir können das arme Bambi doch nicht einfach hierlassen.“

„Sollen wir es vielleicht mitnehmen?“

Etwas ratlos zuckte Lina die Schultern. „Ich weiß auch nicht“, meinte sie und musterte wieder das Rehkitz. Das arme Tier schien völlig verschreckt. „Hierlassen geht jedenfalls nicht.“

Auf einmal drängte sich ein Pferdekopf zwischen ihnen hindurch. Sternentänzer näherte sich ganz behutsam dem Kitz, bis er dicht vor ihm stand. Sanft beschnupperte er es mit seinen weichen Nüstern. Das Reh hielt still. Es war offensichtlich, dass es keine Angst vor Sternentänzer hatte.

Lina drehte sich zu Carolin. „Wir nehmen es mit zu mir“, erklärte sie dann. „Aber wie?“

Carolin überlegte und knabberte auf ihrer Unterlippe. „Das arme Bambi sieht so schwach aus. Meinst du, es kann überhaupt laufen?“

„Hm!“ Lina stemmte die Arme in die Hüften. Dann beugte sie sich zu dem Rehkitz und schob es vorsichtig ein kleines bisschen an. Das Kitz bewegte sich leicht, oder vielmehr: Es versuchte, sich zu bewegen. Versuchte, ein Bein aufzustellen, knickte aber gleich wieder ein.

„Es ist zu schwach zum Gehen“, stellte Carolin fest und blickte besorgt zu Lina.

Entschlossen schob Lina ihre Ärmel zurück. „Dann müssen wir es eben tragen.“

Ines macht Urlaubspläne

Die Tür von Amis kunterbuntem Wohnwagen war geschlossen, die Fenster ebenso. „Ami ist gar nicht da“, wunderte sich Lina, als die beiden Mädchen dort ankamen. Vorsichtig ging Lina in die Knie und setzte das Rehkitz neben dem Wohnwagen sacht auf den Boden.

Carolin band Sternentänzer und Marhaba fest, die sie am langen Zügel hinter sich hergeführt hatte. „Ich dachte, du hast Unterricht bei ihr.“

„Das dachte ich eigentlich auch“, murmelte Lina, ohne den Blick von dem Kitz zu lassen. Zusammengekauert lag es im Gras und schaute sie mit großen dunklen Augen ängstlich an.

Carolins Herz brannte bei diesem Anblick vor Mitleid. „Das arme, kleine Bambi. Es ist total schwach. Was sollen wir nur machen?“

Lina stand auf. „Wir lassen es erst mal hier bei uns. Komm, wir bauen ihm ein kleines warmes Nest.“ Sie sperrte mit ihrem Schlüssel Amis Wohnwagen auf und lief hinein. In Windeseile holte sie ein paar dicke dunkelbraune Wolldecken aus dem Schrank und drapierte sie neben der Eckbank. „Das geht!“, nickte sie zufrieden. Dann eilte sie wieder nach draußen, hob das Rehkitz behutsam hoch, brachte es in den Wohnwagen und legte es auf die Decken. „So, mein kleines Bambi, dieses kuschelige Plätzchen wird dir bestimmt gefallen“, sagte sie dabei.

Carolin pflichtete ihr bei. „Ja, ich glaub auch. Guck nur, Lina, wie es sich in die Decken kuschelt. Und es wirkt plötzlich gar nicht mehr so ängstlich.“

Lina runzelte die Stirn. „Es ist echt blöd, dass ich diesen Zettel mit dem Rezept nicht mehr finde“, murmelte Lina vor sich hin. „Vielleicht hätten wir ihm mit unserer Heiltinktur helfen können so wie damals der dicken Sophia.“

Sophia war ein Pony vom Reiterhof Lindenhain, das vor einiger Zeit erkrankt war. Von einem Tag auf den anderen hatte es die Nahrung verweigert und war immer schwächer geworden. Selbst Tierarzt Dr. Sander hatte nicht feststellen können, was dem Tier fehlte. Irgendwann hatte er dann eingewilligt, dass Lina und Amalia ihren geheimnisvollen Trunk an dem Pony ausprobieren durften. Und kurz darauf hatte Sophia tatsächlich wieder gefressen und war gesund geworden.

Carolin knabberte auf ihrer Unterlippe, wie sie es immer tat, wenn sie nicht mehr weiterwusste. „Hast du denn nicht vielleicht noch ein paar Tropfen davon?“

„Nein“, antwortete Lina. „Alles weg! Hab ich doch vorhin am See schon erklärt. Ich weiß nicht, wo Amis Glas ist.“ Aufgebracht holte Lina eine ihrer langen Haarsträhnen und wickelte sie um den Finger. „Wenn nur dieser bescheuerte Zettel wieder auftauchen würde, ich hab ihn doch nicht weggeworfen. Es ist echt zum Mäusemelken!“

„Wo könnte er denn sein?“

„Wenn ich das nur wüsste! Man müsste echt hellsehen können!“ Kaum hatte Lina den Satz ausgesprochen, stutzte sie und drehte den Kopf zu Carolin. Ihre Augen blitzten.

Auch ohne dass Lina es gesagt hatte, wusste Carolin sofort, was die Freundin meinte. „Ich soll Sternentänzer …?“

„Genau“, fiel Lina ihr aufgeregt ins Wort. „Vielleicht zeigt er dir, wo dieser Zettel mit dem Rezept ist, wenn du ihn danach fragst!“

„Einen Versuch wäre es bestimmt wert“, stimmte Carolin zu.

Lina überlegte kurz, dann sagte sie: „Morgen ist Vollmond.“

„Also morgen“, nickte Carolin.

Als Carolin am Abend die Tür zu dem schnuckeligen gelben Häuschen im Ahornweg 16 in Lilienthal aufschloss, in dem sie zusammen mit ihrer Mutter Ines Baumgarten, ihrem Stiefvater Dr. Joachim Sander und dessen Sohn Thorben nun schon seit einiger Zeit lebte, tönte ihr stimmungsvolle, ziemlich laute Aloa-Hawaii-Musik entgegen.

„Mam? Bist du da?“ Carolin schlüpfte aus ihren Schuhen und hängte ihre Jacke an den Garderobenhaken.

Keine Antwort!

Carolin öffnete die Tür zum Wohnzimmer und machte große Augen. Mitten im Zimmer stand der große Liegestuhl, der sonst immer auf der Terrasse war, darauf war ein pinkfarbener Bikini drapiert. Das Sofa schmückten bunte Papierblumenkränze, auf dem Boden lagen Ines’ pinkfarbene Flipflops und ein großer Sonnenhut. Dazu diese Musik. Carolins Blick wanderte über die neue Wohnzimmerdeko und weiter zu ihrer Mutter. Die trug eine üppige pinkfarbene Stoffblume im Haar und hatte sich einen pinkfarbenen Pareo um die Hüften geschlungen. „Hallo, Schatz!“

„Ähm … Mam? Was hat das zu bedeuten?“

In diesem Augenblick kamen Dr. Sander und Thorben durch die Tür und blickten sich nicht minder erstaunt um. „Was wird das denn, Ines?“, wunderte sich Dr. Sander.

„Nehmt doch alle erst einmal Platz“, forderte Ines ihre Familie freudestrahlend auf.

Carolin setzte sich an den Tisch und spähte umher. Kalte Küche. Oliven, Peperoni, Artischocken, Meeresfrüchte, eingelegte Zwiebeln, getrocknete Tomaten. Na toll! Ines kochte nicht allzu oft und wenn doch, am liebsten exotische Speisen, die Carolin überhaupt nicht ausstehen konnte. Was da gerade alles auf dem Tisch lag, mochte sie allerdings ebenso wenig. Dr. Sander schätzte diese ausgefallenen Spezialitäten auch nicht sehr. Mit einem ähnlich unwilligen Blick wie Carolin beäugte er daher den Tisch. Nur Thorben packte sich gleich eine große Portion Meeresfrüchtesalat auf den Teller.

Carolin holte sich eine dicke Scheibe Weißbrot aus dem Brotkorb.

Ines tänzelte um den Tisch herum und goss Dr. Sander etwas Rotwein ins Glas. „Ihr wundert euch sicher über diese spezielle Deko heute?“

Nein, Mam! Warum soll nicht mal der Liegestuhl im Wohnzimmer statt auf der Terrasse stehen. „Schon“, nickte Carolin.

„Das hat einen Grund“, fuhr Ines strahlend fort.

„Aha!“ Dr. Sander schnappte sich ebenfalls eine Scheibe Weißbrot. „Und verrätst du uns auch welchen, Schatz?“

„Der Fischsalat schmeckt super, ich könnte die ganze Schale aufessen“, meldete sich Thorben.

Carolin schielte zu ihrem Stiefbruder. Dein Vater und ich haben sicher nichts dagegen. Was den Essensgeschmack angeht, könnte man echt meinen, Thorben sei der Sohn meiner Mutter.

Dr. Sander sah auf seine Uhr. „Mach’s nicht so spannend, Ines! Ich muss nachher dringend noch mal weg. Frau Ritter will mit ihrem Hund ins Ausland verreisen und braucht dringend noch einen Impfpass. Immer in der letzten Minute …“

Ines setzte sich hin und nahm einen Schluck Rotwein. „Ich wollte euch auf unseren ersten gemeinsamen Urlaub einstimmen.“

„Cool! Sommerferien auf Hawaii“, schmatzte Thorben.

„Nicht in den Sommerferien“, korrigierte Ines. „Ich dachte an die Herbstferien.“

„Cool! In den Herbstferien nach Hawaii“, schmatzte Thorben weiter.

Ines winkte ab. „Nee, leider! Das können wir uns doch gar nicht leisten. Mir ist nur keine andere Idee für eine Urlaubsdeko eingefallen.“ Sie holte tief Luft. „Ich dachte eher an einen tollen Wellness-Erlebnis-Abenteuer-Urlaub für uns alle.“

„Aha!“, machte Dr. Sander und fischte mit wenig Begeisterung nach einer Olive.

„Ich habe von Florentine einen ganzen Stapel Prospekte mit Supertipps für herrliche Hotels bekommen“, schwärmte Ines. „Die könnten wir uns alle mal ansehen und gemeinsam ein Ziel aussuchen.“ Florentine war die Besitzerin der einzigen Boutique in Lilienthal und Ines’ beste Freundin.

„Echt super!“, freute sich Thorben und schaufelte eine weitere Portion Meeresfrüchte auf seinen Teller.

„Es gibt Hotels, die sogar Rafting anbieten. Das wär doch was für euch Männer.“

„Rafting! Obercool!“ Thorben strahlte voller Vorfreude.

Dr. Sander nagte wortlos an seinem Brot.

„Und bestimmt finden wir auch eines mit einem Ponyhof in der Nähe für Caro.“ Ines war völlig enthusiastisch.

Ponyhof, ja klar, Mam! Hm! Eigentlich wollte doch Lina viel mit mir auf Lindenhain unternehmen …

Ines blickte zu Dr. Sander. „Und für uns beide buchen wir ein richtig romantisches Verwöhn-Wellness-Programm mit Schlammpackungen, Bürstenmassagen, Heubädern und Sauna dazu. Du musst dich schließlich auch mal von deinem ganzen Stress erholen. Das wird toll.“

„Klingt gut“, meinte Dr. Sander, schaute aber alles andere als erfreut drein.

„Das werden ganz wunderbare Ferien.“ Zufrieden griff Ines nach ihrem Glas. „Ich freu mich jetzt schon wie verrückt.“

„Sind aber leider noch zwei Wochen hin“, seufzte Thorben und kratzte den letzten Rest Meeresfrüchtesalat aus der Schüssel.

Dr. Sander räusperte sich leicht. „Und du hast alles schon gebucht?“

Ines verdrehte die Augen. „Doch nicht ohne eure Zustimmung. Florentine hat auf meine Bitte hin lediglich ein paar Anfragen gestartet.“

„Die aber noch nicht verbindlich sind?“, hakte Jo nach.

„Nein! Aber wir sollten uns möglichst rasch entscheiden. Sonst sind die besten Hotels weg.“ Das Telefon klingelte, und Ines eilte mit einem „Das wird Florentine sein“ nach draußen.

Ein paar Sekunden später war sie wieder zurück. „Für dich, Caro.“

„Wer denn?“

„Frau von Borken.“

Helena von Borken! Carolin schluckte. Meine unbekannte, erst kürzlich und urplötzlich in mein Leben getretene adlige Großmutter.