Leo Trotzki, Revolutionär auf der Flucht, steigt in Mexiko von Bord eines Tankers. In Frida Kahlos Garten brütet er über der Entgleisung der Russischen Revolution. Währenddessen schreibt Malcolm Lowry zum Rhythmus des mexikanischen Regens sein Meisterwerk Unter dem Vulkan. Patrick Deville verwebt ihre Geschichten zu einem virtuosen Mosaik.
Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.
Patrick Deville (*1957) studierte Literatur und Philosophie. Er lebte im Nahen Osten, in Afrika und bereiste Lateinamerika. Seine Werke wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem als »bester Roman des Jahres« der Zeitschrift Lire, mit dem Fnac-Preis und dem Prix Femina.
Zur Webseite von Patrick Deville.
Holger Fock (*1958) studierte Theaterwissenschaft, Germanistik und Philosophie. Er übersetzt seit 1983 französische Literatur, u. a. Gegenwartsautoren wie Andreï Makine, Cécile Wajsbrot (beide zusammen mit Sabine Müller), Pierre Michon und Antoine Volodine. Er lebt bei Heidelberg.
Zur Webseite von Holger Fock.
Sabine Müller (*1959) studierte Germanistik, Philosophie und Pädagogik. Sie übersetzt aus dem Französischen und Englischen, u. a. Werke von Andreï Makine, Cecile Wajsbrot, (beide zusammen mit Holger Fock), Erik Orsenna, Philippe Grimbert, Annie Leclerc und Alain Mabanckou.
Zur Webseite von Sabine Müller.
Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)
Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.
Viva
Roman
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
E-Book-Ausgabe
Bilgerverlag @ Unionsverlag
HINWEIS: Ihr Lesegerät arbeitet einer veralteten Software (MOBI). Die Darstellung dieses E-Books ist vermutlich an gewissen Stellen unvollkommen. Der Text des Buches ist davon nicht betroffen.
Dieses E-Book des Bilgerverlags erscheint in Zusammenarbeit mit dem Unionsverlag.
Die Originalausgabe erschien 2014 bei Éditions du Seuil, Paris.
Die deutsche Erstausgabe erschien 2017 im Bilgerverlag, Zürich.
Originaltitel: Viva
© by bilgerverlag GmbH, Zürich 2017
© der Originalausgabe by Éditions du Seuil, Paris 2014
© by Bilgerverlag, Zürich 2020
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Rivera and Catarina in Dream of a Sunday afternoon in the Alameda. Mural by Diego Rivera in Museo Mural Diego Rivera; dbimages (Alamy Stock Photo)
Umschlaggestaltung: Peter Löffelholz
ISBN 978-3-293-30990-6
Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte
Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)
Version vom 09.07.2020, 15:43h
Transpect-Version: ()
DRM Information: Der Unionsverlag liefert alle E-Books mit Wasserzeichen aus, also ohne harten Kopierschutz. Damit möchten wir Ihnen das Lesen erleichtern. Es kann sein, dass der Händler, von dem Sie dieses E-Book erworben haben, es nachträglich mit hartem Kopierschutz versehen hat.
Bitte beachten Sie die Urheberrechte. Dadurch ermöglichen Sie den Autoren, Bücher zu schreiben, und den Verlagen, Bücher zu verlegen.
https://www.bilgerverlag.ch
info@bilgerverlag.ch
E-Book Service: ebook@unionsverlag.ch
www.unionsverlag.com
Falls Sie ein E-Book aus dem Unionsverlag gekauft haben und nicht mehr in der Lage sind, es zu lesen, ersetzen wir es Ihnen. Dies kann zum Beispiel geschehen, wenn Ihr E-Book-Shop schließt, wenn Sie von einem Anbieter zu einem anderen wechseln oder wenn Sie Ihr Lesegerät wechseln.
Viele unserer E-Books enthalten zusätzliche informative Dokumente: Interviews mit den Autorinnen und Autoren, Artikel und Materialien. Dieses Bonus-Material wird laufend ergänzt und erweitert.
Durch die datenbankgestütze Produktionweise werden unsere E-Books regelmäßig aktualisiert. Satzfehler (kommen leider vor) werden behoben, die Information zu Autor und Werk wird nachgeführt, Bonus-Dokumente werden erweitert, neue Lesegeräte werden unterstützt. Falls Ihr E-Book-Shop keine Möglichkeit anbietet, Ihr gekauftes E-Book zu aktualisieren, liefern wir es Ihnen direkt.
Wir versuchen, das Bestmögliche aus Ihrem Lesegerät oder Ihrer Lese-App herauszuholen. Darum stellen wir jedes E-Book in drei optimierten Ausgaben her:
E-Books aus dem Unionsverlag werden mit Sorgfalt gestaltet und lebenslang weiter gepflegt. Wir geben uns Mühe, klassisches herstellerisches Handwerk mit modernsten Mitteln der digitalen Produktion zu verbinden.
Machen Sie Vorschläge, was wir verbessern können. Bitte melden Sie uns Satzfehler, Unschönheiten, Ärgernisse. Gerne bedanken wir uns mit einer kostenlosen e-Story Ihrer Wahl.
Informationen dazu auf der E-Book-Startseite des Unionsverlags
Streift denn nicht uns selber ein Hauch der Luft,
die um die Früheren gewesen ist? Ist nicht in Stimmen,
denen wir unser Ohr schenken, ein Echo von nun
verstummten? (…) Ist dem so, dann besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern
und unserem. Dann sind wir auf der
Erde erwartet worden.
Walter Benjamin,
Über den Begriff der Geschichte
Alles beginnt und alles endet mit dem Lärm, den die Rostklopfer hier machen. Kapitäne und Reeder fürchten sich davor, die Matrosen untätig auf dem Kai zu lassen. Deshalb Pickel und Mennige und Pinsel. Die Hafenlandschaft stammt aus einem Film von John Huston, Der Schatz der Sierra Madre: Kräne, Schuten, Ladebäume und Bohrtürme, Palmen und Krokodile. Gestank nach Erdöl, Schmieröl, Steinkohlenteer und Teer. Ein warmer Nieselregen macht alles nass. An diesem Abend gehört die flüchtige Silhouette zu einem Mann, der nicht Bogart, sondern Sandino ist. Er ist feingliedrig und klein, sieht mit fast dreißig Jahren aus wie zwanzig. Sandino trägt einen Monteuranzug, in der Tasche einen Rollgabelschlüssel, schaut sich um, ob er nicht verfolgt wird, entfernt sich von den Docks Richtung Kneipenviertel, wo eine geheime Versammlung stattfindet. Nachdem er Nicaragua verlassen und sich lange Zeit auf abenteuerliche Weise durchgeschlagen hat, stellt der Schiffsmaschinist Sandino seinen Seesack ab und entdeckt den Anarcho-Syndikalismus. Als Arbeiter bei der Huasteca Petroleum Company in Tampico.
In den hintersten Hafengassen, wo die Laternen angehen, versammeln sich in einem dunklen Hinterzimmer die Verschwörer um den kampferprobten Ret Marut. Der ist als Kohlentrimmer an Bord eines norwegischen Schiffes nach Mexiko gekommen. Er gibt sich als polnischer oder deutscher Seemann und Revolutionär aus. Mit seinem Allerweltsgesicht und dem kleinen Schnauzbart unter der Proletarier-Schirmmütze sieht er aus wie ein Mitglied der Bonnot-Bande. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs hatte Ret Marut am Versuch der Münchner Räterepublik teilgenommen. Nach seiner Verurteilung zum Tod tauchte er unter, wechselte häufig den Namen, begann, Gedichte und Romane zu schreiben, die Einsamkeit mit dem Bleistift zu bekämpfen und Hefte aufzutürmen. Bald schickte er unter einem neuen Pseudonym, als B. Traven, den Roman Der Schatz der Sierra Madre, der in Tampico spielt, nach Deutschland. Er sollte noch ein Dutzend weitere Pseudonyme verwenden. Der Fotografin Tina Modotti stellt er sich als Torsvan vor.
Was Sandino anbelangt, der gestärkt von deutschen oder polnischen Ratschlägen, den Kopf voller glühender revolutionärer Ideen, um Mitternacht aus der Cantina tritt, so könnten wir ihm folgen, wenn er im Regen davoneilt, der schräg durch die orangegelben Lichtkegel der Natriumdampflaternen fällt. Wir würden ihn nach Nicaragua zurückkehren sehen, wo er den Overall des Raffineriearbeiters gegen Reithosen eintauscht, die Patronengürtel über der Brust kreuzt, den Stetson aufsetzt und das Kommando der Guerilla übernimmt, zum glorreichen General Augusto César Sandino wird, zum »General der freien Männer« nach den Worten von Henri Barbusse. Wir sähen ihn an der Spitze seines Bataillons von Bettlern reiten, das nie besiegt werden sollte, das die Besatzungsarmee der Gringos zum Meer zurückdrängen und das große Werk Simón Bolívars fortsetzen würde. Am Horizont wirbeln die Reiterscharen der sandinistischen Truppen den gelben Staub von Nueva Segovia im Norden Nicaraguas auf. Aber wir werden ihm nicht folgen. Denn im Hitzedunst fährt ein anderer norwegischer Tanker mit hoher, rot-schwarzer Schiffswand durch den Golf von Mexiko und nähert sich dem Hafen von Tampico. An Bord hört ein anderer Revolutionär im Exil die Rostklopfer und die Schreie der Seevögel.
Am Ende des Fallreeps, beim Verlassen der Ruth, eines norwegischen Tankers in Ballast, händigt man Trotzki die kleine automatische Pistole aus, die man ihm drei Wochen zuvor bei der Einschiffung abgenommen hatte. Der Verbannte, der einst eine der größten Armeen der Welt befehligt hat, steckt das, was ihm von seiner Feuerkraft übriggeblieben ist, in eine Tasche. Mit siebenundfünfzig Jahren ist er ein Mann im reifen Alter, das weiße Haar zerzaust, an seiner Seite seine grauhaarige Frau Natalja Iwanowna Sedowa. Sie sind blass, nach dem Halbdunkel der Schiffskabine blendet sie das Sonnenlicht. Auf einem Foto sieht man, wie Trotzki eine weiße, wenig martialisch aussehende Golfmütze aufsetzt. Einige Soldaten, ein General in Galauniform und eine junge Frau, die ihren schwarzen Zopf zu einem Dutt gedreht hat, empfangen sie auf dem Kai. Man begleitet sie zum Bahnhof von Tampico.
Zu viert sitzen sie dann im getäfelten Zugabteil. Vor ihnen General Beltrán in dunkler Uniform und mit strengem Gesicht sowie die junge Frau, die eine bunte, vorwiegend in Gelbtönen gehaltene indianische Bluse trägt. Ihre pechschwarzen Augenbrauen treffen sich über der Nasenwurzel wie die Flügel einer Amsel. Der Hidalgo ist der Privatzug des mexikanischen Präsidenten Lázaro Cárdenas. Der muralistische Maler Diego Rivera hat ihn überzeugt, dem Verbannten ein Einreisevisum auszustellen und ihm damit das Leben zu retten. Wir sind im Jahr 1937, also drei Jahre nach der Ermordung Sandinos durch Somozas Schergen in Managua. Die Nachricht war mit Verspätung nach Frankreich gelangt, nach Barbizon, wo Trotzki sich damals versteckt hielt. In Nicaragua herrscht Diktator Somoza, in Italien der Faschismus, in Deutschland der Nationalsozialismus und in Russland der Stalinismus. Spanien befindet sich im Bürgerkrieg, bald werden die Republikaner in die Flucht geschlagen, Franco obsiegt. Trotzki ist seit zehn Jahren ein Besiegter, der durch die Welt irrt. Die Lokomotive stößt eine Dampfwolke aus. Nun sitzt er also wieder in einem Zug. Doch zum ersten Mal in einem mexikanischen Zug.
Er kennt die Bilder von Pancho Villas Männern auf dem Dach eines Eisenbahnwaggons, wo sie mit Sombreros und Patronengürteln sitzen, die sich über der Brust kreuzen. Er kennt Mexiko in Aufruhr von John Reed, dem jungen Schriftsteller, der danach Zehn Tage, die die Welt erschütterten schrieb und die Russische Revolution pries. Er hat wieder die Züge vor Augen, in denen er, den Wechselfällen seines Exils folgend, kreuz und quer durch Europa gereist war. Und seinen durch den Schnee preschenden, gepanzerten Zug mit dem roten Stern, den er in seiner Zeit als Volkskommissar für das Kriegswesen hatte montieren lassen, als fünf Millionen Männer unter seinem Befehl standen, bevor er nur noch ein Verbannter auf der Flucht war, der jetzt vor der jungen Frau mit dem schwarzen, von Perlmuttkämmen und Bändern gebändigten Haar auf einer Bank sitzt, vor dem schönen bunten Vogel, der ihn vielleicht schon an Larissa Reissner und die Eroberung von Kasan, an den ersten Sieg der Roten Armee vor fast zwanzig Jahren erinnert.
Frida Kahlo fixiert die tiefblauen Augen des Verbannten hinter den runden Brillengläsern und lächelt ihm zu. Sie ist noch keine dreißig Jahre alt. Ihr Mann, Diego Rivera, ist weltberühmt, aber der Mann vor ihr ist noch berühmter. Er hat die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke gebrochen. Sie fahren den Río Pánuco entlang, dann die Lagunen vor der Stadt. Es geht nicht sehr schnell voran. Der Hidalgo hat nicht so viel Kraft wie der gepanzerte Zug, in dem er mehr als zwei Jahre gelebt, die Distanzen zwischen den Fronten von Moskau bis zur Krim überbrückt und die Weiße Armee unter Wrangel zurückgedrängt hat. Die unbekannte Landschaft wird zusehends trockener, je weiter sich die Gleise von der Küste entfernen, die Hochebenen erreichen und die tropischen Gefilde Tampicos sowie die wogende grüne See der Karibik hinter sich lassen. Draußen, je nachdem, durch was für ein Dorf sie kommen, staubige Straßen, Holzhäuser, kleine Gemischtwarenläden, Miszellaneen, ein Fluss, mit Waren beladene Boote, Rinderherden. Für einige Stunden sind sie eine geschlossene Gesellschaft in einem Zugabteil mit lackierter Holzvertäfelung, jeder ist in seine Gedanken versunken. Trotzki und Natalja Iwanowna sind in Norwegen knapp dem Tod entronnen. Sie befürchteten, man würde sie unterwegs über Bord werfen oder ihren Tod als Selbstmord tarnen. Sie haben keine Ahnung, was sie erwartet.
Wenn es ihm noch möglich wäre, anonym zu bleiben, würde Trotzki unerkannt zwischen Indianern und Peones an einem dieser kleinen Bahnhöfe aussteigen, die Tolstoi gefallen hätten. Er kennt das Leben der Bauern, den Heugeruch, das Knarren der Radnaben und den roten Horizont über der Ebene. Bücher lesen und Gemüse anbauen. Es hat ihn oft einige Anstrengung gekostet, sich von seinem Refugium auf dem Land und den Büchern loszureißen, um in die Stadt und die Stürme der Geschichte zurückzukehren. Nach der Revolution, ja, nach dem weltweiten Triumph der Revolution aus dem Zug aussteigen, lesen und schreiben, jagen und angeln, wie er es jedes Mal nach einer Niederlage gemacht hat. Die Jagdpartien in den Sümpfen um Alma-Ata während seines Exils in Kasachstan nach Stalins Sieg, dann die morgendlichen Angelausflüge mit dem Boot rund um die Insel Prinkipo, nachdem Stalin ihn nach Istanbul abgeschoben hatte.
Durch trockenes Gestrüpp klettert der Zug hinauf zu den Vulkanen, auf die Hochebenen, ein unwirtliches Land, bei dessen Anblick sein fünfzehn Jahre zuvor an Typhus verstorbener Vater, der alte Bronstein, ein Bauer in der ukrainischen Kornkammer, mit den Schultern gezuckt und in den Staub gespuckt hätte. Der in Gehöften aus Lehm und Stroh aufgewachsene Sohn ist viel zu brillant, um auf dem Bauernhof zu bleiben. Der herausragende Schüler, Bester in allen Fächern, lässt die Feldarbeit hinter sich und schlüpft durch das Nadelöhr der geringen Zahl von Studienzulassungen, die der Zar den jüdischen Studenten zugestanden hat. Lew Dawidowitsch Bronstein ist ein junger Verstandesmensch, der sich vor Leidenschaften hütet. Später würde er Schriftsteller sein, jetzt wirft er sich erst einmal auf die Wissenschaft, wird politisch aktiv auf den Werften von Odessa. Er verfasst Flugschriften, hält Reden vor Arbeitern im Alter seines Vaters, er entdeckt die Macht des Wortes und das Charisma, das ihm in die Wiege gelegt wurde, die Gabe, mit seinen Worten Einfluss auf das Denken der Werftarbeiter und das Alexandra Lwownas zu nehmen.
Er entdeckt auch das Gefängnisleben, und in seiner Zelle verfestigen sich auf Kosten des Zaren und seiner Kerkermeister seine Gedanken, er lernt Sprachen. Mit zwanzig wird er nach Sibirien deportiert, die Züge, die Wälder, die Hütten, die Lektüre, die Heirat in der Verbannung mit der schönen Alexandra Lwowna, die ihm in die Verbannung folgt, die beiden Töchter Nina und Sinaida. Er wird den Mut haben, sie zu verlassen mit der heroischen, jähen Entschlossenheit, der man im Leben von Heiligen und Propheten begegnet, allein zu fliehen, weil die Revolution ihm mit dem Furor des biblischen Gottes gebietet, Frau und Kinder zu verlassen. Es ist der Beginn der falschen Identitäten.
Lew Dawidowitsch Bronstein, den seine Freunde zu seinen Lebzeiten zuerst LD, später dann Den Alten nennen sollten, besitzt einen gefälschten Pass auf den Namen Trotzki, und mit diesem wird er in die Geschichte eingehen. Er versteckt sich in einem Pferdewagen, erreicht Irkutsk, steigt in die Transsibirische Eisenbahn. Im Laufe seiner Flucht kommt er nach Österreich, nach Zürich, Paris, wo er Natalja Iwanowna kennenlernt, die in Genf Botanik studiert. Jahrzehnte später sitzt sie neben ihm in diesem Zug, dem Hidalgo des Präsidenten Cárdenas, und schläft an seine Schulter gelehnt. Auch er döst vor sich hin, begegnet dem Blick General Beltráns und dem der geheimnisvollen Mexikanerin mit den schwarzen Augenbrauen, der Amsel auf der Stirn, den roten Lippen.
Der Zug wird immer langsamer, je steiler die Strecke ansteigt und er seine Waggons in die Höhe von zweitausend Metern nach Mexiko-Stadt zieht, je mehr der Januarhimmel aufklart und sich golden einfärbt, an dem die Zopilotes, die Rabengeier mit den weiten, schwarzen Schwingen kreisen. Nach drei Wochen auf See ist Trotzki ein wenig orientierungslos. So wie 1905, als der große rote Christus seine Flügel über Sankt Petersburg ausbreitet, Apostel und Märtyrer herbeiruft. Die Armen sterben im Januarschnee vor dem Winterpalast. Von allen, auf deren Kopf eine Belohnung ausgesetzt ist, gelingt es Trotzki als einzigem, in den ersten Tagen des Aufstands unter dem Namen Wikentjew, einem adligen Großgrundbesitzer, nach Russland zurückzukehren. Er hat das entsprechende Auftreten und Gebaren. Es herrscht der Belagerungszustand. Man stellt ihn an die Spitze des Sowjets, und sein Vorbild ist die Französische Revolution. Auf der Rednertribüne zitiert er Danton: »Organisation, Organisation, und nochmals Organisation!« Es endet schnell in einem Schlamassel, in Auflösung, Niederlage, Peter-und-Paul-Festung, zehnmonatiger Untersuchungshaft, dem Prozess, erneuter Verbannung, dem Zug nach Sibirien. In Sträflingskleidung auf dem Bahnsteig. Nur sein europäisches Schuhwerk hat ihm die zaristische Polizei gelassen, eine Stümperhaftigkeit, die sich rächen sollte – in den Hohlräumen der Absätze steckten wie in einem Roman von Dumas ein paar Tscherwonzen (Goldmünzen) und ein gefälschter Pass.
Die Verbannten erfahren, dass sie nach Obdorsk deportiert werden, jenseits des Polarkreises. Beim Zwischenhalt in Beresow simuliert Trotzki einen Ischiasanfall, wie er es zuvor geübt hatte. Allein zurückgelassen und auf den nächsten Konvoi wartend, besticht er die Wache und den Sanitäter, kauft einen Bauernschlitten, eine Lammfelljacke und ein Rentiergespann, engagiert einen Führer, flieht in die Taiga. Mit Sätzen, die man bei Jack London lesen könnte, erzählt er in Hin und zurück von seiner Flucht: »Die Schlitten gleiten ruhig, lautlos, wie ein Boot über einen spiegelglatten Teich. In der dichten Dämmerung wirkt der Wald noch gigantischer. Ich sehe den Weg nicht, ich spüre die Bewegung des Schlittens kaum. Die verzauberten Bäume eilen uns hastig entgegen, die Sträucher stürzen flüchtend zur Seite, alte, schneebedeckte Baumstümpfe laufen neben den schlanken Birken an uns vorbei. Alles scheint voller Geheimnisse. Tschu-tschu-tschu … hört man das schnelle und gleichmäßige Schnaufen der Rentiere in der lautlosen Stille der Waldesnacht.«
Der Flüchtige überquert den Ural, wendet sich nach Norden, passiert Finnland, gelangt nach Berlin, lässt sich in Wien nieder. Er ist achtundzwanzig Jahre alt, drei davon hat er im Gefängnis verbracht, zweimal wurde er deportiert. Nun sind sein Name und sein Mut allen Revolutionären bekannt. Er wird Journalist, Literaturkritiker, trifft Jaurès, verfasst eine Hommage an Tolstoi zu dessen achtzigsten Geburtstag und liest Freud. Für eine Reportage bereist er den Balkan. Nach dem Attentat von Sarajewo geht er in die Schweiz, dann erneut nach Paris, in die Rue d’Odessa Nr. 28 am Montparnasse, wo er im Dezember 1914 vom triumphalen Einzug Emiliano Zapatas und Francisco Villas in Mexiko-Stadt erfährt. Die mexikanische Revolution geht der russischen voraus.
Die Schlacht um Verdun tobt, Frankreich weist Trotzki aus. Zwei Gendarmen begleiten ihn im Zug nach Irún und übergeben ihn der spanischen Polizei. Da man nicht weiß, was man mit ihm anfangen soll, schickt man ihn zuerst nach Cádiz, dann nach Madrid. Man könnte ihn an den Zaren ausliefern. Stattdessen setzt man ihn in einen Zug nach Barcelona, wo man ihn am 25. Dezember 1916 zwingt, an Bord des Dampfers Montserrat zu gehen, der nach New York ausläuft. Es ist Winter, und bis Gibraltar herrscht stürmische See. Bei seinen Spaziergängen auf dem vom Regen leergefegten Deck begegnet Trotzki einem schwer ramponierten Riesen im Regenmantel, anglofranzösischer »Boxer, gleichzeitig auch belletristischer Schriftsteller, ein Vetter Oscar Wildes«. Es ist Arthur Cravan, der Dichter mit dem kürzesten Haar der Welt laut seinem Freund Blaise Cendrars. In Barcelona hatte sich Cravan soeben auf die Bretter schicken lassen, Knock-out in der sechsten Runde durch den Weltmeister Jack Johnson. Er kann die lange Überfahrt nutzen, um sich davon zu erholen und sich mit Salben einzureiben. Er isst mit Trotzki zu Abend und erzählt ihm von seinen Reisen als Anarchist im Untergrund.
Trotzki nickt ein. Der Zug nähert sich Mexiko-Stadt. General Beltrán hat seine Offiziersmütze aufgesetzt, seine Uniform glattgestrichen und sein Koppel zurechtgerückt. Im Halbschlaf gehen Trotzki Sätze durch den Kopf, die er gelesen hat, oder Sätze, die er vielleicht geschrieben hat: »Daher waren wir auch ständig unterwegs, und Moskau, Kronstadt, Twer, Sewastopol, St. Petersburg, Ufa, Jekaterinoslaw, Lugowsk, Rostow, Tiflis, Baku erhielten der Reihe nach unseren Besuch, wurden terrorisiert, umgestürzt, zum Teil zerstört und in Trauer versetzt. Unser Geisteszustand war erschreckend, unser Leben fürchterlich. Wir wurden verfolgt, wir wurden gehetzt. Unsere Steckbriefe waren in hunderttausend Exemplaren gedruckt und überall plakatiert. Auf uns war ein Kopfgeld ausgesetzt.«
Aber diese Sätze sind nicht von ihm. Sie stammen von jenem Schweizer Schriftsteller, der mit dem Boxer Cravan befreundet war, den sie an Bord der Montserrat kennengelernt hatten, von einem Schriftsteller, der kurze Zeit in Russland gelebt hatte und der jetzt bei der Fremdenlegion war, der unter dem Pseudonym Blaise Cendrars veröffentlicht hatte und dessen Buch Moravagine von Victor Serge ins Russische übersetzt worden war, der Trotzki nahestand und ihm in die Linke Opposition gefolgt war. Diese gemeinsamen Bekanntschaften entdeckten sie an Bord des Dampfers Montserrat. Der Zug erreicht die Vororte. Trotzki fragt sich, wo Victor Serge wohl sein mochte und ob sie sich eines Tages wiedersehen würden.
In New York warteten Journalisten am Kai auf den Riesen mit den gespaltenen Augenbrauen im Regenmantel. Um die Weltmeisterschaft geboxt zu haben ist keine Kleinigkeit, auch wenn man besiegt wurde. Andere warteten auf Trotzki. Einen Sowjet in Sankt Petersburg errichtet zu haben ist keine Kleinigkeit, auch wenn man besiegt wurde. Cravan trifft seine avantgardistischen Dichterfreunde, begegnet bald darauf seiner großen Liebe Mina Loy. Ein Jahr später geht der Riese nach Mexiko, um dort während der Revolution für immer zu verschwinden. Trotzki wird von dem Exilrussen Bucharin in Empfang genommen, mietet eine kleine Wohnung in der Bronx, nimmt seine journalistische Tätigkeit wieder auf, die unermüdliche Lektüre in den Bibliotheken, hält Vorträge, veröffentlicht Pamphlete in The Class Struggle.
Wenige Monate später haben wir schon 1917.
Die Vereinigten Staaten treten in den Ersten Weltkrieg ein und landen mit ihren Truppen in Saint-Nazaire. In Russland bricht die Revolution aus. Trotzki verlässt New York auf dem norwegischen Dampfer Kristianafjord. Beim Zwischenstopp in Kanada wird er von den Engländern inhaftiert, zwei Monate später wieder freigelassen. Er überquert den Atlantik, gelangt nach Finnland, steigt dort in einen Zug. Die große schwarze Lokomotive prescht durch den Schnee. Nach einer ersten Reise um die halbe Welt steht er jetzt wieder an der Spitze des Petrograder Sowjets. Dieses Mal werden er und Lenin durchgreifen. Der große Oktober ist da. Trotzki führt das Revolutionskomitee. Über diese zehn Tage wird John Reed sein Epos schreiben, zum Thukydides werden. Trotzki begegnet Fjodor Raskolnikow und Larissa Reissner. Zusammen werden sie Kasan einnehmen.
Trotzki ist achtunddreissig Jahre alt, er hört auf zu rauchen, gründet die Rote Armee, handelt den Frieden von Brest-Litowsk aus und bereitet die Revolution in Deutschland vor, schreibt an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, weil er wie so viele, wie der Anarchist Ret Marut in München, der später in Tampico zu B. Traven wird, überzeugt ist, dass die Zukunft der Revolution in Deutschland liegt. Welcher Nostradamus hätte ihnen ein Jahr zuvor, Lenin vor seinem Schachspiel in den Züricher Cafés und dem nach Spanien ausgewiesenen Trotzki, einen so schnellen Sieg vorausgesagt? Entlang des Bahnsteigs bremst der Zug ab. Von Tampico bis Mexiko-Stadt, vom Atlantik bis zu den Vulkanen reicht dem Verbannten die Zeit nur dazu, während er vor sich hindöst, die erste Hälfte seines Lebens durchzugehen, den Aufstieg und den Ruhm von Odessa bis Kasan. Sich die zweite Hälfte vorzunehmen wäre dasselbe, als stiege er in Mexiko-Stadt wieder in den Zug und führe auf der anderen Seite der Vulkane nach Acapulco am Pazifik hinunter, Stufe um Stufe hinab zum Nullpunkt des Meeresspiegels und des Exils.
Vor dem Bahnhof umringt eine Menschenmenge den Verbannten und Natalja Iwanowna. Fotografen schwenken ihre Magnesium-Blitzgeräte. General Beltráns Männer sorgen für ihre Sicherheit. Mit ihren hohen, schmalen Reifen rauschen die schwarzen Automobile der dreißiger Jahre im Konvoi durch Mexiko-Stadt in das am Stadtrand liegende Dorf Coyoacán. Neben ihnen sitzt die Mexikanerin mit den schwarzen Augenbrauen, der Amsel auf der Stirn, die schön ist wie Larissa Reissner. Sie öffnet ihnen die Tür zu ihrem Haus. Sie durchqueren den sonnigen, üppig blühenden Garten, der von hohen Mauern umgeben ist. Frida Kahlo nimmt sie auf in ihrem Blauen Haus. Hier wird ihre erste Adresse in Mexiko sein. Später, nach dem Attentat auf Trotzki, hat Natalja Iwanowna Victor Serge von dieser glücklichen Ankunft, den ersten Eindrücken von Mexiko nach der Flucht aus Norwegen erzählt: »Ein niedriges, blaues Haus, ein Patio voller Pflanzen, kühle Räume, Sammlungen präkolumbianischer Kultur, eine Überfülle an Bildern.«
Die Terrasse des kleinen Cafés La Selva, das in einem anderen Bezirk der riesigen Stadt des Distrito Federal liegt, fern von Coyoacán, in der Colonia Hipódromo im Stadtteil Condesa, wird von Blumentöpfen eingenommen und von winzigen schwarzen Spatzen belagert, dazwischen steht ein Kaktus in einem hübschen rostigen Blecheimer, über dem ein gelber Schmetterling flattert.
Vor zehn Jahren waren die Taxis in der Hauptstadt noch grünweiße VW Käfer. Heute sind die meisten goldene und purpurrote Limousinen. So verändert sich die Welt. Und das Ende der Geschichte ist noch nicht in Sicht. Dieses Land gleicht noch immer keinem anderen. Seit zehn Jahren beschäftige ich mich hier mit den Werken von Trotzki und Lowry und stoße in ihrem Gefolge auf andere Schriftsteller, die sich nach Mexiko verirrt haben, wie Cravan und Traven, nehme Fäden auf, wickle Spulen ab, knüpfe Verbindungen, bringe sie mit den Lebensgeschichten dreier ebenso berühmter und seit Langem verstorbener Frauen zusammen, die ebenfalls in all diese Geschichten der kleinen Mexiko-Bande verstrickt sind, dreier Frauen, denen das Volk in seiner Verehrung und die Nationen in ihrer Weisheit die hohen steinernen indianischen Stufenpyramiden errichten müssten und auf ihren Spitzen drei Altäre für die Bücher von Larissa Reissner, die Gemälde von Frida Kahlo und die Fotografien von Tina Modotti, um auf gut Glück die Segnungen der drei Grazien, die Freude, die Anmut und die Schönheit zu verbreiten, um auf ihren Stufen die Priester mit den bunten Federn und die Büßer, die Oranten, die Matrosen, die Verbannten, die Heimat- und die Staatenlosen zu versammeln:
Sandino trifft auf Traven, und Trotzki auf Cravan.
Diese beiden sind sich freilich nie begegnet. Trotzdem spekulierte man nach Cravans Verschwinden in Mexiko, dass sie ein und dieselbe Person gewesen sein könnten.
Fabian Lloyd, der Riese, Dichter und Boxer, ein Engländer, der in Lausanne geboren wurde, Anarchist und Neffe von Oscar Wilde, gibt in Paris unter dem Pseudonym Arthur Cravan die Avantgarde-Zeitschrift Maintenant heraus, deren Artikel er allesamt selbst verfasst. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs des Pazifismus verdächtigt, verlässt er seine Freunde Félix Fénéon, Van Dongen und Picabia, den er in Barcelona wiedersieht, verlässt die ganze Bande vom Montparnasse, mit der damals auch Diego Rivera verkehrte. Im Unterschied zu Cendrars, der zur Fremdenlegion geht und in der Champagne seinen rechten Arm verliert, taucht Cravan unter, reist mit gefälschtem Pass kreuz und quer durch Europa, wird Taxichauffeur in Berlin. Gelegentlich und ohne jede Übung betätigt er sich als Dichter und Boxer, hat sich gerade vom Weltmeister die Fresse polieren lassen, mit Trotzki an Bord des Dampfers Montserrat geplaudert. Er verlässt New York und Mina Loy, um nach Mexiko zu reisen, wo sich seine Spur bald verliert – zurück bleiben ein paar Plakate von Boxkämpfen in Mexiko und Veracruz.
Als der Name Traven immer bekannter wird, seine Romane mehr und mehr übersetzt werden, nachdem er Der Schatz der Sierra Madre geschrieben hat, stellt man Nachforschungen an und Hypothesen auf, vermutet als Urheber Arthur Cravan oder Jack London, der seinen Selbstmord vorgetäuscht haben soll, um seinen Gläubigern zu entgehen, oder auch Ambrose Bierce, der ebenfalls während des Krieges in Mexiko verschollen ist. Das ist erstaunlich, und man könnte neidisch werden in einer Zeit, in der ein im Hotelzimmer verlorenes Haar genügt, um uns zu identifizieren. Traven erinnert sich: »Vor diesem großen Kriege genügte ein leerer Briefumschlag mit darauf geschriebener Adresse und abgestempelter Briefmarke, um von Berlin nach Philadelphia, von Hamburg nach Borneo, von Brüssel nach Neuseeland zu fahren.« Und dann suchen sich all diese Leute Mexiko aus, das sich seit Jahren in Aufruhr befindet, wo sich weite Gebiete jeder staatlichen Kontrolle entziehen, ein Land der Emigranten und Entwurzelten, laut Octavio Paz auch das Land der Einsamkeit, ein Land, in dem es noch heute als Taktlosigkeit gilt, jemanden danach zu fragen, was er tut, woher er kommt und was er vorhat.
Traven behauptet, er sei in San Francisco geboren, wo der Großbrand nach dem Erdbeben von 1906 alle Geburten- und Melderegister vernichtet hat. Man brauchte viele Jahre, um die Verbindung zu Ret Marut aufzuspüren, dem spurlos aus München verschwundenen Anarchisten, Herausgeber der Zeitschrift Der Ziegelbrenner, deren Beiträge er alle selbst schrieb. Und wie Cravan wirft man ihm Defätismus vor: Er, Marut, falle den im Krieg kämpfenden deutschen Soldaten in den Rücken, so wie Cravan der französischen Armee in den Rücken gefallen sei. Tatsächlich hatten die beiden vieles gemeinsam und hätten sich zusammen für die Pseudonyme Travan oder Craven entscheiden können.
Nach dem Scheitern der Revolution in München flüchtet Ret Marut nach Holland. In London, wo er sich für einen Polen ausgibt, schnappt ihn die Polizei. Bei seinen Bemühungen, unerkannt zu bleiben, profitiert er von seinem unscheinbaren Aussehen und seinem Allerweltsgesicht. Auf einer seiner Aufenthaltsgenehmigungen für Mexiko, ausgestellt auf den Namen Torsvan, norwegischer Ingenieur, liest man von blondem Haar und blauen Augen. Man kann auch wie Trotzki die gegenteilige Methode anwenden: sich ein Aussehen zulegen, das durch zwei oder drei Einzelheiten rund um den Planeten so einfach wiederzuerkennen ist, dass es genügt, die runden Brillengläser, den Schnurrbart und den Spitzbart abzunehmen, um nicht mehr bemerkt und in Ruhe gelassen zu werden. Wer konnte in jenem Winter 1934 schon ahnen, wenn er sein Versteck in Barbizon oder Lagny für einen kleinen Ausflug nach Paris verließ, um in den grünen Kisten der Bouquinisten zu stöbern, dass hinter dem friedfertigen, glattrasierten und kurzsichtigen Vorstadtbewohner, der nun auf der Rückfahrt in einem Bummelzug saß und in ein Buch vertieft war, der flüchtige Führer der Roten Armee steckte?
Später fand man heraus, dass Ret Marut sich von London aus auf dem norwegischen Dampfer Hegre einschiffte. In Tampico lebt er von Gelegenheitsarbeiten, schreibt Gedichte und einen ersten Roman, Das Totenschiff, in dem er die mehr oder weniger seetauglichen Schrottkähne beschreibt, in denen die Emigranten und die ausgehungerten Überlebenden des Ersten Weltkriegs zusammengepfercht sind. In den Milieus, in denen auch der spätere nicaraguanische General Sandino verkehrt, zettelt er Streiks und Aufstände an, geht dann in die Provinz Chiapas, um dort unter dem Namen Torsvan bei den Indianern zu leben, zieht sich später zurück in eine Finca in der Umgebung von Acapulco. Für Ret Marut, der Torsvan, Croves und Traven war, und für viele andere wie auch für Cravan bedeutet die falsche Identität, sich dem Staat zu entziehen, auf anarchistische Art zu leben: »Ich bin freier als irgendjemand sonst, ich kann meine Eltern frei wählen, mein Vaterland, mein Alter.«
Auch beim Neffen des genialen Paria Oscar Wilde ist es Furcht vor der Staatsmacht und Hass auf jene Obrigkeit, die aus reinem Vergnügen verurteilt und demütigt. In seinem Roman Unter dem Vulkan wird der englische Schriftsteller Malcolm Lowry Cravans Onkel Oscar Wilde, der sich gerade in Dorian Gray verwandelt und schon hässlicher wird, in derselben Aufmachung zeigen, in der Trotzki zehn Jahre zuvor am Bahnhof stand: »Im November 1895 stand an einem Nachmittag zwischen zwei und halb drei Uhr, für jeden zu erkennen, Oscar Wilde in Sträflingskleidung und Handschellen auf dem Hauptbahnsteig von Clapham Junction …«
Nachdem John Huston in Tampico an Land gegangen war, Travens Roman Der Schatz der Sierra Madre verfilmt hatte und der Film mit drei Oscars ausgezeichnet worden war, wollten die Produzenten, dass der Autor des Romans auf Fotografien zusammen mit Humphrey Bogart und Lauren Bacall erscheine. Der geheimnisvolle Traven lehnte das ab. Später entdeckte man, dass er unter dem Namen Hal Croves an den Dreharbeiten teilgenommen hatte. Das ehemalige Mitglied des Revolutionären Arbeiterrats in München wird ein unsichtbarer Hollywoodstar. Um die Knete der kapitalistischen Filmindustrie einzustreichen, bedient er sich weiterhin eines Labyrinths von Postfächern.
Es trägt der König meine Gabe,
Der Millionär, der Präsident,
Doch ich, der lump’ge Pflücker, habe
In meiner Tasche keinen Cent.
Trab, trab, aufs Feld!,
Gleich geht die Sonne auf.
Häng um den Sack,
Zieh fest den Gurt!
Hörst du die Waage kreischen?
B. Traven