Dieses Buch entstand im Gedenken an
*meinen Mann Jochen*
*meinen besten Freund Uwe*
- die ich beide liebte und die sich deswegen hassten.
Jochen wäre entsetzt, mit Uwe in einem Atemzug genannt
zu werden, aber es gehört einfach so.
Weil sie ALLES für mich waren.
*meinen Schwiegervater Emil*
- nach außen hart, aber mit butterweichem Herz.
*meine Schwiegermutter Irene*
- die erst nach Emils Tod richtig zu leben begann.
Nicht mehr lange, aber intensiv.
*meinen Vater*
- dem ich sehr ähnlich bin, jedoch nie so nahe sein konnte,
wie ich gern gewollt hätte.
Fortsetzung von
“Ich sehe dich sterben“:
“Nach deinem Tod…“
ISBN: 978-3-7528-7839-4
Haftungsausschluss
Sämtliche Namen wurden geändert, zum Schutz aller Beteiligten. Als Handlungsort wählte ich Bayern, weil ich dort gerne leben würde. Etwaige Übereinstimmungen von Personen oder Schauplätzen wären jedoch reiner Zufall, da sie meiner Phantasie entsprungen sind.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2017 Lexa Wolf ®
Cover-/Umschlaggestaltung: Buchgewand
Titelfoto © Lexa Wolf ®
Korrektur: Evi, Tina, Hazel
weitere Mitwirkende: siehe “ich danke“ S. →
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7460-8292-9
Die kraftraubende Wache an Papas Sterbebett hat mir langes Schlafen abgewöhnt.
Meine Mum und ich wechseln uns ab, denn wir versuchen seinen letzten Wunsch, zu Hause sterben zu dürfen, erfüllen zu können. Aber seit letzter Nacht geht es nicht mehr.
Ich bin mit ihm allein, und er bekommt plötzlich hohes Fieber. Seine vom Krebs fast vollkommen zerstörte Leber beginnt sich abzusetzen. Über den Darm.
Aus seinem linken Ohr fließt grüner Eiter, den ich mit einem Plastikbecher aufzufangen versuche. Immer wieder muss ich den Becher entleeren, wobei ich mich fast übergebe.
Die Verantwortung wächst ins Untragbare, auch die ständige Gabe von Morphin-Spritzen übersteigt meine Grenzen.
Meine Mama ist Krankenschwester und hat damit natürlich keine Probleme. Aber ich muss Papa die Spritzen eben auch setzen, nämlich wenn ich wie in diesem Fall mit ihm allein bin, weil Mama Nachtdienst hat.
Wir rufen schließlich am Nachmittag des 20.12.1993 den Krankenwagen. Schweren Herzens.
Während Papa auf der Trage aus dem vierten Stockwerk transportiert wird, hebt er die ganze Zeit drohend den linken Zeigefinger. Sprechen kann er nicht mehr.
Im Krankenhaus wird er am Morphium-Tropf angeschlossen und erhält Sauerstoff.
Wir haben ein gutes Gefühl, denn nun ist er von Ärzten umgeben, mit denen er über 30 Jahre in diesem Haus zusammengearbeitet hat.
Der Oberarzt, der auch sein Freund ist, spricht einfühlsam von “vielleicht noch zwei Tagen”.
Dass Daddy hier ist, hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet, und im Minutentakt besuchen ihn all seine Kollegen. Sie kommen aus allen Stationen, sogar diejenigen, die keinen Dienst haben, um sich von ihm zu verabschieden.
Genau das wollte er nicht. Dass sie ihn so sehen.
Aber wir können ihm das leider nicht ersparen.
Ich knicke fast ein in den Knien, und schließlich schickt Mum mich nach Hause: „Ruh dich ein bisschen aus. Ich bleibe hier, bis du wiederkommst.”
Eigentlich möchte ich das Angebot nicht annehmen. Nach dieser schweren Pflege bin ich einiges gewöhnt und habe das Gefühl, im falschen Moment das Bett meines Vaters zu verlassen. Dennoch leiste ich Mums bestimmter Anweisung Folge.
Die alte Pendeluhr meiner Oma schlägt 5 Uhr, als ich im Morgengrauen zu Hause eintreffe.
Ich werde mich auf Mamas Drängen ein paar Stunden ausruhen, dann aber gleich auf deren Ablösung bestehen, da sie selbst am Ende ihrer Kräfte ist.
Erschöpft lasse ich mich mitsamt den Klamotten auf mein abgedecktes Bett fallen und schließe die Augen. Ich möchte nicht wegtreten, mein Verstand soll wach bleiben, jederzeit bereit sein ins Auto zu hüpfen, wenn jemand aus dem Krankenhaus anruft. Aber ich sehe weiße Schleier, die sich vor meinem Geist versammeln und mich bleiern in die Versenkung reißen wollen. Wehrlos lasse ich mich einhüllen und gehe mit ihnen in die Tiefe eines unruhigen Schlafes.
Plötzlich schrecke ich hoch, sitze senkrecht auf meinem Bett und starre auf die Uhr von Oma. Es ist 8.20 Uhr. Nicht das Telefon hat mich geweckt, sondern etwas anderes. Das Gefühl einer unsichtbaren Macht, einer Vorahnung, mit der ich im weiteren Verlauf meines Lebens noch sehr oft in Berührung kommen werde. Ich verzichte auf Kaffee, der Gang ins Badezimmer fällt ebenfalls aus. Meine Handtasche lasse ich liegen und meine Degus hungern. Die armen Tiere stehen nach Futter bettelnd am Käfig.
Als wäre ich auf der Flucht, renne ich zu meinem Wagen und fahre, sämtliche Zonen 30 ignorierend, ins Krankenhaus. Laut klackernd lassen meine Schuhe die Geschwindigkeit meines Schrittes in diesem endlos langen Korridor hallen. Eine lahme Schwingtür, die sich doppelseitig allein öffnet, bremst meinen Gang. Ab da verlangsamt sich mein Schritt, ehrfürchtig vor dem, was mich erwarten wird, eingeschüchtert von der Einsamkeit dieser Station.
Papa hat von der Krankenhausleitung ein Einzelzimmer in einem noch nicht eröffneten Trakt der neu renovierten Intensivstation bekommen. In diesem Teil des Gebäudes ist um diese Uhrzeit niemand. Keine Pfleger, keine Ärzte, nur meine Eltern und jetzt ich.
Mit verzweifeltem Schwung öffne ich die Tür zum Zimmer meines sterbenden Vaters. Es sind jetzt nur noch drei Schritte bis zu seinem Bett.
Mama hält seine Hand und sagt: „Siehst du, ich wusste, dass Lexa unterwegs ist.”
Papa lächelt zaghaft, er atmet tief ein.
Ich neige mich zu ihm runter und berühre seine Wange.
Er seufzt erleichtert, pustet Luft aus, als würde er eine Last ablegen können.
Wir starren auf seinen Brustkorb, warten darauf, dass dieser sich bewegt. Es dauert lange, doch seine Brust hebt sich noch einmal zu einem tiefen Atemzug, den er an diesem 21.12.1993 um 8.52 Uhr anzuhalten scheint. Er ist erlöst.
Diese erste direkte Begegnung mit dem Tod verändert mein Leben maßgeblich. Das weiß ich heute, fast 25 Jahre später. Meine bis dato jugendliche Leichtsinnigkeit ist verflogen, Erlebtes macht mich nachdenklich und besonnen, zeichnet meine Seele.
Der Weg führt mich in eine schwierige Ehe mit einem Alkoholiker, weitere mir nahestehende Menschen sterben in meiner Gegenwart. Ich kämpfe täglich gegen die schier unbezwingbare Macht, mit der mir Krebs und Alkoholsucht entgegentreten und werde schließlich Witwe.
Liebe, Hoffnung, Mut und der ungebrochene Wille niemals aufzugeben, können das drohende Unheil nicht verhindern, welches über mir zu schweben scheint.
Mein Leben wird geprägt von Machtlosigkeit, Verzweiflung und Abschieden.
Diese wahre Geschichte werde ich erzählen. Ungeschminkt und ohne Hüllen.
Nachdem ich realisiert habe, dass Papa nun tatsächlich gestorben ist, gehe ich zum Fenster und öffne es weit. Ich habe schon gehört, dass die Seele dann besser ihres Weges gehen kann. Man möchte ja gerne an diese Dinge glauben, denn man hat in solch einem Moment überhaupt keinen Halt und auch keinen Zugang zum natürlichen Finale des irdischen Lebens.
Woher bekommt man Trost? Wie verarbeitet man die Sterblichkeit, nämlich auch die eigene? Alles ist so surreal und unbegreiflich. Der Blick auf den leblosen Körper des Verstorbenen lässt einen auch nicht verstehen.
Warum öffnet er nicht einfach die Augen? Wie kann das nur sein? Warum jetzt schon? Warum ausgerechnet er und natürlich warum ausgerechnet WIR?
Wir haben den Schmerz, bleiben zurück. Wir weinen und hadern.
Trotz des Bewusstseins, dass der Tag ganz sicher für jeden von uns kommen wird, beschleicht uns das Gefühl, diesem mächtigen Tod haltlos und machtlos ausgeliefert zu sein.
Und dann wird einem klar, dass man dem Tod nicht trotzen kann. Er kommt wann er will, unverhofft oder erahnt, doch den Zeitpunkt kennt nur er. Er fragt nicht, ob er in den Terminkalender passt, in den Lebensplan. Es interessiert ihn nicht, ob man “Zeit“ hat zu sterben, ob man seine Kinder oder Enkelkinder noch aufwachsen sehen möchte. Es ist ihm egal, ob das Haus bezahlt ist. Er kommt und holt einen ab, “einfach“ so.
Wir sitzen uns schweigend gegenüber und warten auf Albert, den Bestatter. Er ist einer der besten Freunde von Papa und steht quasi in “Startposition”, wenn man das so weltlich ausdrücken darf.
Während dieser Zeit verändert sich bereits Papas Aussehen. Seine Gesichtszüge werden weich, entspannt, aber auf eine schreckliche Art und Weise. Er sieht nicht aus, als würde er schlafen, nein. Man kann deutlich erkennen, dass es die Art Entspannung ist, die nur der Tod über ein Gesicht legen kann.
Selbst seine Hände, die von einer Krankenschwester “zum Gebet“ ineinander gefaltet wurden, wollen sich nicht mehr aneinander festhalten, und sein Mund öffnet sich leicht.
Ab diesem Moment überkommen mich Berührungsängste. Ich fürchte, dass bereits die Körpertemperatur gesunken ist und mein Vater sich unlebendig kalt anfühlt. Ich sehne mich nach einer Zigarette, an der ich mich festhalten kann. Ohnmachtsgefühl macht sich breit.
Albert ist nun eingetroffen und schickt uns aus dem Raum, bevor die Leichenstarre eintritt. Er hat jetzt richtig viel Arbeit und tritt überspielenderweise sehr professionell auf. Er kondoliert kurz und bestimmt dann fachlich: „Wir machen die Beerdigung noch vor Weihnachten, damit Hans über die Feiertage nicht in der Leichenhalle liegen muss.”
Mama nickt.
Das ist uns recht. Sehr sogar.
Ich hätte niemals für möglich gehalten wie stressig es sein kann, in zwei Tagen eine Bestattung zu planen.
Gleich am Nachmittag müssen wir zu Albert in die “Ausstellung” kommen, um sämtliche Dinge zu regeln.
Von der Todesanzeige, über die Kleidung, den Sarg, Bettzeug, Blumen, Kerzen, Kranz, welches Grab oder Urne, Musik, Pfarrer, Lebenslauf. Die Liste ist bald endlos.
Man muss eine Lokalität suchen für die Trauergesellschaft, weit gereiste Verwandte unterbringen, ein Restaurant für die Schulkameraden suchen, denn die gehen ja woanders “feiern” und so weiter. Kommt man zum Nachdenken? Zum Weinen und Trauern? Klares NEIN.
„Ich habe nichts anzuziehen”, stellt Mama tags drauf fest.
„Ich auch nicht”, erwidere ich.
Also beschließen wir, shoppen zu gehen. Ja, es ist tatsächlich wahr. Wir fahren nach München und grasen zig Kleiderläden ab, probieren Mäntel, Hüte, Handtaschen, Schals, Hosen und Blusen an.
Warum sollte man eigentlich als trauernde Witwe einen Hut tragen und als trauernde Tochter auch? Ist total unnötig!
Aber Mama sagt, es wäre sinnvoll, denn irgendwie muss das mit Respekt zu tun haben, einen seriöser aussehen lassen.
Ich kann es nicht nachvollziehen, aber ich greife zum erstbesten Hut mit Tüll-Schleier und ziehe ihn schräg ins Gesicht.
Mama lacht schallend.
Ich muss wahrhaftig albern aussehen und schäme mich zutiefst über meine ausgelassene Stimmung, doch ich kann gerade nicht ernst bleiben.
Wir haben eine Mordsgaudi beim Aussuchen unserer Kopfbedeckungen und unterhalten quasi die gesamte Abteilung in diesem Kaufhaus. Mit unserem Verhalten bestätigen wir dem Leben (oder vielleicht auch dem Tod), dass es uns noch gibt, wir bei bester Gesundheit sind und von uns auch eine Last abgefallen ist. Wir sind fremd in dieser Stadt und müssen uns voreinander weder verstecken noch rechtfertigen, uns gegenseitig nichts erklären. Wir fühlen dasselbe, und wir haben das Gleiche erlebt.
Die Heimfahrt verläuft schweigend. Der Grund unseres Ausflugs wird wieder gegenwärtig.
Jede von uns beiden weiß, dass wir viel zu viel eingekauft haben und dabei viel zu viel Spaß hatten.
Zu diesem Zeitpunkt kann ich nicht ahnen, dass ich das neu erworbene Outfit noch sehr oft brauchen werde. Leider.
Heute ist Heilig Abend, Tag der Beerdigung.
Mein Bruder ist aus Leonberg gekommen, und mein Freund Phil ist aus Stuttgart angereist. Wir führen zwar seit fünf Jahren “nur“ eine Fernbeziehung, aber es läuft trotzdem wirklich gut zwischen uns. An den Wochenenden besuchen wir einander fast immer im Wechsel.
Die beiden Männer halten Mama und mich im Arm und führen uns in die Leichenhalle.
Ich brauche diese Berührung eigentlich nicht, möchte nicht festgehalten werden, aber ich lasse es geschehen.
Papa ist im Sarg aufgebahrt und kann nochmal angesehen werden. Er liegt in einer Leichenkammer, die mittels eines Samtvorhangs zur Hälfte geöffnet ist.
Mein Schritt wird zaghaft, und ich bleibe ein paar Meter entfernt stehen.
Mama geht weiter und betritt die Kammer.
Es dauert keine drei Sekunden, bis ich sie schreien höre: „Albert, mach sofort diesen Sarg zu! Mach zu! Mach zu!“ Sie kommt herausgestürzt, packt mich am Ärmel und zieht mich zu einem der Stühle in der ersten Reihe, als wolle sie mich vor großem Unheil bewahren.
Mum weint bitterlich.
Ich sehe aus dieser Position dennoch meinen Vater in seinem Sarg liegen. Der Anblick ist kaum zu ertragen, aber wegschauen kann ich auch nicht. Ich bin entsetzt.
Er ist sehr hoch aufgebahrt, wie in einem Liegestuhl, den Oberkörper leicht nach oben abgeknickt. Auf dem Gesicht ist ein extrem unnatürliches Grinsen zu erkennen, und er hat apfelrote Wangen. Beinahe wie Schneewittchen.
Hektisch schließt Albert den Sarg und zieht den Vorhang zu. Er hat es mit der “Aufhübschung“ zu gut gemeint, und der angestrebte Ausdruck des “in Frieden Ruhens“ ist ihm deutlich misslungen.
Bis heute haben wir nicht darüber gesprochen, wie grauenhaft Papa ausgesehen hat.
Ich möchte es auch gar nicht so genau wissen.
Die Fotos, die Albert von der Aufbahrung gemacht hat, haben wir bis heute im verschlossenen Umschlag gelassen. So etwas braucht kein Mensch.
Ich jedenfalls nicht.
Zur Beerdigung von Papa kommen geschätzt achthundert Menschen.
Die Entscheidung, in der Todesanzeige nicht von Beileidsbekundungen abzubitten, hat fatale Folgen. Wir werden nun von endlos vielen Leuten gedrückt, umarmt und berührt.
Die wenigsten von ihnen habe ich je zuvor gesehen, dennoch sieht mich jeder während des Händedrucks oder der Umarmung an, als würde er mich kennen. Manche blicken mich stumm und traurig an, manche weinen schnell, weil man das in dem Moment so macht, und einige fallen mir sogar direkt schluchzend um den Hals. Es will kein Ende nehmen, und es wird schier unerträglich.
Schließlich gehen wir hinter dem Sarg her. Es ist ein sehr weiter Weg bergauf bis zur letzten Ruhestätte von Papa.
Hinter uns schlängelt sich ein überwältigender, langsam schleppender Strom schwarz gekleideter Menschen.
Es schneit.
Am Grab ziehe ich, dankbar einen Hut zu tragen, diesen ganz tief in mein Gesicht und blicke zu Boden.
Phil umklammert mich so “umfangreich”, dass mich ab diesem Zeitpunkt niemand mehr an sich heranzieht oder mir seine Tränen über die Wange verteilt.
Ich bekomme auch kaum noch etwas mit, ersehne geduldig den Moment, in dem dieser Horror endlich vorüber ist.
Zum Schluss kommen die Musiker-Kollegen aus Papas ehemaliger Band an das Grab.
Schlagzeuger und lebenslanger Freund, genannt Bubi, wirft seine Schlagzeugstöcke auf den Sarg und weint. „Mach´s gut, Hans.”
Das krachende Geräusch der Stöcke auf dem Sarg und das Schluchzen der Trauergemeinde, zieht mir fast den Boden unter den Füßen weg.
Bandkollege und Papas langjähriger Weggefährte Jonny spielt währenddessen auf der Trompete das "Ave Maria".
Die Band hat hier ebenfalls ihren letzten Gang, und dieses lähmende Gefühl des Abschieds tut zum Zerbersten weh.
Allen Anwesenden.
Was hier passiert ist ein Ende. Das Ende von so vielem.
Das Ende der Band "Wildfor", das Ende meines unbeschwerten Lebens, das Ende von Papas Dasein… und was ich noch nicht weiß…
es ist auch das Ende meiner Beziehung mit Phil.
Die Weichen sind seit dem 21.12.1993 gestellt.
Nachruf: In ganz kurzen Abständen von wenigen Monaten sterben auch Jonny, Bubi und der Bestatter Albert.
Aufgrund des bevorstehenden Weihnachtsfestes gehen fast alle Trauergäste direkt nach der Beisetzung zu ihren Familien nach Hause.
Vor der Pflichtveranstaltung namens Leichenschmaus hat es mir am meisten gegraut, doch diese fällt nun tatsächlich aus. Ich konnte es noch nie verstehen, wenn die Leute sich nach einer Beerdigung zusammenraffen, zuerst brav Kaffee trinken, dann Schnäpse in sich hineinschütten und am Ende alte, bevorzugt dreckige, Witze reißen.
Papa, diesem Lebemann, diesem Partylöwen, hätte das bestimmt gefallen.
Aber nun ist es dennoch gut, wie es ist.
Phil hat auf den allerletzten Drücker über “Vitamin B“ noch einen Weihnachtsbaum ergattert, weil Mama plötzlich von dem wehmütigen Gedanken gepackt wird, Weihnachten wäre in unserem Fall ohne Christbaum noch trostloser.
Ich kann überhaupt nicht nachvollziehen, warum ein Gemütszustand von einer geschmückten Tanne abhängen soll. Aber ich dekoriere schweigend mit Phil das dürre Ding, das offenbar aufgrund seiner Deformationen im Verkauf stehen geblieben ist, mit Kugeln, Engeln und Kerzen.
Was der Baum an dieser schrecklichen Situation ändern soll, lässt sich in meinem Gehirn gerade nicht sortieren.
Da unten auf 1,80 Meter Tiefe liegt mein Vater, bedeckt von gefrorenen Bodenschollen, verschlossen in einer Holzkiste. Für die Ewigkeit.
Und wir sind damit beschäftigt, den Geburtstag Christi vorzubereiten.
Was interessiert mich Christi? Bittere Gedanken, aber unauslöschlich wahr.
Mein Bruder ist wieder nach Hause gefahren zu seiner Familie und für uns ist jetzt “Stunde der Bescherung“. Da sitzen wir nun. Phil, Mama und ich.
Irgendwo kommt Kartoffelsalat und ein großes Stück Schinken her.
Ich frage nicht wer das “gekocht” hat, bekomme kaum einen Bissen davon runter.
Mama ist wie jedes Jahr besorgt um unsere Geschmacksknospen und erkundigt sich mehrfach, ob es uns schmeckt. Hat sie tatsächlich selbst noch einen Kartoffelsalat gemacht? Eigentlich unmöglich.
Ich gehe davon aus, dass sich Mum nach gewöhnlichen Tischgesprächen sehnt, welche eine Atmosphäre der Normalität in unser Trauerhaus zaubern sollen und spiele ihr zuliebe bei diesem seichten Smalltalk mit.
Mir fällt auf, dass es Phil ausgesprochen gut schmeckt, denn er (fr)isst wie ein Scheunendrescher. Im Anschluss an das üppige Abendessen, schaufelt er noch sieben große Stücke Marmorkuchen in sich hinein. Die Herkunft des Kuchens ist mir übrigens auch ein Rätsel.
Ich sehe ihm eine Weile zu und fühle mich in einer ganz besonderen Art angewidert. Erklären kann ich das nicht. Mir ist am Morgen der Beerdigung schon aufgefallen, dass ich seine Umarmung nicht möchte.
Was ist da passiert?
Der Abend und somit endlich der ganze Tag, neigen sich gegen 22 Uhr dem Ende zu.
Es ist uns tatsächlich gelungen einen Heilig Abend zu gestalten, sogar mit kleiner Bescherung und ganz ohne Tränen. Selten hat sich etwas so unglaublich leer angefühlt.
Wo sind die Tränen?
Ich werde noch zehn Jahre darauf warten müssen, meine Seele hat die Trauer um Papa ganz tief in sich eingeschlossen.
Bei mir zu Hause angekommen sucht Phil meine Nähe.
Oh nein! Alles, nur das jetzt nicht! Fluchtartig entziehe ich mich jedem Körperkontakt und suche einen Mindest“sicherheits“abstand von einer ganzen Couch-Breite. „Bitte fahr morgen nach Hause. Ich möchte allein sein.”
Er nickt wortlos ohne Rückfragen, isst währenddessen Erdnüsse und trinkt einen Liter Cola.
Mich stört sein Geknusper und Geschlürfe, und ich würde ihn am liebsten sofort wegschicken.
Mitten in die Heilige Nacht hinein.
Doch ich schweige.
Es ist kein Prozess über Wochen und Monate. Es schleicht auch nicht auf leisen Sohlen daher. Es ist genau das Gegenteil, wie wenn man in einem dunklen Raum das Licht einschaltet und plötzlich alles deutlich sehen kann.
Ich will Phil nicht mehr bei mir haben. Jetzt. Gleich. Ohne Begründung. Ganz klares Signal.
Die Verabschiedung am nächsten Morgen ist dennoch wie immer, wir sind ja schon fünf Jahre zusammen. Da fällt man sich nicht mehr weinend um den Hals und jammert sich gegenseitig vor, wie sehr man den anderen vermissen wird.
Ein Bussi und tschüss.
Das Gute an unserer Fernbeziehung ist, dass ich natürlich ganz leicht auch mal einen Wochenendbesuch knicken kann, vor allem im Winter.
Vielleicht liegt gerade zu viel Schnee, es besteht Glatteisgefahr oder ich habe eben eine krasse Grippe.
Mama braucht mich jetzt.
Eines der besten Argumente dafür, meinen Wohnsitz nicht verlassen zu müssen.
Diese Register ziehe ich über die nächsten drei Wochen und es geht mir unglaublich gut damit.
In der Firma haben wir gleich nach den Feiertagen Inventur, die ich ausgesprochen genieße.
Ich freue mich über meine gut gelaunten Arbeitskollegen und irgendwie auch über meine freien Abende, denn ich bin ja nicht mehr in die Pflege von Papa eingespannt. Ein Gefühl von Freiheit übermannt mich, und ich gestehe mir selbst mit schlechtem Gewissen ein, gerne mal wieder so richtig verliebt sein zu wollen.
Phil ruft mich jeden Abend an und kämpft um unsere Beziehung. Natürlich bemerkt er, dass ich ihm entgleite. Fast unentwegt beteuert er seine Liebe, spielt mit der E-Gitarre Lieder von “Gary Moore“ durch die Leitung und schickt sogar Briefe. Er lullt mich immer wieder so weit ein, dass ich danach gedanklich in die Richtung kippe, ihn doch zu “behalten“. Er ist ja ein Guter. Jaja.
Es ist der 15. Januar 1994. Phil ist bei diesem Höllenwetter mit dem Motorroller ohne Vorankündigung zu mir gefahren.
Da sein Auto seit Wochen unrepariert in der Garage steht, habe ich mit allem gerechnet, nur nicht mit seinem Besuch.
Er steht nun vollkommen durchgefroren in meinem Hausflur und streckt mir eine Rose entgegen.
Ich gucke blöd. Ganz sicher. Aus meinem dümmlichen Blick lässt sich auch mit viel gutem Willen keinesfalls Begeisterung herausfiltern, aber er bemerkt es offenbar nicht.
Normalerweise müsste jetzt eine meiner Hände den Griff zur Rose tun, aber beide Arme hängen schlaff an meinem Körper herunter. „Was ist los?”, frage ich leicht gereizt.
„Ich will, dass wir heiraten!”, platzt es aus ihm heraus.
Stille.
Mein Gesicht? Ich möchte es nicht sehen! Mein Mund? Offen! Meine Knie? Weich! Meine Gedanken: „Warum stürzt keine Wand ein? Warum explodiert der Herd nicht? Wieso klingelt nie das Telefon, wenn man es braucht? Wo ist das Helferlein, das mich aus dieser Situation befreit?“
Phils Blick erwartungsvoll. Nervös. Blutrote Wangen hat er. Den Arm noch immer ausgestreckt, mit zitternder Hand die Rose haltend, quengelt er: „Und?”
Ich blicke auf meine Füße. „Nein.”
Die Situation scheint Stunden zu dauern, der Boden droht weich zu werden. Es fühlt sich an, als würden sich die Wände mit Eis überziehen und auf mich zukommen.
Ich habe nein gesagt.
Ist das wirklich real? Habe ich ihm tatsächlich gerade einen Korb gegeben? Seinen Antrag abgelehnt? Ja, ich habe.
Erklärungsnot!
„Wie oft musstest du dir schon von mir anhören, dass ich niemals heiraten möchte? Warum ignorierst du das und bringst uns nun in solch eine Situation?” Ich klinge eher zornig, als mitfühlend.
Natürlich möchte ich ihn weder verletzen noch kränken, doch das ist mir ganz offensichtlich gewaltig misslungen.
Phil drückt mich mit dem Unterarm zur Seite, holt sich aus der Küche eine Plastiktüte und wirft sämtlichen Kleinkram hinein, den er bei mir für die Wochenenden gelagert hat. Wütend stampft er zur Tür. Dort dreht er sich nochmal um, hält kurz inne, als wolle er das alles rückgängig machen. Doch dann sagt er mir gepresster Stimme: „Lebe wohl. Ich verlasse dich!”
Die obere Haustür ist längst hinter Phil zurück ins Schloss gefallen, aber ich stehe noch immer wie angewurzelt an der gleichen Stelle und kann mich nicht rühren.
Das kann ja alles nicht wahr sein. Ein einziges Wort hat über meine Zukunft mit diesem Mann entschieden.
Nein.
Ich bin Single.
Ein paar Schritte bis zum Telefon sind es, die schaffe ich gerade noch und rufe meine Freundin Tine an.
Es ist ganz schnell erklärt, was sich hier eben abgespielt hat.
Dass Tine besonders geschockt ist, mich bedauert oder mit Fragen löchert, bleibt aus. „Lass uns weggehen heute Abend!”, findet sie.
Da bin ich ohne zu zögern dabei, und wir verabreden uns für den Abend in der Disco “Starlight”.
Durch die Beziehung mit Phil, welcher im Laufe der Jahre zur faulen Couchkartoffel mutiert ist, war ich schon lange nicht mehr so richtig feiern.
Jetzt werde ich hektisch. Wie sehe ich überhaupt aus?
Es geht nun ganz schnell. So starr und steif wie ich eben noch im Flur festgeklebt bin, so irre sause ich nun in meiner kleinen Wohnung hin und her.
Zuerst ins Bad. Griff in die Haare. Schlaff sind sie. Stumpf. Leblos. Das Gesicht hat seit Monaten kein Make-Up mehr abbekommen, die Augen blicken mir müde aus dem Spiegel entgegen. Optisches “Anti-Highlight“ sind unschöne, bläuliche Augenringe.
Ich zupfe an den Wangen, erreiche aber nicht den leisesten Anflug von “Rotbäckchen”.
Ein dicker, entzündeter Pickel bildet aufsässig den Eyecatcher auf meiner Nase.
Wie lange habe ich eigentlich nicht mehr bewusst und kritisch in den Spiegel gesehen? Ich bin geschockt.
„Anzuziehen!”, schießt es durch meinen Kopf. „Ich habe nichts anzuziehen! Keine schönen, sexy Klamotten für einen Discobesuch!”
Im Augenwinkel droht mein Kleiderschrank und wartet auf Öffnung. Mit rasantem Schwung reiße ich alle Türen auf und lasse meinen Blick schweifen. Doch, ich besitze genügend Kleidung, aber ich passe nicht mehr hinein!
Phil hat mich dick gemacht. Mit ihm bin ich faul geworden, fett, 90 Kilo nenne ich mein Eigen. Und der wollte mich trotzdem heiraten? Unbegreiflich.
Frauen kennen das, wovon ich hier berichte. Fast jeder Frau ist es in die Wiege gelegt, eine Schnellrestauration an sich selbst vornehmen zu können.
Ich greife zu Haarfarbe in “Rotbuche”, die noch in meinem Badezimmerschrank dahingammelt. Viel Aufwand wird es nicht sein, mein “Straßenmischlings-nichtssagend-Braun” auf dem Kopf ein bisschen leuchtender zu gestalten.
Während “Rotbuche” einwirkt und mir gut gelaunt auch noch die Schläfen färbt, zerre ich die weitesten Schlabberblusen aus meinem Kleiderschrank und zwänge mich in eine schwarze Jeans der Größe 44.
Natürlich liege ich beim Schließen des Reißverschlusses auf dem Bett und halte die Luft an. Man kennt das ja.
Wo ist der Zivi, der einen dann hochzieht? Nirgends.
Über die Seite abrollend und schräg vom Bett kugelnd erreiche ich eine aufrechte Position. Über dem Saum quillt ein Wohlstands-Fettbollen der Extraklasse, den ich angeekelt ganz fest kneife.
Beim kritischen Rückblick in den Spiegel, wie mein Hinterteil ausschaut, wulstet sich das Bauchfett in Korkenzieherform um meine Hüften, und die Hose will mir die Luft abstellen.
„Herrje! Wie eklig du bist!”, brülle ich mich an.
Ist eine Hose zu eng, dann wird sie ja durch Körperwärme weiter. Ich beschließe, das Ding nun den ganzen Nachmittag zu tragen. Ebenfalls ein guter Tipp ist, ein paar Mal in die Hocke zu gehen und dort zu verharren.
„Boh, tut das weh in der Taille!“ Ich plumpse auf meinen Allerwertesten, habe “Rotbuche“ auf dem Kopf und auf der Stirn, und das BH-Modell trägt die Marke “Abturner 90B“.
Der Bauch gleicht einer weißen, zellmutierten Fettansammlung im Dellen-Design.
Dieses Bild spiegelt mein Kleiderschrank zu mir herüber, es ist, als würde er hämisch grinsen mit seinem viel zu kleingeratenen Klamotten-Inhalt.
Heute würde man mit dem Handy ein Foto von diesem Moment machen und das Bild in sozialen Netzwerken unter “Was machst du gerade?” einstellen. Oder besser nicht? In meinem Fall besser nicht.
Am Ende dieser kläglichen Restaurations-Aktion ist nun fast schon Abend.
Die Farbe habe ich mir mit Scheuermilch von der Stirn gerubbelt, die Haare mit einer Geflügelschere geschnitten, und final versuche ich nun Make-Up auf meinem durchgeschwitzten Gesicht anzubringen.
Zu der “44″ trage ich ein Top, welches zwar den Hintern bedeckt, aber auch mit bestem Willen den Fettwanst nicht verstecken kann. Ich hülle mich mit einer meiner lässigsten Blusen ein und hoffe, dass es im “Starlight” nicht so warm sein wird, dass ich diese ausziehen möchte.
Eine halbe Flasche Haarspray fixiert meine toupierte “Peggy-Bundy-Frisur“, und ich habe meine schönste Handtasche unter den Arm geklemmt.
So betrete ich unsicher das “Starlight”.
Tine ist schon da.
Ihr Exfreund Carsten klebt mit seinem Mund an ihrem Ohr.
„Na toll!”, denke ich.
Neben Tine ist noch ein Barhocker frei, aber ich kann ja nicht sitzen, ohne blau anzulaufen. Mist! Also stehe ich daneben und hoffe, dass es mir sofort gelingt, mich mit einer Druckbetankung Rum-Cola lockerer zu machen.
Ich bin Single, vertrage keinen Alkohol, fühle mich wie ein in Milch eingelegtes Brötchen, und meine Haare sind vom Haarspray hart wie ein Sturzhelm. Aber sie sind rot und passen zum Pickel. Habe ich nicht super Karten?
„Haaaaaaaaai! Gibt´s dich auch noch?”, brüllt mir einer ins Ohr. Es ist Martin, ein alter Kumpel aus meiner ehemaligen Giltzinger Clique.
In dem verträumten Örtchen Giltzing habe ich schon so einiges erlebt. Doch dazu später mehr.
„Oops! Ohje!”, schießt es mir heiß durch die Haut. „Die Giltzinger sind da!“
Während ich Martin brav seine Fragen beantworte, schweift mein Blick nervös an der Bar entlang. Ich weiß es ganz genau: Wenn Martin mit seinem Gefolge gekommen ist, ist Jochen auch dabei.
Jochen… Himmel, was war ich in diesen Kerl verliebt, bevor ich Phil getroffen habe. Was hatten wir für ein heißes Verhältnis. Mit vielen Tränen und großem Liebeskummer habe ich das Drama damals beendet!
Die Gedanken daran lassen die Worte von Martin nur noch durch das “Bummbumm” des Basses und durch eine verzerrte Plapperwolke klingen und treiben mir das Adrenalin in die Adern.
Im gleichen Moment erblicke ich IHN. Meinen Jugendschwarm Jochen. Er sitzt auf der anderen Seite der in U-Form geschnittenen Bar, lehnt sich locker an einen mit hunderten Mosaikspiegelstücken gepflasterten Balken und sieht direkt zu mir herüber. Er hat mich garantiert schon beim Betreten der Disco gesichtet und wartet in seiner umwerfend charmanten Art, bis ich ihn auch entdecke.
Jochen ist ein Typ, der in der Disco niemals von seinem Barhocker aufsteht, außer er muss zur Toilette. Er tut den ganzen Abend nichts anderes, als zu beobachten.
Deshalb weiß ich, dass er mich längst auf dem “Radar“ hat.
Er hebt sein Bierglas und lächelt schüchtern, als unsere Blicke sich treffen. Er neigt leicht den Kopf zur Seite und zupft mit einer Hand an seinen schulterlangen Haaren.
Ich winke erschrocken und grinse sicher total blöd zurück. Mein Herz fällt wie ein Stein in meine viel zu enge Hose. Ich bestelle gleich noch einen Longdrink.
Jochen ist offensichtlich nicht mehr mit Daria zusammen, die er damals mit mir betrogen hat.
Diese tanzt nämlich ein paar Meter weiter mit einem Typen verliebt einen Stehblues, obwohl eine Hardrock-Nummer läuft.
Jetzt muss ich cool bleiben, sehr cool.
Carsten wankt angeheitert davon, und ich widme mich übertrieben aufmerksam meiner Freundin Tine.
Ich spüre währenddessen die ganze Zeit Jochens Blicke und sehe aus den Augenwinkeln, wie er sich ein Bier nach dem anderen bestellt. Ich weiß genau, sehr, sehr genau, was sein Plan ist. Und ich weiß ganz sicher, dass es so nicht passieren wird, denn ich bin erst seit ein paar Stunden Single und sehe außerdem aus wie ein Teigklumpen.
Der Abend verläuft sehr lustig. Ich bin stark angeheitert und habe meine Hemmungen mittlerweile an der Garderobe abgegeben.
Nach und nach komme ich mit fast allen Giltzingern ins Plaudern, bis auf Jochen.
Ich stehe bereits auf seiner Seite der Bar und flirte lautstark mit Pulle, einem seiner Kumpels.
Über Pulles Schultern hinweg kann ich Jochen beobachten. Er hat sich unserem Gespräch mit dem Körper zugewandt, obwohl Pulle ihm den Rücken zeigt.
Immer wieder treffen sich unsere Blicke.
Jochen trägt ein helles Tank-Top, das im Neonlicht der Bar blendend weiß erstrahlt und seinen muskulösen Oberkörper im allerhöchsten Maße in Szene setzt.
Man möchte an seine Oberarme greifen, um zu prüfen, ob sie tatsächlich so stahlhart sind, dass man ein Ei dran aufschlagen könnte.
Krass blaue Augen hat er, leider leicht gerötet von Alkohol und Disconebel. Dennoch holt die Neonröhre ein Leuchten aus seinen Augen, das schon fast hypnotisierend wirkt.
Ich weiß, dass er niemals auf mich zukommen und mich ansprechen würde. Das war noch nie seine Masche.
Die Frauen kommen immer zu ihm, er lässt sich anbaggern, nicht umgekehrt. Das kann er sich leisten, so wie er aussieht.
Für mich eine gute Sache, denn ich denke nicht im Traum daran, falsch, ich traue mich nicht, den ersten Schritt zu tun.
An mir beißt er sich die Zähne aus mit dieser “Aussitz-Tour“, ich habe nämlich das gleiche Prinzip. „Wenn einer was will, dann soll er schön auf mich zukommen“, schwöre ich mir.
Wir flirten also bis in die frühen Morgenstunden nur mit Blicken eindeutiger Art.
Es ist für mich eine der aufregendsten Nächte seit langem, und ich beschließe beim Verlassen des “Starlight” im Morgengrauen, dass ich hier künftig Stammgast sein werde.
Den kommenden Tag verbringe ich vorerst im Bett mit einem schrecklich dicken Kopf. Ich esse nicht, rauche nicht, mag nicht mal die Glotze anwerfen.
Meiner weißen Wampe soll dieser Hungerstreik ein deutliches Signal setzen. Ihr muss jetzt unbedingt der Garaus gemacht werden. Dringend.
So bin ich nicht pistenfähig, keinesfalls.
Durch meine 1,2 Kilo Hirnmasse, das muskulöseste an mir, schwirren die Gedanken wie in einem Teilchenbeschleuniger.
Phil ist weg, er will mich nicht mehr.
Müsste ich nun traurig sein? Einsam? Geknickt? Ich müsste. Aber ich bin es nicht. Ich lasse die letzten Jahre Revue passieren, denke an schöne und schreckliche Momente meiner gescheiterten Beziehung. Es kommt keine Träne, keine Trauer auf, kein Gefühl. Ich spüre mich selbst nicht mehr.
Doch, ich spüre mein Fett, das glühend an meinem Körper klebt und auf ein hartes Stück Arbeit blicken lässt, es wieder loszuwerden.
Und ich denke an Jochen.
Der fast verkümmerte “Diätassistent“ in meiner Erinnerung beginnt zu errechnen, wie viel Gewicht ich in einer Woche loswerden kann. Ich habe sechs Tage Zeit, dann will ich wieder in diese Disco.
Jochen wird ebenfalls dort sein. Das ist so sicher, wie das “Amen” in der Kirche.
Mein Plan liegt klar auf der Hand. In einer Woche kann ich sicher 2 Kilo abnehmen, ja das kann ich! Ich werde shoppen gehen, gleich am Montag. Es muss ein attraktives Outfit her, das mich nicht abschnürt und mir die Möglichkeit bietet, neben Jochen auf einen Barhocker zu sitzen. Naja, notfalls. Im Stehen hat man ja generell eine bessere Figur, weil sich das Fett nicht so zusammenstaucht.
Sicher ist, dass ich nächstes Mal mit ihm sprechen werde, aber ich weiß noch nicht wie. Den ersten Schritt will ich nicht machen, aber einfädeln kann ich ihn bestimmt. Im Einfädeln von Situationen bin ich ein wahrer Meister. Außerdem beschließe ich, mich dabei keinesfalls zu setzen.
Meine Wohnung liegt direkt neben dem Sportcenter, in dessen integrierter Gaststätte ich seit acht Jahren bediene. Wegen Papas Krankheit habe ich dort aber schon lange keine Schicht mehr geschoben. Kurzerhand stülpe ich mir einen Pulli über und lasse mich drüben mal blicken.
Die Wirtsleute Monja und Willi freuen sich sehr, dass ich mich spontan an vier Wochentagen einteilen lasse.
Ohne überheblich klingen zu wollen, bin ich deren beste Servicekraft. Ich bediene locker und mit großem Spaß 25 Tische und schenke gleichzeitig Getränke an vier Kegelbahnen aus, die ich auch selbst 27 Treppenstufen bis zu den Bahnen runterschleppe. Die Anzahl der Stufen habe ich schon tausende Male gezählt, denn meist trage ich ein Tablett, welches vorzugsweise mit hohen Weizen- und Biergläsern bestückt ist und mir den Blick auf die Treppen verwehrt. Um nicht zu fallen, zähle ich also immer mit.
Bedienen macht übrigens schlank und lässt die Trinkgeld-Kasse klingeln.
„Brauchst du Geld?”, fragt Willi besorgt. Er nennt mich “seine Ziehtochter”, warum auch immer. Erziehen lasse ich mich eh nicht mehr und schon gar nicht von Willi. Aber egal.
„Ja, Phil hat Schluss gemacht. Ich muss jetzt ein paar Dinge ändern.” Hier erlebe ich zum zweiten Mal in zwei Tagen, dass die Trennung von Phil keine Reaktion aufwirft.
„Der war eh nicht gut für dich”, meint Monja.
Das Thema ist somit erledigt.
Komisch ist das. Phil wird einfach gestrichen.
Leicht kopflastig, aber hoch motiviert, schlendere ich nach Hause und will meine Eingangstür aufschließen, als ich durch das mit Metalldrähten durchzogene Sicherheitsglas erkenne, dass innen im Hauseingang jemand auf der Treppe sitzt.
Es ist Phil. Er springt auf und stellt sich mir grinsend in den Weg. „Ich habe das nicht so gemeint gestern, ich bin jetzt wieder da.” In der Hand hält er die gleiche Tüte umklammert, in die er seine sieben Habseligkeiten geschmettert hatte und diese sind garantiert auch immer noch da drin.
Ich lache zynisch und spüre Wut in mir aufkommen: „Das finde ich überhaupt nicht witzig. Was fällt dir eigentlich ein?”
Phil will mich an sich heranziehen, aber ich stemme mich mit angewinkelten Armen dagegen. „Bitte geh wieder. Ich werde nicht heiraten. Niemals. Auch nicht dich! Du hast unsere Beziehung beendet und das ist und bleibt jetzt auch so.”
Langsam und mit gesenktem Kopf geht er an mir vorbei zu seinem Motorroller. Er hält kurz inne, startet und fährt davon.
Jetzt tut er mir richtig leid. Er hat zweieinhalb Stunden Fahrt auf sich genommen durch Schneeregen und über Glatteis. Und ich schicke ihn sofort wieder weg.
Ich schäme mich. Dennoch wird mir sonnenklar, was ich da empfinde, ist gerade nichts anderes als Mitleid. Keine Liebe. Meine Gedanken sind ganz woanders.
Was ich zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß: Phil kommt von nun an öfter.
Die Woche bis zum nächsten “Starlight“-Besuch gestaltet sich aufregend. Gleich am Montag stürme ich mit ordentlich Barem in der Tasche eine Boutique und decke mich mit einigermaßen netten Klamotten ein.
“Nett“ ist die kleine Schwester von “Scheiße“, sagt man. Wenn man zu “Zelt XXL“ greift, dann sieht man darin eingehüllt mit Mühe halt nur nett aus, aber nicht sexy oder aufregend.
Andere Frauen vielleicht, aber diejenige, welche mich aus meinem Spiegel anschwabbelt, die nicht.
Die finale Anprobe vor meinem fiesen Kleiderschrank-Spiegel endet schließlich damit, dass ich am Boden liege und “Bauch-Beine-Po-Übungen“ mache. Ich bin konditionell auf dem Niveau einer “Rollator-Braut“ gelandet. Nach acht Wiederholungen bin ich am Ende, und die Muskeln brennen wie Feuer. In meinen Arbeitspausen als Bedienung sehe ich ab und zu bei den Aerobic-Stunden im Sportcenter zu.
„Acht Wiederholungen!“, brüllt die Übungsleiterin immer in den Raum. „Und noch mal acht, ja, das tut weh! In den Schmerz gehen! Auf geht´s! Und noch mal acht! Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, siebeeeen, aaaaacht…!“
Auweia. Da geh ich auf keinen Fall hin, um mir die “goldene Blamage-Anstecknadel“ zu holen.
Frustriert sitze ich schließlich vor einem Knäckebrot, das meinen riesigen Magen für den Rest des Abends füllen soll und betrachte kritisch die neuen Schlabberklamotten, die ich am Schrank aufgehängt habe.
Mein äußerst erfolgreiches “Anti-Diät-Teufelchen“ versucht mir die Motivation zu nehmen und will mich gedanklich zur Aufgabe überreden. Das miese Ding hat wohl Hunger. Es hat dabei jedoch nicht mit in Betracht gezogen, dass ich ein klares Ziel habe. Deshalb schwinge ich mich erneut schwerfällig zu Boden und zähle keuchend, den unförmigen Körper hebend und senkend, bis acht.
Irgendwie freue ich mich, dass das Klingeln des Telefons meine Züchtigung unterbricht und hebe keuchend ab. Aus der Leitung tönt das E-Gitarren-Solo „Still got the blues for you“.
Es ist Phil.
Höflich lausche ich den Klängen.
Er kann ja wirklich sehr schön spielen auf seiner Elektro-Klampfe. Der Sound transportiert eindrucksvoll Wehmut.
Danach lege ich wortlos wieder auf und fühle mich supersuperschlecht.
Natürlich nimmt er diesen Korb nicht hin und fährt gnadenlos am Dienstag nach der Arbeit wieder zu mir.
Ich rechne schon ein bisschen damit, denn das Klingeln an der Haustür hört sich nach ihm an.
Dreimal kurz, einmal lang.
Es ist Winter, meine Rollläden sind bis zur vollkommenen Blickdichte geschlossen, da ich ebenerdig wohne, und ich öffne nicht. Ich beschließe, nicht zu Hause zu sein. Bin ich ja eigentlich offiziell auch nicht, jedenfalls nicht mehr lange, denn diese Woche bin ich für vier Abende im Sportcenter eingeteilt.
Phil hält drei Klingelanläufe durch, dann ist zunächst Ruhe. Zehn Minuten später versucht er es erneut.
Ich rufe drüben im Sportcenter an und begründe mein Zuspätkommen.
Monja hat volles Verständnis und flüstert besorgt: „Sei ganz leise, und wenn sich der Kerl nicht freiwillig verkrümelt, schicke ich dir den Willi rüber.“
Aha, also doch ein Ziehvater mit einer Daseinsberechtigung.
Irgendwann empfinde ich die Luft als rein und schleiche aus dem Haus.
Phil ist tatsächlich nicht mehr da.
Meine Schicht endet um 1:30 Uhr. Müde und erledigt zerre ich die Tagesdecke von meinem Bett, mummle mich ein und zappe noch kurz durch die Programme, als das Telefon klingelt.
Wie Eis steckt mein Blut vor Schreck in den Adern fest. Das darf ja wohl nicht wahr sein.
Mein Telefon ist fest an der Wand montiert und hat ein kurzes Kabel. Damit weglaufen und irgendwo hinfläzen geht nicht, deshalb stehe ich nun fröstelnd neben dem plärrenden Ding und habe keine Ahnung, was ich tun soll. Einen Anrufbeantworter, der irgendwann anspringt, gibt es natürlich nicht. Wenn es ein Anrufer also dreihundert Mal klingeln lassen will, dann kann er das durchaus tun.
Und Phil will.
Ich hebe schließlich ab und brülle ungehalten in den Hörer: „Was willst du denn?“
„Ich will dich zurück, und ich werde niemals aufgeben!“
Jetzt mache ich den entscheidenden Fehler, denn ich bleibe nicht standfest. Plan B ist nämlich eine Hinhaltetaktik, die so lange andauert, bis der Betroffene selbst bemerkt, dass es keinen Wert mehr hat und die Lust verliert.
Also schwenke ich kurzerhand um und ändere mein Verhalten. „Lass mir ein bisschen Zeit bitte. Ich muss mich zuerst sortieren“, beschwichtige ich leise.
„Liebst du mich noch?“
Ich antworte mit einem leicht genervten „Ja, klar“.
Oh Mann, bin ich bescheuert! Diese Lüge füttert Phils Kampfgeist jetzt ganz bestimmt.
Ich soll recht behalten.
Die Nacht von Mittwoch auf Donnerstag erwache ich um 3 Uhr morgens durch ein mir bekanntes Geräusch.
Dreimal kurz, einmal lang.
Die Türklingel.
Jetzt bekomme ich Angst. Ich will das alles nicht wahrhaben und auf keinen Fall will ich öffnen. Ich fühle mich schlagartig belästigt und erwäge, die Polizei zu rufen. Mein Verstand rät mir aber, es nicht zu tun. Nicht wegen eines Mannes, mit dem ich immerhin fünf Jahre zusammen war und der mich nur voller Sehnsucht zurückerobern will.
Also kauere ich mich abwartend in mein Bett, decke mich zu und zünde mir eine Zigarette an.
Phil geht ums Haus und trommelt mit den Fäusten an den Rollladen meines Schlafzimmers.
Ich rauche zitternd die Nächste und ziehe die Beine dicht an meinen Körper, als könne mir das Schutz bieten.
„Ich weiß, dass du da bist!“, schreit er zur Untermalung seiner Faustschläge. „Öffne endlich!“
Warum holt denn eigentlich meine beknackte Vermieterin nicht endlich die Bullen? Normalerweise zeigt sie jeden an, der falsch parkt oder die Mülltonne zu weit in die Straße stellt. Sonst holt sie mich um 6 Uhr morgens aus der Kiste, weil ich mit Schneeschippen dran bin. Heute pennt sie wie ein Stein, die alte Schachtel.
Um meine Nerven zu beruhigen, schenke ich mir ein großes Glas Wein ein. Es ist plötzlich still geworden vor meinem Fenster. Ich sitze noch sehr lange stocksteif an der Rückwand meines Bettes, warte bis der Alkohol meine Nervenbahnen glättet und vernichte eine halbe Schachtel Kippen.
Die Nacht ist gelaufen.
Ich fühle mich wie ein Wrack. Gefühlschaos aus Mitleid, Freiheitsdrang und Pflichtgefühl sind verflogen. Ich habe Angst und fühle mich allein.
Freitag treffe ich meine älteste Freundin Anne, mit der ich schon die Bank der Grundschule gedrückt habe.
Wir hatten immer Kontakt, aber durch unsere festen Freunde sind die einst wilden Party-Wochenenden natürlich eingeschlafen. Im Schnelldurchlauf erzählen wir, auf welchem Beziehungsstand wir uns gerade befinden.
Anne findet es mit einem leichten Anflug von Neid und Anerkennung in der Stimme ganz toll, dass ich nun wieder “auf dem Markt“ bin. „Wurde auch Zeit“, nickt sie.
Sie lebt zwar mit einem Mann zusammen, erweckt in mir aber irgendwie den Eindruck, als würde sie sich gefangen und gelangweilt fühlen. „Komm doch morgen mit ins Starlight!“, schlage ich vor.
Aus Annes Blick sprüht schlagartig ein Funke, den ich aus früheren Zeiten noch sehr gut kenne.
Was waren wir Hexen, wir beide. Was haben wir mit den Typen gespielt. Herzen erobert, gebrochen, entsorgt… next. Was eine geile Zeit war das!
„Japp, ich bin dabei!“, entschließt sie fast hüpfend. Zumindest hüpft ihr Herz und ihr Drang nach Abenteuer.
Die wilden Dinger sind wieder von der Leine.
Hurra!
Wie konnte ich nur vergessen wie schön es ist, Single zu sein?
Fokussiert auf mein bevorstehendes Wochenende vergesse ich meinen Frust mit Phil.
Ich bin am Samstag schon früh wach, putze meine Bude, beziehe die Betten, damit Phils Geruch endlich verschwindet und beginne gegen Nachmittag mit dem Styling.
Natürlich greift eine Frau nicht in den Schrank und zieht einfach etwas an, nein, sie muss kombinieren. Erst kurz vor dem Tragen der Kleidung weiß sie, ob ihr nach hellen Farben und Glitzerhandtasche ist oder ob sie lieber gedeckt geht und einen schlichten Stil bevorzugt.
Ich tendiere natürlich zu schwarz, was mehrere Gründe hat, deren Erläuterungen ich mir jetzt erspare.
Zu meiner neu gekauften, schwarzen Röhrenjeans wähle ich meine schönsten Pumps. Diese trete ich aber sofort mit Schwung in die Ecke, denn damit könnte ich größer sein als Jochen, neben dem ich heute Abend ja stehen werde.
Ich muss grinsen und höre bei dem Gedanken daran in mein Herz. Es hoppelt wie ein junges Reh.
Um 21 Uhr parke ich meinen weißen “Golf“ direkt vor der “Disse“ und betrete den Schuppen deutlich selbstbewusster, als vergangenen Samstag.
Die Plätze an der Bar sind wie stillschweigend reserviert für die Giltzinger Clique und natürlich noch frei.
Die Jungs wärmen sich immer in ihrer Stammkneipe bis zu einem gewissen Alkoholpegel auf, welcher sie deutlich weniger Geld kostet, als wenn sie im Starlight zehn Biere zu je vier Mark trinken. Das tun sie dann zwar im Laufe der Nacht trotzdem, aber günstig vorgetankt haben sie vorsorglich woanders.
Ich nehme einen Barhocker, der sich um nur drei Sitze dem Platz annähert, an dem Jochen letzte Woche gesessen hat.
Er ist so der Stammplatz-Typ, verfolgt gerne liebe Gewohnheiten, und ich gehe davon aus, dass er sich hier auch wieder einnisten wird. Von diesem Hocker aus kann er die ganze Disco überblicken und das gefällt ihm, das weiß ich.
Die Barfrau schiebt mir einen Rum-Cola über den Tresen. Das pfiffige Mädel hat sich tatsächlich gemerkt, was ich trinke.
Ich schlürfe an meinem Strohhalm und sehe mich, ohne davon abzulassen, ein bisschen um.
Meine Augen bewegen sich nach links und verfolgen Daria, die um die Bar herumgeht und direkt auf mich zusteuert.
„Huch“, denke ich leicht erschrocken und richte mich unweigerlich steif auf.
Sie setzt sich schwerfällig neben mich und bestellt wortlos, nur mit einer Handbewegung, ein Bier. Ihr Begrüßungstext fällt direkt aus, so, als hätten wir beide uns in den letzten fünf Jahren täglich gesehen: „Na? Was geht? Wartest du aufs Wölfchen?“ Mit Wölfchen meint sie Jochen, das ist sein Spitzname in der Giltzinger Clique.
Dass ich mich ertappt fühle, offenbar leicht erröte und auch nicht antworte, nimmt sie triumphal zur Kenntnis.
Daria hat ganz bestimmt noch eine Rechnung mit mir offen.
Ich bin damals mit ihrem Jochen um die Häuser gezogen, als er fest mit ihr zusammen war, allerdings ohne zu wissen, dass es sie überhaupt gibt. Nach der Erkenntnis, mit einem Typen zu schlafen, der mit seiner Freundin zusammenwohnt, habe ich die Sache mit Jochen beendet.
Ich nehme mal an, dass Daria mir das hoch angerechnet hat, aber genauso bewusst war mir all die Jahre, wie sehr sie mich dennoch hasst. Immer wieder wollte sie mir, wenn sie angetrunken war, auf diversen Veranstaltungen oder gar auf offener Straße, den Schädel einschlagen.